Der Nordhäuser Roland (2/1954)

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Der Nordhäuser Roland (Februar 1954)
Reihe Der Nordhäuser Roland
Band-Nr. 2/1954
Autor Verschiedene
Herausgeber Kulturbund
Erscheinungsjahr 1954
Umfang 23 S.
 Im Bestand der Stadtbibliothek Nordhausen.
Stand: 15. September 2015
Digitalisat: PDF (4 MB)
Titel Autor
Lessing und seine Zeit Werner Gothe
Lessing — Gestalt und Werk Kurt Kohlmann
In memoriam Hellmuth Unger Werner Pellert
Georg Henning Behrens und seine „Hercynia curiosa“ (1703) als Verkörperung deutscher Barockgelehrsamkeit in Nordhausen Kurt Wein
Die Blasiistraße mit Blick zum Dom Hans Kappler
Brief von Dr. August Kramer an seinen Bruder Fritz in Nordhausen
Um den Mühlgraben Fritz Teichmüller
Interessantes — kurz berichtet

Lessing und seine Zeit

Gotthold Ephraim Lessing zu seinem 225. Geburtstag am 22. Januar 1954
Von Kreisbibliothekar Werner Gothe, Nordhausen

Am 22. Januar 1729 wurde Gotthold Ephraim Lessing geboren, er starb am 15. Februar 1781.

Es soll nicht die Aufgabe dieses kurzen Aufsatzes sein, das Leben und das Werk dieses bedeutenden Vertreters der vorklassischen Zeit zu würdigen. Vielmehr soll versucht werden, sein dichterisches Gesamtwerk und sein Leben in ihrer Zeitbezogenheit zu deuten. Diese „kritische Aneignung des klassischen Kulturerbes“ ist eine neue, die marxistisch-leninistische Form der Wissenschaft. Diese Methode verlangt, daß die künstlerischen und wissenschaftlichen Leistungen z. B. der deutschen Klassiker in engstem Zusammenhang mit ihrer Zeit, mit der gesellschaftlichen Entwicklung und den gesellschaftlichen Kämpfen ihrer Zeit gesehen werden müssen.

Versuchen wir, die gesellschaftliche Lage/um die Mitte des 18. Jahrhunderts, in der sogenannten „Lessingperiode“ des früheren bürgerlichen Realismus, die man von 1740 bis 1770 datiert, zu beschreiben. Deutschland war zu dieser Zeit ein Land nationaler und ständischer Zerrissenheit. Ganz Deutschland wurde von zahllosen absolutistischen Fürsten regiert. Die herrschende Klasse, der Adel, die durchschnittlich etwa nur ein Prozent der Bevölkerung ausmachte, drückte auf Bürger und Bauern.

In all den kleinen Fürstentümern wurde nach dem Muster des französischen Königshofes ungeheurer Luxus getrieben. Das Geld hierfür wurde aus den leibeigenen Bauern oder gar durch Soldatenverkauf gewonnen. Während die Bürger mit hohen Steuern belastet waren, war der Adel steuerfrei. Die Wirtschaft lag darnieder. Die zahllosen Zollschranken innerhalb des Landes hinderten den Warenverkehr. Es gab keine einheitliche Währung, und die Zensur unterdrückte jede freie Meinungsäußerung der Presse. Zu dieser Zeit machte sich bereits in England ein Aufstreben des Bürgertums in ökonomischer Beziehung bemerkbar. Dieses Aufblühen wurde natürlich vom deutschen Bürgertum erkannt, und eine allgemeine Unzufriedenheit an den deutschen Verhältnissen machte sich bemerkbar. Diese Unzufriedenheit spiegelte sich auch wider in den Werken bürgerlicher Schriftsteller und Wissenschaftler, die wenigstens vereinzelt bestrebt waren, sich vom Adel und vom Hofe unabhängig zu machen.

Es ist interessant zu beobachten, daß nach der Jahrhundertmitte die fortschrittlichsten Dichter und Schriftsteller versuchten, eine selbständige Existenz zu erlangen, nachdem bis zu dieser Zeit ein Dichter nur ein Werk erscheinen lassen konnte, wenn er es durch mehrseitige Widmungen an einen Adligen den herrschenden Kreisen genehm gemacht hatte. Mit dieser anerkannten Widmung war dann meist ein Geldgeschenk verbunden.

Wir können in dieser Zeit ein Erwachen des Nationalgefühls beobachten. Zur Zeit der Reformation und der Bauernkriege hatte sich das Nationalbewußtsein, das vornehmlich durch die kleine Humanistenschicht des 16. Jahrhunderts gefördert wurde, in der Hauptsache auf die Ablehnung des römischen Klerus und der Feudalmächte, die dem Kaiser feindlich gesinnt waren, beschränkt. Zur Zeit Lessings können wir eine bestimmte Entwicklungsstufe erkennen. Eine bürgerliche Gruppe, meistens; Angehörige des Gelehrtenstandes, beginnt mit den unteren Schichten zu sympathisieren. Das Nationalbewußtsein entwickelt sich jetzt vor allem ihr Kampf gegen das Landesfürstentum und gegen die orthodoxe Kirche. Lessing war einer der typischsten und kühnsten Vertreter dieser bürgerlichen Gelehrten.

Wie kommt nun dieser nationale Kampf in den Werken Lessings zum Ausdruck? Aus der Literaturgeschichte wissen wir, daß in dieser Zeit die kleinen literarischen Formen vorherrschen, wie z. B. die Kalendergeschichten und die Fabeln. Vornehmlich die Fabel hatte mit ihrer lehrhaften und moralisierenden Art große Möglichkeiten, in versteckter Form besonders das einfache Volk der Ackerbürger und Bauern über Mißstände im gesellschaftlichen Leben aufzuklären. Lessing hat uns eine große Zahl solcher Fabeln hinterlassen, deren jede eine Kritik an damaligen Zuständen enthält.

Das Lebensmilieu der unteren Schichten wird auch von Lessing schon im Drama dargestellt. In seiner „Minna von Barnhelm“ spielen Just, der Wirt, Franziska und Werner als Vertreter des einfachen Volkes eine bedeutende Rolle. In der Minna wird, von Lessing auch Kritik an der Zerrissenheit Deutschlands geübt. Lessing ruft auch in seinen anderen Dramen, z. B. „Emilia Galotti“, nicht wie in einer späteren Entwicklungsstufe die Vertreter des Sturms und Drangs zum Widerstand gegen die unterdrückende Klasse auf, sondern seine bürgerlichen Gestalten erscheinen noch als passive und leidende Menschen. Lessing hatte die Absicht, mit dem Aufzeigen dieses Leidens den seelischen Widerstand gegen den Feudalabsolutismus beim bürgerlichen Publikum zu wecken. Die moderne Literaturgeschichte sagt, daß das große Drama bei Lessing noch nicht eigentlich realistisch sei. Die Probleme werden bei ihm noch nicht so gestaltet, daß sie sich in der gesellschaftlichen Situation entwickeln. Vielmehr erscheinen die Gestalten wie personifizierte Moralbegriffe. Nathan z. B. wirkt weniger wie ein lebendiger Mensch, viel eher wie die Verkörperung der Toleranz. Das Lehrhafte bestimmt auch noch den Charakter der Dramen. So ist z. B. sein Drama „Nathan der Weise“ im Grunde genommen nur die von Bocacciö überlieferte Ringparabel, die er in eine künstliche Handlung einbaute.

Lessing hat sich für die Erziehung des deutschen Bürgertums zu einem Nationalbewußtsein vor allem durch seine Förderung des Theaters eingesetzt. Seine Bemühungen um das sogenannte Hamburger Nationaltheater hatten als literarische Frucht die „Hamburgische Dramaturgie“, die als Theorie des Realismus für die Entwicklung des bürgerlichen Theaters von maßgebender Bedeutung war. Lessing bekämpfte leidenschaftlich das höfische Drama des französischen Absolutismus und hat auch in seinen Fabeln die deutschen Nachahmer entsprechend verhöhnt (z. B. die Fabel „Der Affe und der Fuchs“).

Zum Abschluß soll gesagt werden, daß es für uns heutige Menschen darauf ankommt, das literarische Werk unserer Klassiker nicht isoliert und nicht idealisiert nach Art mancher bürgerlicher. Literaturhistoriker zu behandeln, sondern sie in ihrer gesellschaftlichen Situation als einen Teil des Ganzen zu erkennen und sie nach dieser kritischen Aneignung gegen alle Versuche unwissenschaftlicher Theorien (Proletkult, Formalismus) zu verteidigen.

Lessing – Gestalt und Werk

Arm an beglückenden Dingen und reich an Enttäuschungen aller Art liegt Lessings Leben vor uns: im Materiellen mißlang ihm ebensoviel, wie ihm im Geistigen gelang.

Den Abschluß dieser jahrzehntelangen Tragödie bildete der Tod seiner Gattin nach einjähriger Ehe. Sie starb an den Folgen der Geburt eines Kindes, das selbst nur einen Tag lebte. Der kurze Brief Lessings an Eschenburg ist so bitter, so selbstquälerisch-ironisch, daß ich nur eine Stelle daraus zitieren möchte: „Ich wollte es“, schreibt er, „auch einmal so gut haben wie andere Menschen. Aber es ist mir schlecht bekommen.“ — Von jener Zeit an senkte sich im Niederschatten der Jahre letzte Einsamkeit um den kleinen Wolfenbütteler Bibliothekar (die ihm zustehende Stelle an der Königlichen Bibliothek zu Berlin hatte Friedrich II. einem windigen französischen IgnorantenNÜbergeben!) Lessing starb am 15. Februar des Jahres 1781 so arm, daß sich der Herzog von" Braunschweig genötigt sah, ihn auf Staatskosten begraben zu lassen. Auf dem Magnikirchhofe in Braunschweig wurden am 18. Februar 1781 die sterblichen Überreste Lessings beigesetzt. Als der ärmliche Leichenzug des „Freigeistes“ die Straßen passierte, hielten es besonders fromme und ehrbare Bürger für ihre Pflicht, die Fensterläden zu schließen; ein beschämendes Kapitel aus der Geschichte der deutschen Geistesfreiheit. Im Jahre 1853 jedoch wurde Lessing in Braunschweig ein Standbild errichtet mit der Inschrift: „Dem großen Denker und Dichter das deutsche Vaterland!“ — es ist schon die reine Ironie …

Wir stellen hier die Frage: Worin liegt die Bedeutung Lessings, und was mag er uns, heute noch zu sagen haben? Wir schicken dabei voraus: Lessings ganze Entwicklung und sein ganzes Streben ist vor allem wissenschaftlich ; um so bewundernswerter bleiben die Sublimierungen und Erhellungen, bleibt die ganze Atmosphäre ungebundener Freiheit, mit der sich sein schöpferischer Geist immer wieder zu umgeben wußte. Aber in dieser Entwicklung liegen, wenngleich er auch für das Drama bahnbrechend wirken sollte, für sein dichterisches Schaffen viele störende Momente, — durch diese Einstellung hebt er sich meist — im Dichterischen — über das rein formale Schaffen nicht hinaus; ja, wir können sagen: es mangelt Lessing an eigentlichem, dichterischem „Genie“, an der einmaligen, dynamisch sprengenden Intuition des Dichters. Es fehlen in seinem Schaffen die ganzen Momente des Eruptiven, Chaotischen, Ausschweifenden, glühend Vulkanischen ebenso wie die des Düsteren. Dämonischen, Verschränkten, Gepreßten, finster Schwermütigen; — er kennt weder den Rausch und die Verzückung, noch die seelischen Niederbrüche und Tragödien Hes Schaffens; er gestaltet weder aus der Ekstase und dem Taumel einer fanatischen Inbrunst heraus, noch aus einer klinisch überreizten Steigerung seiner Nervenkräfte.

Seine Menschen finden sich stets geführt, stets maß- und zielvoll geleitet von ihrer (seiner!) alles überragenden und beherrschenden Vernunft. Sie leben nach Ideen. Maximen, Reflexionen und Systemen, sie finden sich stets bewahrt vor dem Exzeß ihrer Gefühle und Leidenschaften: ihre Vernunft ist mit letzteren beiden eine Symbiose eingegangen, die es wohl zu Tragödien (der konstruktiven Vernunft möchte man sagen) kommen läßt, aber nie zu wahrhaft überzeugenden Konflikten lebensecht gestalteter Menschen. Dies alles zusammengenommen schafft um Lessings dramatische Gestalten — von wenigen Ausnahmen, der meisterhaft-köstlichen „Minna von Bam-helm“ etwa, abgesehen (die allerdings alles andere war als ein Loblied auf Friedrich II.!) —■ die Atmosphäre einer kristallklaren Härte und Helle der Vernunft, die wir an dramatischen Gestalten mit Recht ablehnen. Aber wir dürfen nicht vergessen: Lessing lebte im 18. Jahrhundert, in dem Jahrhundert der Aufklärung, in dem Jahrhundert Kants und Voltaires.

Die Zeit Lessings krankte noch an den Folgeerscheinungen des Mittelalters, ja man begann eben erst, das Mittelalter in sich zu überwinden. Das Mittelalter nun hatte stets mit Erfolg versucht, die ungeheuren, strömenden Kräfte der Zeit in und durch die Kirche zusammenzuhalten. Die machtvoll-revolutionäre Tat der Reformation hatte die Form gesprengt und die Bande gelockert: die Menschen durften wieder frei denken; aber wer wagte es? — oder vielmehr: wer konnte es? Es mußten sich Führer finden, die befähigt waren, zu erklären, gegebene Zweifel „aufzuklären“, das Jahrhundert der Aufklärung bricht an, Kant und Voltaire beginnen zu wirken. Lessing stand drei Jahre hindurch mit Voltaire in engster Verbindung und nimmt die Ideen der Aufklärung begeistert auf, er überprüft seinen Stil, seinen ganzen Menschen an Voltaire und beschließt, der Dolmetscher der Aufklärung auf allen Gebieten für Deutschland zu werden, sich der hohen Aufgabe der „Erziehung des Menschengeschlechts“ (so auch der Titel eines seiner Werke) zu widmen. — Es sollte ihm nicht allzu leicht gemacht werden …

Innerhalb von Lessings Werken nehmen die dramatischen Arbeiten nur einen gewissen Teil seines Schaffens für sich ein. In späteren Jahren bestieg er nur noch einmal die Kanzel des Theaters („Nathan“), um von dort aus seine Ideen zu verkünden, die sonst drucken zu lassen man ihm verboten hatte! Das Christentum schien Lessing wohl die bisher höchst erreichte Stufe aller Religionen, aber auch nicht mehr als eine Stufe. Er befreit es vom historischen und mystischen Ballast und schält sorgfältig den Kern heraus: Ihr Kindlein liebet und duldet euch untereinander. Unchristlich scheint es ihm, das Gute zu wollen nur in Hinsicht auf eine ewige Belohnung, wir haben es um seiner selbst willen zu tun. — Es ist bedauerlich, daß ob dieser „freigeistigen“ Ansichten T essing sich nur durch eine harte Polemik gegen die damals führenden Theologen (besonders Herrn Goeze) behaupten konnte.

Aber gerade in der Polemik überhaupt erweist sich Lessing als der erste deutsche Kritiker. Die Kritik ist seine dauernde Begleiterin, und wir finden sie in jeder seiner geistvollen Abhandlungen (sie geben Stoff zu Dutzenden von Dokmrdisser-tationenl. Auf theoretisch-dramatischem Gebiet behauptet sich diese kritische Polemik nicht weniger. Deutschland hatte gutgläubig und kritiklos die Bühnen werke der Franzosen übernommen, und wo diese nicht selbst gespielt wurden, schuf der deutsche Dichter getreue Konten. Lessing erkannte, daß hier versucht wurde, zwei unvereinbare. dramatische Kulturen aufeinanderzuprallen. Er nolemisiert mit der unnachsichtlichen Schärfe und illusionslosen Härte seines herrlichen Verstandes gegen die Welt und Art des französischen Dramas überhaunt und verweist, wenn wir schon fremden Einfluß wirken lassen wollen, an die englische Bühnendichtung (Shakespeare'. Er greift stets zurück — eine glänzende Belesenheit unterstützt ihn dabei — auf die Dramen der Alten und die Schriften des Aristoteles über das Drama, er unterwirft sämtlich Probleme der dramatischen Kunst, — die er als die höchste anerkennt — einer gänzlich neuen Sichtung: er schreibt seine „Hamburgische Dramaturgie“.

Unleidliche Beeriffsvervirrungen fanden sich iedoeh nicht nur auf dramatischen, sondern anf pUpn Gpbip+on der Kunst: ps pphörm ein Geist, wie dpr Lessings dazu, Ordnung schaffen zu wollen — und zu schaffen! ..Dichtung ist Malerei«, diesp Spntpnz. mit dpr TTnebHingbarkeit eines Avioms aufges+eiit. war zu einem Schlagwort der Zeit erbeben wnHen: man stri-n- <üch darüber, ob die Dichtung nun dazu da sei. Hpr Malerei gute Motive zu liefern (Graf Cavlus. Rnpnppr u. a.'. oder ob es sich nme^kehrt verhalte. Leasing wandte sich fmeen dio Gl pichs+cülung wespnsfrem dpr Begriffe, er wies (ibar7ouppnd nach daß pin 'Uprcdoich bp?H*ar Kunstgaf+nneen gar nicht statthaft sei. da Sich Pnocüp und i\/raior<ü_ WiP mich diP Kunst dpr Plastik, bereits jp fler Wehl ihrer Grundmittel unterscheiden. Dip erstere ist angewiesen auf Handlung, der^n Ablauf in de" Zeit vor sich geht: dio 1 p+7forpn sirwi PC* auf Körner (im weitesten Binne'. deren parsfoiinncf im Räume (wiericmm im weitesten Sinne' gelingen muß. Lessing weist die Überschätzung der bildenden Künste in ihre Grenzen zurück": »her er ^ät mich dem Dichter an auszusparen in der b'oßen BpscTmehving körperlicher Gegenstände und „d’e Bedürfnisse der 1\/raiPT*oi nicht zu seinem Reichtum zu machen“. — Tm „Lenknnn“ geht der „Gewissenhafte des Geistes“ (wie e" sich selbst nennt) mit der sorgfältigen Methode, die wir an ihm kennen, diesen Gedanken nach.

Wir haben — wenngleich höchst fragmentarisch — Lessing kennengelernt als Dramatiker. Ethiker, Polemiker. Kritiker, Ästhetiker, — dies nun aber macht das Überdauernde in allen seinen Werken aus: das ewige Suchen und Streben nach einer bleibenden Wahrheit und die Fähigkeit, seiner Zeit und ihren Fehlern einen Spiegel vorzuhalten („Minna von Barnhelm“, „Emilia Gaiotti“ u. a.l, in dem schonungslos die jederzeit vorhandenen destruktiven Kräfte entlarvt wurden. In unserem Bemühen, uns heute unser kulturelles nationales Erbe kritisch neu anzueignen, bildet gerade Lessing eine der markantesten und wichtigsten geistigen Persönlichkeiten, auf die wir weder verzichten können noch wollen: denn wie nur wenige ist Lessing ein Dichter, der — aus seiner Zeit und ihren Bezogenheiten heraus schaffend — dennoch für alle Zeiten schrieb und neu aufrichtete die Gedanken und Ideen der Harmonie und Nächstenliebe, der Humanität und der gegenseitigen Duldung („Nathan“): Er möge uns ein Erzieher sein und bleiben!

In memoriam Hellmuth Unger

„Sterben wird immer sein, aber es gibt keinen Tod! — Wenn eine Kerze erlischt, wird das Licht trotzdem bleiben!“ Mit diesen Worten aus seiner Feder wird Hellmuth Unger bei seinen Freunden im Herzen weiterleben. Im Juli 1953 wurde der Dichter im Alter von 62 Jahren mitten aus seinem Schaffen abberufen.

Dr. med. Hellmuth Unger wurde am 10. Februar 1891 in Nordhausen geboren. Bereits mit 20 Jahren verließ er unsere tausendjährige Stadt, an der er mit ganzem Herzen hing; doch nach dem zweiten Weltkriege hat er sie nicht wiedergesehen. In seiner Erinnerung stand Nordhausen ganz unversehrt; mit diesen glückhaften Bildern der Kindheit und Jugend ist Hellmuth Unger von uns gegangen.

Als Augenarzt und Schriftsteller lebte er bis zum Frühjahr 1953 in Bad Harzburg; nur zwei Monate waren ihm vergönnt gewesen, sich als freier Schriftsteller in Freiburg im Breisgau ganz dem literarischen Schaffen widmen zu können. Er stand in den Vorarbeiten zu einer Geschichte der Chemotherapie mit der Entdeckung und Weiterentwicklung der Sulfonamide als Kernstück. Daneben hinterließ er eine Unzahl von Ideen zu Romanen, Bühnenwerken, Hörspielen und Filmen, die ihm seine unerschöpfliche Phantasie in reichem Maße eingab. Der Geist und der Witz dieses weitgereisten Sohrres unserer Heimatstadt war eingehüllt in Liebenswürdigkeit und Bescheidenheit. Wer ihn sprühend von Einfällen erlebte, vermutete in ihm kaum seinen unermüdlichen Fleife und seine Genauigkeit in den Dingen des Alltags und seiner Arbeit.

Diese Eigenschaften ermöglichten ihm die unerhörten Studien zu seinen Romanen: „Robert Koch“, „Emil von Behring“, „Wilhelm Conrad Röntgen“, „Louis Pasteur“, „Virchow“ und andere; doch erschließt er sich erst ganz mit seinen zahlreichen anderen Romanen, z. B. „Packeis“, „Passagiere“, seinen Novellen wie „Schweizer Reise“ oder „Stadelmann“, seinen Bühnenwerken, seinen tiefen Gedichten und nicht zuletzt seinen unter Pseudonym erschienenen köstlichen heiteren Romanen.

Mit seiner Geburtsstadt war Hellmuth Unger trotz fast stetiger räumlicher Trennung geistig verbunden. Unser Stadttheater wurde am 29. September 1917 nach der Egmont-Ouvertüre mit einem von ihm gedichteten Prolog, gesprochen von Fräulein Grete Nebelung, eingeweiht. Unter der Intendanz von Herrn Erich Fisch nach dem ersten Weltkriege wurden hier von Hellmuth Unger die Bühnenwerke „Der Götterbote“ und „Mutterlegende“ uraufgeführt. Während das zweite Stück ein Thema aus seiner ärztlichen Arbeit behandelt, brachte „Der Götterbote“ ein Zeitbild aus dem Mittelalter über „Die Judentürme“, das er als Nordhäuser Ballade bereits 1912 mit diesem Titel angerissen hatte. Während der Tausendjahrfeier 1927 war Hellmuth Unger an Bord der „Deutschland“ auf einer Reise nach Übersee. „Mein Gruß an Dich, liebe ehrwürdige, mütterliche Stadt am Harz, kommt aus weiter räumlicher Entfernung. — Wo Deine Kinder, alte liebevolle Vaterstadt, Deinen Namen sagen, dann gleitet ein Strahlen über ihr Gesicht. Oder vielleicht schämen sie sich gar einer heimlichen Träne, diese Kinder! Ich bin auch einer von ihnen und kenne ihre Empfindungen gut. Und weiß auch, daß sie von allen Deine Getreuesten sind.“ So war auch Hellmuth Unger einer der Getreuesten: „Wenn irgendwo in der weiten Welt zwei Nordhäuser sich begegnen, dann sind sie sofort wie Brüder. Keine Stadt in der Welt hat so getreue, dankbare Kinder wie Du.“ So, wie Hellmuth Unger seiner Heimatstadt und seinen Harzbergen in Treue verbunden war, wollen wir auch stets seiner gedenken.

Werner Pellert.

Georg Henning Behrens und seine „Hercynia curiosa“ (1703) als Verkörperung deutscher Barockgelehrsamkeit in Nordhausen

Von Kurt Wein, Nordhausen
Leiter der Arbeitsgemeinschaft Natur- und Heimatfreunde
(Fortsetzung)

Das Geschlecht von solchen in den Bahnen mittelalterlicher Scholastik und asketischer Sittenstrenge wandelnden steifnackigen pnd streitsüchtigen Theologen, wie es von Benediktus Lesche († 1663) und Conrad Georg Dielfeld († 1684) verkörpert wurde, war noch nicht ausgestorben, als G. H. Behrens das Material für seine „Hercynia curiosa“ gesammelt hatte. Solche geistig beschränkten eifernden Geistlichen waren allen naturwissenschaftlichen Strömungen mit unverblümter Ablehnung begegnet und hatten einen unverhohlenen Argwohn gegenüber allen Kulturäußerungen bezeigt, die ihre Abstammung aus dem mächtigen Grundstrom des Renaissancegeistes und seinen Ursprung aus dem reichen Quellgrunde der Renaissance vermuten ließen. G. H. Behrens hätte ohne Zweifel das Zeug besessen, um eine noch wertvollere, den Umschwung der Naturwissenschaft fördernde Leistung als diejenige, die in der „Hercynia curiosa“ vorliegt, vollbringen zu können, wenn der von ihm durchgeführten und durchgesetzten Verknüpfung der Lebensziele mit der natürlichen Welt nicht durch den kirchlich gebundenen, mittelalterlichen Geist so viele und schwere Hindernisse in den Weg gelegt worden wären.

Was von G. H. Behrens in seiner „Hercynia curiosa“ dargeboten wurde, stellt eine getreue Spiegelung der geistigen Welt drfr, in der er gelebt und gewirkt hatte und nach der Vernichtung des Geistes des Individualismus der Renaissance durch die Machtenfaltung des westeuropäischen Absolutismus auf dem durch die Entgeistigung der Renaissanceideale geschaffenen Boden erstanden war. Seine besondere Vorliebe war den Höhlen des Harzes und zwar insbesondere der schon in den Tagen der Renaissance Konrad Gesner in Zürich bekannt gewordenen Baumannshöhle zugewandt gewesen. Dabei war er aber weniger als ein selbständig vorgehender und vorwärtstreibender „Nordhäuser Höhlenforscher“, sondern mehr als das überkommene Wissensgut fortzuführender umformender „Nordhäuser Höhlenbeschreiber“ mit großer Anpassungsfähigkeit für das von anderen Gebotene hervorgetreten. Eine besondere Aufmerksamkeit hatte er auch den von manchen Sagen umrankten E^dfällen geschenkt, so daß es gerechtfertigt wäre, ihn als den „Vater der Karstforschung“ im Vorlande des südlichen Harzes zu feiern. Eingehender hatte er sich auch mit den hydrologischen Verhältnissen im Verkarstungsgebiet des Zechsteingipsbandes be-v faßt, soweit sie in der damaligen Zeit der Vorherrschaft der Zimmergelehrsamkeit als „säriös“ angesprochen werden konnten. Daher waren von ihm auch den „curieusen Fontainen oder Spring-Brunnen des Gartens zu Hessem“ dem „künstlichen Spring-Brunnen in dem Hoch-Fürstlichen Schwartzburgischen Garten zu Sondershausen“, den „Stangen-Künsten derer Hartzischen Berg-Werke“ und den „Wasser-Künsten in Nordhausen“ besondere Abschnitte gewidmet worden, in denen die Vorliebe der höfischen Zeit für das Gezierte und Künstliche einen deutlichen Niederschlag gefunden hatte. Eine Reihe von Flüssen des Harzes (Zorge, Bode, Helme, Salza, Gose; Oker) ließ G. H. Behrens eine Behandlung widerfahren, durch die er zum Ahnherrn wissenschaftlicher Darlegungen über die hydrographischen Verhältnisse des kleinen mitteldeutschen Gebirges wurde, die sich selbstverständlich in den Bahnen bewegen, die ihnen durch den Stand der physischen Geographie zu Beginn des 18. Jahrhunderts gewiesen waren. Sie hatte ihre Aufgabe in einer Aufzahlung der geographischen MerkwürdigKeiten gesehen und die für den erfolgreichen Betrieb der geographischen Forschung unentbehrlichen mühsamen Kleinarbeit im Gelände gescheut, ln ihrem Sinne war auch G. H. Behrens vorgegangen, dessen Leistungen niemals nach dem Maßstabe einer spateren Zeit gemessen werden dürfen, wenn es gilt, in die Werkstatt seines Geistes einzudrmgen. Mit seinen Gedanken über das VorKommen von „curi-eusen Stein-Felsen und Stein-Brüchen an und auf dem Hartze“ hatte er in emer selbstverständlich in das Gewand des spätbarocken Schwulst gekleideten Form ein weiteres Kapitel seines Buches angefüllt. Daß er das „Nadel-Ohr“, den „Gänse-Schnabel“, den „Münch-Stem“, die „Teufels-Mauer“, den „Roß-Trapp“ und den „Mägde-Sprung“ auf eine Stufe mit Steinbrüchen verschiedener Art gestellt, also naturbeuingte und kulturbedingte Erscheinungen der Oberflächengestaitung der Erde in einen Topf zusammengeworfen hatte, laßt sich im Hinblick auf den Stand der geographischen Wissenschaft in der BarocKzeit soxort leicht verstehen. Durch sein weiterhin erfolgtes Emgehen auf Brocken, Rammeisberg, Kyffhäuser, Rothenburg, Regenstein war von ihm bewiesen worden, daß er auch den Fragen der Bodenformen ein gewisses Verständnis entgegengebracht hatte. Dabei hatte er naturgemäß die Fabulienreudigkeit semer Tage in den Bahnen verlaufen lassen, die ihr durch das der Zeit eigentümliche Lebensgefühl gewiesen waren und die für ihn zu einer gern wahrgenommenen Veranlassung wuruen, uas jscnweigewicnt seiner Ausführungen auf das Feld des Seltsamen und Sonderbaren zu verlagern. Mit Erörterungen über die „vurieusen Bust- und Thiergarten an und auff dem Hartze“ hatte G. H. Behrens sein Wohlgefallen an den im Geiste eines Andre ie Notre entworfenen Parkanlagen mit ihren gradlinigen Wegen und ihren scharf geschnittenen Laubwanden zum Ausdruck gebracht und damit den höfischen Anschauungen auf dem Felde der Architektur den Tribut gezollt, auf den sie als ein natürliches Produkt des in Ludwig XIV. gipfelnden höfischen Zeitalters Anspruch erheben konnten. Uber soiche im französischen Parkstil gehaltenen Gälten, in denen jede Einzelheit zeigen mußte, daß alles von einem souveränen Willen geleitet und geregelt war, Genaueres zu erfahren, hatte den Bildungsansprüchen und Bildungsbedürfnissen des deutschen bürgerlichen Menschentums zu Beginn des 18. Jahrhunderts entsprochen. Es hatte auch seiner auf das Nützliche und Vorteilhafte eingestellten Geisteshaltung gemäß den Früchten des mechanischen Erfindergeistes bildenden Eim ichtungen aes Bergbaus ein großes Interesse entgegengebracht. G.H. Behrens hatte daher als ein Gelehrter mit volkstümlicher Ader und mit volkstümlichem Humor geglaubt, ihm Rechnung tragen zu müssen und infolgedessen Beschreibungen einer Reihe von ihnen verfaßt, die davon zeugen, mit welchen Augen auch in den Kreisen von Laien die Anlagen des Bergbaus im Harz betrachtet wurden. Damit war von ihm bekundet gewesen, daß sich auch in Nordhausen zu Anfang des 18. Jahrhunderts die Aufkiärung angekündigt hatte, seitens derer der Vergangenheit der Krieg erklärt und auf allen Gebieten des Geisteslebens nach neuen Zuständen gesucht wurde.. Den Beschluß der „Hercynia curiosa“ bildet ein außerordentlich bunt zusammengewürfeltes Kapitel, aus dem sich aber das eine deutlich ersehen läßt, daß nämlich auch in Deutschland das Hofleben eine französische Färbung erhalten und dadurch die notwendig gewordene Verfeinerung des deutschen Lebens erleichtert hatte. In diesem Kapitel war sein Verfasser auch auf Ammoniten zu sprechen gekommen, ohne sich jedoch etwa im Geiste der Sintfluttheorie über ihren Ursprung zu äußern, weil trotz der bereits in Leonardo da Vinci verfochtenen richtigen Ansicht von ihrer Entstehung im allgemeinen damals auch noch große Unklarheit selbst in Gelehrtenkreisen geherrscht hatte. In dem Schlußkapitel war G. H. Behrens auch auf den Nordhäuser Roland eingegangen, dessen Aufrichtung nach seiner heute mehr als primitiv anmutenden Ansicht „der erste Teutsche Kayser Carolus Magnus, seinem Schwester-Sohne, dem tapferen Held Pfaltz-Graffv Roland, zu einem sonderbaren Ehrengedächtniß“ bewirkt haben sollte. Mit all dem von ihm Gebotenen konnte der alte Noidhäuser Stadtarzt einen Beweis dafür erbringen, daß er ein Barockgelehrter vom Scheitel bis zur Sohle gewesen war, der ein Zeugnis davon abzulegen vermochte, daß auch auf Nordhäuser Boden die in geistesgeschichtlicher Beziehung so bedeutsame Wendung zum Barock vollzogen und daß auch den Nordhäuser Geisteserzeugnissen unverkennbar ein Barockgepräge verliehen wurde.

(Schluß im nächsten Heft.)

Die Blasiistraße mit Blick zum Dom

Von Hans Kappler, Nordhausen — Fachgruppe Foto

Mit der Vernichtung der Blasiistraße — von der nur ein paar Häuser im unteren Teile erhalten geblieben sind — an jenem Schreckenstage des 4. April 1945 ging, wie mit so vielem anderen Kulturgut, auch ein Teil des alten Nordhausens für immer verloren. Am Fuße des Hagen, etwa in Höhe des gleichfalls verschwundenen Baltzerbrunnens stehend, öffnete sich dem Wanderer ein beschaulicher Anblick: die sich mit einigen leichten Krümmungen zur Barfüßerstraße hinunterschlängelnde Blasiistraße mit ihren alten Fachwerkbauten und unserem doppeltürmigen Dom mit seinem alten, schönen Steildach. Rechter Hand stand bildbeherrschend das große Fachwerkhaus des Oberlyzeums, der früheren Höheren Mädchenschule, die im Jahre 1908 ihr hundertjähriges Jubiläum feiern konnte. Von dieser Schule blieb nur das 1905 errichtete neue Schulgebäude im hinteren Teile des Grundstücks erhalten, in dem sich heute die beiden Oberschulen befinden. Auf derselben Straßenseite, etwas unterhalb des alten Schulhauses, fesselten den Blick ein paar sehr alte Fachwerkhäuser, die mit ihren vorspringenden Stockwerken an die mittelalterliche Romantik und einstige Bedeutung der „Freien und des Reiches Stadt Nordhausen“ erinnerten. In besonders eindrucksvoller Erinnerung blieb wohl manchem alten Nordhäuser das große, prächtige Fachwerkhaus des Stellmachermeisters Brase mit seinem schweren Eichengebälk, das an die stolze Vergangenheit der handwerklichen Zünfte jener Zeit gemahnte.

Von dem schmalen, engen Gäßlein — der Eselsgasse — die Blasiistraße und Blasii-kirchplatz miteinander verband, blieb nur noch ein kurzes Stückchen übrig, deren alte Häuser recht baufällig sind und einer baldigen Restaurierung bedürfen, will man dieses wenige, was uns vom alten Blasiiviertel blieb, uns und kommenden Geschlechtern erhalten.

Überstanden haben alle Nöte des Krieges die beiden Domtürme, während das schöne Steildach leider den Bomben zum Opfer fiel. Es ist aber zu hoffen, daß in nicht allzu ferner Zeit der Dom auch wieder mit einem neuen, hoch aufragender Schieferdach ins weite Land grüßen und — wie jahrhundertelang zuvor — ein Wahrzeichen unserer „Tausendjährigen“ sein wird.

Brief von Dr. August Kramer an seinen Bruder Fritz in Nordhausen

3. Fortsetzung
(Geschrieben Berlin, 20. März 1848)

Lieber Bruder! Montag, morgens 11 Uhr.

Nachdem gestern das neue Ministerium ernannt u. vorläufig eine Anzahl von Bürgern bewaffnet worden war u. das Militär, welches übrigens nur einiger Straßen (Königstr., Breitestr., Umgebung des Schlosses, Linden, Friedrichstr., Charlottenstr., Leipzigerstr.) Meister geworden war, sich auf Befehl des Königs unter dem Jubel des Volkes in die Kasernen resp. außerhalb der Stadt zurückgezogen hatte, bezogen Civi-listen mit ihren Gewehren die Wachen im Schlosse u. an allen andern wichtigen Punkten u. die Ruhe war augenblicklich hergestellt. Abends war alles illuminiert, was einen reizenden Anblick gewährte. Zahllose Freudenschüsse erschallten aller Orten u. jubelnde Haufen durchzogen die Straßen. Eine Unzahl Herren u. Damen besahen sich die Illumination und spendeten in die für die Verwundeten u. Hinterbliebenen der Gefallenen aufgestellten Büchsen ihre Beiträge. Die Anzahl der Todten läßt sich noch nicht bestimmen. Sie werden alle in der Werderschen Kirche heute noch ausgestellt, so daß jeder sich seine Angehörigen heraussuchen kann. Es mögen vom Civil 200 Todte u. 400—600 Verwundete, vom Militär wenigstens doppelt so viel sein. Eine große Anzahl Todter wurde gestern in das Schloß hineingebracht u. unter Absingung von Trauerliedern dort abgeladen, um sie dem Könige vor Augen zu führen. — Obwohl das Militär, welches einen ausgezeichneten Muth bewährt hat, faktisch das Feld behauptete, so hat es doch nie eine größere Niederlage erlitten. Keiner will etwas vom Militär wissen u. das Gemetzel würde sogleich wieder beginnen, wenn auch nur eine Compagnie sich auf den Straßen blickenließe. Einzelne Militärs, nur mit dem Seitengewehr bewaffnet, können alle Straßen sicher passiren, ohne insultiert oder angegriffen zu werden. Das Volk hat sich in diesem blutigen Kampfe so ehrenhaft bewährt, als es nur irgend zu erwarten w^r. Keine Grausamkeit, keine Perfidie — die man im Gegentheile dem Militär nachsucht. So wurden z. B. nach der Erzählung eines im Schlosse gefangen gewesenen Civilisten von 20 Gefangenen beim Transport nach dem Schlosse nach einander 17 ermordet, obwohl ihnen die Hände gebunden waren u. sie nur gereizte Drohungen u. Schimpfwörter ausgestoßen hatten. In einem der mir benachbarten Häuser (Kronen- u. Friedrichstr. Ecke), dessen Besatzung sich musterhaft gehalten u. den Angriff der Infanterie zweimal blutig zurückgewiesen hatte, sind, nachdem es dem Militär gelungen war, sich der dort befindlichen Barrikaden zu bemächtigen u. in das Haus einzudringen, fast alle Verthei-diger gemordet, die noch nicht ganz todtgeschossenen mit dem Bajonett wiederholt durchstochen worden. Jeder Winkel wurde ausgefegt, jedes Bett bekam Bajonettstiche, die Flüchtigen, welche sich in den Schornstein retiriert hatten, wurden heruntergeschossen und niedergemetzelt. In die Flügge’sche Bierkneipe in der Leipzigerstraße drang das Militär ein, demolierte und stahl u. verwundete fast alle anwesenden Gäste zum Theil tödtlich. Als gestern morgen das Militär und die Pferde, bis zum Tode ermattet, sich fast nicht mehr aufrecht erhalten konnten, erschien eine Proclamation des Königs, worin er zum ersten Male § e i n e lieben Berliner im Verein mit der erlauchten Landesmutter b i 11 e n d anredete, den Abzug des Militärs u. die Volksbewaffnung verheißt. Dies war nach meinem Dafürhalten das- letzte, aber auch das allerletzte Mittel, den Thron aufrecht zu erhalten. Noch 6 Stunden Hartnäckigkeit u. das Loos des Hauses Hohenzollern war entschieden; denn kaum so lange noch konnte das Militär kräftigen Widerstand leisten. Dagegen stellten sich die Bürger, deren hyänenartige Wuth sich in dem schrecklichen Blutbade, in dem Feuer der Musketen, Kartätschen u. selbst Granaten gekühlt hatte, entschlossen, kaltblütig u. mit Todesverachtung ihrem Feinde entgegen u. vertheidigten jede Handbreit Terrain, so gut es sich mit ihren schlechten Waffen thun ließ. Es fehlte selbst nicht an grausenerregender Jovialität. So bot z. B. ei* Schneider, der im Besitze einer Büchse war, nachdem er sich mit derselben einige Militärs „gelangt“ hatte, sein Gewehr einem danebenstehenden, unbewaffneten Assessor an mit den Worten: „Ist Ihnen einmal gefällig, mein Herr!“, worauf der Assessor einen Soldaten niederschoß u. die Büchse mit den Worten „Ich danke recht sehr“ zurückgab. Die Borsig’schen Arbeiter gingen gerade auf das Kartätschenfeuer los u. nahmen zwei Stück Kanonen.

die sie nur wegen Mangels an Munition nicht benutzen konnten. Und als sie ihnen hinterdrein wieder abgenommen wurden, fenite es an Mitteln, sie zu vernageln. Eine dritte ivanone wurde von oen Bürgern zu verschiedenen Maien erobert, Konnte aber nicnt benutzt werden, da sie vor und nicht hinter der Barrikade stand. Der general von Monendorf wurde von der Scnützengilde, die sich in höchstem Grade unerschrocken und tapier gezeigt u. mit inren Buensen schrecklichen Scnaden angencmet hatte, gelangen genommen u. als Geissei bis zur vollständigen Freilassung sämtlicher im Scniosse u. in spanaau befindlichen Geiangenen mne benalten. — Gestern wurden zwei Acte der Volksjustiz ausgeiuhit, die mitgetheilt zu werden verdienen. Dm Handschuhmacher Worneke unter den binnen hatte zwei Burger an die öoiuaien verratnen, w'elcne sie zu Geiangenen machten. Da zog dann gestern ein großer Haufe in den Laden des Handschuhmachers u. demolirte ane Tische, Stuhle, Fenster, Spiegel u. zerriß die vorgeiunuenen Handschuhe u. sonstigen Waaren in tausend Fetzen u. warf sie auf die Suade in den Koth ohne sich das Geringste anzueignen. Dann machten sie den Laden zu u. schrieben außen an: „Verrather Worneke, schon bestraft“. — Dann begab sich der Haute in die Königstraße vor das Haus des Majors a. D. von Preuß, der sicn womweislich vorher entiernt hatte. Diner trat vor und meit eine Anrede: „Meine Herren, dieses Haus gehört dem größten Schurken, weichen die Sonne beschemt; er verlockte sechs Bürger, sich auf sein Dach zu stellen, um von dort das Militär an-grenen zu können, sodann rief er eine Menge Soldaten herbei, die jene 6, bis auf einen, dem es gelang, sich durchzuschiagen, niedermetzelten. Wer ein guter Bürger ist, der tnue wie len.“ Nun wurden samtncne Fenster bis auf die kleinsten Stückchen zei schlagen, vor dem Hause ein großes Feuer angezündet u. dann sämtliche kostbare Möbel, Spiegel, seidene Voi hänge u. Betten, Wasche, Kuchen- u. Hausrath, Gold- u. Silbersachen, Uhren u. alles, was man im Hause fand, verbrannt. „Wer sich etwas aneignet, der ist des Todes, kern guter Bürger wird die Sachen eines Verräthers nehmen“ hieß es dabei. Von Preuß ist entflohen, doch sind 6 Studenten nachgesetzt, die ihn, wenn sie ihn finden, wohl gleich erschießen werden; denn bringen sie ihn lebend nach Berlin, so wird er in kleine Stücke zenissen.

Beinahe eine ebenso große Erbitterung zeigt sich gegen den Prinzen von Preußen, wenigstens sah ich noch gestern, daß ein Haufe dicht vor dem Schlosse einer königl. Equipage nachlief mit'dem Rufe: „Haltet ihn, schlagt ihn tot“, weil man glaubte, der Prinz v. Preußen sitze in dem Wagen, der zum Glücke leer war. Somit scheint die dereinstige Thronfolge dieses Prinzen oder seines Sohnes sehr zweifelhaft zu sein.

Gestern haben trotz der Ruhe, die in der inneren Stadt herrschte, dennoch in den entlegeneren Partien einige Exzesse stattgefunden. So drang ein Haufe in das Haus des Polizei-Commissars Wallroth (Bruder des Hofrath Wallroth in Nordhausen; in der Nähe des Niedeischles.-Märk. Bahnhofes u. verlangte seine Person zu haben. Er hatte sich geflüchtet u. man weiß nicht recht, was man von ihm gewollt haben mag. Auch fing dieser Haufe an, einige Schienen der Eisenbahn loszubrechen, weil man die Ankunft neuen Militärs von Frankfurt fürchtete. Die Bahnhofsinspection versuchte den Haufen zu besänftigen. Dies gelang aber nicht u. so redete man ihm wenigstens zu, so lange zu warten, bis ordentliche Eisenbahnarbeiter herankommen würden, welche eine Anzahl Schienen losmachen sollten, ohne sonstigen Schaden anzurichten. Dies ließen sie sich gefallen u. so ist es auch geschehen. Auch hieben sie eine Anzahl Telegraphenstangen um u. zerschnitten den Draht, so daß jetzt die Correspondenz zwischen Berlin und Köpenick unmöglich ist. Der Zugführer, welcher den Frankfurter Zug bis Köpenick gebracht hatte, kam heute zu Fuße nach Berlin.

Der bedauerlichste Exzeß, der bei allen diesen Unruhen stattgefunden hat, ist der durch Arbeiter veranlaßte Brand der Königl. Eisengießerei, nun weiß ich auch nicht, woher ich die Glocken zu den Schlagwerken bekommen soll.

Uber den großen Tagesereignissen vergißt man ganz seine eigenen Angelegenheiten. Die Concurrenz ist noch nicht beendigt. Nur Siemens kann, so Viel ich bis jetzt gesehen habe (denn der Londoner Brett hat noch nichts gezeigt), mit meinen neuen Apparaten in die Schranken treten. Die zwei letzten Kisten habe ich zwar empfangen, theils wegen der Concurrenz, theils wegen der Revolution noch nicht einmal auspackt. Nun lebt wohl, ich schreibe bald wieder.

Euer August

Um den Mühlgraben

Von Fritz Teichmüller, Nordhausen

Nordhausen ist nicht Venedig und auch nicht Amsterdam; aber Nordhausen hatte seinen Mühlgraben. Mit seinem Verschwinden sowie der Zerstörung der meisten anliegenden Wohnviertel sind einige der charakteristischsten und malerischsten Bilder der Altstadt für immer ausgelöscht.

Von besonderer Eigenart war die untere Weidenstraße mit den über das Wasser zu den Haustüren führenden Brücken und Stegen und den zur Stadtmauer emoorklet-temden Giebeln und Dächern. In behaglicher Breite öffnete sich der zu beiden Seiten des Mühlgrabens liegende Lohmarkt, umstanden von den schönen dreigeschossigen Fachwerkhäusern oberdeutscher Bauart mit ihren aufgesetzten Zwerchhäusern und den Lade- und Lüftungsluken der Gerbereien. Die unterhalb der Klostermühle am Frauenberg liegenden Partien des Grabens ließen mit ihrem unter steinernen Brückenbögen dahinfließenden Gewässer beinahe an das alte Brügge denken. Sie waren nur wenigen bekannt, da der Blick auf sie von der Brücke des Klosterhofes aus durch Wellblechschranken versperrt wurde; dem Zeichenstift Meister Otto Langes freilich sind sie nicht entgangen.

Seit über tausend Jahren sind die nicht immer klaren Wellen des Mühlgrabens dahingeflossen. Er wurde (nach Karl Meyer) schon in fränkischer Zeit angelegt, um die Mühlen des Reichshofes am Frauenberg zu treiben; die Zorge selbst war wegen ihres zuzeiten reißenden und dann wieder fast versiegenden Wassers dazu wenig geeignet.

Aus dieser wurde er unweit Krimderode abgeleitet und floß ihr nach einem Lauf von 5 km bei Bielen wieder zu. Seine kunstvolle mit Dämmen versehene Anlage durch das damals noch unwegsame Gelände am Fuße der östlich gelegenen Höhen entlang zeugte von der vortrefflichen Schulung und Erfahrung der technischen Beamten Karls des Großen.

Seine wirtschaftliche Bedeutung in früheren Zeiten war groß. Er trieb eine Anzahl von Mahlmühlen, etliche Ölmühlen und auch eine Papiermühle. Die Gerber am Lohmarkt und einige Färber brauchten sein Wasser zum Soülen. Um 1690 betrieb er kurze Zeit ein Gebläse für den an der HaUeschen Straße liegenden Eisenhammer. Bei Bränden wurden besondere Stau Vorrichtungen eingesetzt, um das nötige Löschwasser anzustauen. Im Mittelalter lagen an ihm die vier Badestuben der Stadt, in die sein Wasser hineingeleitet wurde. Schließlich dürfen die um 1600 entstandene „Unterkunst“, die sein Wasser bis zum Scheitel des Neuen Weges, und die „Oberkunst“, die es bis zur Höhe des Geiersberges zum „Schöppmännichen“ emportrieb, nicht vergessen werden. — Vor dem Angriff im Jahre 1945 bildete er noch immer die hauptsächlichste Antriebskraft für fünf Mühlen: die Rosenmühle, Kaisermühle, Lohmarktmühle, Martinimühle und Klostermühle und lieferte einigen Brennereien das Kühlwasser.

Seine Beseitigung war von der Stadtverwaltung aus sanitären Gründen seit Jahrzehnten geplant; sie scheiterte immer wieder an den anliegerrechtlichen Auseinandersetzungen mit den Mühlenbesitzern. Der durch den Bombenangriff herbeigeführte Notstand ließ den Knoten durchschneiden; der teilweise verschüttete Mühlgraben wurde gänzlich zugeschüttet, und seine Stätte sowie die angrenzenden von Weidenröschen überwachsenen Trümmerhalden erinnerten den Heimkehrer in nichts mehr an die feuchtkühle schmale Gasse, von deren Brücken aus er einst als Knabe' seine Schiffchen auf dem dunklen Gewässer dahinsegeln ließ.

Interessantes — kurz berichtet

Ein Ministerium für Kultur ist auf Beschluß des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Januar d. J. gebildet worden. Nationalpreisträger Dr. Johannes R. Becher wurde auf Vorschlag des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl zum Minister berufen. Zum Ersten Stellvertreter des Ministers wurde Fritz Appelt, zum Zweiten Stellvertreter Alexander A b u s c h ernannt.

Die Bühnen der Stadt Nordhausen bereiten gegenwärtig das Schauspiel von Gates „So lange die Erde steht“ zur Premiere am 4. März 1954 vor. Regie liegt in den Händen von Günther Mann.

Die Operette „Der Vogelhändler“ von Karl Zeller wird unter der musikalischen Leitung von Joachim Scherschmidt am 27. März herausgebracht. Die Inszenierung besorgt Helmut Cil.

Das Stadtarchiv Nordhausen hat mit der Herausgabe einer Schriftenreihe heimatgeschichtlicher Forschungen begonnen. Bisher liegen zwei Hefte vor, in denen Stadtarchivar R. H. Walther Müller „Die Merwigslindensage in Nordhausen, ein Denkmal der Thüringer Frühgeschichte“ und die „Geschichte des Nordhäuser Archivs“ behandelt. In beiden Heften wird erstmalig reiches, neues Material über die frühgeschichtliche Besiedelung des Raumes um Nordhausen sowie die Entwicklung des Nordhäuser Stadtarchivs veröffentlicht.

Die Hefte sind zum Preise von 1 DM in den Nordhäuser Buchhandlungen erhältlich.

Die Geologie des Mondes behandelt Dr. Günther Viete, Dozent an der Bergakademie Freiberg in Sachsen, in einem Vortrage des Wissenschaftlichen Colloquiums in Nordhausen am Freitag, dem 19. März 1954.

Sprechstunden für Angehörige der Intelligenz werden auf Beschluß der Kreiskommission zur Förderung der Intelligenz ab Januar 1954 an jedem ersten Donnerstag im Monat in der Zeit von 18.30 bis 19.30 Uhr im Kreissekretariat des Kulturbundes durchgeführt. Zu den Sprechstunden werden Abgeordnete des Kreistages und der Gemeindevertretung sowie Mitarbeiter der Kreiskommission zugegen sein.

Die Heimatbilder von Karl Duval, dem Nordhäuser Heimatforscher, dessen 100. Todestages am 19. August 1953 wir in unserer Oktober-Ausgabe „Der. Nordhäuser Roland“ gedacht haben, sollen neu gedruckt werden. Damit wird einem Wunsche der Heimatfreunde entsprochen, denen es nicht mehr möglich gewesen war, sich diese schönen Heimatbilder zu beschaffen.

Hinweis: Den in unserer Januar-Ausgabe erschienenen Artikel „Das Gespenst von Hohnsdorf stellte uns unser Bundesfreund Johannes Ehrhardt, Nordhausen, zur Verfügung. Bedauerlicherweise ist der Name des Verfassers beim Abdruck des Artikels nicht genannt worden.