An der Mauer eines Friedhofes
An der Mauer eines Friedhofes
Es gibt Erinnerungen im menschlichen Erleben, die sich auf anscheinend nebensächliche Beobachtungen stützen. Gewisse Gräser rufen Bilder von Wegstrecken wach, die ich als Knabe beging. Es sind dies, wie ich im botanischen Garten feststellte, Schwingel, Schwaden und Trespen. (Als Junge kannte ich diese Namen nicht. Der Weg, an den ich denke, wenn ich diese Gräser sehe, war der „ins Feld“ oder, wenn ich heimging, der „aus dem Felde“. Wir sprachen, wenn wir den Stadtrand überschritten. Da war „das Feld“. Soldaten verstehen unter dem „Felde“ etwas anderes, der Landwirt meint mit „dem Felde“ seinen Acker. Diese Bilder aus der Jugend erinnern mich an heiße Tage, an denen ich einen prächtigen Durst mit heimbrachte. Ich freute mich dann schon auf das genußreiche Schlürfen des heißen, ständig gesüßten Malzkaffees, den meine Mutter in der Grude stets bereithielt. Übrigens: Eine Grude kennen wohl nur noch die Alten heute. Es war ein Teil des Herdes mit Aschenglut, von einem Rost bedeckt. Der diente zum Warmhalten von Speisen und Getränken. Grudekoks glimmte im Aschenbett. Es gab da einen Schlager: „Mutter, der Mann mit dem Koks ist da!“ „Nun sei doch man stille, ich weiß es ja!“. Heute versteht man unter Koks etwas anderes als früher. Die Grude war eine billige Feuerstätte, die zwar immer einen gewissen Geruch verspüren ließ, nach Asche, Glut und halbverbrannter Kohle, aber Tag und Nacht Wärme für bereit zu haltende Speisen spendete. Abends dämmte man den Verbrennungsgang ein, indem man Asche über die Glutstelle häufelte. Aber nun genug von der Grude, zurück zu den Gräsern! In der „Verlängerten Schützenstraße“ in Nordhausen, zum Ammerberge hin, standen solche Gräser. Sie sehen aus wie verkümmertes Getreide, überreif. Dort an diesem Wege stand (steht sie noch) eine alte, fast mannshohe Mauer aus roten Sandsteinen. Hinter der Mauer standen fremdartige Bäume, die wir für Akazien hielten. Später stellte ich dann fest, daß es Robinien waren, krummästige Bäume mit rispenartigen Blättern. Als Knabe konnte man nicht über die Mauer gucken, die war zu hoch, aber es ragten seltsame Grabsteine über die Mauerkanten. An der Westseite schloß sich an die Mauer ein Tor an, das eine Allee freigab, den Weg zur Friedhofshalle. Im Osten der Anlage stand hinter einer hohen Hecke ein Häuschen, aus dem es ständig qualmte, das Haus des Friedhofswärters. Petri hiessen die Leute, wenn ich mich recht entsinne. Man bekam sie kaum zu Gesicht. Der Winkel der Mauer kam mir als Knaben wie eine Kastellecke vor. Große Sandsteine, rötlich wie ein Wüstenfels, mit behauenen Seiten waren aufeinander gefügt, eine recht ordentliche Mauer, an die sich an den Enden nördlich und östlich eine große Weißdornhecke anschloß. Die Mauer stand auf einer Böschung, man mußte Anlauf nehmen, wenn man sie bezwingen und sich auf ihre Oberkante hinauf stemmen wollte. Ich schaffte es mehrere Male, und da sah ich den Friedhof. Ich habe in den Jahren 1910 bis 1914 auch noch Beerdigungen beobachten können. Aber das blieb im Dämmern des Bewußtseins, denn es war nur ein Teil des Weges, der „ins Feld“ führte, zum Roßmannsbach, am Pulverhäuschen vorbei, zur Bielschen Linde. Es waren Gänge in die Stille der Feldfluren mit Grillenzirpen, Lerchensingen, wogenden Kornfeldern oder im Herbst zu Stoppelfeldern, über denen unsere Drachen schwebten, oder winters zu Schneeflächen, über die ich später mit den Skiern glitt. Es waren Gänge in die Stille, der merkwürdige Friedhof mit der hohen Mauer war nur eine dunkle Episode, eine Fremdartigkeit. Sommers in den heißen Hundstagen kam ich dann an den Gräsern vorbei mit dem schönen Durst. Wenn ich jetzt auf Spaziergängen solche Schwengel- und Schwadengräser sehe, denke ich an die Knabenzeit, an die verlängerte Schützenstraße, die parallel der Hohekreuzstraße verlief. Zwischen diesen beiden Straßen liegt der große Turn- und Spielplatz des Realgymnasiums und des Gymnasiums. Nun sind diese Schulen zerstört, ein Teil der Gebäude steht noch. 1920 habe ich als junger Mann die geheimnisvolle Ecke mit der Mauer des Judenfriedhofes gemalt, mit spitzem Pinsel, wie es heißt. Jeder Fuge ging ich nach. Ein glücklicher Umstand hat das Aquarell in die Gegenwart hinüber gerettet. Es birgt viel Unsagbares: Jugenderinnerungen, Menschenschicksale, ist eine Insel hinter den Meeren schrecklicher Ereignisse. Ich sehe immer noch den Rauch aus dem Schornstein des kleinen Wohnhauses steigen, sehe Gräser nicken, sehe die Robinien mit den Krähenschwärmen, die in den Wipfeln krakeelten. Später baute man in der Nähe das Hermann-Arnold-Heim für alte Leute. Es wurde etwas lebendiger, aber nicht sehr, und ich saß noch recht oft unter der großen Esche, die da auch stand, mehr nach dem Ammerberge hin, der Weg führt zum Weinberge. Im Winter kamen die kleinen Buben und Mädchen mit roten Wangen und laufenden Näs’chen, um auf ihren Käsehitschen den Hang hinunter zu rutschen. Der ganze Rand des Weges von den südlichen Zäunen der Gärten an der verlängerten Schützenstraße war eine mit unzähligen Spuren durchfurchte Rodelbahn, ungefährlich, weil da kein Verkehr war. Alles, alles taucht auf, wenn ich das Bild vom Judenfriedhof betrachte. Sechzig, siebzig Jahre ist das bald her. Wie’s wohl heute dort aussieht? Was mag aus den Leuten geworden sein, die dort Gräber hatten, was aus den Rodel-Kindern? Wenn die alle das Bild mal sehen könnten! Was würden sie dazu sagen? Walther Reinboth senior
|