Nordhäuser Realgymnasiasten im Weltkriege

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Autor: Verschiedene
Titel: Nordhäuser Realgymnasiasten im Weltkriege
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aus: Festschrift zur Jahrhundertfeier des Staatl. Realgymnasiums zu Nordhausen
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Erscheinungsdatum: 1935
Verlag: Verlag Theodor Müller
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Erscheinungsort: Nordhausen
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Nordhäuser Realgymnasiasten im Weltkriege.


Nach Berichten ehemaliger Schüler der Anstalt.


Da draussen....
Von einem Nordhäuser Kriegsfreiwilligen (1917).

Da draußen vorm Feinde, in die Gräben geduckt,
Wo krachendes, splitterndes Eisen zuckt,
Umringt von tausendfach bitterem Tod,
Bereit, zu bestehen die letzte Not,
Liegen Männer, selbst so hart wie Stahl,
Die Lippen geschlossen, die Wange fahl,
Doch offen das Aug', jede Faser gespannt,
Das Gewehr in krampfhaft geschlossener Hand.

Sie seh'n, wie der Tod die Ernte hält,
Wie der Kameraden Blut bespritzt das Feld,
Sie seh'n der Granaten zerfetzende Bahn,
Sehen geraden Blickes das Ende nahn.
Das Schöne, was uns das Leben beschert,
Diesen Männern ist es doppelt wert,
Doch ohne Zögern, in trotzigem Sinn,
Geben sie restlos ihr volles Leben hin.

Da draußen vorm Feinde, in die Gräben geduckt,
Wo manches Herz zum letzten Mal zuckt,
Wo tausendfach furchtbar lauert der Tod,
Wo Tausende ringen in letzter Not,
Liegen Männer, in deren Herzen erwacht
Eine heilige, unbezwingliche Macht,
Die Todfeind ist allem Trug und Schein —
Dieser heil'gen Macht soll die Zukunft sein!

Martin Bochow.


Die Erstürmung des Priesterwaldes 1915

Ein Beispiel für die Entwicklung der Taktik und Truppenausbildung im Stellungskriege.

Als nach der Ypernschlacht die Aussichten auf einen schnellen Erfolg, den man von der Durchführung des von Schlieffen geprägten operativen Vernichtungsgedankens erhofft hatte, dahinschwanden, entschloß sich unsere O.H.L., zunächst zur Defensive Überzugehen und sich unter sparsamster Wirtschaft mit Menschen und Material auf begrenzte Offensiven zur Erreichung bestimmter militärpolitischer und wirtschaftlicher Ziele zu beschränken.

General v. Falkenhayn ließ sich dabei wohl von der Ansicht leiten, daß der Russe bei der Weite des ihm zur Verfügung stehenden Raumes einem Entscheidungskampfe stets ausweichen könne, die Entscheidung des Krieges daher nur im Westen zu haben sei. Für eine Entscheidung suchende Offensive hier, vermittels Durchbruchs durch die feindlichen Stellungen, hielt er aber die deutschen Kräfte noch nicht für ausreichend. Ob dies richtig war, soll hier nicht untersucht werden, — Deutschland geriet dadurch jedenfalls in die Lage einer zu Lande und zu Wasser eng eingeschlossenen, dabei ungenügend verproviantierten und ausgerüsteten Festung. An der Front begann jenes „Martyrium des 1200 Tage dauernden Stellungskrieges, des Krieges der Technik und des Materials, des Krieges der Unterführer, bei dem die soldatischen Eigenschaften der Initiative und Beweglichkeit unter der drückenden Abhängigkeit von den verfügbaren technischen Kampfmitteln zu verkümmern drohten, weil man sich meist auf das Handwerksmäßige der Kriegsführung beschränken mußte.“

Das politische Ringen um die Neutralen, um Italien und die Balkanstaaten, ließ nun mit Beginn des Jahres 1915 beiderseits einen größeren militärischen Erfolg als dringend erwünscht erscheinen.

Auf beiden Seiten war die Führung im Laufe des Winters darauf bedacht gewesen, sich neue Reserven zu schaffen. 22 Divisionen waren vom Gegner neu aufgestellt, während unsere O.H.L., außer den in der Heimat aufzustellenden Divisionen, aus der Front durch Umformationen weitere Kräfte zu ihrer Verfügung ausschied.[1] Da die bisherige Erfahrung gelehrt hatte, daß zur Besetzung befestigter Feldstellungen, wie sie im Laufe des Winters an der Front ausgebaut waren, verhältnismäßig schwache Truppen genügten, wurde die Zahl der Infanterieregimenter einer Division von 4 auf 3 herabgesetzt — eine „Dreiteilung“ durchgeführt, wobei dem Divisionskommandeur außer dem Kommandeur der Artillerie und der Pioniere noch ein Infanteriebrigadekommandeur als besonderer Infanterieführer unterstellt wurden.

Die deutsche O.H.L. entschloß sich, trotzdem gewaltige französische Angriffsvorbereitungen an der Westfront erkannt waren, die frischen Kräfte mit ihrer Masse auf der Ostfront einzusetzen und in der Befreiung der von den Russen stark bedrohten Festung Przmysl den politisch notwendigen Sieg zu suchen. General v. Falkenhayn hatte das Vertrauen, daß die Westfront auch stärksten französischen Angriffen gegenüber standhalten würde, zumal inzwischen der Ausbau des Bahnnetzes hinter der deutschen Front beendet war und nunmehr ein schnelles Verschieben der Reserven an besonders bedrohte Punkte gewährleistete.

Der französische Generalissimus Joffre hielt trotz der Mißerfolge, welche die zur Entlastung des russischen Verbündeten im Laufe des Winters unternommenen Angriffe gegen die deutsche Stellung ausnahmslos gezeitigt hatten, einen Durchbruch durch die deutsche Front noch für durchaus möglich, wenn man dazu nur genügende Mengen Munition und Truppen einsetzen konnte, und die standen ihm im Gegensatz zu den bisherigen Angriffen jetzt zur Verfügung. Zu einem entscheidenden Erfolge mußte zweifellos ein solcher Durchbruch führen, wenn es gelang, den Keil der deutschen Front, der bei St. Mihiel tief in die französischen Linien hinein- sprang auf beiden Flanken zu durchbrechen und seine Spitze so im „Zangenangriff“ abzuquetschen und zu vernichten.

Die deutsche 5. Armee war es gewesen, der es mit der Eroberung des Sperrforts Camp des Romains und mit dem Ueberschreiten der Maas bei St. Mihiel im September 14 gelungen war, diesen Keil in die französische Sperrfortlinie zwischen Toul und Verdun hineinzutreiben und damit den Franzosen die strategische Ausnutzung ihrer gewaltigen Ausfallstellung Toul—Verdun unmöglich zu machen. General Sarail hatte deshalb auch hier bereits im Winter versucht in immer neuem Ansturm bei Combres, bei Apremont und an der Straße Essey—Flirey die Flanken dieses Keiles einzudrücken; sämtliche Angriffe waren im deutschen Feuer zusammengebrochen. Seit Mitte Dezember war hier wieder Ruhe eingetreten, da die französischen Kräfte anscheinend erschöpft waren.

Nunmehr standen aber frische Kräfte zur Verfügung, die gestatteten, ohne Rücksicht auf die Bedrohung von der Festung Metz her, den Durchbruchsstoß noch weiter östlich und damit in noch bedrohlicherer Richtung anzusetzen, als bisher. Als geeignete Stelle bot sich dafür die Gegend des Priesterwaldes. An seinem Westrand liegt die Höhe 372, die einen weiten Einblick in das rückwärtige Gelände ermöglichte. Das Waldgebiet selbst gestattete eine völlig verdeckte Heranführung und Bereitstellung der Angriffstruppen, vor allem der Batterien, und lag im Vorfeld der Sperrforts von Toul, deren schwere Geschütze direkt in den Kampf eingreifen konnten.

Auf deutscher Seite standen hier unter den A.O.K. von Strantz in Linie Flirey—Norrou 3 Ersatzdivisionen und eine Landwehrbrigade, die beim Vormarsch hinter der 5. Armee gestaffelt gefolgt waren und beim Uebergang zur Defensive nach der Marneschlacht im Anschluß an die Front der Festung Metz eingesetzt wurden, um den von der Löte Lorraine zur Mosel südlich der Täler des Rupt de Mad und der Trey hinziehenden Höhenrücken zur Verteidigung einzurichten. Sie hatten Zeit gehabt, hier eine befestigte Stellung anzulegen, gegen welche der Feind aus seiner Sperrfortlinie heraus nur langsam und vorsichtig vorfühlte, um sich dann der deutschen Front gegenüber ebenfalls einzugraben.

Der Bergrücken, über dessen Kamm die deutsche Stellung sich hinzog, hat eine Höhe von 3—400 m und ist vielfach mit Buchenhochwald bedeckt, unter dem wie in fast allen lothringischen Wäldern ein dichtes Unterholz wuchert. Der Boden besteht aus einem harten Kalk, der dicht unter der Oberfläche ansteht und das Ausheben genügend tiefer Stellungsgräben außerordentlich erschwert. Aus diesem Grunde hatte die Truppe im Priesterwald die Stellung in Form ausgedehnter Astverhaue angelegt, die von Blockhäusern aus unter Feuer gehalten wurden; — ein System, das unsere Vorschriften für Stellungen in Wäldern auch vorsahen. Das Material dazu erhielt man ja auch ohne weiteres, wenn man einen Streifen Schußfeld durch den Wald freihieb. Die aus den mächtigen Buchenstämmen errichteten und mit Schießscharten versehenen Blockhäuser boten dabei vollen Schutz gegen Gewehrfeuer und Sprengstücke und gewährten gleichzeitig der Truppe eine gute Unterkunft.

Da der Gegner sich vor dieser Front im Priesterwalde bis zur Mosel still verhielt, ruhte hier auch zunächst die Kampftätigkeit fast ganz, was unseren Vorschriften sicher nicht entsprach. Die Ueberraschung war denn auch vollkommen, als der Franzose auch im Priesterwalde Ende Januar zum Angriff vorbrach. Unter dem Schutze des bisherigen fast waffenstillstandähnlichen Zustandes hatte er Feldgeschütze in naher Entfernung vor den Blockhäusern unbemerkt in Stellung gebracht, deren Volltreffern diese natürlich nicht gewachsen waren. — Die deutsche Stellung ging verloren und konnte in Gegenstößen nur zum Teil wiedergenommen werden. Hätte der Franzose ohne Verzug den Angrisf mit frischen Kräften weiter vorgetragen, so wäre wohl ein Durchbruch hier möglich gewesen, — nach den blutigen Erfahrungen seiner Winterangriffe, vor allem der Kämpfe in der Champagne, hatte seine Angriffsmethode aber etwas stark Schematisches angenommen. Nur von Abschnitt zu Abschnitt unter stets neuer starker Feuervorbereitung wurden eng begrenzte Angrisfsstöße angesetzt. Eingesetzt wurden dazu stets frische Elitetruppen, die nach erfolgtem Sturm sofort durch andere Truppen abgelöst wurden, welche dann die Last des Aufräumens und Umbaues der gewonnenen Stellung, die meist in starkem Abwehrfeuer erfolgen mußte, zu tragen hatten. Die Stimmung des französischen Soldaten war, wie sich aus Gefangenenaussagen ergab, damals alles andere als kriegsfreudig. Nach den bisherigen starken Blutopfern wollte die Truppe nicht mehr recht zum Angriff aus den Gräben heraus, Meutereien waren an der Tagesordnung, und nur das eiserne Durchgreifen der französischen Führer hat damals einen völligen Zusammenbruch des Kriegswillens verhütet.

So wurde es Ende März, bis der Gegner an dieser Front erneut angriff, und zwar zunächst wieder an der Straße Essey—Flirey. Anfang April erfolgten dann neue Vorstöße bei Regnieville, Fey en Haye und im Priesterwald. Sie trafen hier auf die in dem Januarangriff bereits erschütterte Stellung und drückten diese in einer Breite von über 1 Kni und einer Tiefe von 1000 m völlig ein. Fey en Haye ging verloren, desgleichen die militärisch wichtige Höhe 372 am Westrand des Priesterwaldes, die dem Gegner die Möglichkeit zu direkter Beobachtung und Feuerleitung verschaffte.

Dem Verteidiger war es nur mit Müh und Not gelungen, sich am Nordrand des Höhenrückens zu halten, wo er sich, begünstigt durch das Waldgelände, dessen Unübersichtlichkeit ja dem Verteidiger ebenso zu statten kam wie dem Angreifer, erneut einzugraben begann. Auch hier hatte der Gegner den Angriff zunächst nicht weiter vorgetragen.

Welches waren nun die Ursachen dieses deutschen Mißerfolges, lagen sie etwa in unseren taktischen Vorschriften und Anschauungen über den Stellungskrieg begründet?

Das deutsche Heer, im altpreußischen Angriffsgeist erzogen, war im Frieden kein Freund der Anwendung von Feldbefestigungen gewesen, — die „Buddelei“ fand bei der Fronttruppe nie die rechte Gegenliebe. Von Seiten des Generalstabes war jedoch nach den Erfahrungen des Russisch-Japanischen Krieges die erhöhte Bedeutung der Feldbefestigung zum Ausgleich der dauernd sich steigernden Waffenwirkung klar erkannt und in zwei neuen Dienstvorschriften ausgewertet (Kampf um Festungen, 1910, Feldpionierdienst für alle Waffen, 1911) und durch Uebungen in den Manövern sowie durch Anlage großer Sonderübungen (z. B. Festungskriegsübung Thorn, 1912) dafür gesorgt, daß die Truppe sich mit diesen neuen Vorschriften vertraut machte. Den Forderungen für die verstärkte technische Ausrüstung der Armee und für Vermehrung der Pionierformationen, welche der Generalstab auf Grund dieser Erkenntnisse beim Kriegsministerium stellen mußte, wurde jedoch aus „Sparsamkeitsgründen“ auch bei der Heeresvermehrung 1913 nur in sehr bescheidenen Maße stattgegeben. So kam es, daß die technische Ausrüstung der Ersatzdivisionen, trotz planmäßiger Aufstellung bei der Mobilmachung, den modernen Anforderungen nicht genügte.

Bei der Aufstellung der neuen Vorschriften war auch dem psychischen Element Rechnung getragen, nachdem im russischjapanischen Feldzug die Gefahr besonders hervorgetreten war, daß die Schwäche der menschlichen Natur bei der gesteigerten Feuerwirkung nur allzu gern die Deckung sucht und so die Feldbefestigung leicht zum Grabe des Angriffsgedankens werden läßt. Dies hatte den Russen in diesem Feldzuge den Sieg gekostet, unsere Vorschriften betonten daher grundsätzlich den Offensivgedanken auch für die Verteidigung. Im Gegensatz zu den französischen Anschauungen, die für den Ausbau von Feldstellungen mehrere Linien hintereinander grundsätzlich vorsahen (Vorstellung, Hauptstellung, rückwärtige Stellung), hielt man bei uns eine hartnäckige Verteidigung nur für gewährleistet, wenn der Verteidiger keine zweite Deckung hinter sich weiß und so gezwungen ist, in seiner Stellung aus- zuhalten. Man forderte dafür aus dem Grundsatz der offensiven Verteidigung heraus die Bereitstellung starker Reserven zum schnellen und kräftigen Gegenstoß. Schießerfahrungen im Frieden gegen feldmäßig gedeckte Ziele mit unseren leichten und schweren Feldhaubitzen hatten auch immer wieder gezeigt, daß eine entscheidende artilleristische Wirkung gegen solche Ziele nur schwer zu erreichen war, — daß die Waffenwirkung gegen Feldbefestigungen durch Einsatz von schwerstem Steilfeuer und Minenwerfern, wie sie der Stellungskrieg im Winter 1914/15 brächte, eine derartige Steigerung erfahren sollte, konnte niemand voraussehen.

Dort, wo an der Front nun die Stellungen aus den Rückzugskämpfen heraus entstanden waren und wo die Verteidigung von der Truppe im Sinne der Vorschriften in immer erneuten Unternehmungen und Vorstößen offensiv geführt wurde, hatte sich ganz von allein aus der einen Hauptkampflinie ein System von mehreren Gräben hintereinander entwickelt. Die Kämpfe in der Champagne hatten weiter den Wert der Tiefengliederung im Stellungskampfe zum Ausgleich der gesteigerten Waffenwirkung erkennen lasten, so daß die O.H.L. schon damals den Ausbau der Stellungen nach der Tiefe anordnete.

An der Front der 8. Ers.-Div. im Priesterwald hatten nun unglücklicherweise verschiedene Umstände zusammengewirkt, um diese Entwicklung der Taktik im Kampf um Feldbefestigungen, wie sie schon im Winter 14/15 an anderen Fronten eingesetzt hatte, nicht zur Auswirkung kommen zu lassen. Einmal lag dies eben in der Schwäche der menschlichen Natur, aus der heraus die Truppe sich nicht recht entschließen konnte, den hier herrschenden Frieden durch offensive Kampfhandlungen zu stören. Mangel an Munition leistete dem nur Vorschub und diente als Entschuldigung. Weiter bot der harte Kalkfels des Untergrundes bei der mangelnden technischen Ausrüstung der Truppe dem Stellungsausbau sehr erheh- liche Schwierigkeiten, auch war die unglückliche Organisation der Ersatzbrigaden und Divisionen, denen der Regimentsverband fehlte, nicht dazu angetan, diese Schwierigkeiten zu überwinden. Endlich aber lag es wohl auch an dem Mangel von aktiven Offizieren bei diesen Formationen, datz sie mit den taktischen Anschauungen der Vorschriften für den Stellungskrieg doch noch nicht so recht vertraut waren und eine gewisse Nachgiebigkeit dem Wunsche der Truppe gegenüber nach Ruhe Platz greifen konnte. So trat, als hier der Einbruch des Gegners erfolgt war, gerade das ein, was die Vorschriften vermeiden wollten — nämlich die Ueberschätzung des Wertes der Pionierkunst und ihrer Vertreter auf dem Schlachtfelde. Was taktisch nicht geleistet werden konnte, sollte die Pionierkunst nunmehr retten. Die Befehle der 41. Ersatzbrigade lauteten dahin, datz der Kampf als „Pionierangriff im Sappen- und unterirdischen Minenkriege unter Einsatz starker Artillerie weiterzuführen sei“. — Ein Befehl, dessen Ausführung mehr oder weniger illusorisch bleiben mutzte, da die außerordentlichen Anstrengungen, die ein solcher Pionierangriff noch dazu unter dauerndem schweren feindlichen Feuer fordert, von der stark erschöpften Truppe einfach nicht zu leisten waren.

Daß aber neue französische Angriffe hier unmittelbar bevor- standen, lag autzer Zweifel, ebenso war vorauszusehen, datz die Verteidiger des Priesterwaldabschnittes solchen Angriffen nicht mehr gewachsen waren. Ein damals erbeuteter Tagesbefehl des Generals Dubail (1915 Führer der I. fr. Armee) besagte: „Auf einer Front von 14 Km. hat die verstärkte I. Armee eine Sturmstellung gewonnen. Bald werden wir die Zange, in der wir dey Gegner zwischen Verdun und Pont á Mousson eingeschlossen haben, schließen und mit beträchtlichen Kräften von vorn und im Rücken angreifen, um die feindlichen Truppen zu vernichten. — Jeder Mitkämpfer mutz wissen: Die Kanonen, die er vor sich hört (Lombres), sind die französischen Geschütze, die im Rücken des Gegners feuern.“

In dieser kritischen Lage setzte das A.O.K. seine Reserve, die neu formierte 121. ID. ein. Die Infanterie-Brigade dieser aus Abgaben anderer Divisionen als Verfügungsdivision der O.H.L. neu zusammengestellten Truppe bestand aus den Inf.-Regimentern R. I. R. 56, dem I. R. 60 und dem R. I. R. 7 und trug die No. 241. Diese Brigade war bereits, ehe die Aufstellung der Division völlig beendet war, vom A.O.K. v. Stranz in den Kampf geworfen, als Mitte April die französischen Angriffe an der Straße Essey—Flirey und bei Regnieville erneut in die eigene Stellung eindrangen und zwar, wie die Not der Stunde es erforderte, regimenterweise, unter Zerreißung der Verbände. 14 Tage lang stand sie hier in einem außerordentlich blutigen Ringen um jeden Meter Graben, das ihr schwerste Verluste brächte, darunter den Brigadekommandeur selbst und den Kommandeur des I. R. 60.

Aus diesen Kämpfen ergaben sich aber schwerwiegende Erfahrungen, für die Führung der Infanterie besonders hinsichtlich der von unseren Vorschriften geforderten Gegenstöße zum Herauswerfen eines in die Stellung eingedrungenen Gegners. Solche frontal geführten Gegenstöße glückten fast nur, wenn sie so schnell einsetzten, daß der Gegner noch nicht Zeit gefunden hatte, sich in den besetzten Gräben einzurichten — vor allem Maschinengewehre in Stellung zu bringen. Dazu aber war das leichte französische M.G. auf feiner kleinen Dreibeinlafette ganz besonders geeignet im Gegensatz zu dem zwar an und für sich vorzüglichen deutschen M.G., das aber für den Grabenkrieg zu unhandlich war. Leichter erwies es sich vielfach, einen vom Gegner genommenen Graben von der Flanke her mittels Handgranatenangriffes aufzurollen. Es zeigte sich, daß das unbedingt erforderliche schnelle Ansetzen zum Gegenangriff sich nur ausnahmsweise verwirklichen ließ. Einmal waren die Reserven selten nah genug heran, die Befehlsübermittlung in den zerschossenen Stellungen durch Meldegänger erforderte viel Zeit und war im feindlichen Feuer höchst unsicher, es dauerte auch immer erst eine ganze Weile, bis erkannt war, wo der eingedrungene Gegner sich festgesetzt hatte, endlich waren die für ein Aufrollen des Grabens von der Flanke her notwendige große Menge Handgranaten meist nicht zur Stelle. Unsere Vorschriften betonten nun zwar auch schon, daß für den Erfolg von Gegenstößen genaue Erkundung und durch Befehl geregeltes Zusammenwirken der Waffen Vorbedingung sei — mit den Reibungen des Ernstfalles und der langen Zeit, die solche Vorbereitungen im feindlichen Feuer erforderten, hatte man doch noch nicht rechnen gelernt. Die dringenden Befehle der höheren Führung im Falle des Verlustes eines Stellungsstückes, zum „sofortigen“ Gegenstoß, die damals noch an der Tagesordnung waren, wurden daher vielfach die Ursache von Fehlschlägen und brachten die Gefahr mit sich, die höhere Führung bei der Fronttruppe in Mißkredit zu bringen.

Der Einsatz der 241. Inf.-Brigade im Priesterwalde in dem bisher von der 41. Gem.-Ersatzbrigade gehaltenen Abschnitt erfolgte nun in den ersten Maitagen. Die 3 Regimenter wurden flügelweise nebeneinander eingesetzt in Abschnitten von ca. 600 m Breite mit je 1 Bataillon in Front, in Bereitschaft und in Reserve. Das R.I.R. 56, das mit seinem Ersatz von westfälischen Bergleuten sich in den bisherigen Kämpfen als besonders kampftüchtig erwiesen hatte, erhielt dabei den gefährdetsten Abschnitt gegenüber der Höhe 372. Der Gegner lag auf dieser Front dicht gegenüber, oft trennten nur wenige Meter die beiderseitigen Linien. Der Wald war im Abschnitt II und III im Bereich der vorderen Linien völlig vernichtet, nur wenige Baumstrunke ragten noch aus dem Boden hervor, während einige 100 m hinter der vordersten Linie noch Hochwald vorhanden war. Anschließend an Abschnitt III stand bis zur Mosel eine Landwehrbrigade, vor deren Stellung bisher der Gegner sich völlig ruhig verhalten hatte, — sie wurde der 241. I.B. mit unterstellt.

Einen besonders guten Einblick in die schweren Kämpfe der folgenden Tage gibt nun das Kriegstagebuch der 241. Inf.-Brigade, dem der Bericht über diese Kämpfe auszugsweise entnommen werden soll. Wenn dabei die Schilderung der Tätigkeit der anderen Waffen etwas zu kurz kommt, so soll ihnen damit ihr großer Anteil an dem Erfolge keineswegs beschnitten werden. Die Infanterie trägt aber im Kriege zweifellos die Hauptlast des Kampfes, — aus ihrer Kampftätigkeit wurden daher in erster Linie die Erfahrungen geschöpft, die der Entwicklung der taktischen Anschauungen zu Grunde gelegt wurden.

Ueber die Zustände an der Priesterwald-Front, die nach dem Verlust der Hauptkampflinie in den letzten Wochen entstanden war, besagt das K.-Tagebuch zunächst: Flache Gräben, meist zusammengeschossen, Mangel an Traversen und Unterständen — eine zweite Linie nur teilweise vorhanden. Der Minenkrieg erfordert starke Abgaben von Arbeitskommandos zu der Pionierkompagnie und beraubt so die Infanterieregimenter ihres besten Menschenmaterials (Bergleute). Der Hauptanmarschweg zur Stellung ist grundlos und nur ungenügend mit Strauchmasken gegen Einsicht von Höhe 372 her geschützt. Die Unterkünfte in den Reservelagern sind völlig unzureichend und gewähren der dort ruhenden Truppe keine Erholung. Die sanitären Verhältnisse liegen überall im argen, für Wasserbeschaffung ist in dem quellenarmen Gebiet nicht vorgesorgt — die Seuchengefayr ist groß, denn über den Stellungen lagert ein furchtbarer Leichengeruch, und Wolken von Fliegen erheben sich von den Körpern der Gefallenen, die bei dem Felsboden nicht genügend tief bestattet sind und von den Granaten immer wieder aufgewühlt werden.

Eine ungeheure Arbeit war hier zu leisten, und zwar meist im feindlichen Feuer; es bedurfte sorgfältiger befehlsmäßiger Regelung und Ueberwachung, damit hier etwas geschafft wurde, ohne die Kräfte der Truppe vorzeitig zu verbrauchen.

Der Brigadestab war sich bald darüber klar, daß eine grundlegende Aenderung dieser Verhältnisse nur erzielt werden konnte, wenn man den Gegner aus der gewonnenen Stellung wieder Herauswarf, vor allem die beherrschende Höhe 372 wieder in die Hand bekam — nur dann war man in der Lage dem Feinde wieder das Gesetz des Handelns vorzuschreiben. Daß aber nach den bisherigen Kampferfahrungen ein solcher Angriff nur Aussicht auf Erfolg hatte, wenn er auf das sorgfältigste erkundet und vorbereitet war und vor allem durch sorgfältigen Stellungsausbau eine Basis für die Bereitstellung der Angriffstruppe geschaffen wurde, lag auf der Hand. Dazu aber gehörte Zeit, und zwar nicht Tage, sondern Wochen.

Die Division und das AOK. glaubten jedoch, mit dem Angriff nicht so lange warten zu können, sondern befahlen, trotz der Vorstellungen der Brigade, einen Sturm auf die Höhe 372 bereits für den 15. 5., bis zu welchem Termin die Pioniere mit dem Vortreiben eines Minenstollens unter diese Höhe fertig sein wollten.

Die Vorbereitungen dazu wurden noch gestört durch einen feindlichen Vorstoß am Westrand des Priesterwaldes am 12. 5., der nach einer Beschießung der Stellung mit 28 om-Kaliber am Nachmittag einsetzte und im Abschnitt II in den Graben eindrang. Die ganze Nacht dauerten die Handgranatenkämpfe an, bis der eingedrungene Gegner wieder vertrieben war. Ueber die nächsten Tage sagte das Kriegstagebuch:

13. 5.: Rgt. 56 versucht im Handgranatenkampf sich näher an die Höhe 372 heranzuarbeiten und gewinnt einige Meter Boden.

15. 5.: Der Angriff auf Höhe 372 scheitert, nachdem die Minensprengung insofern mißglückt, als der Stollen sich noch nicht weit genug unter die Höhe vorgetrieben erwies. Rgt. 56 gewinnt zwar wieder einige Meter Boden, Rtg. 7 kommt aber gegen fdl. MG.-Feuer nicht vorwärts. Am Nachmittag greift der Gegner hier nach stärkster Artillerievorbereitung selbst an und buchtet unsere Stellung am Rande des Priesterwaldes um fast 100 m nach der Tiefe aus — es gelingt nach sehr blutigem Kampfe nur, ihn hier mit Hilfe alter rückwärtiger Grabenstücke, die schnell verbunden werden, abzuriegeln.

16. 5.: Gegner greift erneut an, kommt aber im Feuer unserer 21 und 15 em-Kaliber, die an den kritischen Punkt rechtzeitig massiert werden konnten, nicht vorwärts. Die Division befiehlt einen neuen „schleunigen“ Angriff auf Höhe 372.

Nunmehr aber macht die Brigade energisch Front gegen diese Angriffshetze. Nachdem dazu der Divisionsstab etwas rücksichtslos zur persönlichen Inaugenscheinnahme der Verhältniße hineingeschleppt war in die Hölle vor Höhe 372, mußte er sich zu den Anschauungen der Brigade bekehren. An dem Gedanken eines großen einheitlichen Angriffs sollte unbedingt festgehalten werden — aber erst, nachdem eine gründliche Vorbereitung dazu durchgeführt war. Es wurde nunmehr befohlen, daß in den nächsten Tagen von offensiver Tätigkeit abzusehen sei — auch die Artillerie sollte nur in enger Zusammenarbeit mit dem Infanteriebrigadestab ihre Ziele wählen und sich hauptsächlich der Bekämpfung der feindlichen Batterien widmen, um so der Infanterie zunächst einmal eine gewisse Ruhe zum Ausbau der Stellung zu verschaffen. Nebel in den nächsten Tagen legte auch die Feuertätigkeit des Gegners mehr oder weniger lahm und begünstigte den befohlenen Ausbau der Stellung.

23. 5.: Die feindlichen Vorstöße leben wieder auf, werden aber diesmal verhältnismäßig leicht abgewiesen, weil der bessere Stellungsausbau sich schon geltend macht.

27. 5.: Nach stärkstem Trommelfeuer, das unseren vorderen Graben wieder völlig einebnet, stürmt der Gegner den Abschnitt II und die angrenzenden Flügel der Abschnitte I und III. Die vordere Linie ist nicht zu halten; nachdem die zweiten Gräben für die Reserven aber inzwischen fertig geworden waren, stehen diese nahe heran bereit und können unverzüglich zum Gegenstoß vorgehen. Der Gegner wird aus Abschnitt II und III herausgeworfen, im Abschnitt I kommt es zum Grabenkampf mit Handgranaten, der nicht zum vollen Erfolge führt. Einzelne Grabenstücke bleiben in des Feindes Hand und werden abgeriegelt

30. 5.: Das feindliche Trommelfeuer hält an. Unsere Artillerie ist nicht in der Lage die feindlichen Batterien, deren Stellungen in den Wäldern nicht erkannt sind, zu bekämpfen, erhält allerdings aus gleichem Grunde auch selbst fast kein Feuer. Die Infanterie hat es inzwischen schon gelernt, die Verteidigung beweglich zu gestalten und nicht zu fest am Gelände zu kleben. Der vorderste Graben, auf dem das Feuer der schwersten Kaliber liegt, wird planmäßig geräumt, kann aber dann, als ein überraschendes Vorgehen starker feindlicher Kräfte erfolgt, nicht schnell genug wieder besetzt werden. Zu einem Gegenstoß gegen den eingedrungenen starken Gegner, der überall schon Maschinen-Gewehre in Tätigkeit hat, reichen die Kräfte der stark erschöpften Truppe nicht mehr aus. Der Gegner scheint den angekündigten Durchbruch mit aller Macht erzwingen zu wollen, weshalb der Division vom AOK. Verstärkungen zur Verfügung gestellt werden, mit denen aber auch gleichzeitig wieder die bewußten Befehle zum sofortigen Gegenangriff eingehen. In diesem Falle gilt es jedoch, dem Gegner zu zeigen, daß die Stellung noch lange nicht durchbruchsreif ist, was stets am besten durch eigenen Angriff bewiesen werden kann.

31. 5.: Soweit es die Zeit irgend zuläßt, wird der Angriff sorgfältig vorbereitet. Um bei den zerschossenen, der bereitzustellenden Angriffstruppe nur wenig Deckung bietenden Gräben, einen längeren Artilleriekampf zu vermeiden, wird nur ein kurzer schlagartiger Feuerüberfall befohlen, dem der Vorstoß sich unmittelbar anschließen soll. Im Abschnitt II, wo die stürmende Truppe der Feuerwalze beim Vorgehen dichtauf folgt, gelingt der Angriff; im Abschnitt I tritt die Truppe eine Kleinigkeit zu spät an und gerät dadurch schon in das feindliche Sperrfeuer. — Die Stellung wird hier dann meterweise im Handgranatenkampf wieder genommen. Im Abschnitt III stößt der Angriff auf nicht niedergekämpfte M.G. und kommt nicht vorwärts. Das eigene Artillerie- und Minen- werferfeuer hatte hier infolge schwieriger Beobachtungsverhältnifse nicht gewirkt, teilweise sogar im eigenen Graben gelegen und die Bereitstellung der Angriffstruppen gestört. Da auch am folgenden Tage keine Wirkung des Vorbereitungsfeuers erzielt werden kann, entschließt sich die Division auf Vorstellung der Brigade hin, vom Angriff Abstand zu nehmen. Division und Brigade sehen nach den bisherigen Erfahrungen den Verlust von einigen Meter Graben ganz und gar nicht mehr als entscheidend oder bedenklich an — die Erhaltung der Kampfkraft und Kampffreudigkeit der eigenen Truppe für wirklich taktisch kritische Momente war wichtiger. Der Wert der Tiefengliederung in der Verteidigung hatte sich auch in dieser. Kämpfen klar gezeigt. Führung und Truppe hatten die Ueberzeugung gewonnen: Durch kommt der Gegner hier nicht.

2.—7. 6.: Gegner beschränkt sich auf Störungsfeuer. Der Ausbau der Stellung wird mit allen Kräften gefördert.

8. 6.: Seit 7 Uhr vormittags verstärktes feindliches Feuer mit schwersten Kalibern auf Abschnitt III und seine rückwärtigen Verbindungen. Das Feuer wird durch feindliche Flieger geleitet, zu deren Vertreibung unsere Flugkräfte bei weitem nicht aus- reichten — dauerte es doch damals noch mindestens zwei Stunden, bis angeforderte Kräfte vom nächsten Flugplatz Metz sich auf die erforderliche Gefechtshöhe von 2000 w heraufgeschraubt hatten und eingreifen konnten. Da Nachrichten über das Eintreffen frischer Kräfte hinter der feindlichen Front Vorlagen, schien ein neuer Durchbruchsversuch bevorzustehen, der sich diesmal gegen Abschnitt III richtete. — Die Reserven werden deshalb entsprechend bereit gestellt. 3 Uhr nachmittags steigert sich das feindliche Feuer zum Trommelfeuer, 4 ° sprengt der Gegner mit seinen Minengängen, deren Vortreiben ihm bis unter die deutsche Stellung unbemerkt gelungen war, unseren vordersten Graben im Abschnitt III in die Luft. Die zurückflutenden Trümmer des Stellungsbataillons werden von den Reserven ausgenommen. Der Gegner wagt nicht über die von ihm sofort besetzten Sprengtrichter vor- zugehen, als ihm aus rückwärts auf Baumkanzeln eingebauten MG.-Nestern stärkeres Feuer entgegenschlägt.

Andererseits kam aber auch der Gegenstoß der bereitgestellten Reserven nicht vorwärts, da es zu lange gedauert hatte, bis sich Rauch und Qualm der Sprengung verzog und der Gegner seinerseits bereits M.G. vorgebracht hatte. Auch war die Truppe durch die Ereignisse stark durcheinander gekommen und von der außerordentlich großen Hitze, die an diesen Tagen herrschte, besonders mitgenommen und sehr erschöpft. Da aber inzwischen der Ausbau der rückwärtigen Linien auch hinter Abschnitt III gute Fortschritte gemacht hatte, hielten Brigade und Division die Lage auch hier nicht für bedenklich und entschlossen sich, die zur Zeit von den Reserven besetzte Sperrstellung als Hauptkampflinie zu halten und auszubauen.

Aber auch die Angriffskraft des Gegners schien nunmehr erlahmt, — weitere Vorstöße blieben aus. Nach Meldungen, die am folgenden Tage eingingen, sollte er sogar Kräfte von dieser Front fortgezogen haben, um sie in die bei Arras tobenden Kämpfe einzusetzen.

Dies gab der Division und Brigade sofort die Veranlassung, den ursprünglichen Gedanken eines großen, einheitlich angelegten Angriffes wieder aufzunehmen, um dem Gegner die gesamte Höhenstellung zu entreißen. Die vom AOK. noch zur Verfügung gestellten Reserven gestatteten zunächst einmal, die Brigade- Regimenter aus der Kampflinie auf einige Tage herauszuziehen. Diese Truppe stand nun seit Mitte März ununterbrochen in schwerstem Kampfe und Arbeitsdienst im feindlichen Feuer — ihre blutigen Verluste hatten inzwischen die 100^ erreicht, und doch war es in diesen kritischen Zeiten auf der Westfront nicht möglich, ihr einmal volle Ruhe zu gewähren. Denn noch tobten die Kämpfe bei Combres auf der anderen Flanke des Keils und auch im Priesterwalde waren, nachdem der Gegner nunmehr die gesamte Höhenstellung in einer Breite von über 2 km in seinen Besitz gebracht hatte, in absehbarer Zeit neue Angriffe zu erwarten. Nur ein voller deutscher Erfolg konnte dies blutige Ringen um die beherrschende Priesterwaldhöhe endgültig zu unseren Gunsten entscheiden, deshalb war jede Minute zu seiner Vorbereitung kostbar. Es galt die eingetroffenen Ersatzmannschaften mit dem alten Stamm zu verschmelzen und die Truppe für den geplanten Angriff unter Berücksichtigung all der in den letzten Kämpfen gewonnenen Erfahrungen exerziermäßig einzudrillen.

Aus ausgesuchten Mannschaften jeder Kompagnie wurden daher besondere Sturmtrupps gebildet zur Lösung von Sonderaufgaben des Grabenkampfes. Zu diesen Sturmtrupps traten die besten Handgranatenwerfer, Gewehrgranatschützen und Scharfschützen, deren Gewehre mit Zielfernrohren versehen waren. Ohne viel nach Vorschriften und Bestimmungen zu fragen, erhielten die Mannschaften besondere Aermelabzeichen an ihrer Uniform, die sie als „Elite“ kenntlich machten und ihren Ehrgeiz in hohem Maße anzuspornen geeignet waren. Die Frage der Unhandlichkeit unserer MG. wurde durch eine von der Truppe selbst konstruierte, leichte, hölzerne Behelfslafette gelöst, auf welche der Lauf mit Wassermantel montiert wurde. Bei der meist geringen Schußentfernung im Grabenkampf genügte die Treffgenauigkeit noch vollauf. Die Zahl der MG. war durch Einstellung von Beutegewehren stark vermehrt. Die MG.-Schützen waren allmählich zu einem organischen Bestandteil der Inf.-Kompagnie geworden. An einem hinter der Front errichteten Uebungswerk wurde dann die Zusammenarbeit dieser Sondertrupps mit den Kompagnien exerziermäßig gedrillt und zwar sogar, um die jüngeren Ersatzmannschaften daran zu gewöhnen, mit scharfer Munition, bis alles klappte. Bei all diesem nicht leichten Dienst konnte der Truppe noch nicht einmal volle Nachtruhe gewährt werden, da die Bataillone nachts am Stellungsausbau mitarbeiten mußten.

Daß aber diese außerordentlich hart erscheinenden Anforderungen an die Truppe gestellt werden konnten und daß es dabei auch noch gelang, die Stimmung der Truppe bis zu einer gewissen Siegeszuversicht zu steigern, das beruhte auf dem selten guten Vertrauensverhältnis, das bei der 241. I.-Brigade zwischen Truppe und Führung herrschte. Wo „dicke Luft“ war, da war die Truppe gewohnt auch ihre Führer zu finden. Der Tod des Brigadekommandeurs und des Kommandeurs IN. 60 in ihrer vordersten Reihe in den Kämpfen bei Flirey hatte ihr gezeigt, daß die Führung alles mit ihr teilte. Wie oft müssen dem Mann im Graben Befehle der Führung unverständlich und unnötig hart erscheinen, wenn er nicht das unerschütterliche Vertrauen gewonnen hat, daß der Führer aus eigener Erfahrung weiß, wie es im vordersten Graben zugeht und nur befiehlt, was wirklich notwendig und zweckmäßig ist. Ein solches Verhältnis zwischen Truppe und Führer ist die echte Disziplin, die — aufgebaut auf die Persönlichkeit des Führers selbst — auch in kritischen Lagen nicht versagt und gestattet, von der Truppe das scheinbar Menschenunmögliche zu verlangen. Einen mächtigen Antrieb zur Hebung der Stimmung bot auch der Umstand, daß der Truppe Urlaub in Aussicht gestellt werden konnte, wenn es gelang, hier die Lage zu meistern und gründlich zu bereinigen.

Die Ausschiffung all solcher psychologischen Momente seitens der Führung ist im Kriege aber für den Erfolg oft von ausschlaggebender Bedeutung. Die Führung muß sich ein richtiges Urteil bilden können einmal über soldatischen Wert des einzelnen Mannes und dann auch über die Truppe in ihrer Gesamtheit, deren Menschenmaterial ja je nach der Stammeseigenart den harten Anforderungen des Stellungskrieges sich sehr verschieden gewachsen zeigt. Der intelligente, gefahrengewohnte niederdeutsche Bergmann, aus denen sich das RIR. 56 rekrutierte, stellte z. B. zweifellos eine Auslese vor, an welche ganz andere Anforderungen gestellt werden konnten, als an den leichtlebigeren Ersatz des IR. 60, des alten Brandenburgischen Regiments, das Düppel gestürmt hatte, inzwischen aber nach Weißenburg verlegt worden war und sich aus dortiger Gegend rekrutierte. Im allgemeinen ist ja das Denken des Grabenkämpfers überhaupt weit primitiver, als man es in den Romanen der Nachkriegszeit immer wieder vorgesetzt bekommt. Der Soldat im Stellungskampf und vor allem der Unterführer, der ihm ein Beispiel sein soll in selbstaufopfernder Pflichterfüllung, muß alle Brücken hinter sich abgebrochen haben, um überhaupt die Kraft zu finden, dies harte Leben zu ertragen. Mit einem Ballast philosophischer Grübeleien über den Sinn und Urgrund des Geschehens kann und darf er sich nicht belasten. Das wichtigste für ihn zur Erhaltung seiner Kraft sind die höchst realen Bedürfnisse des täglichen Lebens. Nicht umsonst haben unsere Gegner in dieser Hinsicht für eine erstklassige Verpflegung und Versorgung des Frontkämpfers ganz besondere Sorge getragen, und nicht zuletzt regte die Aussicht von diesen dort im Ueberfluß vorhandenen schönen Dingen etwas zu erbeuten, den Tatendrang unserer Leute für Patrouillengänge und kleine Unternehmungen in starkem Maße an. Es bildeten sich bei der Truppe dafür direkt Spezialisten aus, deren Vorhandensein für die Kampffreudigkeit der Truppe von nicht zu unterschätzender Bedeutung war. Damit ist aber noch lange nicht gesagt, daß diese an und für sich „geborenen Soldaten“, die in kritischen Augenblicken des Kampfes oft die Führung an sich reißen werden und denen sich andere schwächere Geister dann auch willig unterordnen, echte Führernaturen im wahren Sinne des Wortes sind. In der Mehrzahl sind es doch mehr Landsknechts- und Abenteurernaturen, — im Rahmen der Truppe hervorragend zu brauchen, in Führerstellungen gelangt, jedoch eine große Gefahr, da dann bei ihnen nur zu leicht der Machtkitzel die Oberhand gewinnt. —

Die nächsten Tage wurden nun ausgefüllt mit einer regen Erkundungstätigkeit. Persönlich werden die Angriffsziele und die besten Bereitstellungsmöglichkeiten für die Sturmtruppe seitens der Stäbe mit allen Mitteln neuzeitlicher Technik, vom Flugzeug aus und vom Boden, mit Scherenfernrohr und Fernphotographie erkundet. Alle Nachrichten werden sorgfältig ausgewertet, um ein möglichst genaues Bild der feindlichen Stellung zu gewinnen. In Zusammenarbeit mit dem Artillerieführer wird der Einsatz der Batterien und Minenwerser festgelegt und mit einem unauffälligen Einschieben begonnen.

Die enge Zusammenarbeit zwischen Artillerie und Infanterie, die zu Beginn des Stellungskrieges noch manches zu wünfchen übrig ließ, hatte sich bei der 121 ID. allmählich recht gut eingespielt, nicht zuletzt durch Besetzung von Adjutantenposten der Infanterie mit Art.-Offizieren. Bei dem geringen Abstand zwischen den vordersten Linien bedurfte es stets genauster Befehlsregelung, wenn das eigene Art.-Feuer auf den vordersten feindlichen Graben gelegt werden sollte, da ja infolge der Streuung fast alle Kurzschüsse in den eigenen Gräben liegen mußten. Die Verantwortung mußte eben von der Führung übernommen werden, in solchen Fällen den eigenen vordersten Graben bis auf wenige gut eingedeckte Posten zu räumen. Nachts war dies natürlich nicht möglich, weshalb dann das Feuer auf die rückwärtigen feindlichen Linien verlegt wurde und die Infanterie selbst mit Minenwerfern und Gewehrgranaten die vorderste feindliche Linie unter Feuer hielt, um den Gegner an der Ausbesserung zerschossener Anlagen zu hindern.

An Artillerie wurde natürlich alles herangezogen, was irgend zu erhalten war, und sogar schwere Geschütze von der Festung Metz erbettelt, da das eigene AOK. damals viel von seiner schweren Artillerie in den bei Lombres tobenden Kämpfen brauchte, wo der Gegner gerade wieder zu einem neuen Ansturm angesetzt hatte. Mit Hilfe von Zugmaschinen wurden schwere Langrohre der Festung auf die Höhen des Treytales heraufgeschleppt, die am Angrisfstage als besondere Ueberraschung für den Gegner seine Ausladebahnhöfe und Anmarschstraßen unter Feuer nehmen und so das Heranführen von Reserven erschweren sollten.

Bis zum 3. 7. sind alle diese Vorbereitungen beendet, über Nacht rückt die Sturmtruppe in ihre Stellung. 4. 7.: Das Artillerie- seuer wird allmählich gesteigert und erreicht mittags in kurzen unregelmäßigen Massenfeuerstößen seinen Höhepunkt. 3.30 Uhr wird es vorverlegt, zunächst nur um 50 m, damit die erste Sturmwelle in unseren vordersten Graben einrücken kann. 4 Uhr sängt es an weiter nach vorwärts zu wandern, und gleichzeitig wird zum Sturm angetreten dichtauf der Feuerwalze folgend. Die Aufräumung der überrannten Gräben ist Sache der Hinteren Sturmwellen. Die Beseitigung noch kampffähiger feindlicher Maschinengewehre wird von den Sturmtrupps erledigt. Programmäßig rollt der Angriff ab, genau so, wie er exerziermäßig eingedrillt war — nur mit dem Unterschied, daß das ursprünglich gesteckte Sturmziel, die eigene alte Hauptstellung, im Abschnitt I und II auf Höhe 372 weit überschritten werden kann. Was vom Gegner nicht gefallen ist, ergibt sich, so daß die Sturmtruppe tatsächlich keinen Gegner mehr in diesem Abschnitt sich gegenüber hat. Auch das Eingreisen von den benachbarten feindlichen Abschnitten her war nur schwach, da hier starkes eigenes Artilleriefeuer lag und Scheinangriffe vorgetäuscht wurden, während rückwärtige Angriffsstaffeln planmäßig die genommenen Stellungen nach der Flanke abriegelten und die Verbindung mit den Nachbarabschnitten herstellten. Leicht war es nicht, die Sturmtruppe wieder zum Halten zu bringen, denn die Angriffslust war groß, zumal die eigenen Verluste nur verhältnismäßig gering waren. Auch die feindlichen Batterien antworteten nur schwach und uneinheitlich, da sie mit einem Schlage ihre sämtlichen Beobachtungsstellen auf △ 372 verloren hatten. Ein weiterer Vorstoß gegen die feindliche Artillerie, auf welche es die Sturmtruppe besonders abgesehen hatte, war natürlich unmöglich, denn er hätte schon in den Bereich der feindlichen Sperrfortlinie hineingeführt. Was aber an eingebauten Geschützen vorn stand, wurde genommen und gesprengt, da ein Zurückschaffen ja ausgeschlossen war. Der schwerste Teil der Aufgabe stand aber noch bevor, nämlich das Halten der gewonnenen Linien gegen die zu erwartenden feindlichen Gegenstöße. Gerade aus diesem Grunde war die verhältnismäßig späte Stunde für den Angriff gewählt, um möglichst in der Nacht die Zeit zum Einrichten der neuen Stellung zu gewinnen, — denn bei Dunkelheit ist ein größerer einheitlich angesetzter Gegenangriff kaum durchführbar.

Als neue Hauptstellung wird nunmehr eine über den Höhenkamm vorgeschobene Linie gewählt und davor noch eine Vorpostenstellung bezogen. Neben 2000 Gefangenen fällt eine reiche Beute an Maschinengewehren, Minenwerfern und Grabengeschützen sowie Material zum Ausbau der Gräben in die Hand des Siegers, das gleich wieder zur Einrichtung der neuen Stellung verwandt wird.

5. 7.: Der Gegner verstärkt sein Artilleriefeuer wieder, fühlt aber nur vorsichtig vor; sein Verhalten ist stark desensiv geworden; einem größeren Gegenstoß am 7. 7. fehlt der alte Schwung, so daß er leicht abgewiesen werden kann, teilweise schon von der Linie der Vorposten. Es zeigt sich somit, daß das Ziel des Angriffs voll und ganz erreicht ist: jetzt sind wir in der Lage dem Gegner das Gesetz des Handels vorzuschreiben. Es wird daher auch unverzüglich der Entschluß gefaßt für einen zweiten Angriff am 8. 7., der den nunmehr start vorspringenden Winkel der eigenen Stellung auf dem linken Flügel von Abschnitt III ausgleichen soll.

Nach kurzer, schlagartiger Feuervorbereitung durch Artillerie und schwere Minenwerfer tritt um 5.30 Uhr nachmittags das Stel- lungsbataillon von IN. 60 an; der Gegner ist völlig überrascht und wird schnell geworfen. Es gelingt sogar bis zur Mulde südöstlich des Croix des Lärmes vorzustoßen und hier eine elektrische Kraftanlage zu zerstören, von der aus die Bohrung der Minengänge vor Abschnitt III auf mechanischem Wege erfolgt war. Damit ist dem Gegner auch die Basis für weiteren Minenkrieg genommen. Wie nötig dies war, sollte sich zeigen, als sich herausstellte, daß im Abschnitt III bereits neue Minenstollen bis dicht vor unsere Stellung vorgetrieben waren und damit eine neue Sprengung dicht bevorgestanden hatte. Auf einen Angriff verzichtete der Gegner hier völlig — seine Kampfkraft war augenscheinlich fürs erste gebrochen.

Es kam nun darauf an, ihn auch für die Dauer niederzuhalten und die gewonnene Ueberlegenheit zu sichern. Dies geschah einmal defensiv durch einen starken Ausbau der neuen Stellungen unter Berücksichtigung aller bisher gemachten Erfahrungen. Die Stellung wurde gut nach der Tiefe gegliedert, MG. und Beobachtungsstände wurden betoniert und zahlreiche kleine Stollen als Deckungen für die Besatzung in den Felsboden hineingetrieben. Andererseits wurde die Verteidigung scharf offensiv geführt durch regen Patrouillengang, kleine Unternehmungen und ein dauerndes Störungsfeuer, auch mit den Kampfmitteln der Infanterie-, Gewehrgranaten und Minen. Durch Brigadebefehl wurde dafür die Mindestmenge der täglich zu verfeuernden Munition bestimmt, denn ohne solchen Druck von oben verfällt eben auch die beste Truppe, wenn der Gegner sich ruhig verhält, nur zu leicht der Verlockung des friedlicheren Daseins einer reinen Defensive.

Die Richtigkeit der getroffenen Maßnahmen erwies sich auch hier. Der Gegner stellte in diesem Abschnitt seine Durchbruchsversuche völlig ein — bis zum Ende des Krieges blieb die Stellung fest in deutscher Hand, auch nachdem die 121 ID. herausgezogen war, um als Stoßdivision der OHL. an anderen kritischen Punkten der Westfront Verwendung zu finden.

Der Erfolg, der hier errungen werden konnte und zwar mit einer Minderheit gegen überlegene feindliche Kräfte, ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß es der Führung möglich war, die Kampfweise ihrer Truppe schnell den Erfahrungen anzupassen, die in den ersten größeren Stellungskämpfen im Winter und Frühjahr an der Westfront gemacht waren. 1916 wurden diese Erfahrungen von der OHL. in einer neuen Vorschrift für die Ausbildung der Truppe in der Abwehrschlacht zusammengefaßt. Sie enthält all die bei der 241. IB. schon in diesen Priesterwaldkämpfen angewandten Grundsätze der Tiefengliederung, der Beweglichkeit der Verteidigung und des „Stoßtrupps“ mit seiner Spezialausbildung. Sie hebt auch besonders hervor die lange Zeit, die im Ernstfälle des Krieges die Vorbereitung eines Angriffes erfordert, sowie den Vorteil des Vorgehens der Infanterie beim Sturm dicht hinter der Feuerwalze der Artillerie. Auch psychologische Momente werden darin stark beachtet, wie die große Bedeutung der Verbesserung aller Lebensbedingungen für die Truppe zur Erhaltung ihrer Kampfkraft und Kampffreudigkeit.

Die Vorschrift gibt aber auch einen Fingerzeig dafür, weshalb es nicht überall möglich war, schnell genug die Fronterfahrungen taktisch und technisch auszuwerten, wenn sie von der Wichtigkeit der Aufgabe des Offiziers als Erzieher und Lehrer seiner Truppe spricht: Aller Diensteifer und die größte Tapferkeit der jungen Kompagnieführer im Felde, die oft nur eine Dienstzeit von wenigen Jahren und die Ausbildung des Reserve-Offiziers hinter sich hatten, die aber nach den starken Verlusten an älteren aktiven Kompagnieführern an deren Stelle treten mußten, konnten eben doch nicht die mangelnde Schulung ersetzen. Dauerte es doch im Frieden 12—15 Jahre, bis der Offizier zum Kompagnieführer aufrücken konnte, und nur eine solche gründliche Schulung macht es eben möglich, die Erfahrungen des Ernstfalles in sinngemäßer Fortentwicklung der Vorschriften unverzüglich für die Führung und Ausbildung der Truppe nutzbar zu machen und ihr damit viel Blut zu ersparen. —

Wenn es auch im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich war, auf taktische Einzelheiten dieser Kämpfe im Priesterwald näher einzugehen, vor allem auch die vielen Reibungen darzustellen, welche im Ernstfälle zwischen dem Befehl und seiner Ausführung sich einstellen und von dem eisernen Willen der Führung überwunden werden müssen, so ergibt schon die Skizzierung dieser Kämpfe einen Einblick in die Gedankengänge und Tätigkeit der Kampftruppenführung im Kriege und zeigt andererseits, zu welch außerordentlichen Leistungen sorgfältige Schulung und Ausbildung die Truppe befähigen. Die Schulung der Erfatzmannschaften, die damals aus der Heimat zur Front abgingen, war zweifellos nicht ausreichend und genügte nicht den Anforderungen des Krieges. Aber auch die heutige Dienstzeit der allgemeinen Wehrpflicht wird in Zukunft nicht ausreichen, unser felddienstfähiges Menschenmaterial zu wirklich kriegsfertigen Soldaten auszubilden. Ohne auf die Frage Volks-Milizheer oder langdienendes Berufsheer einzugehen, kann man doch heute schon voraussagen, daß auch bei uns ein Teil der militärischen Ausbildung in die Schulzeit verlegt werden muß, wie es bereits bei fast allen anderen Völkern der Fall ist. Diese Ausbildung aber gehört — wenn sie nutzbringend sein soll — in die Hände ausgesuchter erfahrener Soldaten, denn nur so lätzt es sich vermeiden, daß daraus ein nutzloses „Soldatenspielen“ wird, das in den äußeren Formen des Soldaten- Berufes stecken bleibt.

Je mehr die Technik fortschreitet und je mehr im Felde der Mann durch die Maschine ersetzt wird, — desto schwieriger wird die soldatische Ausbildung — niemals jedoch wird im Felde die Maschine selbst das Ausschlaggebende sein, sondern stets der Mann, der dahinter steht und sie bedient.

Ottomar Rausch,
Kgl. Preuß. Major a. D.
im Felde Adjutant der 241. Inf.-Brigade.

Wir Kriegsfreiwilligen von 1914

Durch den verbrecherischen Anschlag in Serajewo war nun doch das Pulverfaß Europas zur Entzündung gekommen. Das, was wir befürchtet, einige gar erhofft hatten, war eingetreten. Die Kriegserklärung war da, und die schlagfertigste und stärkste Armee der Welt wurde mobilisiert!

Als gesunder, kräftiger Untersekundaner, der es im Turnen und im Sport weiterbrachte als in den lateinischen unregelmäßigen Verben, stand es für mich fest, mich dem bedrohten Vaterlande zur Versügung zu stellen.

Als der Jüngste von drei Brüdern faßte ich als erster den Entschluß, Soldat zu werden und so schnell wie möglich zur Front zu kommen, bevor der Krieg zu Ende ging; denn unsere Feldgrauen hegten ja beim Ausrücken die Hoffnung, bereits Weihnachten wieder zu Hause zu sein.

Nach langem Suchen erhielt ich eines Tages von der Garnison Göttingen zu meiner größten Freude, doch zum Schmerze meiner Eltern den Bescheid, daß ich eintreten könnte. Eines Morgens, es war in der Mathematikstunde, erschien der Direktor der Anstalt und überreichte mir den Stellungsbefehl.

Mit kurzer Hose und blauem Konfirmationsröckchen angetan, mit einem Schuhkarton bewaffnet, der das Notwendigste barg, stellte ich mich bei den 82ern in Göttingen.

Scharen von Kriegsfreiwilligen, vom Milchgesicht bis zum vollbärtigen Landsturmmann, füllten den Kasernenhof und harrten der Dinge, die da kommen sollten.

Plötzlich hieß es in scharfem Kommandoton: „Alles zur Untersuchung antreten.“ Der beschränkten Raumverhältnisse wegen fand diese im Pferdestalle statt.

Klopfenden Herzens schritt auch ich mit entblößtem Oberkörper dem untersuchenden Stabsarzt entgegen, um seine Entscheidung über meine Tauglichkeit zu hören. Lächelnd prüfte er meine Körperkonstitution und fragte mich: „Wie alt bist Du denn, Bürschchen.“ Dreist kam die Antwort: „Siebzehn Jahre, Herr Stabsarzt!“ „Der Junge ist tauglich für die Infanterie“, und schnell wurde ich denen zugeschoben, die sich auf der anderen Seite des Pferdestalles aufhielten und ebenfalls die Untersuchung hinter sich hatten.

Nun überstürzten sich die Ereignisse vom Einkleiden bis zum ersten scharfen Dienst auf dem Kasernenhof.

Die ersten Tage waren für uns junge Menschen furchtbar. Doch mit Energie und verbissenem Trotz wurden die ungeheuren Anstrengungen des militärischen Drills in der erbarmungslosen August-Sonne des Jahres 1914 überwunden.

Wie stolz war ich, als ich wegen meiner guten Haltung und der tadellosen Gewehrgriffe den ersten Wachtdienst versehen durfte!

Da auch meine Schießleistungen gut waren, wurde ich Anfang November als erster Kriegsfreiwilligen-Ersatz für das aktive Regiment 82 zur Front geschickt.

Erhebend und unvergeßlich die Eindrücke der fahnen- geschmückten Stadt und der taufende von Menschen, die uns mit Blumen und Liebesgaben überschütteten und uns zur Bahn geleiteten.

Unübersehbare Menschenmasfen drängten sich auf dem Bahnsteig. Die Klänge der Militärkapelle gaben uns den Abschiedsgruß. Langsam wie durch einen wogenden See fuhr der Zug an dem Menschenhaufen vorbei, der die Bahngleise umsäumte, unter lebhaftem Schwenken der Hüte und Taschentücher. — „Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus. …!“

Ein kurzer Aufenthalt in Nordhausen, das unser Transportzug auf der Fahrt nach dem Osten berührte, gab mir Gelegenheit, von den Eltern Abschied zu nehmen.

Vor wenigen Wochen noch hatte ich hier auf dem Bahnhof als Helfer des Roten Kreuzes die ersten Militärtransportzüge mit verpflegt, und nun war ich selbst ein Krieger im feldgrauen Rock und fuhr dem Feinde entgegen.

Tage und Nächte hindurch rollte unser Zug gen Rußland. Kurz vor der Posenschen Grenze wurden wir ausgeladen.

Die ersten anstrengenden Märsche begannen, bis wir unsere Division erreichten, zu der wir gehörten. Schnell war die Einteilung für die einzelnen Bataillone und Kompagnien erledigt, und schon empfing uns der „Spieß“, um uns den einzelnen Korporalschaften einzureihen.

Auf den Befehl „Unteroffizier, die Kerle aufschreiben“, erschien ein kleiner Korporal mit schwarzem Haar und langem Vollbart. Obwohl stark zerzaust, und in seiner schmutzigen Uniform recht heruntergekommen aussehend, hörte man doch an seiner gepflegten Sprache, daß wir es hier mit einem „Besseren“ zu tun hatten.

Noch heute sehe ich ihn vor mir stehen und werde nie die darauffolgenden Augenblicke vergessen, die mir ein Wiedersehen mit meinem gleich bei Kriegsausbruch eingezogenen Mathematik-Oberlehrer Freytag vom Realgymnasium Nordhausen bescherten. Lehrer und Schüler dienten nun in derselben Kompagnie.[2]

Einem glücklichen Zufall also habe ich es zu verdanken, daß ich in diesem Mann, der ein strenger, aber gerechter Vorgesetzter war, einen väterlichen Freund und Berater fand.

Nach einigen Tagen des Vormarsches wurden wir in stockfinsterer Nacht geweckt, und als beim Antreten das Kommando kam: „Laden und sichern“, wußten wir, was die Glocke geschlagen hatte.

Vom Horizont im Osten, der sich langsam erhellte, hörten wir Kanonen-Donner. Mit gemischten Gefühlen, schweigsam, unter der drückenden Last des Tornisters, trottete ich hinter meinem Vordermann her, der mir einer meiner besten Kameraden werden sollte und der noch heute als Arbeiter in Nordhausen tätig ist.

Jetzt kam mir zum Bewußtsein, daß der Tag gekommen war, wo es galt, seinen Mann zu stehen!

Gegen Mittag wurde das Bataillon auseinandergezogen. Die Kompagnien entfalteten sich und gingen kurz darauf in Schützenlinien über.

Dicht hinter uns kamen die Feld-Artillerie-Batterien angaloppiert, gingen im offenen Feld in Stellung, und schon jagten die ersten Granaten über unsere Köpfe hinweg in das vor uns liegende Dorf hinein. Das war für uns Anfänger ein äußerst unangenehmes Gefühl, wie Granaten und Schrappnells über uns hinweg ihre pfeifende, heulende Bahn zogen.

Der Befehl zum Vorgehen kam. In bester Ordnung, so wie wir es auf dem Kasernenhof und dem Truppenübungsplatz gelernt hatten, griffen die ausgeschwärmten Schützenlinien an. Nicht lange dauerte es, und zischend, surrend und pfeifend schlugen uns die Kugeln des Gegners entgegen. Die Schlacht bei Kutno war in vollem Gange! Der vor uns liegende Gutshof sowie das Dorf waren vom Feind dicht besetzt und wurden fleißig von unserer Artillerie bepflastert und sturmreif geschossen.

Trotz zäher Gegenwehr gelang es uns doch, nach und nach Gelände zu gewinnen. Bald konnten wir auch den infanteristischen Feuerkampf aufnehmen.

Aber die Russen schossen gut, und schon sah ich links und rechts von mir die Kameraden lautlos zusammensinken oder unter teilweise wilden Schmerzensschreien niederbrechen. Doch auch der Gegner mußte Verluste haben. Jetzt plötzlich stellten wir fest, daß schon einzelne türmten, als wir auf ca. 200 Meter herangekommen waren. Hier und da huschten auch Gestalten zurück, die auf niedrigen Rädern montierte Maschinengewehre hinter sich Herzogen.

Das war das Signal zum Sturm! Mit aufgepflanztem Bajonett, unter lautem „Hurra“ drangen wir in die feindlichen befestigten Schützenlinien ein. Nach kurzem, aber erbittertem Nah- kampf war der Gegner niedergerungen. Es müssen wohl Elite- Truppen gewesen sein, die so lange standhalten konnten. Zahlreiche Gesangene und viele S.M.G. waren unsere Beute.

Nach kurzer Zeit brach die Nacht herein, und wir machten es uns in den russischen Stallungen und verlassenen verbarrikadierten Häusern bequem, so gut es ging. Auch ich fand trotz der ungeheuren Aufregung bald den ersehnten Schlaf. Doch das Entrücktsein von der rauhen Wirklichkeit sollte uns nicht lange beschieden sein. Schon nach einigen Stunden, mitten in finsterer Nacht hieß es wieder antreten, um den Verfolgungsmarsch aufzunehmen.

Nun ging es täglich weiter tiefer nach Rußland hinein; unter fortwährenden Kämpfen kamen wir vorwärts und erreichten Ende November Lodz.

In einem weit in die vorderen feindlichen Linien vorgeschobenen Keil hat das Regiment trotz schärsster Kälte und schwerster Feuerüberfälle bis zum 6. 12. ausgeharrt.

Es ist den Russen nie gelungen, diesen Bogen auch nur vorübergehend einzudrücken, geschweige denn, die Stellung zum Wanken zu bringen.

In einfachen Schützenlöchern hockten wir bei 30 Grad Kälte und mußten in jeder Minute bereit sein, den anstürmenden Gegner abzuweisen. Das lästige flankierende Infanterie-Feuer aus den nahen russischen Stellungen ermöglichte ein Arbeiten nur bei Nacht. Ein Ausarbeiten von Gräben in dem weichen Dünensand war unmöglich. Decken und Stroh fehlten gänzlich. Die Verpflegung machte große Schwierigkeiten. Die Feldküchen konnten nur auf 3 Km. herankommen, und unter dem ununterbrochenen, Tag und Nacht währenden, überaus starken Infanterie-Feuer hatten wir starke Verluste.

Die scharfe Kälte tat ein übriges. Die Läuse-Plage wurde täglich empfindlicher. An Körperpflege war nicht zu denken, und unausgesetzt mußten wir mit dem Gewehr im Anschlag liegen, um uns den erbitterten Feind vom Halse zu halten.

Von Munitionsmangel beim Feinde, von dem geistvolle Kriegsberichterstatter zu erzählen wußten, war bei Lodz nichts zu spüren. Unheimlich lichteten sich unsere Reihen, durch Tod, Verwundung und schwere Erfrierungen.

Immer wieder versuchte der Russe, vorzukommen und sich von seiner Umklammerung zu befreien, aber nie ist es ihm gelungen! Mit erfrorenen Füßen lag der deutsche Musketier im Graben, frierend, hungernd, übermüdet, verlaust. Aber wenn es galt, den Angriff abzuwehren, stand er trotz allem seinen Mann in selbstverständlicher Pflichterfüllung, und gebrauchte ruhig und bedächtig die Waffe, wie es ihn die Ausbildungzeit gelehrt hatte. Mitunter waren unsere Gewehrläufe von der schnellen Schußfolge glühendheiß. Langen Zielens bedurfte es ja nicht, denn der Gegner be- rannte oft in geschlossenen Kolonnen unsere Stellungen und brach mehrmals in einer Nacht unter dem markerschütternden Kriegsgeschrei „Ureh, Ureh“ aus seinen Stellungen vor. Vergeblich! Unter riesigen Verlusten brachen seine Sturmangriffe zusammen!

Bis zum 6. 12. 14 dauerte die Wacht vor Lodz.

In der Nacht vom 5. zum 6. 12. ließ plötzlich dieses Feuer merklich nach. Sofort vorgeschickte Streif-Patrouillen stellten den Abzug des Feindes fest.

Noch am Vormittag, dem 6. 12., wurde die Verfolgung angetreten. Jetzt sahen wir erst die furchtbaren Verluste der Rüsten, die buchstäblich in Reihen vor der Stellung unseres Regiments lagen. Hier hatte der Tod eine reichliche und leichte Ernte gehalten.

Langsam, sehr langsam zunächst wurde der Marsch ausgenommen. Steif waren die Glieder noch von den qualvollen Tagen und Nächten in den engen Schützenlöchern. Lahm und krumm schlichen die Kompagnien durch den Schmutz der durch das Tauwetter ausgeweichten Schneestraße. Weiter gings gen Rawa zu.

So vergingen Wochen, Monate, Jahre, in denen wir um unser Heiligstes, unser Vaterland rangen. Wir jungen Kriegsfreiwilligen waren bereits nach den ersten schweren Kämpfen, die wir Seite an Seite mit unseren älteren Kameraden, der Lehrer neben dem Schüler, durchgefochten hatten, gleichwertige Soldaten geworden. In wenigen Stunden erbitterter Schlachten und schwerer Kämpfe waren wir, ohne daß wir es merkten, zu Männern geworden, Angehörige des unübertroffenen deutschen Heeres.

Und doch kam dann das traurige Ende! — —

Unverständlich war für uns alte Frontschweine der Waffenstillstand im November 1918 und die schmählichen Friedensbedingungen. Noch nie habe ich Männer so bitter weinen sehen wie damals, als uns im Offizier-Korps die Nachrichten aus der Heimat erreichten. Gemeiner Verrat der eigenen Volksgenossen schlug uns die siegreichen Waffen aus der Hand. Noch stand überall die Front unerschütterlich tief im Feindesland.

Im Januar 1919 in die Heimat zurückgekehrt, behagte es mir noch garnicht im simplen kaufmännischen Beruf. Die Hilferufe von der Ostgrenze erreichten mich, und schon war mein Entschluß gefaßt, mich wiederum dem bedrohten Vaterlande zur Verfügung zu stellen. Beim Freikorps Roßbach warfen wir uns den vordrängenden Polen entgegen und drängten später die Flut des Bolschewismus in den deutschen Ordensländern im Baltikum zurück. Aber auch hier wurden uns nach erbitterten Kämpfen und verlustreichen Gefechten die Waffen ein zweites Mal aus der Hand geschlagen. Verlassen von Volk und Vaterland, zerknirscht mußten wir auch hier den Kampfplatz räumen und wurden in die Heimat entlasten, da die damals jammervolle Regierung unser heiliges Wollen nicht verstand.

Aber nach traurigen Jahren innerlicher Zersplitterung und Selbstzerfleischung hat sich das deutsche Volk wiedergefunden, und nun wissen wir, wofür wir gekämpft und gelitten haben, unsere Jugend geopfert und weshalb Millionen Kameraden in allen Teilen der Welt die fremde Erde deckt.

Walter Born.

Von der Schulbank ins wilde Kurdistan

Notabitur 1915. — Endlich durften auch wir Oberprimaner des Realgymnasiums den Soldatenrock anziehen. Die meisten von uns, darunter auch ich, traten als Kriegsfreiwillige in das Feldartillerieregiment Nr. 11 in Kassel ein. Nach beendeter Ausbildung gingen wir Nordhäuser gemeinsam zu einer Gebirgsbatterie des Alpenkorps, die in Fulda zusammengestellt wurde. Eines Tages fragte ein fremder Offizier vor der angetretenen Batterie, wer sich freiwillig zur Teilnahme an einer Expedition nach Persien melde?
Wir Nordhäuser meldeten uns. Unter den wenigen Ausgewählten befand ich mich allein von meinen Nordhäuser Kameraden. Nun hieß es Abschiednehmen von den bisherigen Freunden. Doch dafür lockte die unbekannte Ferne. Persien — 1001 Nacht und andere märchenhafte Vorstellungen wurden wach bei diesem Worte Persien. — Doch zunächst ging es nach Berlin, dort wurde die Expedition zusammengestellt. Sondermission „P“ hieß sie. Sie bestand aus etwa 150 Mann und Offizieren, eingeteilt in 4 MG.- Kompagnien und 1 Batterie, zu der ich gehörte. Unsere Batterie bestand aus 6 Hotchkißgeschützen, Kaliber 3,7 cm, zerlegbar für Tragtiere eingerichtet. Wir waren insgesamt 2 Offiziere, 6 Unteroffiziere und 18 Mann. Ergänzt werden sollte die Batterie durch türkische Soldaten. In Berlin empfingen wir unsere mannigfache Ausrüstung, gewöhnliches Feldgrau und Tropenausrüstung. Am 21. März 1916 wurden wir verladen und befanden uns am folgenden Morgen bereits in Oderberg, der österreichischen Grenzstation. Von da ab ging es dann durch die weite Pußta Ungarns auf der üblichen Strecke bis Konstantinopel.

Endlich tauchte das Marmarameer auf, und Konstantinopel, unser erstes Ziel. Hier mußte alles Material ausgeladen und in große Kähne, sogenannte Mahonen verladen werden, um über den Bosporus nach der asiatischen Seite, nach Haidar Pascha, dem Ausgangspunkt der Bagdadbahn, übergesetzt zu werden. Eine umständliche und zeitraubende Sache. Wir wurden aus dem Dampfer „Lorcovado“ untergebracht, einem Deutsch-Südamerika- Dampfer, der hier vom Kriegsausbruch überrascht worden war. Während unseres etwa 2-wöchigen Aufenthalts hatten wir Gelegenheit, Konstantinopel näher kennen zu lernen. Unser Dampfer lag im „Goldenen Horn“, der Einbuchtung des Marmarameeres, die tief in das Land schneidet und Konstantinopel in zwei Teile trennt. Welche Fülle neuer ungewohnter Eindrücke stürmte täglich auf uns ein. Links und rechts an der Straße, die zu unserem Dampfer führte, kleine Häuser aus Holz und Lehm, nach vorn mit offenen Verkaufsstellen, in denen fremdartige Gemüse und Früchte feilgeboten wurden. Dazwischen ein Garküche, in der die Speisen offen zubereitet werden. Auf den Straßen die verschiedenen Volkstypen, überwiegend mit dem roten Fez auf dem Kopfe. Staunend betrachteten wir die mehr oder weniger tief verschleierten Frauen. Unser Weg führte auch zur Hagia Sophia mit ihrem monumentalen Kuppelbau, im Innern so wuchtig wirkend, weil entsprechend einem Gerhot des Islams keine Ausschmückung mit irgendwelchen Bildern vorhanden war. Ein Abstecher führte auch zu den ehemaligen deutschen Kreuzern „Goeben“ und „Breslau“, die weiter draußen im Bosporus vor Anker lagen. Vorbei ging es dabei am Sultanspalaste, Dolmar Bagtsche, wo kurz darauf der Sultan die Parade unserer Expedition abnahm zusammen mit einer österreichischen Abteilung. So bot sich Tag für Tag ein abwechslungsreiches Bild ungewohnter Eindrücke. Der Verkehr mit den Türken ging nicht immer so reibungslos ab. Der Türke steht der deutschen Hast und Geschäftigkeit verständnislos gegenüber. Ein Ausdruck, der uns bald vertraut wurde und uns überall entgegentönte, war „Jawasch, jawasch — langsam, langsam“.

Inzwischen war auch das Umladen und Uebersetzen unseres Transportes beendigt, und es ging nun weiter von Haidar Pascha ab ins Innere von Kleinasien. Ueber Eskischehir, wo es Zigarettenspitzen aus dem dort gewonnenen Meerschaum gab, die sich aber von keiner großen Dauerhaftigkeit erwiesen, ging es vorbei an den malerischen Felsnadeln und Steinburgen von Afiun—Karahissar und dann endlos durch das weite bald gut angebaute, bald steinige Steppenplateau Inneranatoliens bis Bosanti, an den Fuß des Taurusgebirges. Hier begann die große Unterbrechung des Verkehrs, die während des ganzen Weltkrieges nie wirklich überwunden wurde. Der ganz Nachschub der in Vorderasien stehenden Armeen mußte durch Lastautos über das Gebirge gebracht werden. Als Ende 1918 endlich der Vollbahnbetrieb über die Taurusstrecke eröffnet wurde, erfolgte der Zusammenbruch der deutsch-türkischen Heere. Die Bagdadbahn konnte daher die großen Dienste, die man damals noch von ihr erhoffte, nicht leisten. In Bosanti war ein großes Heerlager entstanden. Deutsche Kraftwagenkolonnen waren hier eingesetzt und übernahmen den Transport über das Gebirge. Auf Lastkraftwagen verladen, traten wir die Fahrt an. Der Weg über den Taurus ist schön — bald in schwindelnder Höhe an steil abfallender Schlucht, bald im tiefen Tal, über alte zerbröckelte Steinbrücken, über neue unter dem Druck des Krieges entstandene Brücken führt der Weg. Der Weg folgt hier der alten Heerstraße, an der überall noch türkische Arbeiterbataillone arbeiten. Jetzt kommen wir durch die Kilikischen Tore, einem schmalen Engpaß zwischen himmelragenden Wänden. Hoch an einer Wand eine viereckige Inschristentafel mit römischen Lettern erinnert daran, daß dieser Weg die uralte Straße der Völkerzüge ist. Wieviel Menschen sind durch dieses Tor im Laufe der Jahrtausende von hüben und drüben geschritten: Darms, Xerxes, Alexander der Große, die Feldherren der Römer, Friedrich Barbarossa. Eine Welle folgt der anderen. Jetzt fauchen deutsche Kraftwagen die Straße entlang, vorbei an langen Kamelkarawanen und primitiven Wagenkolonnen. Modernes Abendland und Morgenland begegnen sich hier.

Die Fahrt dauert zwei Tage. Uebernachtet wird in Tscham-Alan-Han, dem Lager der deutschen Kraftsahrer. Hinab geht es von hier in die linkische Ebene. In der Nähe von Tarsus, dem Geburtsort des Apostels Paulus, wird alles wieder in die Bahn verladen. Doch geht die Fahrt, vorbei an Adanna, nur etwa einen halben Tag weit bis zur Station Mamour. Schon wieder hat die Welt ein Ende an Gebirgsmassen, dem Massiv des Amanus. Schon wieder muß alles ausgeladen werden. Wir müssen einige Zeit hier liegen bleiben, bis auch hier eine deutsche Kraftfahrkolonne eingesetzt wird. Hier in der kilikischen Ebene macht sich das heiße Klima des beginnenden Sommers bemerkbar. Gegen Malaria heißt es Chinin vorbeugend schlucken. Zuerst wird dies regelmäßig unter Ueber- wachung des Arztes und des Sanitätspersonals genommen. Doch allmählich wird man gleichgültiger. Es wird schon nicht so schlimm werden. Die Folgen sollten wir später alle zu spüren bekommen, war doch säst alles malariaverseucht. Schließlich ging es über den Amanus. Dieser ist nicht so hoch wie der Taurus. In großen Schwingungen zieht die Straße durch Talmulden in die Höhe. Aber wenn man oben ist, bietet sich dem Blick ein überwältigendes Bild. Steil und in halsbrecherischen Serpentinen sührt die Straße zur nordsyrischen Ebene hinab. Soweit der Blick reicht, breitet sich die Steppe aus. Am Fuße des Gebirges die Eisenbahnstation Islahie, jetzt ein armseliges Dörfchen, stand hier zur Zeit der Römer Nicopolis, eine Stadt mit Hunderttausenden von Einwohnern, an die nur einige Mauerntrümmer erinnern. Von hier direkt ging es wieder mit der Bahn weiter. In Moslemie zweigten wir von der direkt südlich nach Palästina weiter führenden Strecke östlich ab nach Mesopotamien. In Dscherablus ging es über den Euphrat hinein in das Zweistromland, dieser uralten Völkerwiege. In Rasulain ist die Bahn zu Ende.

Von hier geht alles durch Karawanen von Kamelen und Tragtieren weiter. Nächstes Ziel ist das etwa 300 km entfernte Mosul. Zunächst werden Reit- und Tragtiere von den Eingeborenen angekauft. Bemerkenswert ist, daß es nur Stuten und Hengste gibt. Der Wallach ist fast ganz unbekannt. Da die zur Ergänzung unserer Batterie vorgesehene türkische Mannschaft immer noch nicht eingetroffen ist, können wir uns einige Armenier aus dem in der Nähe befindlichen Armenierlager holen. Schon verschiedentlich waren wir Armenierzügen begegnet. Zerlumpt und halb verhungert werden die Armenier weitergetrieben in die Steppe und Wüste. Ein ganzes Volk wanderte so in Elend und Tod. Ob dieses Schicksal verdient war oder nicht, soll hier nicht untersucht werden. Von den Armeniern, die wir aus dem Lager von Rasulain mitgenommen haben und die damit einem harten Schicksal entronnen waren, haben wir bis auf wenige Ausnahmen nur Undank geerntet.

Der Ankauf der Tiere, das Einreiten und Einteilen der Lasten dauerte einige Zeit. In dieser Zeit besuchte uns auch der damals allgewaltige türkische Kriegsminister Enver-Pascha. Erstaunt waren wir, als er uns mit einem kräftigen „Guten Tag, Kameraden“ begrüßte. Ebenso kam die Leiche des Generalfeldmarschalls von der Goltz-Pascha durch, dessen Stäbe wir zugeteilt waren, der aber inzwischen in Bagdad am Flecktyphus gestorben war. Nun wurde seine Leiche zur letzten Ruhestätte in den Park der Deutschen Botschaft in Therapia bei Konstantinopel überführt. —

Endlich sind die Tiere vollzählig, eingeteilt, Sättel verpaßt und die Lasten für die Tragtiere eingeteilt. Letzteres eine ungewohnte Arbeit, bei der es vor allen Dingen darauf ankommt, die Lasten auf beiden Seiten der Tragtiere gleichmäßig zu verteilen, da sie sonst leicht herunterrutschen. Ein Teil des Materials der Expedition wird von Kamelkarawanen befördert. Wegen der unsicheren Verhältnisse müßen wir als Bedeckung bei der Kamelkarawane bleiben, während die anderen Abteilungen schneller vorwärts reiten. Das Gebiet, durch das wir jetzt kommen, ist das Grenzgebiet, in welchem die Kurden und die Beduinen zusammenstoßen. Zum Teil sind es noch reine Nomaden, vor allem die Beduinen. Diese waren im allgemeinen politisch unzuverlässig. Nominell unterstanden sie der türkischen Herrschaft, machten aber, was ihnen gefiel. Ihre politische Stellungnahme betrachteten sie als Geschäft und verschacherten sie um klingende Münze. Sie nahmen während des Krieges Geld von beiden Seiten. Anders die Kurden, die immer einwandfrei auf türkischer Seite gestanden und als Soldaten der Türkei wertvolle Dienste geleistet haben. — Das Beladen der Kamelkarawanen geht unter mächtigem Getöse vor sich. Die Kamele legen sich, während die arabischen Kameltreiber tiefe Gutturallaute ausstoßen, nur laut brüllend zum Beladen nieder. Marschiert wird wegen der Hitze nur in den späten Abendstunden und nachts. Ein komischer Anblick ist es, wie die Kamele hinter einem kleinen Esel als Leittier hertrotten. Einen Weg in unserem Sinne gibt es nicht. Durch die Steppe führen nur Spuren, die durch die Karawanen ausgetreten sind. An Wasserläufen, die jetzt zumeist ausgetrocknet sind, gibt es nur selten Brücken oder hergerichtete Uebergänge. Die ausgetrockneten Wasserläufe bilden besonders für unseren Wagen, den wir mit uns führten, starke Hindernisse. In den ersten Tagen trafen wir noch regelmäßig Ansiedlungen, später wurden sie spärlicher. Verschiedentlich trafen wir auch die schwarzen Zelte nomadisierender Beduinen mit ihren Viehherden, die bei Beginn der heißen Jahreszeit den großen Wasserläufen zuwandern. Die Kleidung der Eingeborenen besteht aus einem Hemd, darüber einem kaftanartigen Obergewand und einem ärmellosen Ueberwurf, der in Mesopotanien rot-weiß gestreift war. Als Kopfbedeckung dient die Kefieh, ein großes viereckiges, im Winkel zusammengelegtes Tuch, das über Scheitel und Kopf gefaltet wird und dessen Zipfel weit über den Rücken hinabflattern. Sie ist aus Wolle oder Seide. Festgehalten wird das Kopftuch durch das Agal, beim gewöhnlichen Beduinen ein drei- oder viermal um den Kopf geschlungener Strick aus Ziegenhaaren, beim Vornehmen eine seidene, mit Goldfäden durchwirkte und in Goldtroddeln nach rückwärts endende bunte Schnur. Schuhe werden nicht getragen. Die Beduinin trägt ebenfalls wie der Mann das Obergewand und den Ueberwurf. Auf dem Kopfe trägt sie ein schwarzes Tuch. Das Gesicht ist aber frei. Arm- und Beinringe, je nach dem Stande aus Glas, Silber oder Gold, Ohr- und Nasenringe bilden hauptsächlich den Schmuck. Tätowierungen in Hellem Blau auf Arm, Hand und im Gesicht vervollständigen das Bild der Nomadenschönheit. —

Nach einigen Tagen gelangen wir nach Tellermen, einer größeren Armeniersiedlung. Alles ist aber verödet und leer, die Mauern noch von Rauch-geschwärzt, die Bewohner in die Verbannung fortgetrieben. Am nächsten Tage kommen wir nach Nisibin, wo an einem Flusse gelagert wird. Es ist die letzte größere Siedlung mit einem Basar, in dem es noch einige Lebensmittel zu kaufen gibt. In unserer Nähe lagern gefangene Inder, die von Kut-el-amara kommen und nach Kleinasien gebracht werden. In der Unterhaltung zeigen sie uns vorgedruckte Karten, die sie von der englischen Militärverwaltung geliefert erhalten hatten und die zu ihrer Korrespondenz mit der Heimat dienen mußten.

Hinter Nisibin beginnt eine längere wasserlose Strecke. In der Nacht vorher gab es einen Zwischenfall. Eine Schlange hatte sich ausgerechnet den Bauch unseres Wachtmeisters zum Schlafen ausgesucht. Den Schreck des Wachtmeisters kann man sich vorstellen. Am anderen Morgen wurden noch verschiedene Schlangen unter den Sätteln, die wir als Kopfkissen benutzt hatten, gefunden. Zur Ueberwindung der wasserlosen Strecke wurde schon am frühen Nachmittag, sobald die Kraft der heißen Sonne etwas nachgelassen hatte, abmarschiert. Erst am späten Vormittag des nächsten Tages, die Sonne brannte schon lange auf uns unbarmherzig herab und der letzte Tropfen war schon lange getrunken, der Rand der Feldflaschen war heiß geworden und konnte nicht mehr an den Mund geführt werden, um vielleicht doch noch einen Tropfen Flüssigkeit zu erhäschen, langten wir an einem dürftigen Gebäude, umgeben von einer Lehmmauer, der türkischen Etappe, an. Es gab aber nur eine braune Flüssigkeit in einem Wasserloch, die selbst von den Pferden verschmäht wurde. Selbst durch Abkochen und Zusatz von Chemikalien, die wir sür solche Zwecke mitbekommen hatten, wurde das Master nicht genießbarer. Unseres Bleibens war deshalb nicht lange hier. Sobald es die Sonne zuließ, ging es weiter bis zu einem klaren Bach. Doch war auch dieses Master nicht trinkbar, da es bitter schmeckte. Von Eingeborenen wurde uns aber eine süße Quelle unter einer verfallenen Brücke gezeigt. In der nächsten Nacht mußten wir den Marsch bald unterbrechen und lagern, weil an unserem Wagen ein Rad zerbrochen war. In der Nähe bemerkten wir noch ein Lagerfeuer. Am nächsten Morgen stellte es sich heraus, daß der schwedische Forscher Sven Hedin dort lagerte. Vor dem Weitermarsch begrüßte er uns. In seinem Buche „Bagdad, Babylon, Ninive“ erwähnt er auch dieses Zusammentreffen. —

Schließlich erreichen wir den Tigris und nähern uns Mosul. Zwischen Schutthaufen leuchten weißblendende Grabmäler zwischen den Gräbermasten ungeheurer Friedhöfe auf. Durch ein mächtiges Tor, an das sich Reste einer Stadtmauer anschließen, hinter der sich Minaretts und Kuppeln erheben, betreten wir die weißleuchtende Stadt, eingehüllt in eine dichte Staubwolke. Das Innere der Stadt besteht aus engen, winkligen Straßen, die fußhoher Staub bedeckt. Wenn Mosul auch noch der wirtschaftliche Mittelpunkt weiter Gebiete ist, hat seine Bedeutung gegenüher dem Mittelalter sehr verloren. Dies tritt auch darin in Erscheinung, daß sich zwischen der alten Stadtmauer und dem Kern der inneren Stadt weite Ruinenfelder und große Friedhöfe ausdehnen. Der Gürtel ist der Stadt zu weit geworden. Nach der Straße sind die Häuser, wie überall im Orient verschlossen. Die Dächer sind flach. In den heißen Nächten schläft alles auf den Dächern, auch wir. Das ungewohnte heiße Klima wirkt sich für unsere Gesundheit verheerend aus. Alles ist krank. An einigen Tagen ist kein Mann von der Batterie im Stande, die Pferde zu besorgen. Einige Kameraden sterben. Nachteilig für die hygienischen Verhältnisse ist die Wasserversorgung. Brunnenwasser ist in Mosul nicht trinkbar, da es bitter schmeckt. Die ganze Stadt muß sich aus dem Tigris versorgen. Leider wird aber auch aller Abfall in den Fluß geworfen. Das Wasser wird von Wasserträgern auf Eseln in die Stadt gebracht und in großen irdenen Gefäßen filtiert. Infolge dieser mangelhaften Wasserversorgung reißen auch die Seuchen in Mosul nicht ab. Der Tigris wird von Mosul abwärts nach Bagdad mit primitiven Fahrzeugen zur Schiffahrt benutzt. Benutzt wird eine Art Floß, das Kellek. Dieses besteht aus aufgeblasenen Hammel- und Ziegenhäuten, deren offenes Ende nach unten gerichtet ist. Ueber die dicht nebeneinander gelegten und mit Schnüren zusammengehaltenen Schläuche ist ein Gestell aus Aesten angebracht.
Darüber liegt eine dicke Schicht Maisstroh oder Schilf- um das Durchtreten und Durchfallen zu verhindern. Bedient wird es von 2 Mann mit 2 langen Rudern vorn und hinten. Erstaunlich ist die Tragfähigkeit, wurden doch selbst Lastkraftwagen damit von Mosul nach Bagdad befördert. Ueber den Tigris führt eine Schiffsbrücke. Jenseits des Tigris erhebt sich auf einem Hügel das Kuppelgrab des Propheten Ionas. Ein anderer Hügel bedeckt die Reste von Ninive, der Hauptstadt des alten Assyriens, die neuerdings von Archäologen ausgegraben wird. Dem Auge bieten sich außer einigen Mauerresten nur durchwühlte Trümmerhaufen dar, denn die Funde sind in die Museen gebracht worden. Bei dem Klänge der Namen Ninive und Assyrien tauchen Schulerinnerungen auf. Episoden aus der Bibel, Namen gewaltigen Klangs: Assurbanipal, Salmanassar raunen herein in den Lärm des Weltkrieges, dessen Wogen deutsche Soldaten aus Mitteleuropa in dieses durch eine alte Geschichte geheiligte Land gespült haben. — Erleichtert atmeten wir auf, als der Befehl zum Weitermarsch kam. Leider waren aber die türkischen Soldaten zur Auffüllung der Batterie immer noch nicht eingetroffen. Wir mußten jetzt aber alles Material, das zum Teil von der Kamelkarawane noch Mosul transportiert worden war, übernehmen. Durch Ausfälle an Tod und Krankheit war unsere Batterie sehr zusammengeschmolzen. Wir nahmen daher weitere Armenier an. In der ersten Nacht, kaum nachdem wir den Tigris überschritten hatten, ließen die meisten von den eingeborenen Armeniern unsere Tiere einfach laufen und entflohen. Es war eine mühselige Arbeit alles wieder zusammenzubringen. Am nächsten Tage wurde uns von unerwarteter Seite Hilfe. Ein türkischer Soldat erklärte sich bereit in unsere Dienste zu treten. Er brächte noch mehrere Soldaten mit, darunter einen Unteroffizier, die alle mit uns gehen wollten. Es waren türkische Deserteure, die überall, mitunter in ganzen Trupps, durch die Gegend zogen. Wir haben mit ihnen keine schlechten Erfahrungen gemacht. Wir gelangten dann an den großen Zab, einen wasserreichen Nebenfluß des Tigris. Eine Brücke gab es nicht. Es wurde alles mit Booten übergesetzt. Dies geschah wegen der Tageshitze nachts. Ein phantastisches Bild, wie die großen Boote von 2 Bootsleuten mit flatternden Tüchern unter eintönigem Gesang bei Hellem Mondenschein über den Fluß getrieben wurden. Da die großen Boote nicht bis dicht ans Ufer gelangen konnten, mußten die Pferde und Tragtiere in das Boot springen. Beiden zum Teil sehr störrischen Maultieren mußte durch einen kräftigen Schwung nachgeholfen werden. Der kleine Zab, an den wir einige Tage später gelangten, wurde in Altün-Köprü auf einer uralten Steinbrücke überschritten.

Am nächsten Tage kommen wir nach Kerkuk, berühmt durch seine Erdölquellen, die damals nur primitiv ausgebeutet wurden. In Erdlöchern sammelte sich eine schwarze schmierige Masse, das begehrte Erdöl. Ein Kurde wars ein brennendes Stück Sack in eines dieser Löcher, sosort schoß eine hohe Flamme und Rauchwolke zum Himmel empor. Als nach einiger Zeit ein Stein in das Loch geworfen wurde, verlöschte sofort das Feuer wieder, da durch den Steinwurf das unter dem Erdöl stehende Wasser in Bewegung geriet und das Erdöl bedeckte. Von dem unterirdischen Vorhandensein weiterer Erdöllager zeugten verschiedene kahle Plätze von etwa 20 m Durchmesser, auf denen kleine blaue Flämmchen aus der Erde brannten, Gase, die aus dem Erdinnern kamen und sich entzündet hatten. Von Kerkuk ging es weiter nach Suleimanie, das am Fuße des Zagrosgebirges liegt. Dieses fällt ziemlich steil nach der Ebene Mesopotamiens ab. Am Fuße des kahlen Gebirgs- abhanges liegt Suleimanie, ein ansehnlicher Ort. Wir sind hier mitten in Kurdistan. Stämmige Männer und hochgewachsene Frauen bevölkern den Basar von Suleimanie. Vorherrschend ist die kurdische Tracht, weite Filzmäntel mit herabhängenden losen Aermeln, auf dem Kopfe ein kleines Käppchen mit einem Tuche turbanartig umwunden. Die Frauen in roten Hosen und Jäckchen. Dazwischen mischen sich Perser mit Filzkappen, die je nach der Stammeszugehörigkeit die verschiedensten Formen aufweisen, hohe krempenlose Zylinder oder ausgebauchte Ballonungetüme. —

Hier stoßen endlich auch die türkischen Mannschaften zu uns. Nun heißt es die türkischen Mannschaften einordnen. Keine leichte Aufgabe für uns, haben wir doch keinen Dolmetscher mehr, da dieser krank in Mosul zurückbleiben mußte. Doch muß dies auch ohne Dolmetscher gehen. Endlich ist es soweit, daß wir den Weitervormarsch über das Zagrosgebirge nach Persien antreten. Wir kommen endlich in unseren Wirkungskreis nach Persien.

Auf die Ziele und Zwecke unserer Sondermission kann ich hier aus Raummangel nicht eingehen. Diese Zeilen sollten nur einen kurzen Abriß geben über persönliche Eindrücke von fremden Völkern und Ländern, in die mich der Krieg von der Schulbank weg führte.

Dr. Rollfinke.

Ein Achtzehnjähriger kommt an die Front

Der achtzehnjährige Kriegsfreiwillige sah sich bei seinem Auszug ins Feld einem zwiefach Unbekannten gegenüber: jener grauenhaften maßlosen Landschaft des Lebens, die wir Krieg nennen, und in welcher er persönlich wie aus einem Traum erwachte, lange nicht wissend, ob die Wirklichkeit vor oder hinter ihm liege, und der Ferne, der Fremde, der weiten Welt.

Dieser Fremde war er, der bis dahin sein Elternhaus selten, die engere Heimat nie verlassen hatte, wundersam ausgeschlossen. Sie hatte schon dem Unterprimaner gewinkt, wenn er den singenden Truppen nachsah, die er in den Mobilmachungstagen hatte mit verpflegen dürfen, er vernahm ihren Ruf in jenen Augustnächten aus dem endlosen Rollen der Nachtzüge, das ihn bis in den Schlaf hinein verfolgte.

Dann stampften diese Räder unter ihm selbst, Wochen so schien es; die Zeit schlich, die Fremde schlug ihr Rätselauge auf: Rußland!

Gramvolles Antlitz unerlösten Landes mit der erschütternden Furche einer einzigen uralten Straße, die ihre windzerrissenen Bäume ohne Trost einer unerbittlichen Ferne entgegenschickt. Ein dünner Wind, mit dem Heimweh der ganzen Welt beladen, sirrt ewig in diesen riesenhaften Birken. Armselige Hütten, allein und in Rudeln, suchen demütig und geduckt den Schutz der großen Straße, und die Gehöfte auf den Höhen haben die bittere Geste der Verlassenheit. Unter der Last all der Gebärden schleppt sich die Straße durch das weite Land, an dunklen Hochwäldern vorbei und schweigenden Seen, schneidet den wilden Schwung eines Tales und stürzt endlich schicksalsbereit und wissend hügelab dem offenen Rachen einer schwarzen Bastion entgegen: Dünaburg.

Fast zwei Jahre haben wir davor gelegen, ehe die Front sich wieder bewegte dort oben; etwa 16 km südwestlich der Stadt schnitten die Gräben die Heerstraße. Unweit dieser Stelle, am Randes eines Wäldchens, hatte zwischen Birken und Fichten die Feldartillerie-Batterie 849 sich eingebaut. Von Swerbischki her erscheint hier im Januar 1916 ihr erstes Arbeitskommando, räumt den meterhohen Schnee fort, fällt Bäume und reißt mit der Kreuzhacke den glasharten Boden auf. Das Holz zum Verschalen und Abdecken muß im Nachbarwalde geschlagen und herbeigetragen werden, schwere Arbeit, für viele ungewohnte Arbeit, für uns Junge gewiß. Abends fallen wir um und schlafen, am anderen Morgen besehen wir uns die Blutblasen an unseren Händen, fassen vorsichtig auf die zerschundenen Schultern, waten durch frische Schneewehen wieder in Stellung, hacken, schaufeln, schleppen Stämme. Der bleifarbene tiefe Himmel, der alle Farbe löschend über den Anmarschtagen gelegen hat, ist einer strahlenden blauen Kuppel gewichen, der Schnee gleißt und glitzert und wirft blaue Schatten; über den Sumpf herüber, der vor der Feuerstellung liegt, leuchtet der Kiefernwald mit roten Stämmen. Dahinter muß der Graben sein: dort haben wir am Abend Leuchtkugeln emporsteige sehen, dort wacht jetzt mit der Morgensonne die Front auf. Ein Maschinengewehr hämmert wütend, klapperndes Schützenseuer schallt herüber, klatschend schlagen ein paar Kugeln über uns in die Stämme. Das erste russische Flugzeug erscheint, eine große Maschine, fast durchsichtig im Frühlicht. Die Flaks beginnen zu bellen, wie hingezaubert entfalten sich oben in der Bläue blendend weiße und schwarzgraue Wölkchen, gleich darauf dringt das scharfe Krachen zu uns herunter. Der Russe schraubt sich höher und hält unentwegt auf uns zu. Als die Abwehr einen Augenblick schweigt, hören wir schwere Kaliber über uns Hinwegrauschen. Weit aus unserem Hinterlande kommt das gedämpfte Brausen der Einschläge zurück. Zwei deutsche Maschinen sind aufgestiegen und steuern den Russen an. Der wendet. Vorn ist es lebhafter geworden. „Feuerüberfall“, sagt einer von den alten Leuten, der schon mal verwundet war, und guckt uns ein bißchen von der Seite an. Schwere und leichte Kaliber heulen und bersten, dazwischen vernimmt man das Krachen schwerer Minen, es muß wohl in der Nähe der Straße sein. 10 Minuten dauert's, dann ist alles stille. Die Sonne meint es gut, es wird stramm gearbeitet, ab und zu rutscht aufstäubend eine Last Schnee herab, und ein befreiter Zweig schwankt schaukelnd in der Höhe. Eben macht einer von uns eine launige Bemerkung über die Gemütsruhe unserer Artillerie, da fängt rechts eine Haubitzbatterie zu feuern an und hinter uns fast gleichzeitig schweres Geschütz. Mörser sollen an der Lawkessa stehen. Und — Junge, Junge, was ist denn das —, das knallt ja ordentlich. „Langrohre“, schmunzelt der Fachmann von vorhin. Die können nicht weit von hier liegen, die Geschosse jagen über uns hin. Als ob ungeheure Bahnen Seide gerissen würden, so hört sich's an, dann wird ein tiefes Röhren daraus, die Wälder werfen sich das Echo zu.

Mittagspause. Alles stapft auf einem getretenen Pfade um das Wäldchen herum, die Feldküche trifft mit uns hinter dem Hügel ein, der Koch schwingt sich neben den Kessel, teilt Portionen aus und allerlei Sprüche. Gelächter, Zurufe, Tellerklappern. Unsere Artillerie schweigt, irgendwo summt ein Flugzeug.

Plötzlich ein ohrenbetäubender Krach, die Pferde gehen durch, der Koch liegt an der Erde, eine Fontäne aus Schnee und Moorboden schlägt hoch, Sprengstücke pfeifen, es regnet Dreck und Grundwasser. Alles, was nicht vom Luftdruck niedergerissen worden ist, hat sich hingeworfen; nun raffen wir uns auf und rennen in raschen Sätzen in den Wald zwischen die ersten Stämme. Der zweite Schutz geht 50 Meter weiter; dafür hören wir ihn herankommen, ein schauerliches Geräusch, das mitten durch einen hindurch geht. In gleichem Abstand folgt Schutz auf Schutz, jedesmal zuckt der Boden unter dem gewaltigen Hiebe. Es gilt den Langröhren. Allmählich geht unser Atem wieder ruhig; wie durch ein Wunder ist bei dem ersten Schuß niemand verletzt worden.

Des Schreckens, der uns bei dieser unserer Feuertaufe ins Gebein fuhr, brauchen wir uns nicht zu schämen; ein Eisenbahn- Geschütz großen Kalibers war es gewesen, das der Nachbarbatterie den Garaus machen sollte. Es wurde einige Tage später von unseren Mörsern vernichtet.

Kaum sind die ersten Unterstände notdürftig fertig, so muh die Verbindung zum Graben und nach rückwärts zur Artilleriegruppe ausgenommen werden. „Telefonisten rechts raus!“ Nichts hören wir lieber. Zu viert gehen wir los mit Handsäge und Beil, Kabeltrommeln und Feldtelefon. Der Sumpf wird umgangen, die Leitung in halbhohe Erlen gelegt, dann nimmt Kiefernwald uns auf, der zunächst noch ziemlich unversehrt ist und eine Reservestellung birgt. Sein jenseitiger Rand ist arg mitgenommen, viele aufgesplitterte halbe Schäfte, die mit jammervoller Gebärde zum Himmel weisen. Die Kronen liegen, soweit die vierten Jäger sie nicht geholt und verfeuert haben, wie große Spinnen über alten verschneiten und frischen schwarzen Trichtern. Durch dieses Gelände windet sich der vorderste Graben. Es dämmert bereits, als wir hier eintreffen, leise fängt es an zu schneien, an der Front fällt nicht ein Schuß. Wir beziehen fürs erste einen unbenutzten, schon etwas zusammengerutschten Unterstand und schließen an. Die Feuerstellung meldet sich, der Batterieführer verlangt den Beobachter. Wir holen den Vize vom Scherenfernrohr weg und legen schnell noch eine kurze Strippe um ein paar Brustwehren herum bis zum Beobachtungsstand. Dann gehen zwei von uns wieder nach der Batterie zurück, während ich mit meinem Freunde T. vornbleiben kann. Der Schnee leuchtet schwach, es wird nicht ganz dunkel. Unser Vize ist mit einem Oberjäger in die Sappe gegangen, Wir versuchen, durch das Scherenfernrohr das Vorfeld zu erkennen, doch das Glas ist nicht sehr lichtstark. Der Russe liegt hier knapp 100 in weit von uns. Hubertushöhe haben die Jäger das feindliche Grabenstück genannt. Eine Leuchtkugel geht drüben hoch, hält sich eine Weile über dem Niemandsland und erlischt. Nun ist gar nichts mehr zu sehen, wir bauen die Station ab und kriechen in unser Erdloch. Auf einer Pritsche von Knüppelholz können leidlich bequem zwei Mann liegen. Vorn, gleich hinter der sog. Tür, kann man auf einer Munitionskiste zur Not auch sitzen. Das Aufrechtstehen gewöhnt man sich nach wenigen schmerzhaften Versuchen ab. Längst haben die Jäger sich tiefe geräumige Unterstände gebaut. Nach einigen Wochen werden auch wir einen haben, vorläufig richten wir uns hier für die erste Nacht im Schützengraben ein.

Mitternacht ist vorüber, als ich durch einen leichten Griff an den Arm geweckt werde. Es dauert einen Augenblick, bis ich mich zurechtfinde, dann krieche ich aus Mantel und Decke, vorsichtig, um den anderen nicht zu wecken, und T. legt sich an meinen Platz. „Was Besonderes?“ „Nein, das MG. schoß eben und vorhin haben sie rechts gesprengt, die Leitung ist in Ordnung.“ „Na, dann schlaf gut!“

Wer hat nicht als Kind einmal wach gelegen des Nachts inmitten der ruhigen Atemzüge von Eltern und Geschwistern wie auf einem Meere treibend? Gedanken und Gefühle kommen und gehen, Kinderbangigkeit und Kinderhoffnung, wie Wellen fließt das hin und wieder, wie jene tiefen Atemzüge, unter denen sich die dunkle Kammer ins Endlose zu dehnen scheint.

Andere Schläfer ruhen heute neben mir, Pflicht hält mich wach, und statt der stillen Stube umgibt mich die Enge eines Unterschlupfs aus Erde und Baumstämmen, von der kaum bewegten Flamme einer Kerze erleuchtet. Und alsbald steigen auch hier alte Bilder herauf, ungerufen und unaufhörlich: verschollene Plätze früher Kindheit, geliebte Menschen, in Blick und Gebärde zum Greifen nahe, Freundesgespräche, längst vergessen geglaubte und ihr Schauplatz, Wanderung und Einkehr, Abschied und Wiedersehen, unablässig Bild auf Bild, ein freundlicher Strom. Alles ist da, nichts verloren, vieles erst jetzt ins Wesentliche gehoben.

Leise knistert die Flamme, hin und wieder rieselt Sand von Wänden und Decke oder einer der Schlafenden redet im Traum. Die Batterie ruft an: Die Kiefernhöhe, ein russisches Grabenstück, das von unserer B.-Stelle einzusehen ist und ein paar schwere Minenwerfer, ein Grabengeschütz und mehrere Maschinengewehre trägt, soll in der Morgendämmerung zusammengeschossen werden. Die Haubitzbatterie rechts von uns will neben der Hauptbeobachtung unsere B.-Stelle und Leitung benutzen. Die Verbindung zwischen den beiden Feuerstellungen wird eben hergestellt, und in etwa einer halben Stunde wird die Fußartillerie oben anrufen.

Zerstoben sind die Erinnerungen, die Gegenwart ist da. Noch eine halbe Stunde haben wir bis zur Ablösung, dann wecke ich den Kameraden und gehe noch einmal zum Grabenposten hinaus. Eine scharfe Kälte schlägt mir entgegen, unter meinen Schritten knirscht der Schnee, hoch überm zerschossenen Wald funkelt die Nacht. Der Posten freut sich über den Besuch, und wir reden eine Weile miteinander. Es ist, wie ich dachte, die Front macht einen ziemlich scharfen Bogen, so daß wir einem Teile der feindlichen Stellung in die Flanke sehen können. Die Kiefernhöhe aber, die heute früh daran glauben soll, hat den Rheinländern, die ihr gegenüber liegen, manche Verluste eingebracht. Ich gehe in den Unterstand zurück und lege mich aufs Ohr.

Am Morgen kommt Leutnant H. mit dem Beobachter von 3/31. Das Scherenfernrohr ist schon im Graben, und wir schließen jetzt ebenfalls draußen an. Seltsam starr stehen im Zwielicht die zersetzten Bäume, die Sterne sind bleich geworden, und im Osten liegt unter einer schmalen Wolkenbank ein fahler Schein. Totenstille ringsum. Wir warten 10 Minuten, 12 Minuten, eine Viertelstunde. Die Haubitzen melden ihre Feuerbereitschast, und dann setzt mit einem Schlage im ganzen Abschnitt das Vernichtungsfeuer ein. Das flitzt hechelnd und zischend dicht über uns weg, das kommt sauchend und kreischend aus der Höhe, tausendfach wird der Himmel zerrissen, das schmettert — grauenhafter Höllensturz — unsichtbar herab aus die Erde, die sich in Schmerzen bäumt. In einem Nu steht über der Kiesernhöhe eine einzige Wand aus Feuer, Dreck und Eisen, aus Qualm und Qual, eine brüllende Mauer, deren weißlich lodernder Schwadenrand da und dort von den dicken Rauchballen der schweren Einschläge überstiegen wird. Fassungslos starre ich hinüber; mir ist plötzlich, als stände ich bis zur Brust in eiskaltem Master.

So ist das also! So ist das also! „Sperrfeuer“, ruft der Offizier vom Scherenfernrohr, ich wiederhole und gebe den Befehl durch. Allmählich löst sich der Krampf, aber ich bin ganz heiser vor Erregung. Die Batterie ruft an. Mitten im Satz ist die Stimme weg. Ich drücke den Verstärker, sehe die Stöpsel nach, ich klopfe den Fernsprecher mit der flachen Hand. Ich summe an, — dünn und kläglich klingt's, kein Zweifel, die Leitung ist entzwei. Und nun wird mir erst bewußt, daß der Rüste das Feuer erwidert. Das meiste kriegen die Stellungen der 257er ab, doch auch hinter uns im Wald krachen die Einschläge.

Mit dem Reserveapparat, Flickdraht und allem, was noch dazu gehört, machen wir uns zu zweien auf den Weg. Das Gelände senkt sich etwas gegen eine kleine Waldblöße, auf der wir tags zuvor Jäger hatten spanische Reiter wickeln sehen. Vier frische Einschläge liegen quer darüber hin, einer der schweren Böcke hängt in einer Kiefer, die Leitung wenige Meter davon ist ganz. An der Reservestellung schließen wir an, bekommen aber nur die Beobachtung. Also weiter zurück. Unser Artilleriefeuer hat aufgehört, der Russe streut den Wald ab. Wir traben unter der Leitung her. Da, zwei mächtige Trichter nebeneinander, die Bäume ringsum wie nach einem Windbruch, schiefe Föhren, hochgestellte Wurzelscheiben. Und da hängen auch die Strippen. Wir flicken ein Stück dazwischen, rufen an und bekommen sofort von einer unbekannten Stimme einen gewaltigen Ansauser und die freundliche Aufforderung, uns aus der Leitung zu scheren. Das tun wir denn auch mit Hilfe der Drahtzange und haben nach einigen Minuten das Glück, die paffenden Enden gefunden zu haben. Dann knoten wir auch die Infanterieleitung noch zusammen und gehen nach vorn.

Zahllose Erlebnisse birgt eine Zeitspanne von nahezu drei Jahren Frontdasein. Durch das Massenhafte und oft unerträglich Einförmige aber sind ihre Konturen in der Erinnerung vielfach wieder verwischt. Die Bilder verdecken sich gegenseitig, manche liegen am falschen Ort, viele auch weichen beim genauen Hinsehen völlig ins Ungewisse zurück. Einige aber sind wie Kindheitserinnerungen: ohne ersichtlichen Grund, und während später Erlebtes und vielleicht Größeres unwiederbringlich versinkt, erhalten sie sich über alle Zeit hinweg in unbegreiflicher Klarheit.

Franz Kirchner, Nordhausen.

Wie ich Melder wurde

„Verluste: 4. Komp.: 16 Tote, 70 Verwundete, 43 Vermißte; 10. Komp.: 30 Tote, 66 Verwundete, 6 Vermißte.“ So meldet der Bericht des 2. Kurhessischen Inf.-Rgts. Nr. 82 (Göttingen) über den Einsatz der beiden Kompagnien bei Kamarow drunten am Styr, einem Nebenfluß des Pripet, im weiten sümpfe- und waldreichen Wolhynien. Für die damalige Zeit wahrhaftig eine Verlustziffer von seltener Höhe! Was uns, die wenigen Ueber- lebenden der „Vierten“, immer wieder, auch noch in den Kämpfen im Westen, an jene Spätherbsttage 1915 erinnern ließ, war die Einmaligkeit der Erlebnisse, war der unmittelbare Eindruck des Kampfes von Mann gegen Mann gleichsam auf der von aller Welt abgeschlossenen Bühne der langgestreckten Lichtung im russischpolnischen Waldmeer. Für den Erzähler selbst schließen diese Kampftage allerpersönlichste Erinnerung ein. —

Die große Durchbruchsschlacht bei Tarnow und Gorlice im Mai 1915 und die nachfolgenden „Wanderschlachten“ hatten die russische Front, die sich bedenklich nahe bis an die deutsche Grenze hatte schieben können und den Oesterreicher unaufhaltsam über die Karpathen nach Ungarn gedrückt hatte, bis in die Pripetsümpfe, nach Weißrußland, hineingejagt. Bei diesem ungestümen Vorstoß in den weiten russischen Raum waren die deutschen Linien jedoch immer dünner geworden. Der Russe dagegen, günstige Aufmarschlinien im Rücken, war wieder zum Stehen gekommen und schritt mit starken, unerschöpflich scheinenden Massen zum Gegenangriff.

Den letzten Teil des Angriffs hatte der Ersatz, der 900 jugendliche Rekruten, darunter mich, den achtzehnjährigen Kriegsfreiwilligen, Anfang September 1915 dem ausgebluteten Regiment zugeführt hatte, noch miterlebt. Nun kam die harte Zeit, in der es galt, das Gewonnene mit geringen Kräften zu halten und neue Angriffsmaßnahmen an anderen Fronten zu ermöglichen. Das erfordert härtere Nerven und entsagungsvolleren Dienst als beim frisch-fröhlichen Angriff.

So begann nördlich und südlich der Rokitnosümpfe bis nach Wolhynien hinunter ein zäher Kampf: „Immer dasselbe Bild: Infolge des Durchbruchs der Russen und der durch ihn eingetretenen Verluste auf der ganzen Front eine dünne Besetzung, der Einsatz der einzelnen kleinen Einheiten je nach Bedarf, wie die drohende Gefahr es an den verschiedenen Punkten verlangte … in dem unübersichtlichen Gelände schwere Nachrichten- und Befehlsübermittelung .… Aber trotz aller nervenaufreibenden, verlustreichen Kampftätigkeit eine ungebrochene Angriffslust und zäheste Pflichterfüllung der Truppe und ihrer Führer“, so heißt es in der Regimentsgeschichte über diese Art von Kämpfen. Die Unbilden der Witterung wurden immer größer.

In diese Zeit und Umstände führt der Bericht.

Aus den Rokitnosümpfen, von der Jasiolda, war das Regiment in Eilmärschen nach Süden beordert worden, um den Oesterreichern zu helfen. Das erste Gefecht bei Kamarow, noch diesseits des Styrs, und die Schlacht bei Tschernysch (26. 9. bis 1. 10. 1915) waren geschlagen. Hier hatte es meinen Schulkameraden Werner König, mit 16 Jahren des Regiments jüngsten Kriegsfreiwilligen, erwischt. Mit herzlichem Bedauern sah ich ihn auf der Bahre verwundet nach hinten weggetragen werden.

So kam die Herbstnacht des 19. Oktober. Ich stand neben dem Fernsprech-Unterstand der Kompagnie Wache. Da tönte der Summer. „4. und 10. Komp. setzen sich am 20. Okt. 4 Uhr früh in Richtung Kolki—Kamarow in Marsch. Der Russe ist bei K. überraschend durchgebrochen und hat die Stellung der öfter. Landwehr-Inf.-Regt. 6 und 7 genommen.“ — Kein Wunder, daß die Gruppe des prächtigen Unteroffiziers Lorenz, der ich angehörte, am ersten marschfertig war!

Auf altbekannten Wegen rückte das aus je 2 Kompagnien des I.R. 82 und 83 gebildete Stoßbataillon in Eilmärschen über Kolki gen Norden. Als uns der schweigende Wald ausgenommen hatte, begann das Abenteuer. Langsam tasteten wir uns vor. Ohne Kampf konnten wir am Abend des 21. Oktober den Südrand der großen, leicht gewellten Lichtung erreichen, die sich von Kamarow in nordost-südwestlicher Richtung in den Wald erstreckte. Die Ruhe war uns ungemütlich. Wir dachten an die Legionen des Varus im Teutoburger Walde. In der Frühe des nächsten Morgens kamen die Feldküchen und Patronenwagen noch einmal angeprescht und teilten Bohnen aus, solche und solche! Die Fahrer berichteten schon von abgefangenen Wagen des Gefechtstrosses. Wir schickten sie mit starker Begleitung schnellstens zurück und sicherten nach allen Seiten.

Endlich kam Klarheit. Ringsum begann der Wald lebendig zu werden. Es knisterte und knackte an allen Ecken. Lehmgelbe Schützenlinien, im herbstfarbenen Gehölz kaum zu erkennen, schoben sich heran und schlossen den Ring. Wir waren umzingelt. Wir jungen Soldaten erlebten das erste Waldgefecht. Bald aber schafften uns Gegenangriffe wieder Luft. Oesterreichische Artillerie fuhr auf. Ihre Beobachter freuten sich der deutschen Sicherung und gingen in den nächsten Tagen stets in der vordersten Linie mit. Zur Sicherung unserer Schützenlöcher bauten wir Astverhaue, das einzige Mal im Kriege. Rund um uns lag der Russe, in 100 m Entfernung, geduckt und angriffsbereit wie Rudel hungriger Wölfe.

Bei dem unübersichtlichen Gelände wurde plötzlich mein Kompaß, bis dahin Privatstück eines Kriegsfreiwilligen, eine öffentliche Angelegenheit, denn er war der einzige, sodaß ich ihn kurzerhand der Kompagnie stiftete. (Mein zweiter Kompaß verschaffte mir im Frühjahr 1916 in Kurland — sicherlich auf Grund der vom Bataillonsführer hellseherisch festgestellten positiven mathematischen Kenntnisse, System Bochow — einen freundlichen „Druckposten“, wie es so schön heißt. Dort fing das Bataillon Landwirtschaft an. Während aber die Nicht-Landwirte schwer exerzierten, bewegte ich mich als feldgrauer Pan durch die Fluren und maß mit einigen Helfern Feldbreiten ab.)

Trotz der zunehmenden Unbilden der Witterung und des starken feindlichen Artillerie-, Infanterie- und M.G.-Feuers setzte das Bataillon zum Angriff an, um wieder dem Feinde das Gesetz des Handelns vorzuschreiben. Weithin erschallte im Walde das Hornsignal „Rasch vorwärts“ und „Greift nach der Klinge“, und mit aufgepflanztem Seitengewehr ging's hinaus auf die Lichtung. Der Melder des Kompagnieführers, des Leutnants Selbmann, war gleich zu Beginn gefallen, sein Ersatzmann bald danach schwer verwundet.

Der zweite Sturmangriff galt einer quer über die Lichtung laufenden Stellung, die über eine Anhöhe führte, von der aus sibirische Scharfschützen, prächtige große Wald- und Steppenmenschen, uns mit ihrem gutgezielten Feuer empfindliche Verluste zufügten. Wir waren so schnell, daß wir das Feuer der schweren russischen Mörser unterliefen. Doch — was war das mit den österreichischen Anschlußtruppen zu unserer Linken im Walde? Tschechen waren es, unsere ständigen Sorgenkinder! Schon während des Sturmes waren wir in ihre Linien z. T. eingeschwärmt, jetzt stellten sie gar die Kampfhandlung ein, wickelten sich in ihre Decken und legten sich in Deckung hinter dicke Bäume. Bald setzte der russische Gegenangriff ein, unterstützt durch schwere Mörser. Noch waren sie auf unsere neue Stellung zum Glück nicht eingeschossen. Während wir ihn vor uns zum Stehen brachten, kam der Russe im Wald mühelos vor. Er wollte uns überflügeln und abfangen. Wir zogen unsere Leute schleunigst heraus, um freie Hand zu haben. Da, als die ersten Tschechen aufstanden, um den Gang des Verräters anzutreten, war unsere Geduld zu Ende. Was aus der Büchse heraus wollte, das brannten wir ihnen von der Höhe aus auf den Pelz. Es war eine wilde Abschiedsmusik und bei der nahen Entfernung von besonderer Wirkung. Und als gar die Russen durch die flutenden Haufen der Ueberläufer strömten, da sausten die Patronenrahmen in die Knarre, daß die Läufe glühend heiß anliefen. Dann aber hieß es, schleunigst zurück, um nicht umfaßt zu werden. Kaum hatten wir geräumt und näherten uns, in breiter Front gegen den Wald in allen Stilarten vom freien Feld aus, sogar knieend und stehend freihändig, schießend, unserer Ausgangsstellung, da hatten die ersten Lagen der Mörser den Höhengraben endlich gepackt und zermalmten die tschechischen Verräter, die darin verblieben waren. Mit vielen anderen war bei diesem Angriff der 3. Melder geblieben. An seine Stelle trat ein junger Bergmann, ein Landsmann von einem der Schächte rund um die Bleicheröder Berge.

Der dritte Angriff gelang besser, da sich die österreichische Artillerie inzwischen eingeschossen hatte. Wir gewannen in der Lichtung tüchtig Gelände nach Kamarow zu, trotz schärfster Gegenwehr. Als erste erreichten, nahe am Russen, der Kompagnieführer mit seinem Melder und der erste Zug einen alten österreichischen Graben. Wir brauchten Verstärkung. Der Melder raste über die bestrichene Bodenwelle hinter unserem flachen Graben davon. Bald hörten wir ihn wieder angeschnauft kommen. Scharf hob sich seine Gestalt hinter der kalten, tiefen Herbstsonne ab. Noch brüllte ich mit 2 oder 3 Kameraden „hinlegen, kriechen!“, denn er strebte, müde und abgekämpft, durch das unheimlich dichte Feuer nur wenig geduckt unserem Graben zu. Da, ein dumpfer Aufschlag des Körpers, kein Rühren mehr. Herzschuß, 4 m vorm rettenden Graben. Aber der Kompagnieführer mußte wissen, was hinten bei den beiden anderen Zügen und links beim österreichischen Anschluß los war. „Utffz. Lorenz, stellen Sie mir einen neuen Melder!“ Ein jeder von uns rechnete aus: der Fünfte, drei sind bisher tot, einer schwer verwundet. „Musketier L.“, — es war ein großer stämmiger Handlungsgehilfe — „machen Sie sich fertig!“ Def aber: „Wir haben doch einen Kriegsfreiwilligen in der Gruppe, der hat sich doch freiwillig in den Krieg gemeldet.“ „Der Kriegsfreiwillige Neumeyer ist bereit; Herr Unteroffizier, ich bitte um Abkommandierung!“ „Ich danke Ihnen, alles Gute.“ Kriechend zum Kompagnieführer. Spaten zur Hand. Dann ging's den gleichen Weg nach hinten, doch über die Bodenwelle mußte ich kriechen und auf dem Sattel mich wie ein Maulwurf mit dem Spaten vorarbeiten — denn ich war ja der 5. Melder. Allein auf mich gestellt, durchlief oder -kroch ich den Graben zur Linken und Rechten, preschte ins Hintergelände, holte die Feldküchen und Patronenwagen möglichst nahe heran, führte österreichische Reserven herbei. Ueber mir sangen die Kugeln ihr unheimlich Lied. Es war gut, daß ich im Schüler-Turnverein den Langstreckenlaus besonders geübt hatte.

Der 4. Angriff richtete sich gegen die russische Hauptstellung, Gräben vor Waldstücken der sich nach Kamarow zu verjüngenden Lichtung, während in der Lichtung selbst die Stellung zurücksprang und als Hauptstützpunkt einen Windmühlenhügel umfaßte. Trotz schwerer Verluste schafften wir es. Müde warf sich nach dem notdürftigsten Stellungsumbau alles, was nicht Wache zu stehen brauchte, in die strohgefüllten Unterstände, denn die letzten Tage hatten wir bei Schnee und Regen in offenen Löchern zugebracht. Nur für den Melder gab's keine Ruhe. Ein Befehl jagte den anderen. Der schwierigste war die Heranführung österreichischer Reserven bei Nacht von weit hinten her bis vorn in die Stellungsnähe am Windmühlenhügel, der umgekehrt nun in die russische Stellung hineinsprang. Denn jederzeit konnte es Artillerie- und M.G.-Feuerüberfälle geben, so daß es galt, jede Deckung auszunutzen. Wie eine Schafherde, so trieben der österreichische Stabsfeldwebel und ich, der junge Dachs, die slowakischen und ruthenischen Bundesgenossen vor, sorgsam achtgebend, daß keiner im Gebüsch „volle Deckung“ nahm, denn jedes Gewehr war wichtig. Auf die Rucksäcke der Langsamsten sauste sogar der Krückstock des Stabsfeldwebels nieder.

Gerade, als ich am nächsten Morgen dem bei der Windmühle befehlenden österreichischen Offizier meine ehemalige Gruppe Lorenz zugeführt hatte, kam der Gegenangriff, bei der geringen Entfernung hier von — rd. 50 m — ohne jede Vorbereitung. Ein prächtiges Bild, wie die lehmfahlen sibirischen Hünen aus den niedrigen Gräben am Dorfrande und hinter den Brandruinen herausquollen. An die Gewehre! Doch in den Verbindungs- und Flankierungsgraben saßen die Slowaken und Ruthenen tief in ihren Schützenlöchern, auf dem Rucksack zusam- mengetauert und murmelten, in bunte Gebetsbücher versenkt, unverständliche Worte. Ihre Gewehre lagen, wie ein Flakgeschütz gen Himmel ragend, auf der Deckung, z. T. versandet oder sonstwie unbrauchbar. Mit rauhen Worten, mit denen ich mir selbst Mut machte, brächte ich die meisten auf die Beine, holte wohl da und dort ein unversehrtes Gewehr herbei; übernächtigt schauten sie mir mit dumpf-ergebenen Augen zu, wie ich hin und her sprang. Warum hatte sie der große Krieg aus der Ruhe ihres Dorfes am Hange der Karpathen herausgerissen? Dann kamen die Russen! Noch sehe ich den großen Kerl auf der Deckung, wie er das Gewehr mit dem ständig daran befestigten spitzkantigen Seitengewehr zum Bajonettstoß auf einen der tapferen deutsch-österreichischen M.G.- Männer anhebt und wie dieser ihm die langgezogene Pistole unter das Kinn hält. Mit schwerem Kieferschuß fällt der Russe in den Graben. Endlich ist der Angriff abgeschlagen. Ich rase zurück, wenigstens ein oder zwei Gruppen Deutsche zu holen, denn die Gruppe Lorenz hat nur noch 4 Gewehre und der österreichische Oberleutnant verweist auf seine Slowaken, die wieder stumpf in den Löchern liegen.

Gerade laufe ich wieder an ihnen vorbei, um dem Oberleutnant die erbetene Unterstützung anzukündigen, als sich die Bajonettspitzen in den russischen Gräben wieder verdichten und die Lammfellmützen wieder zusammenrücken. Unser M.G. hatte Ladehemmung, die Slowaken und Ruthenen zählten nicht mehr, sie rüsteten ihr Gepäck für den Marsch nach Sibirien. Ein Dutzend Gewehre waren es noch gerade an der Windmühle. Lorenz legte die wenigen Handgranaten bereit. Es waren Augenblicke höchster Nervenbeanspruchung. Jeder machte seine Abrechnung, so oder so. Dann brach die gelbe Walze erneut los. Einige Schrecksekunden, in denen keiner von uns schoß — dann kam das Wunder. Hunderte von Gewehren flogen zu Boden, Hunderte von Armen gingen in die Höhe. Ueberläufer statt Kämpfer, fast tat einem der schnelle Wandel leid. „Nicht schießen!“, brüllten wir nach links und rechts, dann rauschte es über uns paar Deutsche und die Slowaken in den Löchern wie dunkle Wolkenschatten, wie Geister der weiten Waldsteppen hinweg, und hinter ihnen her flugs unsere Slowaken, sich ihnen als Geleitmannschaft nach dem Motto „Freiwillige vor“ anbietend. Damit die wilde Jagd voll werde, der Melder der „Vierten“ und ein österreichischer Feldwebel beiden auf den Fersen, um die hier unerwünscht Freiwilligen wieder in die Gräben zu jagen.

Wahrhaftig, tolle Tage! Noch vor 6 Monaten auf der Schulbank, und jetzt in diesem Wirbel! Zur Verfolgung bis an das nahe Styrufer treten frische Truppen an. Ein kleines Häuflein von noch nicht 40 verschmutzten, bärtigen und verlausten Soldaten rückte in Kolli Anfang November wieder ein. In einem ergreifenden Feldgottesdienst gedachten wir der gefallenen und vermißten Kameraden. Die Regimentsgeschichte, die ihre tagebuchartige Berichterstattung an wesentlichen Stellen zu einem besonderen Stimmungsbericht erweitert, beschließt die Schilderung der Kämpfe bei Kamarow mit folgenden Worten: „Ein wundervoller Geist herrschte in den Kompagnien, Heldentaten einzelner Leute und Unteroffiziere reihten sich in langer leuchtender Kette aneinander.“

Noch schlugen wir uns — im Dezember 1915 am Styr herum, da beglückwünschte mich ein mir zugetaner Unteroffizier. Der Kompagnieführer habe vor seinem Fortgang infolge schwerer Erkrankung seinen Melder zum Eisernen Kreuz eingereicht, und sein Händedruck bedeutete: Nun bist Du schmächtiger junger Kriegsfreiwilliger unser richtiger Kamerad und „alter“ Mann in der Schicksalsgemeinschaft der Frontsoldaten.

Dr. H. Neumeyer, Halle.

Aus meine Kriegstagebuche:

Ehrenwache bei Hindenburg

Nach dauerndem Stellungswechsel mit unseren schweren Festungsgeschützen im Morast Rußlands bei den Schlachten und Gefechten der 10. Armee wurde für uns im März 1916 eine Ruhepause in Kowno angesetzt. Wir bezogen eine russische Kaserne und ruhten von den Strapazen aus. Doch die „Ruhe“ hielt nicht lange an. Eines Tages kam Befehl: Die Fußartillerie stellt beim Oberkommando Ost die Wache zum 50jährigen Militärjubiläum des Generalfeldmarschalls von Hindenburg. Das war eine große Ehre für uns, der wir unsere Ruhetage gern opferten. Jetzt ging es an einen für uns alte Feldsoldaten ganz ungewohnten Garnisondienst. Tag für Tag wurde „Wache aufziehen“ gebimst.

Am 6. April 1916 mittags 1 Uhr zogen wir beim Ober-Ost auf und lösten die Infanterie ab. Ich war mit einem Kameraden eingeteilt, tagsüber am Eingang der Villa, in der Hindenburg Quartier bezogen hatte, und nachts vor seinem Schlafgemach Posten zu stehen.

Das Haus gehörte zur Schraubenfabrik Tillmann. Mir ist noch ein Garderobenständer, ganz aus kleinsten und größten Schrauben gefertigt, in Erinnerung, der beim Eintritt in das Haus die Aufmerksamkeit auf sich zog.

Morgens 9 Uhr, am Jubiläumstage, machten Generalfeldmarschall von Hindenburg und General Ludendorff den gewohnten Morgenspaziergang. Als sie beide aus dem Hause herauskamen, schlugen wir die Hacken zusammen, daß es nur so knallte. Wir wurden einer scharfen Musterung unterzogen. Hindenburg und Ludendorff — welcher Kontrast — des einen Wesen strahlt Güte, des anderen eiserne Energie aus.

Im Laufe des Ehrentages trafen eine große Anzahl hoher und höchster Persönlichkeiten ein, darunter des Kaisers Söhne und der Prinz Heinrich. Abends an der Festtafel hatte sich zu Ehren des Feldmarschalls ein glänzender Kreis versammelt. Uebrigens gehörte auch General Hoffmann — ein Nordhäuser Kind — zu dem Stäbe Ober-Ost. Mit beginnender Dämmerung patrouillierte ich laut Befehl um das ganze Haus, während mein Kamerad am Eingang der Villa postiert blieb. Die Bewachung war äußerst streng. Es trieben sich Spione in Kowno herum, und man hatte im Kellerfenster des Hauses, in dem die Telegrafenabteilung untergebracht war, eine Bombe gefunden.

3 Tage Ehrenwache! Hindenburg besichtigte uns jeden Morgen. Danach löste uns die Infanterie wieder ab. Mit einem schmissigen Parademarsch verabschiedeten wir uns von Hindenburg. Zurück ging's an die Front und sogleich in die Feuerstellung nahe Dünaburg. Eines Tages erschien von Hindenburg dort plötzlich. Groß, stolz, mit klarem ehrlichem Blick voller Ruhe und Überlegenheit, so steht er mir im Gedächtnis. Ihm zu begegnen, war stets ein Erlebnis.

Nach weiteren Kämpfen an der Beresina wurde die Fuß- Artillerie-Schießschule 1918 in Frankreich bei Laon eingesetzt, wo am 27. Mai nachts 1 Uhr die große „Hindenburg-Ueberraschung“ — die Durchbruchsoffensive über den Lhemin des Dames, Fismes, Soifsons, Anicy, Oisekanal — gelang und uns bis nahe an Paris führte, in ein Gelände, das der Krieg noch nicht berührt hatte. Unter blühenden Kirschbäumen standen wir mit den schweren 21 ein Mörsern in Feuerstellung.

Fritz Thielbeer, Reichsbank-Inspektor,
Osterode (Harz)

Heldentod des Kriegsabiturienten Paul Förstemann

Von seinem Vater, Sanitätsrat Dr. Förstemann,
während des Krieges Oberstabsarzt an der Front.

Das Realgymnasium in Nordhausen kann stolz sein aus die 225 Helden, die — hier zu strebsamen, wertvollen Menschen erzogen — aus den Rus des Vaterlandes mit jugendlicher Begeisterung in das Feld zogen und freudig für Vaterland und Heimat ihr Leben dahin gaben.

Die folgende Schilderung des Lebens und Sterbens eines solchen blutjungen Helden im wilden Ringen des Weltkrieges soll auch seinen gefallenen Mitschülern ein ehrendes Denkmal setzen.

Paul Förstemann, geb. am 11. 12. 1899 zu Nordhausen, verließ das Realgymnasium im Juni 1917 mit der Oberprimareife, als sein Jahrgang zu den Fahnen einberufen wurde. Ueberaus ernst und tief veranlagt, wußte er genau, welchen Gefahren für Leben und Gesundheit er entgegenging, umso mehr, als ja erst vor einem Jahr sein innig geliebter älterer Bruder mit 18Vz Jahren vor dem Feinde gefallen war. Schon in den ersten Kriegsjahren hatte er, wenn bei den häufigen Siegesnachrichten in der Heimat immer wieder unter lautem Jubel geflaggt wurde, seiner Mutter gesagt: „Laßt doch das, Ihr wißt ja gar nicht, wieviel Mütter heute wieder um den gefallenen Sohn weinen müßen.“

Am 26. 7. 1917 wurde er zu der Ersatzabteilung des Feldartillerie-Regiments Nr. 11 in Kassel einberufen, demselben Truppenteil, bei welchem auch sein am 8. 3. 16 vor Verdun gefallener Bruder Hans seine Ausbildung als Kanonier erhalten hatte.

Am 1.12. 17 kam er als Fahnenjunker des Lauenburgischen Feldartillerie-Regiments Nr. 45 zu der Ersatzabteilung dieses Regiments nach Altona-Bahrenfeld, und am 17. 12. 17 bereits ins Feld und zwar zuerst in die Vogesen.

Am 9. Januar 18, dem Todestag seines 1871 bei der Erstürmung des Schlosses Villersexel als Premierleutnant und Kompagnieführer gefallenen Großvaters, des Kreisrichters Johannes Förstemann, konnte er an der Seite seines ebenfalls aus dem Felde beurlaubten Vaters, beide unter dem Stahlhelm, an der Beerdigung seines ihm im Heldentod vorausgegangenen und nach fast zweijähriger Grabesruhe in Feindesland nach der Heimat überführten Bruders Hans teilnehmen. Am selben Tage erhielt er seine Beförderung zum Fahnenjunker-Unteroffizier.

Als ihn nach der Beerdigung sein Vater fragte, ob er wohl jetzt gleich während seines kurzen Urlaubs die Kriegsreiseprüfung machen könne, antwortete er kurz entschlossen: „Ich bin bereit, denn an meinem Geschütz habe ich stets während der Feuerpausen in meinen Latein-, Geschichts- und Mathematikbüchern mich darauf vorbereitet.“ Nach telefonischer Anfrage und Genehmigung durch das Provinzialschulkollegium in Magdeburg bestand er am 25.1.18 die Kriegsreifeprüfung am Realgymnasium zu Nordhausen. Leicht wurde ihm diese nicht gemacht; als einziger Prüfling wurde er über 4 Stunden lang wie eine Zitrone nach seinem Wissen ausgepreßt, bis schließlich der prüfende Lateinlehrer, Herr Professor Olbricht, dem Vorsitzenden sagte: „Der Prüfling hat bisher keine Frage ausgelassen. Ich wäre froh, wenn meine Oberprimaner ein solches Wissen hätten, wie dieser junge Krieger, der aus dem Schützengraben kommt!“

Doch nun, wo er die Reifeprüfung gut bestanden, zog er doppelt wohlgemut wieder in's Feld, denn jetzt stand ihm ja die ganze Welt offen, wie er strahlend seinen Eltern erklärte. „Ich hoffe es bald zum Offizier zu bringen. Sollte ich aber zum Krüppel geschossen werden“, so tröstete er seine Mutter, „dann kann ich ja nun studieren.“

Sein durch eifrige sportliche Betätigung während der Schulzeit prachtvoll ausgebildeter, widerstandsfähiger Körper kam ihm bei Ertragung der außerordentlichen Strapazen während der Frühjahrsoffensive 1918 sehr zu statten, welche ihn in fast ununterbrochenen blutigen Kämpfen und Schlachten hinter dem besiegten Engländer her von St. Quentin bis 20 km östlich Amiens führte, so daß er über 4 Wochen lang nicht aus den Kleidern und Stiefeln kam. An seine Mutter schrieb er: „Ein Wetter haben wir jetzt gehabt, das war einfach grauenhaft. Jeden Tag Regen und dann immer unter Zelten auf feuchter Erde, doch meiner Natur kann das alles nichts schaden. Ich bin stark wie immer.

Am 22. April 1918 hatte er die Freude des überraschenden Besuches seines Vaters am Geschütz des Sohnes in der Feuerstellung der Batterie 5 kni östlich von Lorbie an der Somme, wo tags- zuvor der berühmteste deutsche Kampfflieger, Rittmeister Manfred von Richthofen, nachdem er noch am 20. 4. das 79. und 80. feindliche Flugzeug im Luftkampf abgeschossen hatte, nur wenige kni vor der Batterie beim Dorf Vaux sur Somme von einem kanadischen Flieger abgeschossen worden war.

Sein Vater, damals Oberstabsarzt und Kommandanturarzt von Lambrai, war von einem Generalstabsoffizier, welcher als solcher die Stellung des Regiments ausfindig gemacht hatte, im Auto an die Somme mitgenommen worden. Als nun der Vater die Höhe, wo die Batterie seines Sohnes in Feuerstellung stand, hinausgestiegen war, fragte er beim ersten Geschütz einen Kanonier: „Wo ist der Fahnenjunker-Unteroffizier Förstemann?“ „Der ist im Unterstand neben dem Geschütz und kocht das Mittagessen für seine Mannschaft“, antwortete dieser und hinunter: „Es ist Besuch da, Herr Unteroffizier!“ Als dann ein rußgeschwärztes Gesicht an der Oberfläche erschien und den Vater erkannte, rief er mit einem lauten Freudenschrei: „Vater, Du hier!“ und bald lagen sich beide in den Armen. Auf der Lafette der Feldkanone sitzend, den schützenden Stahlhelm auf dem Kopfe kümmerte es beide wenig, daß der Engländer dieses Wiedersehen abwechselnd durch Schrapnell- und Granatfeuer zu stören suchte. Glückstrahlend erzählt der Sohn seinem Vater all das Große und Schreckliche, was er in der vierwöchigen Frühjahrsoffensive im Siegeszug, hinter dem zurückgehenden Engländer immer in Fühlung bleibend, erlebt hatte. „Und wenn Pferde und Mannschaft mein Geschütz aus den tiefen, wassergefüllten Granattrichtern gar nicht mehr herauskriegten, dann habe ich das um die Radnabe gelegte Seil in die Hand genommen und mit meinen Kräften gezogen, bis das Geschütz heraus war.“

Auf die Frage des Vaters, wie er als 18jähriger Unteroffizier mit seinen doch meist über 30 Jahre alten Untergebenen, Ersatz von der Hamburger Wasserkante, auskomme, antwortete er lachend: „Ausgezeichnet, da ich Deinen Rat, als ich ins Feld zog, befolgt habe: „Im Dienst nur Vorgesetzter, außer Dienst aber Kamerad.“ Auch in der Schlacht antwortet jeder Mann in Haltung: „Zu Befehl, Herr Unteroffizier.“ Aber wenn das Geschütz Feuerpause hat, kommen sie häufig mit der Bitte: „Herr Unteroffizier, jetzt könnten wir eigentlich einmal wieder Fußball spielen, Ringen, Speerwerfen oder sonstige Turnspiele machen, die Sie uns beigebracht haben. Nur Wettlaufen kann ich nicht mehr wegen der entsetzlichen Blasen unter den Füßen, denn wir sind vollständig verlaust, da wir seit 4 Wochen nicht aus den Sachen gekommen sind.“ Daß dies noch viel schlimmer war, sah der Vater mit Entsetzen, als er kurze Zeit darauf beim Durchmarsch des Regiments seinem Sohn in Lambrai nach einem reinigenden, warmen Vollbad die Blasen öffnen und verbinden konnte. Als der hierbei helfende Sanitätsunteroffizier erstaunt fragte, warum er sich bei einem solch schmerzhaften Leiden nicht krank gemeldet habe, antwortete er lachend: „Ich werde doch wegen einer solchen Kleinigkeit meine Leute nicht im Stich lassen.“ Wie neugeboren kam sich jetzt der junge Krieger vor, nachdem er in die neue Wäsche, neue Uniform, neue hohe Reiterstiefel eingekleidet war, welche der fürsorgliche Vater im Austausch für die verlausten und zerrissenen Sachen besorgt hatte. —

Als ihm aber der Vater in der nur wenige Kilometer von Lambrai entfernten Ortschaft, in welcher das Regiment Marschquartier bezogen hatte, in der kühlen Nacht durch die Ortskommandantur in einem Bauernhaus Quartier beschaffen wollte, lehnte der Sohn dies energisch ab mit den Worten: „Ich habe seit 4 Wochen verlernt, in einem Bett zu schlafen; ich werde mich in eine Pferdedecke gehüllt mit meinen Mannschaften neben das Geschütz unter freiem Himmel legen, wie wir das gewohnt sind.“

Während der Ruhezeit des Regiments in der schönen belgischen Stadt Tournai verlebten Vater und Sohn noch herrliche Stunden als treue Kameraden. Als am 22. Juli 1918 das Regiment während eines erneuten Besuches des Vaters in Tournai dieses schöne Ruhequartier plötzlich verlassen mußte, um an der Front mit unbekanntem Ziele wieder eingesetzt zu werden, sahen sich Vater und Sohn zum letzten Male in die Augen und nahmen Abschied voneinander für Zeit und Ewigkeit. Der junge Krieger zog jedoch in strahlender Begeisterung und mutigem Stolz wieder hinaus zum blutigen Kampf, war er doch jetzt Geschützführer einer Infanteriebegleitbatterie geworden, deren Aufgabe es war, losgelöst vom Regiment, mit der Infanterie zum Sturme vorzugehen, auf offenem Felde aufzufahren und besonders die angreifenden Tanks durch direkten Schuß niederzukämpfen.

Sein unbegrenztes Gottvertrauen ließ ihm das Gefühl der Sorge um Leben und Gesundheit gar nicht aufkommen. Noch im vorletzten Brief an seine Mutter schrieb er: „Gott wird mir auch weiter helfen. Ich weiß ja auch, daß die liebe Mutter täglich für mich betet, und wie sollte das Gebet meiner lieben Mutter nicht erhört werden?“

Doch Gott hatte es anders bestimmt. Am 10. August 1918 abends 9 Uhr 50 Minuten traf ihn dicht neben seinem Geschütz in der Feuerstellung auf den bewaldeten Höhen bei Brenelle, südlich der Aisne, östlich von Soissons, eine feindliche Giftgranate und zerschmetterte ihm den rechten Oberschenkelknochen, durchbohrte den linken Fuß und zerriß die Weichteile des rechten Unterschenkels. Ohne ein Wort der Schmerzäußerung sagte er zu dem mit den Mannschaften herbeieilenden Offizier der Batterie: „Ich bin wohl schwer verwundet und muß nun vielleicht den Beruf, den ich selbst erwählte, aufgeben. Benachrichtigt sofort meinen Vater, den Kommandanturarzt von Cambrai. Diese Beruhigung muß ich noch haben. Dann schafft mich fort!“ Notdürftig bei der Infanterie verbunden, wurde er mit ungeschientem Oberschenkelbruch auf ungefedertem Essentransportwagen nach dem 8 km zurückliegendem Hauptverbandsplatz bei Ostel geschafft, wo er geschient und neu verbunden wurde. Aetzstreifen im Gesicht und auf der Brust bewiesen, daß es sich um eine Giftgasgranate gehandelt hatte. Deshalb wohl konnte auch die ärztliche Kunst und Fürsorge während der Nacht das fliehende Leben nicht erhalten. Der telegraphisch benachrichtigte und mit Kraftwagen sofort herbeigeeilte Vater fand seinen innig geliebten, stattlichen Sohn als Leiche vor. Die letzten Worte des jungen Helden waren gewesen: „Ich will zu Vater und Mutter.“ Diesen letzten Wunsch konnte der schwer geprüfte Vater ihm erfüllen, indem er die Leiche auch dieses zweiten vor dem Feind gefallenen Sohnes in langer, befchwerlicher Autofahrt auf teilweise noch unter feindlichem Artilleriefeuer liegenden, granatzerwühlten Wegen bis zu einem größeren Etappenhauptwagen eines Urlauberzuges in die Heimat überführte. In seiner Vaterstadt Nordhausen fand der tote Held am 19. August neben seinem ihm stets im Leben wie nun auch im Heldentode vorbildlich gewesenen älteren Bruder Hans, ebenso wie dieser erst 18^ Jahre alt, die letzte Ruhe zu einer Zeit, wo noch die aus dem klassischen Altertum überlieferten Worte Geltung hatten: „Dulce et decorum est pro patria mori.“

Paul Förstemanns letzter Brief vom 10. VIII. 18, eine halbe
Stunde vor seinem Tode an seine Mutter geschrieben, von
seinem Vater noch in der Brieftasche des Gefallenen gefunden:
Lieber Mutter!

Ein herrlicher Sommerabend, wie Du sicher jetzt viele im alten schönen Prießnitz gehabt haben wirst, ist heute, und ich fitze am grasbewachsenen Grabenrande und träume. Ich träume aus der Heimat und hinein in's schöne Prießnitz. Wie war da doch alles so schön und friedlich! In allem, was die Natur vor einem dort auftut, liegt das Alte, Unverwüstliche. Es ist eben alles geblieben. Ganz anders hier: Die Natur hat gekämpft, gerungen und ist schließlich doch dem alles zerstörenden Kriege zum Opfer gefallen. Alles hat sich förmlich umgekehrt. Städte liegen zerfallen, Wälder wie zerknickte Streichhölzer, ihrer Zweige entraubt, mit nur noch kahlen Stümpfen (und dann manch Schreckensbild vorstellend), weite Auen sind zerwühlt, und überhaupt die ganze liebe heilige Gottesnatur geschändet. Sollte Gott sie, die den Krieg heraufbeschworen, dafür nicht strafen, sich so an der heiligen Natur zu vergreifen? Es ist nicht ihre einzige Schuld; viel höher zu bemessen sind die Lausende von Opfern, die dieser Krieg gefordert hat. Wohl in ein jedes deutsche Haus ist in diesen vier Kriegsjahren Trauer eingezogen, und das haben sie, die Engländer, Franzosen, Russen aus dem Gewissen. Möge Gott sie gerecht richten!

Wir haben jetzt mehrere ruhige Tage gehabt, doch weiß man ja nie, was noch kommt. Ich schrieb Dir schon, daß ich an dem Flüßchen war, an dem auch Vater seiner Zeit schöne Tage verlebte. Heute muß ich fort von hier, doch nur wenige Kilometer. Ich hoffe, es wird nicht zu toll hergehen. Gott wird mir ja auch weiter helfen. Ich weiß ja auch, daß die liebe Mutter täglich für mich betet, und wie sollte das Gebet meiner lieben Mutter nicht erhört werden? In diesen Tagen habe ich Euch in meinem Geiste, in meinen Träumen und überhaupt allerwegen gesehen. Ich sah Euch Lieben bald im Prießnitzerhof um den runden Tisch sitzend, die Gänschen und Hühner um Euch, Martin Günther den Hund neckend und Du mit Frau M. schnackend, dann wieder im großen geräumigen Wohnzimmer, auf der Wiese bei H.. .'s und habe mit Wehmut gedacht: Warum darfst Du nicht dabei sein? Die Zeit wird schon wieder kommen, so tröste ich mich immer, und doch habe ich so sehr bedauert, daß ich gerade nicht mit in Prießnitz sein konnte.

Doch jetzt keine Träumereien mehr!

Deine Feldpost-Paketchen habe ich bekommen. Wie soll ich Dir fürsorgliches Mütterchen nur noch danken, bin ich doch schon des Dankes übervoll! Um zweierlei bitte ich Dich noch: um eine Nagelschere und eine Zahnbürste, denn beides habe ich verloren. Sonst ist alles heil geblieben wie ich selbst. Ich bin stark wie immer.

Wenn Dich diese Zeilen erreichen, wirst Du längst wieder in Nordhausen sein. Arbeit wird Dich dann wieder erwarten. Doch ich bitte Dich, überarbeite Dich nicht, damit ich Dich gesund in N. antrefse. Einmal muß ich ja Urlaub bekommen und das kann nicht mehr so lange dauern. Schreib mir, wo ich doch jetzt vorn bin, wenn möglich, täglich.

Ich muß abbrechen, die Post geht bald fort. Grüß mir die lieben Geschwister. Gib ihnen einen herzlichen Bruderkuß und sei selbst innig geküßt.

Dein Paul.



  1. O.H.L. = Oberste Heeresleitung; A.O.K. = Armee-Ober-Kommando; IR., RIR. = Inf., bzw. Reserve-Inf.-Rgt.; ID., IB. = Inf.-Division, bzw. Brigade; MG. = Maschinen-Gewehr.
  2. Freytag wurde 1915 durch Brustschutz schwer verwundet, ging als Reserveoffizier wieder ins Feld und wurde in Oktober 1918 als Kompagnieführer von Bolschewisten hinterrücks erschossen.