Saarländer in Nordhausen
Im Herbst 1939 wurden tausende Saarländer und Moselländer (aus Oberbillig) im Zuge einer großangelegten Evakuierung des westlichen Grenzgebiets nach Nordhausen und Umgebung umgesiedelt. Mit dem Ende des „Sitzkrieges (Drole de Guerre)“ und der schnellen Eroberung Frankreichs kehrten sie 1940 in die Heimat zurück.
Geschichte
Am 28. Mai 1938 gab Adolf Hitler den Befehl zur Errichtung der Westbefestigung, des sogenannten Westwalls. Im Saarland wurden in der Folge über 4.000 Bunker, Minenfelder, Panzergräben und Höckerlinien errichtet. Allein dort verbaute man für den Westwall etwa 2,3 Millionen Kubikmeter Beton. Im Mai 1939 inspizierte Hitler den Westwall und informierte sich über Pläne zur Evakuierung der Zivilbevölkerung im Kriegsfall. Vorgesehen war eine Gliederung des Grenzgebiets in zwei Zonen:
- Rote Zone: Ein 10 km breiter Streifen entlang der Grenze
- Grüne Zone: Ein weiterer 20 km breiter Streifen landeinwärts
Im Kriegsfall sollte zunächst die Bevölkerung aus der Roten Zone evakuiert werden. Bei einem Einmarsch französischer Truppen war auch die Umsiedlung der Bewohner der Grünen Zone geplant.
Evakuierung
Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 und den Kriegserklärungen Frankreichs und Großbritanniens an das Deutsche Reich erfolgte der Evakuierungsbefehl für die Rote Zone. Etwa 300.000 Personen mussten ihre Heimat im Saarland und an der Mosel verlassen.
Am 1. September 1939 wurde das Amt für „Rückgeführte“ als Kriegsamt eingerichtet. Bald darauf trafen die ersten evakuierten Saarländer in Nordhausen und Bad Sachsa ein. In den folgenden Tagen erreichten weitere Transporte die Stadt und umliegende Orte.
Aufnahme und Unterbringung
Die Stadtverwaltung Nordhausen bemühte sich, den Evakuierten Unterkünfte zur Verfügung zu stellen. Quartiere fanden sich in Privathäusern, im Nordhäuser Siechhof, im Rotes-Kreuz-Heim, im Reservelazarett und im Krankenhaus. In Bad Sachsa konnten Evakuierte im Bremer Kinder-Erholungsheim untergebracht werden.
Die Zahl der in Nordhausen lebenden Saarländer schwankte durch An- und Abmeldungen sowie Arbeitsvermittlungen. Im September 1939 wurden 4.658 Personen betreut, die Zahl sank im Oktober auf 2.178, stieg im November wieder auf 3.554 und pendelte sich in den Folgemonaten zwischen 2.500 und 3.400 Personen ein.
Versorgung und Unterstützung
Die Versorgung der Evakuierten wurde von den lokalen Behörden organisiert. Für einen am 5. September 1939 in Heringen eintreffenden Sonderzug mit Saarländern wurden vier Schweine geschlachtet, 100 Brote gebacken und 300 Liter Milch bereitgestellt. Die Angekommenen wurden später auf umliegende Dörfer wie Steinbrücken, Hamma, Bielen, Windehausen, Auleben, Hain und Görsbach verteilt.
In Nordhausen erfolgte die Ausgabe der Anträge auf Unterhalt durch das Wohlfahrtsamt in den Gaststätten Drei Linden und Erholung. Die Berechnung geschah nach der „Verordnung zur Ergänzung und Durchführung des Familienunterstützungsgesetzes“ vom 11. Juli 1939. Ein Bericht des Amtes für Räumungsverpflichtete in Nordhausen vom 25. Oktober 1939 betonte die Bemühungen der Stadtverwaltung, den Evakuierten ihr schweres Los zu erleichtern.
Alltag
In der Geschichte der Stadt Heringen wird erwähnt, dass diejenigen Saarländer, die sich schnell einbrachten und mitarbeiteten, es leichter in ihrer neuen Umgebung hatten. Allerdings kam es auch vor, dass die Neuankömmlinge als Belastung wahrgenommen wurden, was zu Spannungen führte.
Um die schwierige Lage der Saarländer zu verbessern, fanden im November und Dezember 1939 sogenannte „Dorfabende“ statt, bei denen heimatliches Brauchtum gezeigt wurde. Der Leiter der Volkstumsgruppe, Lehrer Mackerodt, berichtete von gemeinsamen Liedern, Volkstänzen und Darbietungen, die bei Saarländern und Gastgebern gleichermaßen Anklang fanden und zur Annäherung beitrugen. Viele Evakuierte mussten sich kurz nach ihrer Ankunft beim Arbeitsamt melden und erhielten Arbeitszuweisungen. Einige fanden Beschäftigung im Baugewerbe, andere in lokalen Fabriken oder in der Rüstungsindustrie. Männer und ledige Frauen zwischen 16 und 50 Jahren wurden häufig in der Munitionsfabrik eingesetzt - die Männer unter Tage in Obergebra, die Frauen über Tage in Wolkramshausen.
Die Unterbringung erfolgte oft in beengten Verhältnissen. Familien mussten sich häufig kleine Zimmer teilen, in denen kaum Platz für die notwendigsten Möbel war. Trotz der schwierigen Umstände entwickelten sich in vielen Fällen freundschaftliche Beziehungen zwischen Evakuierten und Einheimischen. Es gibt Berichte von Gastfamilien, die den Evakuierten großzügig ihre Wohnungen zur Mitbenutzung überließen und ihnen bei alltäglichen Aufgaben wie der Wäsche halfen.
Herausforderungen und Probleme
Der harte Winter 1939/40 stellte die Evakuierten vor besondere Herausforderungen. Kohlen und Lebensmittel waren rationiert. Die Menschen mussten oft lange in der Kälte anstehen, um Bezugsscheine zu erhalten. Die zugeteilten Mengen an Kohle und Lebensmitteln waren knapp bemessen und mussten mühsam nach Hause transportiert werden. Für die in der Rüstungsindustrie beschäftigten Evakuierten waren die Arbeitswege oft beschwerlich. Besonders Frauen mussten lange Wege zur Arbeit und zurück auf sich nehmen, oft in der Dunkelheit und bei widrigen Wetterbedingungen.
Freizeit und soziales Leben
Trotz der schwierigen Umstände versuchten die Evakuierten, ein möglichst normales Leben zu führen. Jugendliche erkundeten ihre neue Umgebung und nutzten die Freizeitmöglichkeiten, die Nordhausen bot. Im Winter waren die Ski- und Rodelbahnen in der Stolberger Straße beliebt, im Sommer genossen viele die Parkanlagen oder kauften Eis und Obst bei lokalen Händlern. Für die mehrheitlich katholischen Saarländer spielte der sonntägliche Gottesdienst im Nordhäuser Dom eine wichtige Rolle. Er bot nicht nur geistlichen Beistand, sondern auch die Möglichkeit, sich mit anderen Evakuierten zu treffen und auszutauschen. Nach der Messe trafen sich viele im "Gasthaus zur Laube" am Neumarkt, das zu einem beliebten Treffpunkt wurde. Für die jüngeren Evakuierten wurde der Schulbesuch organisiert. Es gibt Berichte von saarländischen Schülern, die in Nordhäuser Schulklassen integriert wurden. Für die Kinder und Jugendlichen der Hitlerjugend wurden teilweise getrennte Veranstaltungen organisiert.
Rückkehr und Nachwirkungen
Ende August bis Anfang September 1940 konnten die meisten Evakuierten in ihre Heimat zurückkehren. Die Organisation der Rückreise verlief ebenso strukturiert wie die Evakuierung selbst. Viele Saarländer blickten trotz der schwierigen Umstände dankbar auf ihre Zeit in Nordhausen zurück. Es entstanden Freundschaften, die in einigen Fällen jahrzehntelang hielten. Einige der Evakuierten entschieden sich, in Nordhausen zu bleiben, da sie sich in der Stadt wohl fühlten oder berufliche Perspektiven sahen. Für andere blieb Nordhausen auch nach ihrer Rückkehr ins Saarland ein wichtiger Bezugspunkt. Es gibt Berichte von ehemaligen Evakuierten, die in den folgenden Jahren immer wieder Nordhausen besuchten, um Kontakte zu pflegen oder aus Dankbarkeit für die erfahrene Gastfreundschaft. Die Episode der saarländischen Evakuierten in Nordhausen geriet nach dem Krieg weitgehend in Vergessenheit. In der DDR-Zeit fand dieses Kapitel der Stadtgeschichte in der lokalen Heimatliteratur kaum Beachtung. Erst in jüngerer Zeit wird diese besondere Phase der Stadtgeschichte wieder stärker erforscht und aufgearbeitet.
Literatur
- Hans-Jürgen Grönke, Albert Schönwetter: Saarländer in Nordhausen – ein fast vergessenes Kapitel der Regionalgeschichte. In: Nordhäuser Nachrichten. Südharzer Heimatblätter (3/2013), (4/2013), (1/2014).