Die Besiedlung des Helmegaus vom 3. bis 5. Jahrhundert. Sweben, Angeln und Warnen; die Thüringer

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Autor: Hans Silberborth
Titel: Die Besiedlung des Helmegaus vom 3. bis 5. Jahrhundert. Sweben, Angeln und Warnen; die Thüringer
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aus: Geschichte des Helmegaus
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Erscheinungsdatum: 1940
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Erscheinungsort: Nordhausen
Quelle: Scan
Kurzbeschreibung: Abschnitt 1,
Kapitel 3
Digitalisat:
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Kapitel 3
Die Besiedlung des Helmegaus vom 3. bis 5. Jahrhundert;
Sweben, Angeln und Warnen; Die Thüringer


Seit der Wende vom 2. zum 3. Jahrhundert lassen sich nun mindestens 200 Jahre lang, also bis in die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts hinein, für unsere Gebiete dauernde Wanderungen, dauerndes Einströmen, dauernde kulturelle Beeinflussung von außen erkennen. Doch es liegt kein Anzeichen vor, daß dadurch eine besondere Beunruhigung eingetreten oder daß es gar zu schweren kriegerischen Auseinandersetzungen gekommen wäre. Im Gegenteil, alles deutet hin auf eine friedliche Landnahme, Kolonisationsarbeit und Siedlung. Diese Art der Neusiedlung beweist, daß Thüringen und ganz besonders der Hclmcgau in den vorhergehenden Jahrhunderten außerordentlich bevölkerungsarm gewesen ist. Die neu einrückenden oder auch nur durchziehenden Stämme fanden keinen Widerstand, weil sie nichts fortzunehmen brauchten. Raum für alle war vorhanden. Die wenigen bisherigen Siedler scheinen in der Menge der Neuankömmlinge aufgegangen zu sein.

Wie für die ersten Jahrhunderte nach der Zeitrechnung, so ist auch noch für die Zeit bis zum Untergänge des Thüringer Reiches die Frage nach der Heimat und der Stammeszugehörigkeit der neuen Bevölkerung unserer Heimat sehr schwierig zu beantworten. Die beinahe unübersehbare Literatur, die seit Wilhelm Arnolds Werk vom Jahre 1875 über die Ansiedlungen und Wanderungen deutscher Stämme entstanden ist, hat viel neue Erkenntnisse gebracht, hat aber auch manche Aufgabe neu stellen müssen, die bis heute noch nicht hat gelöst werden können. Zu den Arbeiten der Sprachforscher, der Historiker und der Siedlungsgeographen sind in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr die Praehistoriker mit schönen, aber selten endgültigen Ergebnissen gekommen. Die mangelhafte schriftliche Überlieferung, die Dürftigkeit der Bodenfunde und besonders die Schwierigkeit des Untersuchungsmaterials, das in der Hinterlassenschaft der sich dauernd verschiebenden, sich zersplitternden Volksstämme besteht, lassen es nicht selten unmöglich erscheinen, zu einer einwandfreien Feststellung zu gelangen.

Im wesentlichen scheint es bei der Frage nach Herkunft und Art der Bevölkerung unserer Heimat auf die Diskussion der Ortsnamen auf „ingen", „stedt" und „leben" anzukommen. Eine Einigkeit in den Ansichten ist noch nicht im entferntesten erzielt. Die einen schreiben die Ortsgründungen auf „ingen" einer semnonisch-swebischen Bevölkerung aus der Mark Brandenburg oder vom Unterlauf der Elbe zu, die anderen nehmen sie für swebische Angeln in Anspruch; die Ortsgründungen auf „stedt" möchten die einen als allgemein germanisch annehmen und sie für älteste Siedlungen halten, die anderen belegen ein bestimmtes Volk, die Angeln, mit ihnen; von den Ortsgründungen auf „leben" schließlich behaupten die einen ebenso fest, daß sie den Warnen zuzusprechen sind, wie die anderen, daß sie den Angeln angehören.

Aus allen bisherigen Untersuchungen scheint dreierlei ersichtlich zu sein: 1) daß es kaum angängig ist, einem einzigen Stamme bestimmte Ortsnamen zuzuschreiben, sondern nur einer Gruppe verwandter Stämme. Wie die Germanen sprachlich in die großen Gruppen der Westgermanen, der Ostgermanen, der Nordgermanen, oder die Westgermanen kultisch in die der Ingwäonen, Istwäonen, Hermionen zusammengefaßt werden können, so werden dergleichen größere Einheiten, so sehr sie politisch in kleinere Stämme zerfielen, doch eine gewisse Überlieferung und ein gemeinsames Brauchtum gehabt haben. Für die Zeit seit dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert kann man eine kulturell verhältnismäßig einheitliche, aus den einstigen Hermionen hervorgegangene elbgermanisch-swebische Gruppe feststellen, bei der sich auch für ihre Siedlungen gemeinsame Namen finden. Diese hat wesentlich Gesamtthüringen und damit auch die Lande zwischen Harz und Hainleite beeinflußt und besiedelt. 2) Seit dem ersten Auftreten der Germanen in Mitteldeutschland überhaupt, also spätestens seit 700 vor Chr., hat die alte Kultursteppe zwischen der Lüneburger Heide im Norden und dem Harze im Süden, zwischen der Elbe im Osten und der Leine im Westen immer wieder zur Besiedlung gereizt und neue Scharen angezogen. Sie kamen von Norden, d. h. von den Gestaden der Nord- und westlichen Ostsee, und von Osten, d. h. aus den Gegenden östlich der mittleren Elbe. Hier fanden sie befriedigende Wohnsitze, und viele blieben für immer in dem fruchtbaren Lande. Aber bei der Extensität der Wirtschaft und der unerschöpflichen Fruchtbarkeit des germanischen Menschen war oft genug die junge Mannschaft aus Mangel an Boden gezwungen, auf Wanderfahrt zu gehen, neue ergiebige Wohnsitze zu suchen. Manchmal wanderten sie an der großen Elblinie weiter nach Süden, häufig aber begnügten sie sich damit, in das Land südlich des Harzes einzudringen. Thüringen erscheint ständig als Kolonialland des Gebietes nördlich des Harzes. Zu Beginn des dritten nachchristlichen Jahrhunderts wanderten von hier nach Thüringen die Germanen ein, welche, wie nördlich des Harzes, so nun auch zwischen Harz und Thüringer Wald die Orte auf „ingen" und „stedt" gründeten. 3) Es steht fest, daß die Bevölkerung der Orte auf „ingen" und „stedt" in engerer Verwandtschaft zueinander steht, als jede von beiden zu der Bevölkerung der „leben"-Orte. Wenn die Leute der ingen- und stedt-Siedlungen, wie man versucht ist zu behaupten, nicht von vornherein der elbgermanisch-swebischen Bevölkerungsgruppe angehören, so haben sie sich doch frühzeitig und schnell aneinander angeglichen. Die leben-Leute stehen mehr abseits, sind stark von Nord- und Ostgermanen, denen sie ursprünglich angehören, beeinflußt und sind erst allmählich seit dem 6. Jahrhundert in der übrigen thüringischen Bevölkerung aufgegangen. Nach den grundlegenden Untersuchungen Seelmanns, die wohl im einzelnen, aber nicht im wesentlichen überholt worden sind, sind die leben-Leute als Warnen anzusehen. Das kann man gelten lassen, wenn man die Warnen als den am besten erkennbaren germanischen Stamm, der aus dem Bereich der westlichen Ostsee nach Mitteldeutschland eingewandert ist, ansieht.

Die Züge der wandernden Völker, die zunächst, etwa um 200, bei uns erscheinen, sind ganz leidlich zu erkennen. Sie gingen die Helme aufwärts durch die Eichsfelder Pforte, oder nördlich am Ohmgebirge vorbei durch das Eichsfeld ins obere Leinetal; auch südlich der Hainleite zogen sie nach Westen ins Werratal hinein, gingen dieses auswärts und erreichten über den mittleren Main Süddeutschland, wo sie dann als der große Völkerverein der Schwaben oder Alemannen erschienen. Ihre Wanderung ist gekennzeichnet durch die Ortsnamen auf ingen und ungen, eine Endung, welche die Zugehörigkeit einer Siedlung zu einer Persönlichkeit oder zu einer charakteristischen Landschaft bezeichnet, etwa Thürungen, d. i. der Ort an der Thyra, Heringen und Hörningen sind die Orte im Horo, d. h. im Schmutz, also auf gutem, zähem Boden.[1] Einzingen südöstlich Sangerhausen ist die Siedlung des Eino, ebenso ist wahrscheinlich Bliedungen von einem Personennamen abgeleitet.[2]

Der Lage der Ortschaften nach müssen starke Scharen gerade durch das sonst so stille und verkehrsarme Helmetal gezogen sein. Doch sie verfingen sich gewissermaßen hier: Die Schwierigkeiten, die sich ihnen durch die Urwälder und Moräste westlich der Helmequellen bis zur Leinequelle entgegenstellten, veranlaßten viele, im Helmetale für immer haltzumachen und die Weiterwanderung aufzugeben. Wie erheblich die Einwanderung dieser swebischen Völker in den Helmegau war, ersieht man daraus, daß hier 23 Ortschaften auf „ingen" und „ungen", davon allerdings einige, die offensichtlich jüngere Gründungen sind, gezählt werden; unter ihnen sind nur sechs wüstgewordene. Damit nimmt diese Siedlungsgruppe nächst der Anzahl der Dörfer auf „rode" — 65, davon 38 heute wüst — die erste Stelle ein.

Freilich, wie bei anderen Ortsgründungen, so liegt es auch bei den Orten auf ingen nicht so, daß sie sämtlich zu gleicher Zeit oder auch nur von Angehörigen desselben Stammes gegründet seien. Diese auch bei Siedlungsforschern weit verbreitete Annahme dürfte mit dem urkundlichen Nachweis und auch mit geographischen Überlegungen in Konflikt kommen. Im Helmegau ist es so gut wie gewiß, daß die Nachfahren der ersten Siedler der ingen-Orte nach einiger Zeit Tochtergründungen anlegten. Eine derartige innere Kolonisation wurde in den verhältnismäßig ruhigen und glücklichen Zeiten des 10. und 11. Jahrhunderts besonders intensiv gefördert, man schreibt sie aber diesen Jahrhunderten zu ausschließlich zu; sie fand auch zu anderen Zeiten statt, und zwar immer dann, wenn ein Bedürfnis nach Neuland eintrat und man es nicht durch Auswandern befriedigen wollte oder konnte. Schon O. Schlüterhat bemerkt, daß nicht alle Orte auf „ingen" gleichen Alters sind; Klein-Leinungen weist er erst seiner 5. Stufe (800—1300) zu.[3] Ja, es brauchen nicht einmal dieselben Stammesverwandten zu sein, die später dergleichen Ortschaften gründen; die verschiedenen Stämme, die sich nebeneinander und durcheinander niedergelassen haben, leben sich im Laufe der Zeit derart zusammen, daß sie ihre Bräuche und ihre Sprache austauschen. So haben z. B. die Angeln, welchen, wie man allgemein annimmt, die Engeldörfer zuzuschreiben sind, die Endung der „ithi"-Leute für ihre Dörfer angenommen, aus Engel wurde später Englide.[4]

  1. Vergl. auch Horla, Horlehain. Hörningen wird auch zu Horn gezogen; Horn im Sinne von „oben gelegen", vergl. Hirn, oder im Sinne von Winkel. Werne- burg. Die Namen der Ortschaften und Wüstungen Thüringens, 60. Wenn man auch die Herkunft der swcbischen ,,ingen"°Leute nicht sicher feststellen kann, so scheint mir doch sicher zu sein, datz die swebische Bevölkerung Süddeutschlands durch Thüringen gezogen ist und hier Teile ihrer Bevölkerung zurüctgelasicn hat. Darauf deutet auch das gemeinsame Wort „Brunnen" im Schwäbischen und Thüringischen statt Born im Hessischen und Sächsischen. Wo Born heute im Thüringischen, auch bei uns am Südharz erscheint, liegt späterer sächsischer Einfluß vor. Gern benutzt man dann das Wort „Born" als Quelle neben dem Worte „Spring". Borntal bei Nordhausen, Goldbörnchen im Alten Stolberg; Helmspring bei Stöckey, Forellen- spring bei Stempeda. — Ferner deutet der Ort Göllingen darauf hin, daß die Gründer unserer „ingen"-Orte und die Siedler im heutigen Schwaben eng miteinander verwandt sind. Gölle — Sumpf, feuchte Stelle ist schwäbisches Dialektwort. Vergl. zu Göllingen Fr. Schmidt, Mitteilungen des Vereins. . . Sangerhausen 1932, 22. Heft, 49; 1934, 24. Heft, 34.
  2. Die Endungen -ingen und -ungen sind gleichzusehen; sie sind offenbar gemein- swebisch. E. Förstemann, Die deutschen Ortsnamen, 244 f. bringt eine Fülle von Beispielen der gleichen Verwendung beider Endungen. Es kann nicht davon die Rede sein, bah -ingen nur patronymisch gebraucht sei. Zudem darf man keinesfalls üher die urkundlichen Namensformen hinweggchen. Da erweist sich, daß gerade die älteste Überlieferung beinahe ausschließlich -inga zeigt für Orte, die heute auf -ungen endigen: 9. so. Turinga —Thürungen; 961 Breitinga — Breitungen; 1148 Grazinge — Gratzungen. In unserer östlichen Nachbarschaft: 6. so. Scithingi — Scheidungen uss. Nur Uftrungen heißt schon 890 Ufturunga; bei ihm ist aber klar, daß die Verdumpfung durch die vorhergehenden Vokale hervorgerufen ist. Bliedungen heißt 970 Blidungen; im 16. so. aber unter Einfluß des Stammvokales Blidingen. Nach Hentrich, a. a. O., .112 haben „ingen" und „ungen" nichts miteinander zu tun; das u. E. ist unrichtig.
  3. Schlüter, Die Siedlungen im nordöstlichen Thüringen, Berlin 1903, 173 f.
  4. Englide. Dobenecker, I. 294. 1337. Velteggelethe, Holze gglide, Dob. I. 831. 949. Oder sollten die Engeldörfer doch gar nichts mit dem Stamme der Angeln zu tun haben? Sollten sie von den ithi-Leuten angelegt worden sein?