Epigonen

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Textdaten
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Autor: Hans Silberborth
Titel: Epigonen
Untertitel:
aus: Geschichte der freien Reichsstadt Nordhausen
Herausgeber: Magistrat
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1927
Verlag: Magistrat der Stadt Nordhausen
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Erscheinungsort:
Quelle: Scan
Kurzbeschreibung: Abschnitt 4,
Kapitel 10
Digitalisat:
Eintrag in der GND: [1]
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Kapitel 10.
Epigonen.


Bald nach dem Tode Luthers kam es zum politischen und fast auch zum religiösen Zusammenbruche der protestantisch gewordenen Staaten Deutschlands; der politische entstand aus dem alten deutschen Erbübel der Uneinigkeit und Eigenbrödelei, der religiöse wurde beinah heraufbeschworen durch die evangelischen Theologen selbst.

Die Luthersche Reformation hatte zwar dem deutschen Vaterlande die Befreiung von Rom gebracht, nicht aber die Befreiung von seiner Kleinstaaterei. Sie hatte vielmehr der „teutschen Libertät“ noch Vorschub geleistet, indem sie die Rechte der Länder vermehrt und den Gegensatz der einzelnen deutschen Staaten zum katholischen Reichsoberhaupte vertieft hatte. Die Geschichte Deutschlands ist reich an tragischem Geschick, welches immer wieder durch den deutschen Stammescharakter und durch die geographische Lage Deutschlands heraufbeschworen worden ist. Und mit zu Deutschlands größter Tragik gehört es, daß die Reformation, diese Bewegung, die so recht eigentlich aus germanischer Wesensart entsprungen ist und der ganzen Menschheit zum Segen gereicht hat, zugleich dadurch den Zerfall des Reiches befördert hat, daß bei ihrem Beginn ein katholischer Ausländer an der Spitze des Reiches stand.

Um das Jahr 1540 herum schien der Schmalkaldische Bund von einer derartigen inneren Geschlossenheit und äußeren Machtfülle zu sein, daß er imstande war, jedem Gegner mit Erfolg zu widerstehen. Die Uneinigkeit der Bundesmitglieder und die Selbstsucht Herzog Moritz’ von Sachsen führten einige Jahre später die Katastrophe herbei.

Im Sommer des Jahres 1546 stand Kaiser Karl V. endlich bereit, mit den Protestanten abzurechnen. Die Vorbereitungen dazu hatte er seiner Art gemäß aufs sorgfältigste getroffen. Fremde Hilfsvölker, vor allem kriegsgewohnte Spanier, standen ihm genügend zur Verfügung, der protestantische Moritz von Sachsen an seiner Seite, um seinem Hause, der jüngeren Wettiner Linie, die Kurfürstenwürde und das Erzstift Magdeburg zu gewinnen. Glücksfälle begünstigten den Kaiser im Verlaufe des Feldzuges: Anfang des Jahres 1547 starben Franz I. von Frankreich und Heinrich VIII. von England, die vielleicht beide geneigt gewesen wären, die Protestanten zu unterstützen.

So wurde denn in wenigen Monaten Süddeutschland, soweit es protestantisch war, gebeugt, und schwer mußten die stolzen und reichen Städte büßen: Augsburg zahlte 150000, Ulm 100000, Frankfurt 80000 Gulden Strafgelder. Dann kam zu Beginn des Jahres 1547 Mitteldeutschlands Unterwerfung: Am 24. April 1547 wurde Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen bei Mühlberg an der Elbe überrascht, besiegt und gefangengenommen. Nur Norddeutschland wehrte sich siegreich seiner Haut. Am 19. Juni 1547 aber mußte auch Landgraf Philipp von Hessen durch einen Fußfall vor dem Kaiser in der Moritzburg zu Halle seine Unterwerfung öffentlich dokumentieren.

Das war der Schmalkaldische Krieg; militärisch und politisch war das protestantische Deutschland in den Staub gesunken.

Nordhausen zitterte, als die ersten Schreckensnachrichten von den Siegen Karls in Süddeutschland eintrafen. Noch niemals war der Fall eingetreten, daß es seinem Kaiser ungehorsam gewesen war. Jetzt konnte es sich durch seinen Abfall die Ungnade des Kaisers zuziehen und dadurch beides verlieren, den evangelischen Glauben und seine politische Freiheit. Noch einmal atmete es auf, als Johann Friedrich aus Süddeutschland nach Norden kam, um seine eigenen Lande gegen Moritz von Sachsen zu verteidigen, und in guter Zuversicht an Nordhausen schrieb, die Stadt möchte ihm 2000 Gulden für seinen Kriegszug vorstrecken. Nordhausen leistete dieser Aufforderung Folge, und bald hatte es die Freude, von dem siegreichen Feldzuge Johann Friedrichs gegen den „Judas der evangelischen Sache“ zu hören.

Dann aber kam Mühlberg. Furchtbar war die Gefahr. Schon zwei Tage nach der Schlacht, am 26. April 1547, hielt es Nordhausen für nötig, ein demütiges Schreiben an den Kaiser zu richten: Sie hätten sich mit den Ungehorsamen nicht eingelassen, ihnen auch nicht beigestanden. Das erstere war feige Lüge, das letztere entsprach leider der Wahrheit; denn wenn die Bundesmitglieder besser ihre Pflicht erfüllt hätten, wäre dem Kaiser ein so schneller Erfolg nicht beschieden gewesen. Karl antwortete übrigens am 7. Mai, seiner Art sich jederzeit freie Hand zu lassen entsprechend, er wolle alles für jetzt auf sich beruhen lassen. Nordhausen blieb also weiter in ängstlicher Ungewißheit.

Zugleich wurde die Stadt und am meisten ihr vielgewandter Syndikus Meyenburg noch dadurch in ärgerliche Verlegenheit gebracht, daß mehrere der protestantischen Häupter in ihre Mauern flüchteten, als der Kaiser nach der Schlacht bei Mühlberg gen Norden auf Wittenberg losging. Da erschienen flüchtend Philipp Melanchthon und Justus Jonas sowie Luthers Gattin samt ihren Kindern in Nordhausen. Sie alle waren durchaus nicht willkommen und mußten doch mit allen Ehren aufgenommen werden. Nun, man hielt die berühmten Flüchtlinge möglichst verborgen; Justus Jonas mußte mit einem Gartenhäuschen vorlieb nehmen. Der Kaiser würde ja nicht sogleich erfahren, daß in dem Ketzemest Nordhausen die Hauptketzer steckten.

Jedenfalls bemühte man sich, nach außen den unterwürfigsten Eindruck zu machen. Als Karls Heer im Lager vor Wittenberg verproviantiert werden mußte, beeilte sich Nordhausen, Fuhrleute und Wagen in genügender Zahl zu stellen, um nach bestem Vermögen die kaiserlichen Wünsche zu erfüllen. Ja, man sandte sogar an Karl nach Halle unaufgefordert 2000 Gulden.

Nun, das Unheil zog an dem stillen Winkel, in welchem Nordhausen lag, vorüber, wie schon so manches Unwetter die Stadt zwar aus der Feme bedroht, sie aber nicht getroffen hatte. Karl V. sah mit der Niederwerfung Sachsens seine Aufgabe als gelöst an und überließ den weiteren Kampf, insbesondere gegen das trotzige Magdeburg, seinem treuen und braven Freunde Moritz von Sachsen, der ihn alsbald verraten sollte.

Kaiser Karl selbst hielt es für seine vornehmste Aufgabe, so schnell wie möglich die Einheit der Nation in religiöser Beziehung wiederherzustellen. Noch im Jahre 1547 brachte er die Protestanten in Augsburg zur Anerkennung und Beschickung eines Konzils. Unterdessen war auch eine Kommission eingesetzt worden, die eine für die Protestanten verbindliche neue Glaubensnorm ausarbeiten sollte. Der Hauptverfasser dieses sogenannten Augsburger Interims war der maßvolle Katholik Julius Pflug, dem der Mainzer Weihbischof Michael Helding und der frühere Eislebener Pfarrer, der damalige brandenburgische Hofprediger Agrikola, einer der eitelsten und erbärmlichsten protestantischen Theologen, zur Seite stand. Der edle Bucer aus Straßburg hatte die Mitarbeit abgelehnt. Mitte März 1548 hatte Julius Pflug sein Glaubensbekenntnis fertig; es sollte nur für die Protestanten maßgebend sein, nicht auch für die Katholiken. Wenn dieses Augsburger Interim wirklich von den Protestanten angenommen worden wäre, hätte die Luthersche Reformation bald ihre letzte Stunde erlebt. Denn in diesem Bekenntnis war den Protestanten nur die Priesterehe und das Abendmahl unter beiderlei Gestalt zugestanden worden, im übrigen kehrte es in Ritus und Glaubensnorm völlig zum Katholizismus zurück. Die katholischen Zeremonien beim Gottesdienst sollten wieder eingeführt werden, Messe, Fasten, Heiligenverehrung und die sieben Sakramente waren wieder vorgesehen. Das Hauptstück Lutherischen Glaubens von der Rechtfertigung und von den guten Werken war fallen gelassen worden zu Gunsten altkatholischer Anschauungen. Der Gesinnungslump Agrikola hatte freilich den Mut zu behaupten, er habe durch seine Mitarbeit an dieser Bekenntnisschrift den Papst reformiert und den Kaiser lutherisch gemacht.

Daß dieses Augsburger Interim bei allen guten Protestanten einen Entrüstungssturm hervorrufen werde und für sie unannehmbar war, mußte jeder Einsichtige voraussehen. Nur die Charakterschwächsten und diejenigen, denen Luthers Wesen innerlich immer fremd geblieben war, konnten sich mit diesem Interim abfinden. Dazu gehörte der Wittenberger Kreis um Melanchthon, der um des Friedens willen alles zu opfern bereit war. Melanchthon ging damals in der Verleugnung seines toten Weggenossen Luther so weit, daß er an Karlowitz, den Berater Moritz’ von Sachsen, schrieb: „Ich habe ja schon ehedem eine recht häßliche Knechtschaft erduldet, da Luther offenbar mehr seiner Natur, in der eine nicht geringe Streitsucht steckte, als seiner Würde und gemeinem Nutzen Rechnung trug.“[1]

Der Vorstreiter im Kampfe gegen das Interim aber wurde der Wittenberger Professor Flacius Illyricus. Er forderte öffentlich alles Volk zum Widerstande gegen das Interim auf, und die große Menge der Protestanten fiel ihm zu. Doch damit hüben nun unter den Protestanten selbst theologische Streitigkeiten an, die 25 Jahre währen, die Gemüter nicht zur Ruhe kommen lassen und die beste Kraft des neuen Glaubens aufzehren sollten. Von diesen religiösen Kämpfen wurde auch Nordhausen aufs schlimmste durchtobt und mitgenommen.

Wenn man, natürlich recht sehr cum grano salis, eine Parallele ziehen darf, so könnte man das politische Geschick Meyenburgs in diesen letzten Jahren seines Lebens mit dem des alternden Bismarck vergleichen. Bei Bismarck verdunkelt seine unvergleichliche Politik in den sechziger Jahren gar zu oft und gar zu sehr diplomatisches Feingefühl in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Ähnlich liegt es bei Meyenburg. Auch hier darf der alternde Routinier vor dem jungen Anfänger und dem gereiften Mann nicht ganz vergessen werden. Die tausend Fäden des feinen Gespinstes fordern unsere volle Bewunderung. Man bedenke: Die Bevölkerung Nordhausens hatte das Evangelium angenommen; besonders di^ große Masse der Kleinbürger haßte im Katholizismus die Religion der Knechtung und der äußerlichen Zeremonien zur höheren Ehre anmaßender Geistlicher. Irgendeine Umkehr zu früheren Zuständen oder die Unterstützung von Maßnahmen gegen auswärtige Glaubensgenossen war bei der Stimmung des Volkes für Nordhausen unmöglich. Auf der anderen Seite war Nordhausen eine kleine, fast wehrlose Reichsstadt. Der Kaiser war ihre wohl einzige Stütze, wenn fremde Übergriffe drohten. Dieser Kaiser aber war Katholik und hatte sich zur Aufgabe gesetzt, die Protestanten zum rechten Glauben zurückzuführen. Er verlangte Gehorsam, und er verlangte Beihilfe, die Ungehorsamen mit Waffengewalt zu unterwerfen.

Dieser schwierigen Lage sah sich Meyenburg seit dem Jahre 1547 mehr denn je gegenüber. Daß der Kaiser zu Augsburg von den evangelischen Ständen große Opfer verlangen werde, schien klar. Deshalb veranlaßte Meyenburg, daß dieser Reichstag von Nordhausen gar nicht beschickt, sondern Nürnberg mit der Vertretung Nordhausens beauftragt wurde. Nürnberg aber bekam eine recht weitläufige Mission. Es sollte sich für Nordhausen dem Vorgehen der Mehrzahl der Protestanten anschließen, doch so, daß sich Nordhausen „alle Glaubenssachen vorbehielt“. Nordhausen gab also Nürnberg Vollmacht und zog diese Vollmacht in demselben Augenblick zurück. So kam es denn, daß Nürnberg der Beschickung des Tridentiner Konzils zustimmte und für Nordhausen seinen Namen unter das Augsburger Interim setzte, ohne daß sich Nordhausen damit einverstanden erklärt hätte. Um den in jenen Tagen allmächtigen Kaiser nicht zu beleidigen, stimmte es zu, konnte aber jederzeit behaupten, nicht zugestimmt zu haben.

Ähnlich war Nordhausens Haltung der Forderung des Kaisers gegenüber, dem nunmehrigen Kurfürsten von Sachsen, Herzog Moritz, Waffenhilfe gegen das widerspenstige protestantische Magdeburg zu leihen. Moritz hatte sich nämlich im Jahre 1550 zu Augsburg die Achtsvollstreckung gegen Magdeburg übertragen lassen und begann nun im Dezember 1550 die Einschließung der starken Festung. An den obersächsischen und niedersächsischen Kreis, dem auch Nordhausen angehörte, war die Aufforderung ergangen, Moritz bei seinem Kriegszuge zu unterstützen. Beide Kreise aber hielten im August 1550 eine gemeinsame Tagung zu Jüterbog ab und beschlossen dort am 18. August, die Kriegshilfe zu verweigern. Diesen Beschluß faßten auch die drei Abgesandten Nordhausens, Hans Hesse, Michael Meyenburg und Mathias Luder, mit. Der Bevölkerung gegenüber, die voll Begeisterung auf Seiten der Kanzlei unseres Herrgotts stand und dafür betete, daß ihre Belagerung mißlänge, konnte sich der Rat also jederzeit auf diesen Beschluß berufen. Um aber dem Kaiser und dem mächtigen Moritz von Sachsen, der noch dazu Nordhausens Schutzherr war, die Willfährigkeit der Stadt zu beweisen, schickte man zwar nicht die angeforderten Hilfsvölker, aber doch „ein Stück Geld“ für die Belagerung, wie es in den Urkunden heißt.

Man kann nicht sagen, daß diese Meyenburgsche Politik ehrlich gewesen wäre, aber sie war gut; denn in der Politik ist alles gut, was zum Besten des Staates dient. Und dieses Spiel Meyenburgs brachte Nordhausen in der Tat durch die tausend Fährnisse der Zeit glücklich hindurch.

Leicht war die Durchführung dieser Politik auch deshalb nicht, weil es in Nordhausen selbst genügend Toren gab, deren grobe Finger die feinen Fäden durchaus zerreißen wollten. Das waren die Heißsporne unter den Theologen, welche allerdings mehr geschaffen waren, polternde Predigten zu halten als kluge Diplomatenkunst zu durchschauen, die mit eitler Gelehrtenweisheit alle Dinge beurteilen zu können glaubten und von der Welt Lauf keine Ahnung hatten, Schulmeister, denen über der Kenntnis ihrer Bücher alle Kenntnis ihrer Mitmenschen abhanden gekommen war, die aber voller Einbildung überall glaubten, mitreden zu können und die bei der viel zu großen Bedeutung, die man ihrer Wissenschaft und Meinung beilegte, auch von wirklicher Gefahr werden konnten. Dergleichen gelehrte Männer hat es zu allen Zeiten gegeben, und zu allen Zeiten hat man sie auch, wenigstens in Deutschland, statt sie auszulachen, viel zu ernst genommen. Dem Nordhäuser Gemeinwesen sollten sie jedenfalls damals recht fatal werden.

Lange Zeit, nachdem das Augsburger Interim angenommen war, ging alles gut in Nordhausen. Nürnberg hatte für Nordhausen unterschrieben, aber kein Mensch in Nordhausen kümmerte sich um das Interim. Ebenso war die Belagerung Magdeburgs schon seit Monaten im Gange, ohne daß Nordhausen Zuzug geleistet hätte und ohne daß dies von Moritz übel vermerkt worden wäre. Da mußte den Diakonus Johann Holtzappel von St. Nikolai eines Tages im Monat Mai des Jahres 1551 irgendein Geschäft auf die „Rathauskammem zu den Buchführem“ treiben, und dort erfuhr er beiläufig, daß Nordhausen das Augsburger Interim mit unterschrieben habe. Unser Holtzappel hatte nun nichts Eiligeres zu tun, als diese Wissenschaft seinem ersten Pfarrer Antonius Otto zuzutragen. Und dieser legte sich nun sogleich, ohne beim Rate anzufragen, gehörig ins Zeug. Er benutzte das Pfingstfest dazu, um ausgiebig, wahrscheinlich mit feurigen Zungen, wider den Rat zu predigen und das Volk aufzuputschen. Er ließ sich vernehmen: „Die Räte sind gefallen in eine schwere Anfechtung und Sünde, Gott wolle sich über sie erbarmen und sie wieder herausführen“, und nun folgten von der Kanzel herab die Anklagen: Der Rat habe das Interim angenommen, er habe in die Beschickung des Konzils gewilligt, er habe die Belagerung Magdeburgs unterstützt.

Der Rat war von dem Vorgehen Ottos aufs peinlichst berührt, um so mehr, als er nicht wagen durfte, gegen den Prediger vorzugehen, da dieser die Stimmung des ganzen Volkes für sich hatte. Wild wogte es durcheinander: Der Rat suchte zu beschwichtigen, er goß nur Öl ins Feuer, denn andere Geistliche hatten nun den Ehrgeiz, hinter Otto nicht zurückzustehen, und ließen dieselben Fanfaren ertönen. Der Rat suchte klarzustellen, er entfachte nur größeren Zorn, denn in Sachen des göttlichen Wortes gab es kein Paktieren und Verhandeln, sondern nur ein Bekennen.

Als Otto es schließlich zu arg trieb, wurde er denn doch im Juni 1551 offiziell auf das Rathaus zitiert, und Meyenburg mußte ihm zusetzen. Die uns überlieferte Rede, die damals Meyenburg an sämtliche auf dem Rathaus versammelten Geistliche richtete, ist ein Meisterstück diplomatischer Redekunst.[2] Er fragte, ob sie, die versammelten Prediger, an der Rechtgläubigkeit des Rates zweifelten, er hielt ihnen vor, durch wen sie nach Nordhausen ins Amt gekommen und wie gänzlich undankbar sie jetzt seien, er stellte voll Überzeugung die einwandfreie Handlungsweise des Rates dar, er bemäntelte mit vollendeter Geschicklichkeit sein eigenes durchtriebenes Doppelspiel, und schließlich suchte er dadurch Zwiespalt in die Geistlichen zu bringen, daß er den Antonius Otto haltloser Beschuldigungen seiner Amtsgenossen bezichtigte. Nordhausen habe niemals das Interim angenommen, führte er aus, – und das war richtig, denn Nürnberg hatte für Nordhausen unterschrieben. „Daß wir ins päpstliche Konzil gewilliget, sind wir keineswegs geständig, denn ich den Papst vor den Teufel halte“, meinte er voll Emphase. Aber sie hätten in ein „freies und christliches Konzil“ gewilligt, fügte er, fein unterscheidend, hinzu. Zur Belagerung Magdeburgs hätten sie keinen Pfennig gegeben, obwohl der Kaiser „geschwinde und harte Briefe“ gesandt und „Hilfe, Zuzug, Geld, Proviant, Büchsen, Geschütz“ verlangt habe. Sie hätten nur 1547 den Kaiser unterstützt, als von Magdeburg noch keine Rede gewesen sei. Weiterhin meinte er, durch die Behauptung Ottos, die anderen Prediger hätten mit Melanchthon paktiert, habe dieser die Luthersche Rechtgläubigkeit seiner Amtsbrüder angezweifelt. Und dann kam der gegen geistliche Herrschergelüste gerichtete Satz: „Ihr wollet uns imperieren, was wir tun und wie wir uns halten sollen!“

Mit dieser Meisterrede stiftete Meyenburg für den Augenblick Ruhe; doch der Zankapfel war unter das Volk geworfen. Die Bevölkerung war mißtrauisch geworden, und die Geistlichen taten nichts, sie zu beruhigen. Wie fehlte da der guten Stadt Nordhausen ein Johannes Spangenberg! Der hätte sogleich von der Kanzel herab gepredigt: Interim hin, Interim her, unterschrieben oder nicht unterschrieben; das Wesentliche ist doch, ob dieses Interim in Nordhausen durchgeführt wird oder nicht. Und in der Tat wurde es nicht durchgeführt! War nicht alles beim alten geblieben? Mußte man nicht augenblicklich in gefahrvoller Zeit nach außen hin das Gesicht wahren? Wurde dadurch irgendwie der evangelische Glaube beeinträchtigt? Aber so klug waren die evangelischen Pfarrer Nordhausens damals nicht, und so begann seit diesem Interimstreit ein Pastorengezänk, das bis zum Jahre 1568, fast 20 Jahre lang, die Stadt aufs Schlimmste beunruhigen sollte.

Auch in Nordhausen war, wie in anderen Städten Deutschlands, der Streit um das Interim nur der Ausgangspunkt für den Kampf der Anhänger des Flacius Illyricus gegen die des Melanchthons. Um die Gemüter zunächst zu beruhigen, sah sich der Rat am 4. August 1551 gezwungen, offen Farbe zu bekennen. In langer Sitzung von morgens 6 bis mittags 12 Uhr entschloß er sich einhellig, öffentlich das Interim abzulehnen.

Doch kaum war in dieser Beziehung den Geistlichen genuggetan, da gerieten diese wegen der Beschickung des Tridentiner Konzils zusammen. Zwar berührte diese Frage keinen Menschen in Nordhausen, da nur einige Häupter der Evangelischen in Trient erscheinen sollten. Aber nun sollte für diese Gesandten in den Kirchen gebetet werden, was die drei gemäßigten Pfarrer von St. Blasii, Petri und Jakobi auch taten. Dadurch erregten sie aber den höchsten Grimm Antonius Ottos, der von der Kanzel herab verkündete, er werde für diese Unterhändler nie und nimmer zu Gott beten. So spalteten sich denn die Geistlichen in zwei feindliche Lager, die sich aufs heftigste mit leichtem und grobem Geschütz, meist aber mit grobem, bekämpften.

Unterdes sah auch Nordhausen einen guten Teil der damaligen kriegerischen Ereignisse. Im November 1551 hatte Magdeburg, ohne überwunden worden zu sein, freiwillig Moritz von Sachsen die Tore geöffnet. Dieser hatte aber schon während der Belagerung weitausschauende Pläne geschmiedet, mit Frankreich Verhandlungen angeknüpft und stand jetzt im Begriffe, gegen seinen einstigen Bundesgenossen, den Kaiser, zu ziehen. Im Winter 1551 auf 1552 fluteten seine Heeresvölker von Magdeburg aus nach Süden zurück. 20 Fähnlein Fußsoldaten und 3 Geschwader Reiter nahmen dabei auch ihren Weg über den Harz und erschienen vor Nordhausen. Die Stadt verschloß zwar ihre Tore vor der zuchtlosen Soldateska, mußte jedoch, um sie loszuwerden, 12000 Gulden bezahlen. Erst dadurch wurden die Truppen veranlaßt, nach Süden und Westen weiterzuziehen, nicht ohne daß sie in der Nordhäuser Umgebung 36 Dörfer geplündert hätten. Die 12000 Gulden, die Nordhausen nur mit größter Mühe aufgebracht hatte, galten als dem Kurfürsten Moritz vorgestreckt, und der Rat forderte sie später vom Reiche wieder ein. „Was aber der Rat für Mühe, Kosten und Ungelegenheiten desfalls gehabt, ist nicht zu beschreiben“, liest man in den alten Quellen. Erst 1559 hörte wenigstens Nordhausen davon, daß die vorgestreckte Summe noch nicht ganz in Vergessenheit geraten war. Das Reich erhielt damals nämlich von der Stadt 216 Gulden Türkenhilfe, die es von den 12000 Gulden abzog, so daß es noch mit 11784 Gulden bei Nordhausen in der Kreide stand. Schließlich gelang es der Stadt, 1572 aus der Reichskasse zu Speier 3400 und dann noch einmal 4464 Gulden zurückzuerhalten; das übrige war als Abzüge für entstandene Kosten einbehalten worden.

Doch dieser Heereszug der Kriegsvölker, die vor Magdeburg gelegen hatten, blieb in jenen Jahren nicht der einzige, den die Stadt Nordhausen sah. Als nämlich Moritz von Sachsen nach Süddeutschland marschierte und hinter dem über die Alpen flüchtenden Kaiser herhetzte, trennte sich sein bisheriger Parteigänger Albrecht Alcibiades von Brandenburg, eine rechte Freibeutematur, von ihm und brandschatzte auf eigene Faust in den reichsten Gegenden Deutschlands, in der Pfaffengasse am Main, die geistlichen Stifter und wurde für alle Landschaften von der mittleren Weser bis weit südlich des Mains eine furchtbare Geißel. Endlich mußten sich die deutschen Fürsten gegen diese ewigen Beunruhigungen wenden, und Moritz von Sachsen selbst stellte sich an die Spitze eines gegen den Unhold marschierenden Heeres. Er gedachte, seine Truppen südlich des Harzes bei Nordhausen zu vereinigen und dann im Westen um den Harz hemm gegen Albrecht zu ziehen. Da nun Nordhausen, immer vorsichtig hin- und herlavierend, nie recht Farbe bekannt hatte, schrieb Moritz am 4. Juni 1553 an den Rat, wessen er sich denn eigentlich in diesen Zeiten von ihm zu versehen hätte. Nordhausen aber trug, da Moritz nach Besiegung des Kaisers machtvoll dastand, kein Bedenken, am 11. Juni in der etwas emphatischen Sprache Meyenburgs zu antworten, die Stadt werde mit Gut und Blut für ihn eintreten.

So trafen sich denn Ende Juni die Truppen Moritz’ von Sachsen mit denen seiner Verbündeten, besonders Heinrichs von Braunschweig, bei Nordhausen. Alle Dörfer um Nordhausen waren stark mit Landsknechten belegt. Moritz’ Gemahlin, die um ihren schon wieder ins Feld rückenden Gatten besorgt war, hatte ihm nach Nordhausen hin das Geleit gegeben und wollte ihn hier davon abhalten, sich selbst am Kampfe zu beteiligen. Eine stattliche Versammlung von Fürsten und Adligen hielt damals ihren Einzug in Nordhausen. – „Als der Kurfürst Moritz hier einzog, schlug eben die Uhr, an welcher die Feder mitten im Schlage sprang, welches für kein gutes Omen angesehen worden.“ Es zeigten sich also bedenkliche Gesichter genug.

Schon zwei Wochen später, am 9. Juli 1553, kam es bei Sievershausen zu blutigem Strauß. Moritz besiegte den Unruhestifter, im Reiterkampfe aber hatte er schwere Verluste. Da fiel der letzte Beichlinger, und so endete dieses Geschlecht, das auch für Nordhausen nicht ohne Bedeutung im Mittelalter gewesen war, da fielen zwei Söhne des Herzogs von Braunschweig, da sank, tödlich verletzt, Moritz selbst auf die blutige Heide. Wenige Tage nach der Schlacht erlag er seinen Wunden, und schon am 13. Juli forderte sein Nachfolger Kurfürst August I. von Sachsen Nordhausen zur Treue gegen ihn als seinen Schutzherrn auf.

Nordhausen aber hatte nach dem Tode Moritz’ von Sachsen nicht geringe Sorgen. Albrecht Alcibiades hatte schon vor der Schlacht von Sievershausen unter Drohung von Nordhausen, das im Bunde mit seinen Feinden stand, 12000 Gulden verlangt. Als ihm dann der Rat seine Notlage vorstellte, ließ er mit sich handeln und begnügte sich mit 8000; schließlich willigte der Rat in 4000 Gulden, kam aber auch um diese herum. Denn Johann Friedrich von Sachsen, der die Kur an Moritz verloren hatte, aber auf ihre Wiedererringung hoffte und deshalb nach Freunden Ausschau hielt, trat für die Stadt ein, und auch Heinrich von Braunschweig zeigte sich um sie besorgt. Heinrich schrieb, man solle die Tore schließen und auf der Hut sein. Sollte die Stadt belagert werden, so wolle er zu Hilfe kommen. Für so treffliche Gesinnung mußte die Stadt dem Fürsten dankbar sein und ihm 1000, seinem Ratgeber 200 Gulden verehren.

Unterdes wartete Albrecht noch immer auf seine 4000 Gulden; doch Nordhausen dachte bei der gefährlichen Lage, in der sich der Markgraf jetzt befand, nicht daran, ihm Geld zu schicken. Da drohte Albrecht: Er werde sie schon zur rechten Zeit zu finden wissen. Das ängstliche, aber im Verweigern von Zahlungen hartnäckige Nordhausen ließ Albrecht im August nochmals durch Abgesandte aufsuchen, die ihn beschwichtigen sollten. Albrecht erwiderte aber auf ihre Vorstellungen drohend und grob, sie wollten nur nicht zahlen, weil es ihm gerade mißlich gehe. Da lockerten die Nordhäuser 500 Taler aus ihrer Geldkatze, und mit diesem Trinkgelde stellte man dann den Freibeuter zufrieden. Bald zog er sengend und brennend von Braunschweig nach Süden.

Trotz dieser von außen drohenden Gefahren ging in den Mauern der Stadt der Streit der Geistlichen um Nichtigkeiten weiter. Für Nordhausen galten seit Einführung der Reformation offiziell drei Glaubensnormen: Die Augsburgische Konfession vom Jahre 1530, die den Süddeutschen entgegenkommende Wittenberger Konkordie vom Jahre 1536 und die etwas schärfer den Lutherschen Standpunkt herauskehrenden Schmalkaldischen Artikel vom Jahre 1537. Machten sich sonst Unklarheiten in der Auffassung bemerkbar, so war die Meinungsäußerung Luthers maßgebend gewesen. Solange der große Reformer lebte, galt sein Schiedsspruch unbedingt und ließ theologische Streitigkeiten nicht aufkommen. Anders wurde das nach seinem Tode, als die Epigonen der Reformation das Erbe antraten.

Nordhausen besaß auch nach dem Weggange Spangenbergs unzweifelhaft tüchtige Theologen. Die Bedeutung der Stadt für die Reformation und Melanchthons sowie Jonas’ Sorge um sie hatten stets für gute Prediger und eifrige Anhänger Luthers gesorgt. Gerade aber ihre geistige Regsamkeit, ihr großes Interesse an allen Glaubensdingen und ihre unbedingte Stellungnahme sollte der Stadt nicht geringe Ungelegenheiten bereiten.

Die Fragen, über die es in jenen Tagen zu Konflikten kam, scheinen uns heute kleinlich, und wir stehen oft verwundert, wenn wir hören, um was sich damals die Gemüter erregt haben. Manchmal waren es auch tatsächlich rechte Erbärmlichkeiten, derentwegen rechthaberische Federfuchser und Wortklauber aneinander gerieten; nicht selten aber waren jene Glaubensfragen, die uns heute unverständlich sind, den Männern damals innerste Herzensangelegenheiten, und manch’ einer hat für seine Überzeugung gelitten und ist um ihretwillen ins Elend gegangen.

Bald nach dem Streite ums Interim erhob sich eine neue Fehde unter den Nordhäuser Pfarrern über die äußerliche Gestaltung des Gottesdienstes. Luther hatte mit Recht diese Äußerlichkeiten als adiaphora, als nebensächlich, angesehen. Nach seinem Tode jedoch kam man bald darüber in Zwist, wo denn die Grenzen zwischen Nebensächlichem und für den evangelischen Gottesdienst Wesentlichem im Gegensatz zum katholischen zu ziehen seien. Manche Theologen wollten nur einige wenige Ritualien geringfügigster Art vom katholischen Gottesdienst übernehmen, Melanchthon dagegen ging 1548 soweit, daß er selbst die Fasten, die 7 Sakramente, die Bilderverehrung für nebensächlich und also mit dem Evangelium durchaus vereinbar erklärte.

Unter den Nordhäuser Geistlichen ging der Streit zunächst besonders um die sogenannte Elevation, d. h. um das Emporheben von Brot und Wein nach der Konsekration durch den Geistlichen. Luther hatte diese Elevation beibehalten, Karlstadt dagegen hatte sie schon früh bekämpft, bis sie 1542 auch von Luther aufgegeben wurde. Daneben ging der Kampf um das Tragen von Meßgewändern und Chorröcken, um die katholischen Zeremonien bei Beerdigungen und um die Abhaltung des Gottesdienstes zu den einzelnen Tageszeiten. Noch die Nordhäuser Polizeiordnung vom Jahre 1549 kennt nach katholischem Vorbilde die Frühmesse, die Mittagspredigt und die Vesper. Die Pfarrer von St. Blasii, Petri und Jakobi waren katholischem Ritual entgegenkommend, die von St. Nikolai und vom Altendorfe waren radikal. Schließlich aber gingen die Pfarrer, abgesehen von Jakob Sybold an St. Blasii, allgemein dazu über, mit katholischen Überresten aufzuräumen, ohne den Rat darum zu fragen. Dieser gab dann nachträglich am 7. Juli 1556 durch Ratsbeschluß dem Vorgehen der Geistlichen seine Zustimmung, ermahnte sie aber, fortan nicht ohne Vorwissen des Stadtregimentes Änderungen zu treffen. Damit waren die Meßgebräuche, die Chorröcke, die Christmette und das Tragen von Lichtem bei Leichenbegängnissen für Nordhausen abgeschafft.

Dieser adiaphoristische Streit ging noch ganz glimpflich ab; Rat und Geistlichkeit waren nach einigem Hin und Her im ganzen einig. Desto toller „erhub sich das Lärmen“ der Pfarrer beim Austrag grundsätzlicher Glaubensfragen. Die katholische Kirche hatte ja immer größten Wert auf die guten Werke gelegt, durch die sich der Mensch einen Schatz im Himmel erwerbe. Dabei waren unleugbar im Laufe der Jahrhunderte vielerlei Mißbräuche entstanden, die Kirche und Geistlichkeit hatte die Mildtätigkeit der Gläubigen selbstsüchtig ausgenutzt, und häufig hatte eine ganz äußerliche Frömmigkeit ohne Büßfertigkeit der Seele Platz gegriffen. Wir glauben aber doch, daß die christliche Kirche gerade dadurch, daß sie die Menschheit zu den Werken der Nächstenliebe angehalten und damit die menschliche Selbstsucht bekämpft hat, ihre größte Missionsarbeit erfüllt hat; denn es gibt keinen erhabeneren Gottesdienst als den Dienst an den Geschöpfen Gottes. Und wir glauben, daß auch der Opfertod Christi, nur von diesem Standpunkt aus betrachtet, rechten Wert und Würde hat. Luthem war es auch nie eingefallen, die Bedeutung guter Werke zu bekämpfen, er bekämpfte nur die Fäulniserscheinungen einer alternden Kirche, gestützt auf das Pauluswort, daß der Mensch gerecht werde durch den Glauben; und er hatte auch auseinandergesetzt, daß der Christ, der als festen Anker in allen Anfechtungen die Zuversicht zu dem gnädigen Gott gefunden hatte, aus dieser seiner Lebensanschauung heraus ohne weiteres gute Werke tue, die ohne diesen Glauben wertlos seien. Das war ein ganz eindeutiger, unmißverständlicher Standpunkt.

Nach Luthers Tode glaubte nun Georg Major, Pfarrer in Eisleben, wieder den Wert der guten Werke für die Seligkeit betonen zu müssen. Nikolaus Amsdorf aber trat diesem „Majorismus“ scharf entgegen. Ja, schließlich verstiegen sich Amsdorf und Flacius, die Führer der orthodoxen Lutheraner, zu der Behauptung, gute Werke seien dem Seelenheil der Menschen schädlich. Ein großer, grundlegender Meinungsunterschied lag u.E. natürlich gar nicht vor, sondern nur sozusagen ein methodischer: Luther und Amsdorf lehrten, daß der Mensch erst eine Weltanschauung gewinnen müsse und aus dieser heraus dann gute Werke tue, Major aber faßte die Sache praktischer an und meinte, daß gute Werke im einzelnen allmählich zu einer ganz bestimmten Lebenshaltung führten. Der damaligen Welt aber schien die Seligkeit von dieser Frage abzuhängen. Sie bewegte auch die Nordhäuser Geistlichkeit aufs heftigste. Auf der Seite Amsdorfs standen der Pastor primarius Antonius Otto von St. Nikolai, Nicolaus Wirth von St. Petrie und sein Diakon Martin Hartkese, sowie Andreas Weber, Pastor im Altendorfe; Majoristen dagegen waren Pfarrer Sybold von St. Blasii und sein Diakon Tunger sowie Pfarrer Noricus von St. Jakobi.

Durch die Unduldsamkeit Ottos wurde eine außerordentliche Schärfe in den Streit hineingetragen. Dieser Antonius Otto scheint nicht von vornherein einen gelehrten Beruf ergriffen zu haben; es heißt, er sei zunächst Böttchergeselle gewesen. Der Hochbefähigte beschäftigte sich dann autodidaktisch mit den Wissenschaften, bis ihn Luther in Wittenberg unter seine Studenten aufnahm. 1543 empfahl ihn Melanchthon an Meyenburg, und dieser berief ihn an die Nordhäuser Marktkirche. Offenbar zeichnete unseren Otto ein scharfer Verstand aus, doch verführte ihn ein gewisses engstirnig dostrinäres Wesen, das Autodidakten besonders häufig zeigen, zu unausstehlicher Rechthaberei. Auch teilte er Luthers Ansicht durchaus, daß trotz der Beseitigung des katholischen Priesterbegriffs doch an der Unterordnung der Laien unter die geistliche Aufsicht festgehalten werden müsse.

Am ärgsten tobte der Streit um die guten Werke im Jahre 1553, wo „beide Teile Theologen also aneinander wuchsen, daß ein Teil den anderen verdammte und exkommunizierte“. Der Nordhäuser Rat war in peinlichster Lage. Denn jederzeit ist es so gewesen, daß die Geistlichen, wenn sie unter die Autorität des Staates gezwungen werden sollten, ihre persönliche Sache als die Sache der heiligen Religion hingestellt und wider der Frevler am Heiligsten die Menge zum Kampfe aufgestachelt haben. So war es auch damals. Als der Rat nach langem Zögern, – denn er fürchtete die aufgeregte Stimmung im Volke – Ruhe gebot, erklärten die Geistlichen, sie dürften „wider ihr Gewissen nichts tun“. Darauf erteilte der bedrängte Rat schließlich einem der hadernden Pfarrer, Andreas Weber vom Altendorf, die einzig richtige Antwort: Man wolle ihn wider sein Gewissen nicht drängen; weil er aber ein so enges Gewissen habe, so solle er sich binnen 14 Tagen bedenken, und wenn er es in dieser Zeit über sein Gewissen nicht bringen könne, solle er die Pfarre räumen. – Darauf brachte es Andreas Weber über sein Gewissen und hielt Ruhe.

Dennoch war der Rat vorsichtig in diesen Zeiten, wo die Kanzel immer wieder mißbraucht und das Volk nicht nur gegen die geistlichen Widersacher, sondern auch gegen die eingreifende Obrigkeit aufgestachelt wurde. Um Klarheit zu gewinnen, wandte er sich mit aller Sorgfalt an die berufensten Stätten protestantischer Theologie, an die theologischen Fakultäten in Leipzig, Wittenberg und Jena sowie an die Hochburg Lutherschen Glaubens, an Magdeburg, erhielt aber die widersprechendsten Urteile, und damit war ihm in keinem Falle geholfen. Endlich berief er drei angesehene Theologen, Dr. Schnepf aus Jena, Dr. Alesius aus Halle und Pfarrer Sarcerius aus Eisleben nach Nordhausen selbst. Diese vertraten etwa den Standpunkt Luthers: „Man soll und muß gute Werke tun, predigen und lehren, sie sind aber nicht zur Seligkeit nötig.“ Den Rat kostete dieses Gutachten 300 Gulden, welche u.E. für gute Werke besser Verwendung gefunden hätten.

Jedoch war mit diesem Schiedsspruch wenigstens für einige Zeit Ruhe geschaffen; doch wechselten nach einigen Jahren, besonders 1558 und 1559, die Geistlichen wieder „zweideutige Redensarten“, so daß der Rat am 11. Februar 1560 sämtliche Pfarrer vor das Concilium Seniorum, d. h. vor das Forum aller 12 aus den drei Räten stammenden Bürgermeister, berief und sie ernstlich ermahnen ließ, sich nur an das Augsburgische Bekenntnis, an die Apologie und die Schmalkaldischen Artikel zu halten. Damals besuchte Antonius Otto auf Kosten der Stadt auch die in Jena anberaumte Disputation zwischen Flacius Illyricus und Victorinus Striegel, Professoren in Jena. Der starre Standpunkt, den Flacius bei dieser Disputation einnahm, entfremdete ihm allmählich die Gemüter der besten Anhänger Luthers; einem Otto jedoch war gerade diese unbeugsame Haltung recht. – Am 19. April 1560 ging bei noch immer währenden Streitigkeiten Philipp Melanchthon dahin. Der Tod erlöste den Humanisten von der „ rabies theologorum Doch waren diese Auseinandersetzungen über die immerhin nicht unwichtige Frage der Notwendigkeit guter Werke nicht die einzigen, welche damals die protestantischen Theologen und nicht zuletzt auch die Geistlichen Nordhausens erregten. Kaum war nach 1555 einigermaßen Ruhe eingekehrt über die Majoristische Meinungsverschiedenheit, da gerieten die Pfarrer über eine ähnliche Frage, über den „dritten Gebrauch des Gesetzes“, de tertio usu legis, aneinander. Vom Gesetz erwartete man nämlich erstens, daß es die Menschen in Schranken halte, zweitens, daß es sie läutere und zu Christus bringe, drittens, daß es sie anhalte und unterrichte, wie sie gute Werke tun sollten als soziale Wesen. Diese dritte Eigenschaft des Gesetzes leugnete Antonius Otto und setzte sich mit ihr in 20 Thesen, die er 1557 an der Tür der Nikolaikirche anschlug, auseinander. Unter diesen Thesen Ottos lautete die 10.: Lex non modo ad iustificationem nulla, sed neque ad ulla bona opera utilis et necessaria est. Damit lehnte er die Wirksamkeit des Gesetzes in sozialer Beziehung ab.

Sogleich erhoben sich gegen diese Thesen Pastor Sybold von St. Blasii und Johann Fuß von St. Petri. Wieder versuchte der Rat eine Vermittlung. Er rief das Urteil Hallischer und Eislebener Theologen an und brachte nach langen Streitigkeiten auf diese Weise eine leidliche Einigung zustande. Nur Pastor Fuß blieb hartnäckig und wollte diejenigen seiner Pfarrkinder, die Ottos Predigten mitanhörten, nicht mehr zum Abendmahl zulassen.

So ging denn der Kampf weiter und tobte um so heftiger, als Antonius Otto bald in dem Rektor der Gelehrtenschule Andreas Fabricius einen der entschiedensten Kampfgenossen fand. Zwei ganz ähnliche Charakter von scharfem Verstand und verkrüppeltem Gemüt hatten sich hier zusammengefunden zum Unsegen für Nordhausen. Der Rat aber konnte keinen schlimmeren Mißgriff tun, als Fabricius 1560 vom Rektorate zu entbinden und ihn erst zum Diakonus von St. Nikolai und dann 1564 zum ersten Geistlichen von St. Petri zu machen. Daher kam es, daß 1565 ein „greulicher Lärm de tertio usu legis“ in Nordhausen herrschte. Ja, dieser Streit wurde über die Stadtgrenzen Nordhausen weit hinausgetragen, als beide „Gesetzstürmer“ ihre Ansichten in Streitschriften niederlegten und damit in der ganzen protestantischen Welt Aufsehen erregten. Otto und Fabricius vertraten in ihren Schriften denselben unnachgiebigen Standpunkt wie Flacius in seinem Weimarer Konfutationsbuche, dem die Anhänger Melanchthons das corpus doctrinae christianae entgegengestellt hatten. Dieses corpus aber war von Nordhausens Schutzherrn August I. von Sachsen ausdrücklich als corpus doctrinae Misnicum anerkannt worden, und als Fabricius es angriff, griff er zugleich die offizielle Lehrmeinung an. Das wäre ihm vielleicht noch hingegangen; doch bei seiner heftigen und ausfallenden Art hatte er es sich in seinem Buche vom heiligen, klugen und gelehrten Teufel nicht entgehen lassen, die sächsischen Universitäten gröblichst zu beschimpfen und von einer gewissen Persönlichkeit ein wenig schmeichelhaftes Gemälde zu entwerfen, in welchem Kurfürst August nicht ohne Grund sich selber wiederzuerkennen glaubte. Das schlug dem Faß den Boden aus. Am 19. September 1567 verlangten sächsische Gesandte vom Nordhäuser Rate Antonius Ottos und Andreas Fabricius’ Entlassung.

Der Rat kam diesem Wunsche Sachsens nicht nach; er fürchtete Volksaufläufe und Schlimmeres. Denn die Geistlichen redeten dem Volke ein, es gehe gegen den evangelischen Glauben. Doch der beleidigte Kurfürst blieb unnachgiebig und drohte am 8. Januar 1568, er werde „auf Gegenmittel gedenken, wenn die Prediger nicht entlassen würden“. In dieser Bedrängnis faßte der Rat am 10. Juli 1568 den Entschluß, sämtliche streitenden Geistlichen, Otto und Fabricius einerseits und Sybold und Noricus andererseits, zu entsetzen. Mit diesem Auswege glaubte er der Volksstimmung wenigstens einigermaßen Rechnung getragen zu haben, fand damit aber nicht die Zustimmung Augusts von Sachsen. Der Kurfürst verlangte, daß Sybold und Noricus wieder eingesetzt würden, und der Rat wagte keinen Widerstand zu leisten. So blieben die beiden in Nordhausen, während Fabricius nach Eisleben, Otto nach Stöckey ging.[3]

Fabricius, ein echter Gottesstreiter, ließ es sich in seinem neuen Wohnsitz nicht nehmen, weitere Zwietracht anzuzetteln; Otto aber gefiel es in seiner Verbannung zu Stöckey gar nicht. Des öfteren versuchte er, wieder nach Nordhausen zurückzugelangen, und die Sehnsucht nach dem rechten Resonanzboden für seine Disharmonie, der ihm bei der Stöckeyer Bauernschaft offenbar fehlte, dämpfte seinen Kampfeseifer einigermaßen. Da aber durch die Verbannung Ottos für die Grafschaft Honstein die Gefahr bestand, daß der unvernünftige Theologenhader in Nordhausen auch die bisher vernünftige Landschaft ergriffe, rief Graf Volkmar Wolfgang 1569 seine honsteinschen Geistlichen nach Walkenried zu einer Synode zusammen und ließ sie hier den Beschluß fassen, sich in keine Streitigkeiten mischen, sondern das lauter und reine Evangelium predigen zu wollen.

Der Nordhäuser Rat verfiel damals auf einen merkwürdigen Ausweg, um die theologischen Streitigkeiten für immer zu unterbinden. Er glaubte nämlich, die bisherige Gleichberechtigung der Geistlichen habe dergleichen hemmungslose Meinungsäußerungen veranlaßt, und es werde eine Besserung erfolgen, wenn er in der Stadt eine Superintendentur einrichte, ein geistliches Amt, dessen Ansicht die anderen Geistlichen sich zu fügen hätten. Deshalb berief er an die Stelle des abgesetzten Antonius Otto im Jahre 1569 Martin Burggrav als Superintendenten. Dieser Schritt hatte bei der Arroganz und Disziplinlosigkeit der übrigen Geistlichen natürlich nur den Erfolg, daß sie sich sogleich gegen ihren Oberhirten empörten. Burggrav scheiterte kläglich und mußte schon 1570 Nordhausen wieder verlassen. Das ist das einzige Mal gewesen, daß es einen Superintendenten in der Reichsstadt Nordhausen gegeben hat.

Daß jedoch diese religiösen Wirren nicht etwa nur Auseinandersetzungen weniger Theologen waren, sondern daß die gesamte Bevölkerung leidenschaftlich Anteil nahm, ersieht man aus einer Reihe Spottgedichte, die in jener Zeit entstanden, im Volke umliefen und die Verbitterung vermehrten. Eines z. B., das die Überschrift trug: Sybold und anderen guten Freunden zu Ehren gemacht, wies folgende erste Strophe auf:

Sankte Jutta hat mich geborn,
Jesum zu verraten erkorn;
Beschirmer Doktor Majors Lahr,
Obwohl an ihr kein Wort ist wahr,
Läßt er ihn dennoch und lügt gar sehr,
Dienet allein dem Bauch zur Ehr’
Und bringet sich in Sünd und Schänd.
Solches ist ihm kommen in die Hand u.s.f.

Oder ein anderes Spottgedicht mit der Überschrift: Ein hurtig’ Liedlein von den Majoristen, dessen zweite bezeichnende Strophe folgendermaßen lautet:

Sie leben in großer Einigkeit
Mit Fressen und Saufen in großer Freud’.
In Jubilieren und Glossieren
Sie einer zu dem andern gehn.
Damit beweisen sie ihr Werk so rein
Und fahren dadurch zur Hölle hinein. –

Dann werden 6 Pfarrer, auf die das Pasquill gemünzt war, namentlich genannt.[4]

In dieser derben Volkspoesie fehlte es weder an Witz und Geist noch an Unflätigkeiten aller Art. So fand man eine ganz hübsche Einkleidung, indem man sich den Nordhäuser Roland mit Christus über die schändliche Haltung mancher jetziger Nordhäuser Pfarrer unterhalten ließ, oder aber man wagte die Schamlosigkeit, ein übles Pasquill nach der Melodie zu singen: „Von Gott will ich nicht lassen.“

Unterdessen hatten noch einmal auswärtige Händel auch Nordhausen berührt. In Thüringen war es nämlich zu offenem Kampfe zwischen Johann Friedrich von Sachsen-Gotha aus der ältem, nunmehr der Kur verlustig gegangen ernestinischen Linie und August I. von Sachsen-Meißen aus der Albertiner Linie gekommen. Schuld daran war vor allem Wilhelm von Grumbach, ein alter Parteigänger Albrecht Alcibiades’, der um dieser Gesellschaft willen seiner Würzburger Lehen verlustig gegangen und 1563 schließlich geächtet worden war. Dieser alte Unruhestifter ging nun an den Hof des unzufriedenen Johann Friedrich nach Gotha, wurde sein schlimmer Ratgeber und stiftete ihn zu allen möglichen Intriguen gegen das Kurhaus Sachsen an, bis am 12. November 1566 auch Johann Friedrich der Reichsacht anheimfiel. Die Vollstreckung dieser Acht wurde August von Sachsen übertragen, der nun mit allem Eifer ans Werk ging, den Nebenbuhler unschädlich zu machen. Ende Dezember 1566 wurde Gotha eingeschlossen, und als im April 1567 die Belagerten einsahen, daß sie die Stadt nicht mehr halten konnten, wollten sie sich nach Anzündung der Ortschaft auf die Burg zurückziehen und diese allein verteidigen. Gegen diesen Beschluß empörten sich aber die Bürger und Söldner des Herzogs und übergaben am 13. April 1567 die Stadt. Der Herzog selbst und Grumbach wurden gefangengenommen; Johann Friedrich kam nach Oesterreich in lebenslängliche Gefangenschaft, der dreiundsiebzigjährige Grumbach wurde gevierteilt.

Nordhausen war an diesem Feldzuge Augusts insofern beteiligt, als an die Stadt im Februar 1567 zwei kaiserliche Mandate gelangten, zur Unterstützung der Heeresmacht Augusts Truppen anzuwerben und mit diesen dem kurfürstlichen Heere Zuzug zu leisten. Nordhausen schickte deshalb 60 Landsknechte nach Gotha und lieferte 2100 Säcke Korn zur Verpflegung. Als die belagerte Stadt dann gefallen war, verlangte August zur Schleifung der Befestigungswerke noch 150 Schanzgräber oder für jeden 12 Groschen.

Der Rat war nur zur Stellung von 50 Leuten bereit und kam überhaupt den ihm auferlegten Verpflichtungen nur saumselig nach. Noch 1569 forderte der Kurfürst 1200 Gulden Schleifungsgelder von Nordhausen, die dann aber auf 357 herabgesetzt wurden. Alles in allem hatte die Niederwerfung Johann Friedrichs die Stadt mit 1889 Gulden und 9 Pfennigen belastet.

Für die allmählich von ihrem Wohlstände herabsinkende Stadt waren diese Ausgaben, die ihr selbst keinerlei Gewinn brachten, schwerer denn je zu tragen. Um so mehr hatte sie in ihrem Innern Ruhe nötig, und diese war ihr in religiöser Beziehung seit dem Jahre 1568 10 Jahre lang geschenkt. Wenigstens wurde eine neue Bewegung, die Unfrieden in die Bevölkerung hineintragen konnte, in den sechziger und siebziger Jahren noch glücklich unterbunden: das Vordringen des Calvinismus.

Obwohl nämlich 1555 im Augsburger Religionsfrieden die Lehre Calvins nicht als gleichberechtigt anerkannt worden war, hatte sie doch in Deutschland immer mehr Boden gewonnen, besonders seit 1563 die Kurpfalz den calvinischen Heidelberger Katechismus angenommen hatte.

Auch in Nordhausen hatten sich schon in den fünfziger Jahren wohl calvinische Strömungen bemerkbar gemacht, sie waren aber schnell abgelenkt und schließlich ganz beseitigt worden. Schon 1556 traten die Nordhäuser Pfarrer hinsichtlich der Abendmahlsauffassung auf den Lutherschen Standpunkt, daß die Gläubigen im Brot und Wein den wahren Leib und das wahre Blut Christi genossen.[5]

Während sich Nordhausen in dieser Beziehung auf den Boden strenger Lutherscher Anschauungen stellte, lehnte es doch die Formulierung ab, die das orthodoxe Luthertum in der Konkordienformel zu Kloster Berge bei Magdeburg gefunden hatte. Wahrscheinlich waren politische Momente bei dieser Stellungnahme maßgebend. Das bisher gemäßigte Kursachsen hatte sich nämlich, nachdem Kurfürst August mit dem Kryptocalvinismus schlimme Erfahrungen gemacht hatte, für die Konkordienformel entschieden und drängte auch Nordhausen zur Annahme. Der Rat jedoch fürchtete, daß er allmählich in immer größere politische, aber auch kulturelle Abhängigkeit von Sachsen geraten könne, sah seine Freiheit gefährdet und wandte alles auf, dieselbe zu bewahren. Eine Anlehnung Nordhausens an Braunschweig wird seitdem immer mehr sichtbar.

So suchte Nordhausen damals Sachsen zwar nicht mit einer glatten Ablehnung vor den Kopf zu stoßen, schrieb aber am 4. September 1577, es bäte sich Bedenkzeit aus, die Konkordienformel anzunehmen, und erbitte ferner, bevor es nach Sangerhausen zur Unterschrift komme, Einsicht in das Glaubensbekenntnis. Dieses wurde aber von Sachsen nie geschickt, und nie hat Nordhausen die Konkordienformel unterschrieben.[6] Statt dessen verpflichtete die Stadt fortan ihre Geistlichen auf das 1576 für Braunschweig erschienene und nach Herzog Heinrich Julius genannte corpus Julium. Die Augustana, die Apologie und das Corpus Julium waren seitdem die für Nordhausen grundlegenden Bekenntnisschriften.

Diese Verpflichtung der Geistlichen auf ganz bestimmte Glaubensnormen schien damals um so nötiger zu sein, als nunmehr der Calvinismus auch in Nordhausen wirklich Fuß faßte. Die große Geschlossenheit der Lehren des Genfer Reformators hatte für viele etwas Bestechendes, und nicht nur Calvins Abendmahlslehre, sondern auch sein starres, faszinierendes Dogma von der Allmacht Gottes, welche die einen der Menschen von Ewigkeit her zur Seligkeit, die anderen zur Verdammnis vorherbestimmt, prädestiniert, hatte ihm manche Anhänger zugeführt. Schon Anfang der achtziger Jahre waren der Pastor Johann Rindfraß und dann Johann Ratzenberg, der Rektor des Nordhäuser Gymnasiums, des Calvinismus verdächtigt worden. Ratzenberg wurde deshalb 1585 entsetzt. Bedeutsamer wurde es, daß seit 1590 der erste Geistliche der Stadt, Johann Pandochäus, Pfarrer an St. Nikolai, dem Calvinismus zuneigte und dadurch die Gemüter erregte. In einer ganzen Reihe von Schriften, besonders in denen über die Prädestination vom Jahre 1596 und 1597, setzte sich Pandochäus immer unverhohlener für den Calvinismus ein. Gegen diese Schriften wandte sich sein eigener Diakonus Johann Siford und danach noch energischer und schärfer Johann Rüger, Pastor am Frauenberge.

In diesem Falle war die Lage für den Rat insofern schwierig, als einige der besten Männer der Stadt zu der neuen Lehre neigten, unter ihnen der Syndikus Wilde, den der streng logische Gedankengang des Calvinischen Lehrgebäudes bestochen haben mag. Doch konnte der Rat um dieser Männer willen die nach schweren, langen Kämpfen und Opfern erlangte Einigkeit des Glaubens nicht gefährden lassen. Er ließ deshalb 1597 eine Confessio Nordhusana de praedestinatione in 4 Artikeln aufstellen. Im 2. Artikel dieser Konfession wird bezeichnenderweise Luthers Lehre von der Gnadenwahl deshalb richtig hingestellt, weil sie nicht Luthers, sondern des Apostels Paulus und des Heiligen Geistes Lehre selber sei. Als trotz dieses Bekenntnisses der Stadt zu Luther Pandochäus nicht abließ, für den Calvinismus einzutreten, und die von den Universitäten Wittenberg, Jena und Tübingen eingeholten Gutachten seine Anschauungen als calvinistisch verdammten, wurde er 1600 seines Amtes entsetzt. Georg Wilde, der eben erst ein Gehölz am Abhange des linken Zorgeufers käuflich erworben hatte, das nach ihm genannte „Wildes Hölzchen“, wurde entlassen.

1608 wurde dann eine Norm aufgestellt, nach der die Geistlichen ihre abweichenden Meinungen erörtern mußten. Fortan kam es nur noch zu geringfügigen Differenzen in Glaubenssachen, jedenfalls vermochten sie das Staatswesen nicht mehr so zu erschüttern wie die sechziger und neunziger Jahre.[7]

Alle diese religiösen Streitigkeiten hatten aber doch das eine Gute, daß sie das Auge für die Mängel schärften, die bisher noch in der Organisation des Kirchenwesens bestanden hatten. Deshalb hatten sie zur Folge, daß in den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts nach und nach das gesamte Nordhäuser Kirchen- und Schulwesen eine Verfassung bekam.

Das Gymnasium wurde unter Aufsicht der ersten Pfarrer von St. Nikolai und St. Blasii gestellt, die Mädchenschule am Frauenberge unterstand dem dritten Geistlichen der Stadt, dem Pfarrer an St. Petri. 1583 wurden für das Gymnasium nach mehrfachen fehlgeschlagenen Anläufen auch endgültige Schulgesetze von Lucas Martini, Pfarrer an St. Nikolai, ausgearbeitet. Diese wurden in den späteren Jahrhunderten zwar mehrfach revidiert, behielten aber in ihren Grundzügen bis weit ins 18. Jahrhundert hinein Geltung.

Für alle geistlichen Angelegenheiten war das geistliche Ministerium zuständig. Dieses hatte sich schon seit den fünfziger Jahren herausgebildet, war aber bei den andauernden Meinungsverschiedenheiten kaum zur Arbeit gekommen. Im Jahre 1592 erhielt dieses Ministerium nun eine Verfassung. Es bestand aus 10 Männern, den 6 Pfarrern von St. Nikolai, Blasii, Petri, Jacobi, der Frauenberger und der Altendorfer Kirche, den 3 Diakonen von St. Nikolai, Blasii und Petri sowie dem Pfarrer für die Spitäler St. Cyriaci und Elisabeth. Der Rektor des Schule wurde zuweilen hinzugezogen.

Wollte jemand in Nordhausen Pfarrer werden, so hatte er sich bei dem ersten Prediger von St. Nikolai zu melden; war seine Meldung angenommen worden, dann hatte die Gemeinde die Wahl unter den Kandidaten zu treffen. Der Gewählte wurde ferner von den Pfarrern von St. Nikolai und St. Blasii einem Examen unterworfen, und erst nachdem er dieses bestanden hatte, konnte seine Ordination stattfinden, doch auch das nur, wie es in den leges ministerii heißt, wenn er für die Stadt erforderlich war und die Erlaubnis des Rates zum Antritt seines Amtes hatte. Die Einführung des neuen Geistlichen ging in der Nikolaikirche nach der Mansfelder Kirchenordnung vor sich. Dabei war das gesamte Ministerium anwesend. Die Reichung des heiligen Abendmahles schloß die feierliche Handlung ab.

Die Grundlage für Lehre und Predigt der Pfarrer waren nach den leges ministerii die prophetischen und apostolischen Schriften, das nicäanische und athanasianische Bekenntnis, die Augsburgische Konfession, die Apologie, die Schmalkaldener Artikel, die beiden Lutherschen Kathechismen und das Corpus Julium.

Die Sitzungen des Ministeriums fanden in der Pfarre von St. Nikolai statt. Jeder Nordhäuser konnte wegen seines Glaubens und seines Lebenswandels vor das Ministerium gefordert werden. Wurde ein Pfarrer selbst beschuldigt, so sollte der Pastor primarius zunächst eine Aussprache unter vier Augen herbeiführen, und erst wenn diese ergebnislos verlief, kam es zur Verhandlung vor dem gesamten Ministerium. Erfolgte keine Besserung des Beklagten, so konnte auf Enthebung vom Amte erkannt werden. Jedenfalls durfte zum Austrag der Streitigkeiten nicht die Kanzel gebraucht werden, damit „der gemeine Mann“ daran kein Ärgernis nehme. Seit dem 1. Januar 1601 mußte jeder Geistliche, der in Nordhausen ein Pfarramt übernahm, einen Revers unterschreiben.

Auch der Ergötzlichkeiten der Geistlichen gedenken die Vorschriften ihrer Bedeutung entsprechend ziemlich eingehend. Nicht weniger als 7 Leges handeln von diesen „Convivia“, darunter lautet eine: „Weiber sollen nicht sonderlich gebeten werden, sondern sich selbst einstellen.“ An diesen Gastereien des Ministeriums nahm auch der Rektor der großen Schule teil.

Hinsichtlich der Amtsverrichtungen wurde bestimmt, daß, wenn ein Pfarrer gestorben war, seine Amtsbrüder ein Vierteljahr lang sein Amt mitverwalten sollten. Die Witwe genoß während dieser Zeit noch das Gehalt ihres Mannes weiter. Ferner durfte keiner ohne Vorwissen des zuständigen Geistlichen in einer anderen Kirche predigen. Den Lehrern am Gymnasium und den Bürgersöhnen, die Pfarrer werden wollten, war es erlaubt, sich in St. Cyriaci zu „versuchen“. Nötig schien endlich die Vorschrift, daß keiner seinem Amtsgenossen die Beichtkinder abspenstig mache. Kinderlehre und Konfirmandenunterricht sollten vom Trinitatisfeste bis Martini alle Mittwoch, in den Fasten alle Tage stattfinden.

Eheleute mußten vor der Eheschließung dreimal aufgeboten werden. Wünschten sie die Trauung in der Kirche, zu der die Braut gehörte, so fiel dem Diakon der Kirche die Trauung zu. Ein langer Streit der Geistlichen darüber, wer den armen Sündern auf ihrem letzten Gange zur Richtstätte Trost spenden sollte, wurde 1621 beigelegt. Es wurde eine genaue Reihenfolge, nach der die Begleitung des Verurteilten erfolgen sollte, bestimmt.[8]

Ebenso bekamen die Gemeinden ihre Verfassung, worin die Bestimmungen festgelegt waren, nach denen die Wahl des Pfarrers durch die Gemeinde erfolgen sollte. An den einzelnen Kirchen war die Pfarrerwahl etwas verschieden, bei einigen hatte vor allem der Rat einigen Einfluß; doch im allgemeinen ging sie folgendermaßen vor sich: Jede Gemeinde besaß zwei Kirchenvorsteher. Legte einer der beiden sein Amt nieder, so ernannte der verbleibende den zweiten. Waren beide Gemeindevorsteher gestorben, so schlug der Rat drei Personen aus der Gemeinde als Nachfolger vor; von diesen wählte die Gemeinde den einen, und dieser hatte dann das Recht der Zuwahl des anderen.

Bei der Pfarrerwahl wählte jeder der beiden Vorsteher einen Kandidaten, beide zusammen einen dritten. Unter diesen dreien hatte dann die gesamte Gemeinde die Auswahl. Stimmberechtigt war jeder Nordhäuser Bürger, der ein Haus besaß, dazu Gelehrte, Graduierte, Gildemeister und die Rechnungsführer der Kirche. Der Rat hatte jedesmal das Bestätigungsrecht der Wahl; das geistliche Ministerium nahm Prüfung und Ordination vor. –

Fast 100 Jahre hatte es gedauert, ehe sich die kirchlichen Verhältnisse nach der Einführung der Reformation eingespielt hatten. Ein langer Weg war von jener ersten evangelischen Predigt Lorenz Süßes im Februar 1522 bis zur Organisation des gesamten Nordhäuser Kirchenwesens zurückgelegt worden.




  1. von Bezold, a. a. O. 809.
  2. Abgedruckt bei K. Meyer, M. Meyenburg, 53 ff., Nordhausen 1910.
  3. Vergl. noch Heineck, Zur Antonius Otho–Frage, Nordh. Zeitung, 1913, 27. Dezbr.
  4. Die Mißstände der katholischen Zeit wirken also insofern noch nach, als man die Verteidiger von guten Werken einfach für Leute hält, die um ihrer selbst willen diese guten Werke verlangen.
  5. Ecclesiae urbis Nordhusanae semper retinuerunt doctrinam de coena Domini incorruptam, iuxta institutionem Christi atque constantem sententiam Lutheri, quod una cum pane et vino, verum corpus Christi et verus eius sanguinis sumentibus distribuatur.
  6. Hier muß ich meine eigene frühere Ansicht berichtigen. Vergl. Silberborth, Geschichte des Nordh. Gymnasiums, 14.
  7. Die Geschichte der Glaubensstreitigkeiten hat noch keine Behandlung gefunden. Einiges wenige bringt Lesser in seiner Jubiläumsschrift: Die der reinen Lehre Augsburgischer Konfession beständig zugetane Freie … Reichsstadt Nordhausen, 1730.
  8. Die leges ministerii im Nordhäuser Archiv.
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