Nordhausen vor 200 Jahren. Ein ziemlich barockes Kapitel: Unterschied zwischen den Versionen
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Perschen, Eilritzen, Grund-Schmerlinge u.a.“. Doch nicht immer gingen die guten | Perschen, Eilritzen, Grund-Schmerlinge u. a.“. Doch nicht immer gingen die guten | ||
Nordhäuser mit erlaubtem Gerät dem Fischfänge nach. Dort hinten z. B. steht | Nordhäuser mit erlaubtem Gerät dem Fischfänge nach. Dort hinten z. B. steht | ||
einer mitten im flachen Wasser und baut mit Steinen und Erde einen Damm, um | einer mitten im flachen Wasser und baut mit Steinen und Erde einen Damm, um |
Version vom 4. März 2021, 22:05 Uhr
Kapitel 14.
Nordhausen vor 200 Jahren.
Ein ziemlich barockes Kapitel.
Im vorhergehenden Kapitel war genugsam die Rede von Spannungen und Entladungen aller Art. Krankheiten und Brände, äußere Widersacher und innere Ärgernisse spielten der Bevölkerung Nordhausens um das Jahr 1700 übel mit. Fast schien es manchmal, als ob sie in ihrer Gesamtheit wie der Held in einem unerbittlichen Schicksalsdrama dem Untergange geweiht sei. Doch daß einige Jahrzehnte und wenige wuchtige Schläge genügen, um ganze Volkskörper vernichten zu können, kommt in der Geschichte selten vor. Einzelne Menschen, einzelne Geschlechter verschwinden oft schnell, aber eine aus den verschiedensten Ständen und Gruppen zusammengesetzte Volksgemeinschaft bildet sich wohl um, ändert ihren Charakter, aber geht selten ganz unter. Auch zeigt sich immer wieder, daß jeder einzelne aufs härteste von diesem und jenem Ereignis betroffen werden kann, aber Aussehen und Haltung der Gesamtheit bleiben noch lange davon unberührt, und erst allmählich treten die Wirkungen auch bei ihr zu Tage. Diese eigenartige Gesetzlichkeit menschlicher Entwicklung und menschlichen Erlebens zwingt u. E. den Historiker, der das ganze runde Bild eines Zeitabschnittes geben will, zwiefach zu verfahren, nämlich einmal mit großen Strichen und starken Kontrasten nach Art des Dramatikers das Wesentliche herauszuarbeiten, dann aber auch mit sachter Pinselführung und geruhsamer Schilderung nach Art des Novellisten die Kleinformen des Lebens festzuhalten. Das letztere soll nunmehr geschehen, und wir denken, nicht bloß, weil unser Gegenstand diese Art der Behandlung erfordert, sondern auch weil das Auge, nachdem es über einer unruhigen Landschaft mit schweren Stürmen geweilt hat, nicht ungern auf einem aus tausend Fäden lustig gewebten Gobelin ausruht, wird dieses Kapitel vonnöten sein. So wollen wir denn von den großen Geschehnissen und den Haupt- und Staatsaktionen absehen und das kleine Leben der Gesamtbevölkerung Nordhausens in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Augenschein nehmen. Von Bielen oder Sundhausen her betreten wir im Südosten der Stadtflur Nordhäuser Grund und Boden. Dort unten liegt der „Bielsche Rasen“, ein seit Jahrhunderten durchaus nützlicher Anger für die Nordhäuser, diente er ihrem Vieh doch als trefflichste Weide, da die harten Zorgeschotter für den Fruchtanbau nun einmal nicht allzu geeignet sind. Auf dieser Weidefläche erhob sich aber seit 1689 ein merkwürdiges Gebäude, aus dem seltsam schwere Schläge erdröhnten: Das war der Schreibersche „Hammer“. 1688 hatte der Ratsherr Joh. Christoph Schreiber den Rat um die Genehmigung gebeten, dort unten vor dem Bielentore einen Hammer und eine Ölmühle anzulegen, und Bürgermeister Frommann hatte gegen den Widerstand mancher Ratsherrn und vieler Bürger diese Bitte erfolgreich vertreten, eine seiner Amtshandlungen, die von Weitblick zeugte im Gegensatz zu dem Verhalten der Bürger, die nur darauf bedacht waren, daß jeder Morgen unfruchtbarer Weide ihren Schafen erhalten bliebe, und die deshalb noch in späteren Jahrzehnten Frommann wegen der Hergabe des Landes Vorwürfe machten. Auch die verschiedenen Arten der Schmiede, die Grob-, die Huf- und die Nagelschmiede hatten als Sachverständige gar manche Bedenken. Denn Sachverständige sind häufig Verständige in eigener Sache, und die verträgt sich nicht immer mit den Vorteilen der Allgemeinheit. Das tückische Ungetüm auf dem Bielenrasen, eine ähnliche englische Modesache wie die neu eingeführten „englischen Mannsstrümpfe“, schlug ja in einem Tage so viel Eisen zurecht, wie sonst nicht 10 Meister mit ihren Gesellen. Das war eine durchaus verwerfliche Erfindung, welcher der Kampf galt bis aufs äußerste. 1726 wurde der Hammer samt dazugehörigem Garten, einem Teiche und einer Schenke an die Lerchesche Familie für 5000 Taler verkauft, die die gesamten Anlagen schon 1731 mit erklecklichem Gewinn für 8000 Taler an einen gewissen Siegfried Meyer weiterverhandelte. Also neben Hammer und Ölmühle lag auch ein Obstgarten, und Tische und Bänke waren aufgestellt zur Rast und Bewirtung lustwandelnder Nordhäuser. Da gab es einen prächtigen sauren Nordhäuser Wein, aus den letzten Fässern, die noch gekeltert wurden. Denn der Weinbau war seit der Mitte des 16. Jahrhunderts immer mehr zurückgegangen, da die Gegenden um den Harz herum ärmer geworden waren und die Harzer lieber die billigeren Biere als den teuren und noch dazu ziemlich unschmackhaften Wein tranken. Zudem war der Güteraustausch leichter als früher, und gute Weine aus Westdeutschland, ja aus Frankreich und Spanien waren wohl zu bekommen. Das Aufkommen des Branntweingenusses hatte ein übriges getan zur Verdrängung des Weines. So war denn zu Beginn des 18. Jahrhunderts nur noch der Südhang vor dem Bielentore, der noch heute Weinberg genannt wird, mit Reben bestanden. Aber hier unten, der Ölmüller ließ es sich nicht nehmen: er verschenkte noch den guten alten Nordhäuser Landwein, und die Trinker machten nicht einmal saure Gesichter dabei. Sonst gab es natürlich auch einheimisches Bier und Broihan. Doch beileibe nur einheimisches; denn kein Nordhäuser sollte sein Geld für fremde Ware weggeben, sondern nur den Nordhäuser Brauer bedenken. Deshalb mußten auch alle Schankwirte bei Übernahme ihrer Gastwirtschaft schwören, „daß sie niemals fremdes Getränke einlegen noch selbst oder durch andere dergleichen verkaufen würden“. Wenn sich dann der Nordhäuser Bürger hier beim „Hammer“ gelabt hatte, spazierte er wohl noch ein weniges durchs Feld auf der alten Heerstraße nach Bielen zu, aber nicht gar zu weit; denn er liebte die Bielschen Bauern nicht sehr, da sie fortwährend um die Fluren am Roßmannsbach stritten und alle Augenblikke die Grenzsteine gegen die Nordhäuser Mark vorgerückt haben wollten. Wieviel Gezänk da wegen Grenzüberschreitung entstanden ist, wie oft die Grenze beritten und begangen werden mußte, und wieviel Land dennoch ewig strittig blieb, ist fast nicht zu sagen. Es war nur gut, daß der Herr Bürgermeister Chilian Volkmar Riemann, der so viel Gutes für den Nordhäuser Staat bewirkte, gleich zu Beginn seiner Regierung, schon im Jahre 1727, auch daran dachte, eine genaue Vermessung der ganzen Flur vornehmen zu lassen. Damals rechnete man für die Stadtflur 190 Hufen 2 ½ Acker = 5702 ½ Morgen. Zwar einige Jahre gingen noch darüber hin, ehe die Vermessung in Gang kam, aber 1732 und 1733 wurde vom Landmesser Johann Jakob Müller wenigstens das Töpferfeld genau vermessen. Dabei blieb es dann allerdings; die Ausmessungen wurden wohl doch zu langwierig und kostspielig, und so konnte auch um 1750 der Nordhäuser Bürger einem Wißbegierigen keine bessere Auskunft über die Größe der ganzen Feldmark geben als schon sein Ahnherr vor 100 und mehr Jahren. Es waren nicht ganz 6000 Morgen Land - so ungefähr, ganz genau wußte man es nicht, und wir wissen es deshalb heute auch nicht besser. Kehrte man dann aber voll Ärger über die streitsüchtigen Bauern von Bielen in die Stadt zurück, so erwartete einen nördlich des Bielentores, wo heute noch die Anhöhe der Galgenberg heißt, ein recht schreckhaftes Gerüst. Da standen nämlich im 18. Jahrhundert Galgen und Rad. Der historische Richtplatz für Nordhausen war ja eigentlich der Sand beim Siechentore. Doch hier wohnten im 18. Jahrhundert schon zu viele Leute, die nicht ständig die Mordgeräte vor Augen haben mochten; und dann fürchtete man auch Streitigkeiten mit den Brandenburgern, seitdem diese die dort benachbarte Grafschaft Honstein-Klettenberg innehatten und womöglich die Richtstätte als ihren Grund und Boden ansprachen. Deshalb war man also nach der anderen Stadtseite hin gegangen, und hier machte sich, etwas erhöht gelegen und deshalb weithin sichtbar, der Galgen eigentlich auch recht gut. Erst jüngst hatte man zwei arge Sünder, die mehrere neugeborene Kinder ums Leben gebracht hatten, den Martin Gründler und die Einbrodtin, nach langer Inhaftierung und Folterung mit dem Schwerte vom Leben zum Tode befördert, der Einbrodtin Haupt aber zum warnenden Exempel auf das Spill des Rades genagelt. Also geschehen im August des Jahres 1738! - Um dieselbe Zeit saß Kronprinz Friedrich von Preußen zu Rheinsberg. Sehr aufgeklärte und menschenfreundliche Gedanken gingen ihm durch den Sinn, und wenn er jenes Haupt dort vor dem Bielentore zu Nordhausen gesehen, hätte er sich gewiß schauernd und entrüstet abgewandt: fi donc\ Doch augenblicklich war er eben nur Kronprinz und sollte gar keine Veranlassung nehmen, sich über die Rückständigkeit des Nordhäuser Gerichtswesens zu mokieren, da ja sein eigener Herr Vater noch großen Wert auf den prächtigen Galgen vor dem Berliner Schlosse im heutigen Lustgarten legte, denselben Galgen, der, wie der vielgewandte Baron Pöllnitz erzählt, weiland des Zaren Peter ausnehmendes Wohlgefallen gefunden hatte. - Aber dennoch: Vorbei, schnell vorbei am lichten Galgen! Hier war es zur Nachtzeit nicht recht geheuer, und auch am Tage sah man zu, daß man schnell vorüberkam. Denn daß dort unter dem Galgen Teufel und Hexen ihr Wesen trieben, war selbst dem aufgeklärten 18. Jahrhundert noch gewiß. Selbst so erleuchtete Geister wie der Nordhäuser Medikus Henning Behrens und der Pastor Lesser stellten den Teufelsspuk nicht in Abrede. Behrens, als großer Freund der Natur, war von Braunlage aus auch auf dem Brocken gewesen, hatte daselbst sogar eine Nacht voll Zähneklappens verbracht und berichtet darüber: „Ob ich nun schon also vorbesagtermaßen nichts von denen Gespenstern auf diesem Berge verspürt habe, so will (ich) doch damit nicht leugnen, daß nicht auch zu Zeiten der Teufel allhier wie in anderen Orten sein Wesen haben sollte.“[1] Auch daß Fingerteile von Gehenkten von mancherlei unschätzbarem Vorteil als Talisman für den glücklichen Besitzer sein könnten oder daß Gespenster an vielen Orten, insonderheit beim Galgen oder auf Kirchhöfen ihr Wesen trieben, stand fest. Hatte doch erst 1724 noch der Rat dem Fischhändler Otto Stange die Erlaubnis gegeben, in seinem Garten nach einem Schatz zu graben, weil er sonst vor Gespenstern, die um den Hort nächtlicherweile spukten, keine Ruhe habe.[2] - Also vorbei, schnell vorbei am lichten Galgen. So wandern wir denn durch das äußere Bielentor und sind wieder hinter Pforte und Pfahl der geliebten Heimatstadt, wohl verwahrt. Lange Jahre, Jahrhunderte fast, hatte es freilich schlimm genug um das Nordhäuser Befestigungswesen ausgesehen, aber auch hier war Bürgermeister Riemann besserer Einsicht zugänglich gewesen. Nicht nur daß die Haupttore der Stadt nach den großen Bränden von 1710 und 1712, etwa bloß des besseren Aussehens halber, neue Bekrönungen und Aufbauten erhalten hatten, nein, auch ernsthafte Befestigungsanlagen waren neu geschaffen worden. So war die Stadtmauer vom Töpfertor bis zur Stiege am Geiersberg 1734 ganz neu hergestellt worden, und sogar die Gräben und Wälle des Frauenberges waren in den Jahren 1739 und 1740 mit spitzen Pfählen neu besetzt. Eine Hauptwache wurde 1744 auf dem Holzmarkt, dem heutigen Lutherplatze, neu erbaut, und die Stadtsoldaten mußten tüchtig exerzieren. Ja, ja der Bürgermeister hatte etwas gelernt von den absoluten Herren der Zeit, in mercaturis sowohl wie in politicis; in mercaturis war er ein strenger Anhänger des Merkantilsystems und hielt darauf, daß möglichst viel aus dem Lande heraus und möglichst wenig ins Land hinein kam, in politicis war er fast wie ein kriegerischer Potentat, der, was er besaß, hütete, wie er nur konnte, und was er nicht besaß, gern hinzuerworben hätte, ein Imperialist im kleinen durch und durch. Wenn wir uns aber des Montags dem Frauenberge nähern, dann hören wir munteres Gewehrfeuer im Schützengraben ertönen. Hier hielt im 18. Jahrhundert die 1694 neu erstandene Schützenkompagnie ihre Übungen ab, und der Rat, auf die Wehrhaftigkeit der Bürgerschaft bedacht, leistete den Schützen allen nur möglichen Beistand, feierte auch das Ausschießen des Schützenkönigs mit und setzte als Preis alljährlich einen silbernen Becher und zuweilen auch wohl einen Hammel aus den Beständen von St. Martini aus. Selbst die weiten Fahrten der Schützen nach Mühlhausen und Erfurt, Gotha und Frankenhausen begünstigten die Stadtväter, um die Freude am Waffenhandwerk zu heben. Neben dem Schützengraben her lief die Seilerbahn, und Tag für Tag konnte man hier, etwa in der Zeile der heutigen Schützenstraße, das langsame Auf- und Abschreiten der Seildreher beobachten. Doch bald wenden wir uns, den z. T. mit Kirschbäumen bepflanzten Taschenberg in unserem Rücken lassend, weiter nach Westen und treffen am Petersberge auf die innere Stadtmauer. Dieser folgen wir unter dem Petersberge durch nach dem Töpfertore zu. Dieses war selbst im 18. Jahrhundert noch ein gar trutziger Bau. Verkündet doch unser Gewährsmann, der brave Chronist Bohne, von ihm, daß selbst ein „erfahrener General-Lieutnant en passant ... darüber geurteilet, wenn die Stadt dergleichen Rondel (wie vor dem Töpfertore) in quanto et quali noch mehr hätte, ... so könnte die Stadt sich noch wohl eine Zeit lang wieder aufkommende Stürme schützen und aufhalten.“ Um diese wegen der Ebenheit verwundbarste Stelle der Stadt auch fernerhin zu sichern, hatte der Rat auch Sorge getragen, das abgebrannte innere Töpfertor im Jahre 1719 und den Aufbau auf das äußere Tor 1722 wiederherstellen zu lassen. Damit aber alle diese kriegerischen Anlagen einen nicht gar zu furchterregenden Eindruck machten, waren schöne Lindenbäume vor den Toren angepflanzt bis gegen den Töpferteich, den heutigen Neumarkt, hin, und in dem tiefen Graben zwischen Töpfertor und Geiersberg, dort, wo heute die Promenade entlangzieht, wuchsen friedlich Äpfel und Pflaumen, die dem Rate reiche Pacht und den Pächtern reichen Verdruß brachten; denn den munteren Jungen aus der Töpfer- und Töpferhagenstraße (heute Schreiberstraße) war keine Mauer zu hoch, kein Pförtlein zu eng, kein Stadtsoldat zu wachsam, um nicht an die lockenden Früchte heranzukommen. Nun aber sind wir im Norden der Stadt am Fuße des Geiersberges angelangt. Hier hatte sich 1733 ein Herr Wachtier angesiedelt, der hier einen Berggarten, wenn nicht schon vorfand, so doch anlegte, auf dessen Gelände später die Gastwirtschaft „Zur Hoffnung“ entstehen sollte. Derlei Wirtshäuser vor den Toren der Stadt wurden übrigens damals beliebt. Hatte doch selbst eine so schöngeistige Dame wie Sophie Charlotte, Friedrichs I. von Preußen Gemahlin, ihr Gefallen daran, Gärten zu fördern, in denen der nach und nach Mode werdende Kaffee und hie und da sogar kostbare Schokolade verabreicht wurde. So entstanden denn damals auch rings um Nordhausen herum Wirtshäuser mit Gärten und Kegelbahnen. Abgesehen von dem Schreiberschen Hammer erbaute 1735 ein Unternehmungslustiger namens Benjamin Lauer den Lorbeerbaum am Altentore, der 1735 in den Besitz des Rates überging, und schon 1728 waren die „Drei Linden“ in der heutigen Grimmeiallee entstanden, konnten sich allerdings im Privatbesitz auch nicht halten, so daß sie 1736 der Rat sub hasta übernehmen mußte. Die Stadt setzte seitdem in beide Schankstätten Pächter. Doch da oben beim Wachtlerschen Garten am Geiersberge, - das war doch die lustvollste Gegend für den Nordhäuser Bürger. Deshalb wollen auch wir auf den Geiersberg einen Spaziergang wagen. Sein Westabfall nach dem Mühlgraben hinab muß noch im 17. Jahrhundert nur von einigem Gestrüpp bestanden, sonst aber kahl gewesen sein. Heidekraut, ein paar Domsträucher und wilde Rosen, das war alles, was den dürren Schotterboden bedeckte. Droben stand einsam als weithin sichtbare Herrscherin die Merwigslinde, und nur fernab von ihr, in der Nähe der Geiersbergstiege und des Schöppmännchens, stand noch eine kleinere Linde, so, als ob sie sich nicht in die Nähe der stattlicheren Gebieterin wage. Dieser kahle Geiersberg aber mit seinen zwei Lindenbäumen war seit undenklichen Zeiten so recht eigentlich der Tummelplatz von jung und alt. Im Sommer lagerte Sonntag für Sonntag ein fröhliches Menschengewimmel auf Rücken und Abhang des Berges. Die älteren Leute und die Mütter mit ihren kleinsten Kindern, die den weiteren Aufstieg fürchteten, ruhten schon an der kleinen Linde bei der Geiersberstiege aus; aber von da bis auf die Höhe am Lindenhofe bei der Merwigslinde herrschte das munterste Ergehen. Prächtig hat der Studiosus Theologiae Thiemroth im Jahre 1688 in seiner „Nordhäuser Kirschbergsfreude“ das sonntägliche Leben und Treiben am Geiersberge in wohlgesetzten Alexandrinern geschildert:[3] Es sind die Weibergen mit Kindergen beflissen, Nun, wir wollen hoffen, daß das „Ächzen und Lechzen“ beim Hinaufsteigen nur vorgegeben ist, um den mitgenommenen „frischen Trunk“ zu rechtfertigen. Dafür ist es ohne Zweifel dienlich; denn wenn wirklich dem Herrn Studiosus Thiemroth bei den paar Schritten bergan der Atem knapp geworden wäre, so glauben wir, daß er nicht nur in unsere wander- und sportlustige Zeit, sondern auch in seine Tage, wo Rektor Dunckelberg begann, das „Voltigieren“ und den Eislauf zu pflegen, schlecht hineingepaßt hätte. Eine stets gern besuchte Erholungsstätte blieb der Geiersberg auch, als der Rat daran ging, die westliche Flanke des Berges mit Bäumen zu bepflanzen. 1738 verordnete er, daß jeder neue Bürger bei seiner Aufnahme 6 Groschen erlegen sollte, damit von dem einkommenden Gelde Bäume angepflanzt werden könnten. 1740 erzählt Pastor Lesser schon von einem „lustigen Gehölz“ am Geiersberg, und 1745 wissen die Annalen - wohl mit einer Null zuviel - zu berichten, daß die Stadt einen Wald von 15000 Bäumen dort habe aufforsten lassen, so daß 1753 Waisenvater Lauterbach, sich dreist mit Thiemroths fast vergessenen Federn schmückend, in seinem „Lob-und Ehrgedicht vom Kirschberge“ den wohlweisen Stadtvätem ein glattes und hoffentlich für ihn einträgliches Kompliment machen kann.[4] Oben auf der Höhe des Berges und dann weiter gegen Hohenrode zu lagen Obst- und Gemüsegärten. Die Nonnen vom Altendorf hatten hier auch einst Wein angebaut. Das war aber längst vorbei, und jetzt bestand neben der Merwigslinde ein Garten, der schon damals den noch heute nicht vergessenen Namen „Lindenh o f“ führte. 6 Morgen groß war er, davon etwa 1 Morgen Garten- und 5 Morgen Ackerland. Der Inhaber jedoch hatte, wie die meisten Besitzer von weiter in der Feldflur liegenden Gärten, seinen Ärger mit den Nordhäuser Jägern, die bei auf gehender Hühnerjagd weder Kohl noch Kraut schonten, so daß endlich 1788 der Magistrat dekretieren mußte, daß bis zum 16. Oktober überhaupt kein Garten betreten werden dürfe und daß man von da ab sittsam durch die Türen hineingehen und auf den Wegen bleiben müsse. So stehen wir denn oben an der Merwigslinde, und die ganze Gegend scheint uns so lustvoll mit ihren sanften Höhen und Tälern und dem dunklen Harz im Hintergrund, daß wir noch einen weiteren Spaziergang wagen möchten. Die einen unserer Freunde möchten wohl sogleich durch das Mauerpförtchen an der Altendorfer Kirche hinunterschlüpfen, in die Kirche, die nach völliger Verwahrlosung 1697 endlich von Grund aus erneuert und neu eingeweiht worden war, einen Blick tun und dann unten am Altentore beim Wirt vom Lorbeerbaum versuchen, ob er Bier und Broihan gut zu halten versteht. Aber wir entschließen uns doch nach dem Abstiege an den Mühlgraben noch ein Stück gen Crimderode zu wandern, um zu schauen, was hier die Landschaft bietet. Hohenrode und das vom Wildeschen Geschlecht schon 1598 erworbene Hölzchen, bei dem auch Frommann Besitz angekauft hatte, bleiben zu unserer Rechten, ebenso der flache Nonnenteich, während wir selbst uns durch dichtes Weiden- und Erlenholz schlagen, das den Raum zwischen Mühlgraben und Zorge erfüllt. Doch führte schon damals eine wohlbefestigte Landstraße nach Ellrich durch die urwüchsige Gegend, und M agistrats hatte nicht versäumt, wenigstens einige Pfade, die bisher nur von den Liebhabern des Fischfangs ausgetreten waren, leidlich in Stand zu setzen, damit auch der eine und andere Bürger um der Erholung willen hier einen „ergetzlichen Spaziergang“, wie Meister Bohne sagt, tun könne. Gar zu weit wollen wir unseren Ausflug aber nicht dehnen; denn bald sind wir an der Grenze angelangt, wo reichsstädtisches Gebiet an preußisches und hannöversches Ausland stößt. - Dort über die Zorge hinweg lag schon das Schurzfell, eine alte Feldschmiede, bei der die Fuhrleute, welche die alte Heerstraße nach Ellrich, Walkenried, Osterode oder auch über den Harz hinweg nach Goslar benutzten, anhielten, um die Pferde beschlagen oder die Reifen an den Rädern neu befestigen zu lassen. Anfang des 18. Jahrhunderts hatte die preußisch-honsteinsche Verwaltung gestattet, bei der Schmiede ein Wirtshaus zu errichten und Wofflebener Bier zu verschenken. 1716 protestierte der wohllöbliche Rat bei der Regierung in Halberstadt dagegen, weil kostbare städtische Privilegien dadurch verletzt waren; hatte doch schon vor undenklichen Zeiten der glorreiche Karolus IV. befohlen, jegliches Bier in einer Meile Entfernung rund um die Stadt herum müsse aus Nordhausen bezogen werden. Doch was half gegen den Übermut der Landesherren im 18. Jahrhundert verbrieftes kaiserliches Recht! Preußen ließ die Schenke am Schurzfell bestehen, und so besteht sie noch heute.[5] Wir aber scheuen uns, durch die Furt in der Zorge zu gehen und dort drüben auf preußischem Gebiet Einkehr zu halten; ein scharfes Mandat des Rates schreckt uns als gehorsame Bürger. So wollen wir denn nur noch einen Blick gegen den Kohnstein zu werfen, von wo der Stadt Kalksteinbrüche weiß herüberleuchten, und an den grausamen Erdfall denken, der 1710 unfern des Kohnsteins bei der Dietfurt im brüchigen Gipsgelände geschah und durch den die unterirdischen Wässer haushoch emporgepreßt wurden, wie ein Schäfer glaubhaft erzählte, der kurz vor dem Einbruch seine Herde über die Stelle getrieben hatte. Durch Erlen- und Pappelngebüsch, auf hartem, grobem Geröll wenden wir unsere Schritte nach der Stadt zurück und folgen dabei dem Laufe der Zorge. Hie und da steht ein Nordhäuser Bürger, benutzt sein ihm als Bürger zustehendes Recht zu freier Jagd und freiem Fischfang und angelt. Denn unser Feldwasser, die Zorge, herbergt zahlreiche Fische wie „Karpfen, Hechte, Forellen, Aschen, Perschen, Eilritzen, Grund-Schmerlinge u. a.“. Doch nicht immer gingen die guten Nordhäuser mit erlaubtem Gerät dem Fischfänge nach. Dort hinten z. B. steht einer mitten im flachen Wasser und baut mit Steinen und Erde einen Damm, um an den Fischen in engem Wassertümpel gleich einen Massenmord zu begehen. Als er uns nahen sieht, steigt er ans Ufer empor und greift zur Angelrute; wir müssen ihm aber leider zutrauen, daß er auch Reiser und geflochtene Körbe im Wasser auslegt, in denen sich die Fische fangen sollen. Da jedoch unter solchem Raubbau der Fischbestand bald dahinschwinden würde, mußte der Rat 1684 scharfe Bestimmungen gegen das „Wasserdämmen und Reiserlegen“ erlassen, und dennoch wagten böse Buben solchen verbotenen Sport immer wieder, wie die späteren Verbote von 1753 und 1765 beweisen. Nur die Ratsherrn selbst durften sich zeitweilig gestatten, durch dergleichen Mittel ihre Küchen zu versorgen, und ließen um das Jahr 1710 herum alle Augenblicke den Mühlgraben abstauen, um die Fische zentnerweise zu fangen. Nun sind wir bei unserem Rückwege bei der Rotleimmühle angelangt und stehen auf einem erst jüngst historisch gewordenem Platze. Noch immer litten selbst im 18. Jahrhundert die Völker Europas unter den Nachwehen der großen Religionskriege, und Duldsamkeit gegen Andersgläubige war selten zu finden. Ludwig XIV. in Frankreich hatte bald nach seinem Regierungsantritte mit der Austreibung der Hugenotten begonnen, seine berüchtigten Dragonaden hatten Herzeleid über tausende von braven Familien gebracht, und 1685 hatte er gegen sie zum letzten großen Schlage ausgeholt. Da aber öffnete Friedrich Wilhelm von Brandenburg, den wir nun den Großen Kurfürsten nennen wollen, die Pforten seines Landes weit und lud alle ein, die verfolgt wurden um ihres Glaubens willen. Am 22. Februar 1690 durchzogen 160 solcher französischen Emigranten auch Nordhausen und gingen dann weiter auf Hameln zu. Dann aber begann die Verfolgung auch im Süden, wo sich noch immer im Ostalpengebiet viele gut protestantische Gemeinwesen befanden. Zwar in Österreich und in Steiermark hatten die Jesuiten Ferdinands II. schon längst ganze Arbeit gemacht, aber im Erzstift Salzburg hielten noch viele Gemeinden am evangelischen Glauben fest. Diese mußten nun um des Glaubens willen die Heimat verlassen und in großen Scharen nach Norden ins Elend ziehen. Im Jahre 1732 war es, als auch Nordhausen zweimal diese armen vertriebenen Salzburger sah, die ebenso wie viele Hugenotten voreinst dem gastlichen und duldsamen Preußen zuwanderten. Nordhausen nahm sie bei ihrem Durchzuge einer evangelischen Stadt würdig auf. Als sich am 27. August 1732 ein Zug von 922 Auswanderern, von Mühlhausen kommend, der Stadt näherte, war alles bereit zum festlichen und gastlichen Empfang. Alle Geistlichen und die Lehrer des Gymnasiums samt ihren Schülern standen am Siechentore bereit. Auch die Stadtsoldaten und Schützen waren aufgezogen. Alle Glocken der städtischen Kirchen läuteten, und unter frommen Gesängen hielten die Glaubensbrüder aus dem fernen deutschen Süden ihren Einzug in die Stadt. Auf dem Markte sollten sie verteilt werden und ihre Quartiere empfangen; doch viele wurden schon in der Neustadt von gutherzigen Einwohnern bewogen, einzutreten, zu ruhen und zu bleiben. Hilfsbereit bewährten sich die Nordhäuser damals als wahre Christen. Am 29. August mußten die Salzburger wieder von der gastfreundlichen Stadt Abschied nehmen, und dieser fand auf dem Platze vor der Rotleimmühle statt. Hier hatten sich die Salzburger mit all ihrer Habe, mit Karren und Wagen versammelt, hier waren auch wieder erschienen die Schule und die Geistlichkeit, die Ratsabgesandten und der Königlich Preußische Amtsrat vom Walkenrieder Hofe, und Pastor Lesser hielt, den erkrankten Pastor primarius vertretend, im Anschluß an Römer X, 9 die Abschiedsrede über die „Beschaffenheit und den Nutzen des wahren Bekenntnisses von Christo“. Eine zweite Schar Emigranten, doppelt so groß wie die erste, nämlich 1869 Köpfe stark, traf am 13. September in Nordhausen ein, wurde ebenso empfangen, bewirtet und verabschiedet, und als sie am 15. September nach Halberstadt weiterzog, brachte eine am Altentor schnell ins Werk gesetzte Kollekte noch 800 Gulden.[6] Beide Ausreisen der Emigranten waren also von dem Platze vor der Rotleimmühle aus geschehen, auf dem wir bei dem Rundgang um die Stadt uns jetzt befinden. Noch sehnen wir uns nicht zurück in die Enge und in das Gewirr der Straßen, sondern gehen vom äußeren Altentore vor der Wiedigsburg durch gegen das Grimmeitor hin und überschreiten dabei die sogenannte Bleiche. Hier, wo heute im 20. Jahrhundert die Grimmeiallee am Landratsamte, an der Badeanstalt und am Elektrizitätswerk vorbeizieht, befanden sich im Mittelalter mehrere Teiche, welche die Altwässer der Zorge gebildet hatten; doch waren diese im 18. Jahrhundert ausgetrocknet, und der Anger diente nun zum Bleichen der Wäsche, zur Musterung der Bürgerschaft und zum Einexerzieren der Stadtsoldaten. Mitten auf der Bleiche stand eine schöne alte Linde, die Vogelstange genannt, wohl deshalb, weil man bei ihr einen Schießstand angelegt hatte und dabei auch nach einem auf einer Stange sitzenden Vogel schoß. Meister Franz Gebhard Stolberg hat im Jahre 1674 von hier aus eine Stadtansicht von Nordhausen hergestellt, und auf ihr sehen wir im Vordergründe eine Kompagnie Soldaten vor ihrem martialischen Kapitän ihre Übungen ausführen. Recht stattlich mag es auch ausgesehen haben, wenn hier die 4 Bürgerkompagnien aufmarschierten, jede mit ihrer Fahne, die 1. Kompagnie mit einer gelben Fahne, einem goldenen Kranz in der Mitte und darin einem schwarzen Adler, die 2. Kompagnie mit einer weißen, die 3. mit einer rot-weißen und die 4. mit einer gelb-schwarzen Fahne. Neben den exerzierenden Soldaten auf dem Stoibergischen Bilde steht auch die Linde. Nur hat der Malermeister die Zorge, um sie auf sein Bild zu bekommen, zu nahe an die Stadtmauern gerückt, so daß die Bleiche, die tatsächlich früher zwischen der Wiedigsburg im Osten und der Zorge im Westen lag, jenseits des Flusses zu liegen kommt.[7]
Der Spaziergänger, der im 18. Jahrhundert über die Bleiche ging und von dort hinüberblickte nach dem katholischen Dome, ballte einigermaßen ingrimmig die Faust in der Tasche, denn letzthin hatte es mit den Domherren wieder gar manche unangenehme Auseinandersetzung gegeben. Die wichtigsten Streitpunkte der Stadt mit dem Stift seit der Reformationszeit betrafen ja die Befreiung des Stifts von der städtischen Gerichtsbarkeit und von jeglichen Steuern. Im katholischen Mittelalter war diese wichtige Sonderstellung dem Stifte ganz offenbar zuerkannt worden. In der Reformationszeit aber begann sich die Rechtslage zu verwischen, da in schwierigen Zeiten, wie z. B. im Jahre des Bauernkrieges und gegen Ausgang des 16. Jahrhunderts, das Stift nirgends Schutz fand als bei den städtischen Behörden und deshalb von manchem Rechte absah. Nach 1648 wiederum wurden die gegenseitigen Gerechtsame so gegeneinander abgegrenzt, daß die eigentlichen Stiftsinsassen zwar der städtischen Gerichtsbarkeit nicht unterlagen, aber auf Anforderung Zeugnis ablegen mußten, während die Bürger, die in den dem Stift gehörenden Häusern wohnten, auch unter der Gerichtshoheit der Stadt standen. Noch am 18. August 1706 hatte das Stift der Stadt dieses Recht zugestanden. Dann aber hatten sich allerhand andere Mißhelligkeiten bemerkbar gemacht: Verbrecher, welche die Stadt verfolgte, waren in die „Domfreiheit“ geflohen und waren dort vor Verfolgung geschützt worden. Protestantischen Kranken, die im Stifte gepflegt wurden, vorenthielt man den Seelsorger ihres Glaubens. Vor allem erweckten die wirtschaftlichen Befreiungen des Stifts und seine Konkurrenz das äußerste Mißfallen der Bürgerschaft. Das Stift nahm nämlich nicht bloß für die Stiftsherm und ihre Bedienten in Anspruch, daß sie, ohne den Scheffel- und Mahlpfennig zu bezahlen, mahlen, schroten und Öl schlagen durften, sondern auch für die in stiftlichem Eigentum wohnenden Bürger. Lange Zeit gewährte die Stadt dieses Vorrecht auch, bis allerhand Durchstechereien vorkamen, indem sich Bürger, die gar nicht in Stiftshäusem wohnten, dem Müller als solche auswiesen und nun auch ohne Abgabe ihre Körnerfrucht gemahlen erhielten. Dazu kam, daß die Dombrauerei den Nordhäuser Brauherm ärgere Konkurrenz als je machte. Sie unterlag nicht den städtischen Bestimmungen, die sonst jedem Brauer nur ein bestimmtes Quantum Gerste oder Weizen zu verbrauen zustanden, für sie gab es keine Gesetze, an die sie sich beim Einbrauen des Bieres zu halten hatte, und da ihr Getreide genug, auch von den eigenen Liegenschaften, zur Verfügung stand, gab es in der Domwirtschaft das beste Bier weit und breit, das von Jud’ und Christ, von Katholiken und Protestanten gern getrunken ward - zum größten Ärger der Nordhäuser Brauer. Alle diese politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse führten nun schließlich zu einem derartigen Gegensatz zwischen Stadt und Stift, daß man vor dem Reichshofrat zur Klage schritt. Da aber hier der Prozeß kaum vorankam, so einigte man sich am 16. August 1718 „friedlich und in nachbarlichem Vernehmen“ - auf Kosten der Stadt. Das hatte der gewandte Syndikus Eilhardt erreicht, den das Stift angenommen hatte und der den städtischerseits verhandelnden Bürgermeistern Hoffmann, Lerche, Huxhagen, Offney und Pauland offenbar weit überlegen war. In diesem Vertrage wurde zunächst festgesetzt, daß das Stift in temporalibus, in allen Dingen des Diesseits und der Zeitlichkeit, dem Kaiser allein unterstehe, daß es in spiritualibus, in allen geistlichen und ewigen Dingen, dem Erzbischof von Mainz zu gehorchen habe. Danach war also das Domstift ein vollständig selbständiges Territorium innerhalb der Stadt. Demgemäß gestand ihm Nordhausen Befreiung von der Gerichtsbarkeit (Punkt 2 des Vertrages), Steuerfreiheit für alle Liegenschaften (Punkt 3), Befreiung vom Mahlgelde (Punkt 12) restlos zu. Die Braugerechtsame wurden nur durch den dehnbaren Zusatz, daß das Stift das „zur Zeche sitzen“ nicht mißbrauchen möchte, eingeschränkt (Punkt 10). Demgegenüber brachten die übrigen Punkte des Vertrages nur dürftige Zugeständnisse an die Stadt. Dieser von den auch sonst mit Schuld reichlich beladenen Bürgermeistern ausgefertigte und eingegangene Vertrag fand bei der gesamten Bürgerschaft Ablehnung. Doch war er vorerst geschlossen und nichts gegen ihn zu machen, bis Chilian Volkmar Riemann auch diese Angelegenheit von neuem aufrollte. Gleich im ersten Jahre seiner Regentschaft, im Jahre 1725, verbot er das Bierholen aus der Domkneipe, um die Konkurrenz auszuschalten, ein Verbot, das in den nächsten Jahrzehnten fortwährend wiederholt werden mußte und doch dauernd übertreten wurde, weil das katholische Bier die protestantischen Kehlen gar lieblich hinabrann. Dann aber begann Riemann seit 1730 auch den Streit um die Gerechtsame des Stifts. Ihm schien die politische Freiheit des Doms eine unmögliche Beschränkung der Nordhäuser Souveränität. Und nun sollte der Kampf 60 Jahre lang nicht mehr aufhören. Zunächst focht die Stadt den Vertrag vom Jahre 1718 an, den nicht die drei Räte, wie das Stadtrecht es vorsah, sondern nur das Kollegium Seniorum, die Bürgermeister, ausgefertigt hätten. Dann aber griff Riemann auch an das heiße Eisen der Befreiung der Stiftsinsassen von der städtischen Gerichtsbarkeit. Um sich diese zu bewahren, behauptete das Stift, - und nach der Urkunde von 1220 war es dazu berechtigt: annumeretur aliis praepositis imperii es sei ein Kaiserliches Freies Reichsstift, d. h. ein unmittelbar unter dem Kaiser stehender Reichsstand wie die Freie Reichsstadt Nordhausen selbst. Demgegenüber behauptete Riemann, das Domstift sei nur ein Kaiserlich Freies Stift, aber kein Reichsstift. Deshalb seien zwar alle Liegenschaften des Stifts ab oneribus publicis, von allen öffentlichen Lasten, befreit, aber nicht von der Jurisdiktion, bei der das Stift zunächst der Stadt Nordhausen und dann erst dem Reiche unterstehe. Da eine Einigung in Nordhausen selbst unmöglich war, gingen die streitenden Parteien wieder vor den Reichshofrat in Wien, und hier zog sich der Prozeß ins Unendliche. Noch im August 1747 erhielt der Agent der Stadt Middelburg in Wien Vollmachten für diesen Prozeß. In den fünfziger und sechziger Jahren drehte sich der Streit immer noch um den Titel „Reichsstift“, ohne daß man, wie es scheint, zu einem Ende gekommen wäre. In den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts griff die Stadt auch noch bauliche Anordnungen des Stifts auf seinem Grund und Boden an, verschärfte auch wieder den wirtschaftlichen Kampf gegen die Bier brauenden Domherrn, bis dann endlich die Französische Revolution und ihr Vollzieher Bonaparte auch hinter diese Auseinandersetzungen den dicken Schlußpunkt setzte.[8] Doch wir müssen eilen, denn manches gibt es auch noch in der Stadt zu besichtigen. So verlassen wir denn die gastliche Linde auf der Bleiche, erreichen in wenigen Minuten das Äußere Grimmeitor, das zwar ziemlich verfallen ist, so daß es 1750 erneuert werden mußte, wo uns aber wieder einige stattliche Linden erfreuen, und schreiten von dort auf dem sogenannten Teichdamm zwischen dem Ratsteich, dem Schwemmteich und dem Schweineteich im Osten und der Zorge im Westen dahin, um ans Siechentor zu gelangen. Dieser Teichdamm bildete zu Beginn des 18. Jahrhunderts einen besonders beliebten Spaziergang für Leute, die sich in der Stille der Einsamkeit erholen oder ihren Gedanken nachgehen wollten. Er war, wie unser Gewährsmann schreibt, „zu einem ergetzlichen Spazier- und Studiergang bei herbeifließendem, hellem Wasser wohl aptieret“. Und wir stellen uns vor, wie einst hier der Rektor Meier, der nun schon längst, schon seit dem Jahre 1725, als angesehener Pfarrer in Magdeburg wirkte, sich erging, in schwarzseidenen Strümpfen und einer Kniehose von derselben Farbe, angetan mit einem schönen violettsamtenen Rock, auf dem Kopfe die würdige, weißgepuderte Allongeperücke und in der auf den Rücken gelegten rechten Hand den Stock aus echt indischem Rohr mit dem goldenen Knopfe. Er dachte gewiß darüber nach, wie er an Hand der Oden des lateinischen Poeten Horatius seinen Primanern vom großen Potentanten Augustus und seinem Favoriten Mäcenas erzählen wollte. Doch ihn lenkten einige seiner munteren Tertianer, die hier im flachen Wasser des Schwemmteiches wateten, von seinen Betrachtungen ab. Als diese den strengen Herrn Rectorem von weitem gewahrten, nahm einer reißaus, die anderen aber zogen hurtig die grobwollenen Strümpfe über, nicht gerade recht anmutig, und zupften ihr Jäcklein zurecht. Also präpariert, schlichen sie etwas beklommen an dem Schulmonarchen vorbei, nicht ohne daß vorher der eine in der Verlegenheit sein Schmutznäslein mit dem Ellenbogen gesäubert, der andere aber die dem größeren Bruder entwendete Tabakpfeife voll Angst auf dem Rücken verborgen. Alle diese bedeutsamen Zurüstungen, um zum Gruße bereit zu sein, beobachtete Meier aufmerksam und mit verstecktem und verstehendem Lächeln, erwiderte aber gemessen der Zöglinge Gruß, ohne etwa zu sagen. Auf dem weiteren Wege jedoch überdachte er den morgigen Bibeltext, mit dem er die Schüler vor dem Beginn des Unterrichts erbauen wollte. An diesen wollte er dann gehörige Adhortationes knüpfen, das Betragen der Schüler betreffend, und besonders eifern gegen die schlimme Tabakomania der Zeit.[9] Dieses trefflichen Schulmonarchen gedenkend, erreichen wir das Siechentor, an das sich für jeden guten Nordhäuser die leidige Erinnerung an die Invasion der Preußen im Jahre 1703 knüpfte. Von hier nach Osten, wo sich heute im 19. und 20. Jahrhundert das ganze neue Bahnhofs viertel angesiedelt hat, zogen sich vor 200 Jahren bis an das Sundhäuser Tor weitere Teiche, insbesondere der Pferdeteich und der Martiniteich mit dem Pfingstgraben dahinter. Auf diese Teiche hatten wieder die wohlweisen und ehrenfesten Mitglieder des Rats ihre Hand gelegt; aus ihnen bezogen sie in erster Linie ihr Deputat an fetten Schleien und Karpfen. Dicht vor dem Siechentore führte eine ganz neue steinerne Brücke über die Zorge. Die alte war nämlich am 21. März 1689 durch eine Hochflut fortgerissen worden, wobei leider auch ein Menschenleben zu beklagen gewesen war. Ein zehnjähriges Knäblein, das soeben aus der Schule gekommen sein mochte, stand mitten auf der Brücke und schaute voll Begeisterung in das wilde Wasserspiel zu seinen Füßen. Da begannen auch schon die unterspülten Pfeiler zu krachen und zu bersten, und Bursch und Brücke versanken in den Fluten. Erst am 13. August konnte man den Leichnam bergen; der treue Knabe hielt seine Schulbücher noch immer unter den Armen geklemmt. Damals hatten die Wasser auch den Teichdamm durchbrochen und Schwemmund Pferdeteich tüchtig ausgespült. Mit erheblichen Kosten mußte eine neue Brücke gebaut werden, die 1693 eingeweiht werden konnte. Im Juli 1727 wurde dann durch eine noch festere gewölbte Brücke auch vor dem Sundhäuser Tore die Zorge neu überbrückt; die steinerne Brücke, die in der Verlängerung des Grimmeis über die Zorge führte, stammte aus dem Jahre 1745, bewährte sich wegen ihres zu starken Bogens aber nicht und wurde deshalb später (1789) durch eine Holzbrücke ersetzt. Auf dem Lohmarkt endlich wurde erst 1754 eine breite Brücke über den Mühlgraben gebaut, dieser selbst zugleich an den Ufern befestigt.[10] Beim Hochwasser des Februars 1775 wurden Siechen- und Sundhäuser Brücke abermals fortgerissen, die Sundhäuser Brücke wurde 1782 wieder erbaut. – Wir aber lassen nun Siechenbrücke und Siechhof draußen vor den Toren liegen, nicht ohne uns mit Wohlgefallen an die letzten Flurpredigten des Pastors Lesser daselbst zu erinnern, durchschreiten das Siechentor, wandern auf dem Sande entlang und biegen in die Neustadt ein. Die Straßen der guten Reichsstadt waren bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts wie die Straßen aller europäischen Städte hübsch eng und winklig. Man rückte die Häuser dicht aneinander, um möglichst warm zu sitzen; man führte auch die Gäßchen selten gerade durch: oft beschrieb die Straßenzeile einen Bogen oder brach gar im Winkel ab und setzte sich dann in völlig anderer Richtung fort, damit der böse Westwind überall sich stieß und seine Kraft, oftmals gehemmt, schließlich ganz erlahmte. Freilich gelangte nun bei der Enge der Gassen wenig Licht und Luft in dieselben hinein; häufig waren sie voller Schatten und Dumpfheit, und die Gewohnheit, die oberen Stockwerke über die unteren zu bauen, um in den Etagen mehr Platz zu gewinnen, verdunkelte den Boden der Straßen noch mehr. Manche Gasse war so eng, daß es schwer war, mit Fuhrwerk hindurchzukommen, und bei Gefahr, etwa bei Feuersbrünsten, waren besondere Verhaltungsvorschriften nötig, damit Menschen und Fuhrwerke die Straßen nicht verstopften. Nur einige Hauptstraßen waren breiter, und die vielen Plätze für die verschiedensten Märkte ließen die Stadt geräumig erscheinen. Mit grobem Pflaster waren allein die Verkehrszentren versehen, in Nordhausen also der „Steinweg“ westlich von St. Nikolai und dem Rathause, im 18. Jahrhundert wohl auch der eine und andere Marktplatz und die Rautenstraße. Sonst aber sah es in den Straßen bedenklich genug aus. Nur an den Häusern entlang befanden sich hie und da Schrittsteine, welche die Straßenbewohner zu ihrer Bequemlichkeit gelegt hatten. In die offenen Gossen wurde aller Unrat und Spüllicht geleitet; bloß den Fleischern war es schon im Mittelalter verboten worden, mit Blut und Abfall die Straße zu verunreinigen, und die Bader durften das Blut von einem Aderlaß nicht in die offenen Kanäle schütten. Desto unsauberer aber waren die Straßen vom Kot der Schweine- und Schafherden, die durch die Straßen zogen. Geflügel aller Art, besonders Gänse und Hühner, liefen allenthalben unbeaufsichtigt auf den Gassen, besonders der Vorstädte herum; denn die glücklichen Besitzer dieser wohlschmeckenden und Eier legenden Tiere hatten in der Enge der Stadt oft nicht Gelasse genug, das Geflügel im Haus und auf dem Hofe zu halten. Nachts brachte man nicht selten das Vieh, Gänse, Ziegen, selbst junge Schweine, in Wohnräumen, in der Küche, ja selbst in Krankenstuben unter, wie denn noch im Jahre 1779 der städtische Unterdiener Wentzel einer Frau mitteilen mußte, sie sei gehalten, innerhalb dreier Tage ihre Ziegen und Gänse aus Küche und Krankenstube zu entfernen, widrigenfalls ihr eine Geldstrafe von 3 Talern drohe. Die Straßen mußten zwar gekehrt werden; doch das war bei dem ungepflasterten, im Frühjahr und Herbst völlig durchweichten Boden nicht immer ganz leicht, und so beliebten nachlässige Anwohner nicht selten, allen Unrat einander zuzukehren, so daß es vor dem eigenen Hause hübsch sauber aussah, vor dem des Nachbarn aber sich wahre Berge von Schmutz und Kot ansammelten. Eine recht häßliche Sitte war es ferner, allerhand verrecktes Getier, selbst tote Schweine, auf die Straße zu werfen, wie die Polizeiordnung des Jahres 1668 zu berichten weiß. Auch diese Zustände besserten sich erst im Laufe des 18. Jahrhunderts, und Bürgermeister Riemann mußte manche Polizeistrafe verhängen, ehe er seine Untertanen zu einiger Sauberkeit erzogen hatte.[11] Das beste mußte natürlich die städtische Verwaltung selber tun, und das geschah, indem man nach dem Vorbilde anderer Städte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts daran ging, die Straßen zu pflastern. So wurden denn 1728 die Töpfer- und Töpferhagenstraße, 1739 der Lohmarkt und seine nördliche Fortsetzung bis zum Neue-Wegstore, 1740 und 1753 der Neue Weg selbst, 1745 die Neustadt vom Vogel an bis auf den Sand, 1751 der Grimmei und unter den Weiden, 1752 die Jüdenstraße gepflastert. Das war ein gewaltiger Fortschritt; nach und nach bekam Nordhausen das Aussehen, das es bis in die sechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts bewahrte, bis die letzte große Entwicklung nach dem Siebziger Kriege einsetzte. Wenn wir also um die Mitte des 18. Jahrhunderts, vom Siechentore kommend und über den Lohmarkt schreitend, die Neustadtstraße gen Osten verfolgen, wandern wir auf derbem Kopfpflaster daher; zur Freude der Dienstmägde, die nun nicht mehr gar zu schmutzige Schuhe zu säubern haben, und zur Freude der Schuster, in deren Werkstatt sich die von den grobkantigen Steinen arg mitgenommenen Schuhe zur Ausbesserung häufen. Vor dem „Aam“ oder vor dem „Vogel“, dort wo es aus der Neustadt in die Altstadt hinaufgeht, bewundern wir das seltsame, auf einer Säule hockende Vogelungetüm, das recht zerzaust und verwittert ausschaut und nach einer Auffrischung verlangt, und dann gelangen wir in die eigentliche Stadt durch das äußere Rautentor, das erst 1722 wieder überbaut wurde, nachdem es beim Brande 1710 fast völlig zerstört worden war. In der Rautenstraße bemerken wir zu beiden Seiten schöne große Häuser mit hohen Giebeln von mehreren Stockwerken. Hier sowie in der Predigerstraße, der Ritterstraße und in den Krämern wohnten die wohlhabendsten Leute, und fast jedes Haus war mit Braugerechtsamen ausgestattet. Das Wasser zweier hölzerner, in der Rautenstraße aufgestellter Bottiche diente ausschließlich der Begegnung von ausbrechenden Bränden, während zwei weitere Wasserkünste mehr zur Zierde der Straße als zur Entnahme von Wasser errichtet waren. Unten in der Rautenstraße, dort wo die Kickersgasse (Neue Straße) abzweigte, stand ein Zierbrunnen, den der Bildhauer Meil aus Ilfeld 1755 mit einer Leda, weiter oben ein anderer, den derselben Künstler ebenfalls 1755 mit einem Laokoon schmückte. Überhaupt ließ es sich Bürgermeister Riemann angelegen sein, nicht nur alle Vorkehrungen zu treffen, um Handel und Verkehr durch Pflasterung und Reinigung zu heben, sondern auch die Schönheit des Stadtbildes durch Anlage mancherlei Zierrates zu fördern. Meil schuf 1755 auf dem Holz- oder Kohlmarkte (Lutherplatz) auch einen Tritonsbrunnen, und einige Jahre vorher waren schöne Wasserkünste auf dem Kornmarkte (1698), auf dem Königshofe (1734) und auf dem Pferdemarkte (1735, 1738) erbaut worden. Den Brunnen auf dem Königshofe schmückte ein Neptun, den auf dem Pferdemarkte ein wasserspeiendes Meerpferd.[12] Noch verweilen wir einen Augenblick dort, wo die Rautenstraße in den Kornmarkt einmündet, und stehen vor dem 1708 erbauten Broihanhause, dessen Hintergebäude sich bis nach der Hundgasse dehnten. Das Haus, das in den beiden Feuersbrünsten 1710 und 1712 hart mitgenommen worden war, schaute schon wieder recht stattlich und hochgieblig drein, ein Zeichen dafür, daß man doch einigen Wert auf das Gebäude legte. Überhaupt fanden die Nordhäuser im 18. Jahrhundert an dergleichen Hefenbieren Gefallen; begannen sie doch 1721 auch Gose zu brauen und errichteten 1729 vor dem Hagen hierfür ein eigenes Gosehaus. Auf dem Kornmarkt selbst stand bis zum Jahre 1712 das alte Wagehaus mit seinem Tanzsaal im oberen Stockwerk. Nachdem es aber 1712, zugleich mit manchen hundert Scheffeln Getreide, ein Raub der Flammen geworden war, hatte man es auf dem verkehrsreichen Platze nicht wieder erbaut, sondern neben die neue Apotheke in der Kranichstraße und am Pferdemarkt verlegt. Doch befand sich noch immer ein Brunnen auf dem Platze, und daneben standen zwei recht fatale und für das 18. Jahrhundert beschämende Werkzeuge: Der Gack oder Schandpfahl und das Trillhäuschen. Wie hätte wohl der große Leipziger und später Hallenser Rechtslehrer Thomasius, der Eiferer gegen unsinnige Folter und öffentliche Pein, mit dem Kopfe geschüttelt, wenn er diese mittelalterlichen Gerätschaften erblickt hätte! Freilich handhabten die Nordhäuser ihre Gerichtsbarkeit milde, viel milder als andere Städte; aber um moderne gute Gedanken hätten sie sich doch etwas mehr noch bemühen können. Dann hätten sie sich ein wenig geschämt, noch am 10. Juni 1740 und abermals am 30. Oktober 1754 mehrere Frauen, am 23. Juli 1762 noch einen Mann, und selbst noch am 12. Juni 1780 zwei Diebinnen und am 28. März 1781 nochmals eine Frau öffentlich Halseisen stehen und auspeitschen zu lassen. Und ein Zeichen dafür, daß die neu anhebende Zeit des Rationalismus noch nicht recht Wurzel gefaßt hatte in Nordhausen, ist es auch, daß man gar erst kürzlich noch das Schandgerät des Trillhäuschens, das man bisher in Nordhausen nicht kannte, aufgerichtet hatte. Wahrscheinlich war die Anregung dazu aus der Stadt Mühlhausen gekommen, von der man ja manches entlehnte und die ein prächtiges Trillhäuschen besaß.[13] Uns war ein solches Schandkästchen bisher noch unbekannt geblieben, und so bemerken wir denn bei näherer Besichtigung einen drehbaren Pfahl, der in knapper Manneshöhe einen zylinderförmigen Käfig aus Holzstäben trägt. 1720 drohte ein Ratsmandat Erbsen- und Möhrendieben das Trillhäuschen an, wie denn überhaupt gern Gartendiebe und diebische Dienstmägde darin eingesperrt und zur Schau gestellt wurden. Die Henkersknechte mußten dann eifrig und schnell das Häuslein drehen. Auch suchte man wohl für die Leidenszeit der armen Schlucker solche Stunden aus, in denen ein rechter Verkehr auf dem Markte herrschte, etwa nachmittags 3 Uhr, wenn der Schulunterricht beendet war, die Knaben durch die Gassen eilten und sich nun ein peinliches Vergnügen daraus machten, das Trillhäuschen recht heftig und ohne Unterlaß zu drehen und sich an der Verzweiflung des armen Gefangenen zu weiden. Als wir auf dem Kornmarkt standen, saß gerade ein kleiner Hintersättier, der einige Ähren gesammelt, ehe das Feld abgeharkt war, in seiner Not. Unfern davon stand ein dicker Ratsherr mit einem Böttchermeister vom Hagen im Gespräch, und beide schienen ihren Spaß an dem widerlichen Schauspiel zu haben. Ein Unterdiener der Stadt aber, der beiläufig an uns herantrat, flüsterte uns ins Ohr, daß jener Ratsherr mit städtischen Geldern nicht ganz sauber verfahre und sein Spießgeselle, der Böttchermeister, trotz allen Visierens für einen Brauherm zu kleine Fässer anfertige. Daß jene beiden eher an den Schandpfahl und ins Trillhäuschen gehörten als der arme Teufel, sagte unser Gewährsmann nicht, aber ein dumpfer Groll schien uns durch die Menge der zuschauenden ärmeren Bürger zu gehen. Erfreulicher war uns der Anblick jenseits des Kornmarktes nach Osten hin. Hier war 1712 hinter dem alten Georgshospital, Ecke Kornmarkt-Töpferstraße, das alte städtische Zeughaus abgebrannt und manches gute Geschütz geschmolzen. Jetzt, bald nach dem Jahre 1730, konnte man noch immer zwischen den Häusern hindurchsehen fast bis nach der Hundgasse, und da konnten wir denn in einen recht wohlgepflegten Garten mit den mannigfachsten und seltensten Kräutern Einblick nehmen. Das war der Arzneigarten der alten Ratsapotheke und des städtischen Pysikus, den schon Konrad Frommann, dann nach ihm der große Naturfreund Henning Behrens betreut hatte und den jetzt der Stadtmedikus Christoph Gerber in guter Ordnung hielt. Denn die Zeit war den Naturwissenschaften und der Medizin hold, und soeben ums Jahr 1730 ging dieser Kunst, aus schwäbischen Landen geboren, ein neuer, ganz großer Stern auf, Albrecht von Haller. - So stehen Anfang des 18. Jahrhunderts wie überall, so auch in Nordhausen die Gegensätze noch kraß und unvermittelt nebeneinander: Hier wird, wie im schlimmsten 16. Jahrhundert, am Schandpfahl noch ein armer Sünder gestäupt, und daneben blüht eine neue Zeit und neue Erkenntnis empor. Nun aber wird es für uns wirklich Zeit, erst ein Stündchen zu rasten und einen Labetrunk zu genießen.. So eilen wir denn schnell über den Kornmarkt zurück, am Ausgang des Schuhgäßchens vorbei, über den Töpfermarkt, der an der Südostecke des Rathauses (wie noch heute) liegt, um in den Ratsweinkeller, gegenüber dem Rathause, zu gelangen. Hier treten wir ein und lassen uns eine Kanne blanken Weines geben, den der Pächter soeben von Fuhrleuten aus Frankfurt erhandelt hat. Obgleich es noch nicht spät am Nachmittage ist, scheint doch schon mancher biedere Handwerker Hobel und Hammer beiseite gelegt zu haben, um den Dämmerschoppen zu trinken. Eifrig plaudernd sitzen sie an den Tischen, sie sprechen von Handwerk und Getreidekauf, von Familienereignissen in hoher Herren Häusern und von eigenen häuslichen Sorgen. Nur hin und wieder rücken ein paar mit den Köpfen zusammen und flüstern dieses und jenes. Wir wissen: die unterhalten sich von der Stadt und ihrem Regiment, von den zu hohen Zöllen, vom unbeliebten Mahlpfennig, vom Bürgermeister Riemann, der mit leeren Taschen nach Nordhausen gekommen und nun ein wohlhabender Mann ist. Schon vor vielen Jahren, besonders als es unter den alten, vor den Riemanns amtierenden Bürgermeistern zu arg war und die Bürger sich zur Aussprache auf dem Ratskeller zusammenfanden, hatte der Rat jegliches Politisieren und Raisonnieren verboten. Es hatte auch aufgehört, das Flüstern und Tuscheln, in den ersten Jahren Riemannscher Herrschaft, denn jeder hatte sich wohlbefunden; doch in letzter Zeit begannen die Klagen von neuem, und man vernahm wohl die Ansicht, die neuen Bürgermeister seien wohl tüchtiger und klüger als die alten, aber in ihre und ihrer Verwandten Taschen wüßten sie auch zu arbeiten, und wider den Stachel locken dürfte kein Bürger, und die Zensur, die 1718 eingerichtet worden sei und Pastor Kindervater zunächst nicht unmilde ausgeübt, handhabten sie schärfer als je zuvor. So mußte man beim Stadtklatsche schon vorsichtig sein, insbesondere wenn etwa der Postmeister Filter, Chilian Volkmar Riemann erklärter Günstling und seit 1732 sein Schwiegersohn, eintrat und Platz nahm. An anderen Tischen wiederum saß junges Volk. Hier ging es lauter und ungenierter zu. Hier Überboten sich zwei im Herzählen ihrer Heldentaten und schlugen selbstbewußt an den Degen, den sie selbst im Gasthause nicht abgelegt hatten, dort wieder ließen ein paar lockere Vögel die Würfel rollen, lachten und prahlten oder schlugen auf den Tisch und zeigten hämische Mienen. Es war nun einmal Landesbrauch in diesem wohlhabenden, wenig gestörten Winkel, daß man gern zusammensaß und zechte. Diese natürliche Lust eines starken Geschlechts an Gelag und Feiern konnte kein künstlicher Erlaß unterbinden. Unzählige Male war die Polizeistunde, z. B. 1708 auf 10 Uhr abends, festgesetzt worden, - sie wurde immer wieder überschritten; nichts nützte das Untersagen von Schlägerei und Schimpfwort (1722), das Untersagen von Völlerei und spätem Nachtsitzen (1723), das Untersagen von Randalieren und langem Sitzen auf dem Weinkeller (1726), - nach des Tages Last und Müh mußte der Nordhäuser sein Vergnügen haben, und zwar bis tief in die Nacht hinein. So halten denn auch wir trotz aller Bescheidenheit wacker mit und lassen uns zwischen der einen und noch einen und der dritten Kanne Weins von einem wohlerfahrenen Bürger über den Roland, der gerade uns gegenübersteht, Auskunft geben. Daß der Roland ein recht alter, würdiger Gesell ist, wissen wir schon, und daß er manches hat über sich ergehen lassen müssen, selbst den schnöden Versuch einer Beinamputation im Dreißigjährigen Kriege, wissen wir auch. Heute schaut er recht frisch und munter drein; denn nachdem er in den beiden letzten Bränden, ohne schwerer verletzt worden zu sein, doch etwas ramponiert und angeschmort worden, hatte ihn der Rat 1717 mit Erfolg einer Verjüngungskur unterzogen, worauf er so stolz ist, daß er die Jahreszahl seiner Auferstehung selbst den spätgeborenen Geschlechtern des 20. Jahrhunderts noch zeigt. Er kann aber auch stolz und feierlich blicken, denn er ist die vornehmste Standesperson Nordhausens überhaupt, ja wir können sagen, er verkörpert Nordhausen, seine Reichsfreiheit und seine eigene Gerichtsbarkeit und wird deshalb wie ein Heiligtum verehrt. In seiner Rechten trägt er ein mit Schwung und Anstand emporgehaltenes Schwert, in der linken einen mit dem Adler geschmückten Schild. Gerade tritt des Rates Ausrufer in seiner Amtstracht, einem hellblauen, mit gelben Streifen durchsetzten weiten Mantel, an den Roland heran, ruft ein neues Mandat des Rates aus und heftet danach den Erlaß für jedermann sichtbar an den Schild an. Eine besondere Zierde des Standbildes ist übrigens noch auf dem Knopfe des Schutzdaches das Nest eines Pelikans, der seine Jungen mit seinem Blute tränkt. Über die Bedeutung dieses Pelikans weiß unser Gewährsmann keinen Bescheid; dafür kann er uns aber neben einigen Verslein über den Roland, die in aller Munde sind, auch mehrere weniger bekannte hersagen. Zwei davon beziehen sich vor allem auf den Roland als Wahrzeichen der Gerichtsbarkeit; die Gerichtsbarkeit wurde ja vor dem Weinkeller im Angesicht des Standbildes gehegt: „Ich Roland, edler Mann Und das andere Sprüchlein, das uns besonders wohlgefallen kann: „Richter, du sitzest an Gottes Statt, Ein dritter Vers verkündet zugleich, daß der Roland das Sinnbild der Reichsfreiheit ist und diese Freiheit zu wahren wissen werde: „Ich Roland starker Mann Etwas dunkel bleibt der Sinn eines vierten Verses, der wahrscheinlich von einem schon etwas angejahrten Herrn stammt und der, wie es scheint, nur die alte gute Weisheit zum besten gibt, daß die Alten doch ganz andere Kerle gewesen sind als die Jungen: „Was die Alten von neuem haben gemacht, Nun aber brechen wir auf, um dem Rathaus drüben einen kurzen Besuch abzustatten. Aus dem trefflichen Führer durch Nordhausen, dem Chronisten Bohne, wissen wir darüber schon mancherlei Bescheid, so daß wir uns nicht gar zu lange zu verweilen brauchen. So treten wir denn in das Erdgeschoß des Rathauses, auf dem die gelbe Fahne mit dem schwarzen Reichsadler weht, ein. Die Kellerräume unter dem Rathause dienten als Gefängnis für Untersuchungsgefangene. Das „große“ und das „kleine Loch“ gewährten wahrlich schlimme Herberge; besonders von dem kleinen Loch für Schwerverbrecher wurde gesagt: „hic est mala mansio“, „hier ist eine böse Bleibe“, und auch im 18. Jahrhundert verendeten noch elendiglich in diesem Loche Inhaftierte, die darin völlig vernachlässigt wurden und zuweilen noch am Blocke angeschlossen waren. Natürlich war der Raum nicht nur düster und kalt, sondern starrte auch von Schmutz und Ungeziefer. Im Erdgeschoß lagen die Gewandkammern der Kaufleute. Eine von ihnen, die dem Stadtschultheißen Becker von Bleicherode gehörte und an der Südostecke des Rathauses nach dem Töpfermarkte hin lag, hatte der Rat im März 1725 angekauft, und Riemann bestimmte sie 1733 als Archivraum, nachdem vom ersten Stockwerk aus eine Treppe in sie hinabgelegt worden war. Dieser Schultheiß Becker war es übrigens auch, welcher am 14. November 1731 dem Gymnasium die bedeutendste Stiftung vermachte: 1 Haus, 3 Morgen Wiesen und 87 ½ Morgen Land. Durch eine im Treppenturm des Rathauses emporführende Wendeltreppe gelangte man in das erste Stockwerk. Gleich die Diele hier oben gewährte einen recht eigenartigen Anblick. Hier hingen nämlich die Meisterstücke der Schuhmacherzunft von der Decke herab, die sämtlich dem Rate anvertraut werden mußten, sowie eine ganze Anzahl lederner Eimer, die laut Bestimmungen der Feuerordnung vom Jahre 1689 jede der 9 ratsfähigen Gilden zu liefern hatte. Doch auch andere Gilden wollten nicht zurückstehen in der Spendung so wohltätigen Gerätes, und so hingen an langen Stangen auch die Ledereimer anderer Innungen quer über die Diele hinweg, jeder Eimer schön mit dem Wappen der Zunft geschmückt. Einen kräftigen Ledergeruch noch in der Nase, trat man dann in die westlich der Diele gelegene Regiments Stube (vor Erbauung des Stadthauses Stadtverordnetensitzungssaal, jetzt Magistratssitzungszimmer.) Bis 1733 lagen hier auf dieser Seite zwei Stuben, der Regimentssaal und die Kämmereistube. Riemann ließ aber 1733 die Trennungswand herausnehmen, vergrößerte dadurch den Regimentssaal für die Sitzungen der Ratsherrn und ließ die Kämmerei auf die andere, östliche Seite des ersten Stockes verlegen. Im zweiten Stock konnte den Besucher, abgesehen von der Pfeilkammer, in der auch noch im 18. Jahrhundert allerhand Mordgerät aufbewahrt wurde, besonders der Kaisersaal interessieren, so genannt, weil in ihm die Bilder Karls IV., Maximilians I., Ferdinands III. und Leopolds I. hingen. Auch Meister Stolbergs Stadtansicht Nordhausens vom Jahre 1674 zierte eine der Wände. Dieser Kaisersaal wurde von den Ratsherrn nur bei besonders feierlichen Gelegenheiten betreten: bei der Rechnungslegung der Kämmerer vor allen drei Regimentern und bei der Abgabe des Urteils über Verbrecher, das ja von allen Ratsherrn eingeholt werden mußte, ehe die Verurteilung auf offenem Markte vor dem Weinkeller geschah. So haben wir denn auch einen, wenn auch nur flüchtigen Eindruck vom Rathause gewonnen. Während wir aber die Wendeltreppe hinabsteigen, erzählt uns noch ein Ratsdiener, daß oben im Dachgestühl des Treppenturmes eine Glocke hänge, die jedesmal um 8 Uhr morgens angeschlagen werde, wenn Ratsoder Gerichtssitzung sei. Am Tage der Heiligen Drei Könige aber, zur Neuwahl der Ratsherrn, werde sie frühmorgens um 3 Uhr geläutet, und auf diese Weise werde der draußen auf dem Marktplatze harrenden Bürgerschaft angezeigt, daß nun die Wahl des neuen Rates vor sich gehe. Damit treten wir wieder aus dem Rathause heraus und werfen noch einen Blick auf die Marktkirche hinter dem Rathause. Ein schweres Geschick hatte ja 1710 und 1712 die Kirche betroffen; seit 1712 war sie gänzlich ihrer Türme beraubt. Die beiden neugegossenen großen Glocken mußte man nun in Glockenstühlen auf dem Kirchhofe zwischen dem Rathause und der Kirche aufhängen, - ein betrüblicher Anblick, die, wenn auch nicht schönste, so doch wichtigste und vornehmste Stadtkirche so der Türme und ihrer aus der Höhe schallenden ehernen Stimmen beraubt zu sehen. Selbst der Hausmann auf dem Turme, der zugleich Stadtmusikus war, hatte auf St. Blasii übersiedeln müssen und blies nun von dort herab mit seinem „kleinen Hörnlein“ tagsüber alle Stunde, von abend 9 Uhr an alle Viertelstunde. Ein gleicher Posten war außerdem auf dem Petrikirchturm errichtet; von diesem herab mußte der Hausmann mit seinen Musiklehrlingen außerdem morgens um 4 Uhr, mittags um 11 Uhr und abends um 8 Uhr ein geistlich’ Liedlein blasen. Ob diese Blechmusik der Hausmannslehrlinge immer recht rein und harmonisch geklungen, lassen wir dahingestellt; wir bemerken nur, wenn wir es jetzt einmal 8 Uhr abends sein und dieselbe gerade ertönen lassen wollen, daß ein etwas zu kräftig geratener Trompetenstoß sich hübsch schrill und schartig von den anderen Musikinstrumenten loslöst und daß ein ganz kleines, zartes Männlein in schwarzem, priesterähnlichem Rock, das gerade aus St. Nikolai herauskommt, bei dem Getön eine unlustige Grimasse schneidet und sich mit den Händen an die Ohren fährt. Das ist der erst im Jahre 1732 an St. Nikolai als Organist angestellte Gottlieb Schröter, der größte Musikus Nordhausens in theoria et praxi, der sich damals auch noch nicht träumen ließ, daß er hier in schlecht bezahlter Stellung 50 Jahre lang bis zu seinem Tode im Jahre 1782 ausharren müsse. Schröter, aus dem musikfreudigen Sachsen stammend, war kein ganz großer Meister wie sein Zeitgenosse Bach, dessen Matthäuspassion ganz Leipzig im Jahre 1729 zum ersten Male in Entzücken versetzt hatte, oder Händel, dessen Oratorien ihm die Bewunderung der ganzen europäischen Welt eintrugen; aber er war doch ein Meister im Orgelspiel und in der Komposition. Als Künstler stand unserem Schröter seine Zeit und ihr zu vernünftiges Gebahren etwas im Wege; fast gewalttätig suchte er sein tiefstes, innerstes Gefühlsleben, aus dem ja doch allein die schönsten und duftendsten Blüten hervorsprießen, zurückzudämmen, um der überlegenden und grübelnden Ratio genugzutun. Generalbaß und Contrapunkt und die mathematischen Grundlagen der Musik galten ihm deshalb mehr als das Ausströmenlassen seines Gefühls in Tönen und Harmonien. Überall drängte sich bei ihm diese Eigenart hervor; lieber Klarheit als Wahrheit schien seine Parole zu sein, und so entsprach auch sein durchsichtiges Stakkatospiel wohl dem Charakter seiner Zeit, konnte sich aber an Schönheit nicht messen mit der Gebundenheit Bachscher Orgelmeisterschaft. Wenn er deshalb auch gegen törichte und anmaßende Schulmonarchen wie den Rektor Biedermann in Freiberg, der den großen Bach anzugreifen gewagt hatte, auftrat und die teure Musika verteidigte, so konnte er sich doch mit dem großen Leipziger Organisten nicht gänzlich befreunden. - Nun, die Geschichte hat auch da das Ewige vom Zeitlichen abgegrenzt, Bach lebt trotz amerikanischer Niggermusik, und Schröter ist vergessen trotz mathematischer Klügeleien. Aber eines bleibt unserem Nordhäuser Organisten Schröter doch unvergessen, daß er nämlich die Hammermechanik des Pianoforte ausgebaut und dadurch erst dem Klavier zu seiner zentralen Stellung im Musikleben verhülfen hat. Mag ihm ein Italiener schon darin zuvorgekommen sein, daß er die leicht zerstörbaren Rabenfedern des Clavi Cembalo, mit denen ein Piano- oder Fortespiel unmöglich war, durch Anschlaghämmer ersetzte, - für den deutschen Pianofortebau nutzbar gemacht und zweckmäßig ausgebaut hat doch erst Schröter die Hämmer. Das soll das dauernde Verdienst des Nordhäuser Organisten bleiben.[14] Wir grüßen also ehrfurchtsvoll den kleinen gravitätischen Mann, der da über den Holzmarkt schreitet und in den Königshof einbiegt, um nach der Ritterstraße zu gelangen. Wir selbst wenden uns dann durch die Kalte Gasse der Straße „vor dem Neuen Wege“ (Waisenhausstraße) zu. Hier stehen wir nun bald vor einem Hause, das erst jüngst erstanden ist aus wahrem, christlichem Geist heraus, dem Geiste tätiger Nächstenliebe; wir stehen vor dem Nordhäuser Waisenhause. Das Versenken in die Liebe Christi, der ja nicht sowohl durch sein Wort, als durch seine opferbereite Tat das größte Vorbild aller Zeiten geworden, hatte am Ausgang des 17. Jahrhunderts den Pietismus und seine dienstwillige Nächstenliebe erweckt, und in Halle waren mit Unterstützung Friedrich Wilhelms I. von Preußen jene großartigen Schöpfungen Hermann August Franckes entstanden. Zwei Nordhäuser Pfarrer, der Pastor Kindervater von St. Blasii und der Frauenberger, später Neustädter Pfarrer Lesser, bereiteten diesem tätigen Christentume in Nordhausen den Weg, und die schönste Frucht pietistischen Geistes war die Entstehung des Nordhäuser Waisenhauses. Beim Brande des Jahres 1710 war ein ziemlich großes Gehöft vor dem Neuen Wege, das dem Altendorfer Pfarrer Joh. Richard Otto gehörte, in Asche gelegt worden. Doch wie erstaunte der fromme Gottesmann, als sich unter dem Brandschutt, in den so manches Stück ehrwürdigen Hausrates zerfallen war, unversehrt die Hausbibel fand. Dies schien unserem Otto ein Fingerzeig Gottes zu sein, die öde Stätte fortan in den Dienst des höchsten Wesens und seiner Alliebe zu stellen. Er trat an den Rat der Stadt heran mit der Bitte, hier ein Waisenhaus gründen zu dürfen, „weil Gott diese Stätte durch die erhaltene Bibel signalisiert und geheiligt“. Am 22. April 1715, dem 2. Osterfeiertage, gestattete der Rat zum ersten Male an den Kirchtüren eine Kollekte zur Errichtung des Waisenhauses, und am 5. Juni 1715 gab er die endgültige Zustimmung zum Beginn des Baues. Für „elternlose und hilfsbedürftige hiesige arme Bürgerskinder oder Waisen“ war das neue Haus bestimmt. Noch in demselben Jahre 1715 wurden die Hintergebäude emporgezogen und am 17. September 1716 eingeweiht. Fromme Menschen statteten schon im Jahre 1717 die neue Anstalt mit größeren Stiftungen aus, so Konrad Philipp Arens am 12. März 1717 mit 30 Morgen Landes, am 9. Mai 1717 die Frau von Gladebeck mit 1000 Gulden, und am 27. September 1717 ein Unbekannter mit 200 Talern, wofür auch arme Bürgerkinder zusammen mit den Waisen unterrichtet werden sollten. Am 20. September 1717 konnte der Richtkranz auf das Gebäude gesetzt werden, und am 2. November desselben Jahres wurde es feierlich eingeweiht. Mitten auf dem Hauptgebäude stand ein achteckiger Turm mit zwei Glocken, und das Bildnis Christi, „in romanischer Tracht“ an der Front zeigte, wem das Haus geweiht war, sollte es doch auch den Namen „zur Aufnahme Christi“ erhalten. Inspektoren des Waisenhauses wurden die jedesmals drei ältesten Bürgermeister; die eigentlichen Verwalter aber waren drei Nordhäuser Pfarrer. Zur Betreuung der Waisen wurde ein Waisenvater angenommen, der zugleich auch Lehrer war. Am 17. September 1716 zog Christoph Günther Stolberg mit 9 Kindern als erster Waisenvater in das neue Heim. Bald aber wurde das Amt eines Waisenvaters, das fortan meist ein im praktischen Beruf stehender Bürger erhielt, von dem des Waisenlehrers getrennt. In den Jahren 1717 bis 1728 konnten schon 40 Kinder im Waisenhause aufgenommen werden, und der Chronist Förstemann rechnet aus, daß bis zum Jahre 1850 etwa 500 Knaben und 350 Mädchen in der Anstalt erzogen worden sind. Sie waren, ähnlich den Unterbeamten des Rates, kenntlich an ihrem hellblauen Mantel und einem gelben Kreuz am Ärmel. Daß sich die Anstalt so schnell bewährte, war in der Hauptsache das Verdienst des Pastors Kindervater von St. Blasii (1706-1722 Pfarrer). Er war es, der für das Werk ganz besonders warb und es förderte mit Wort und Tat. Von seiner Pfarre aus, wo sich die Waisen mit ihrem Waisenvater versammelt hatten, geschah deshalb auch der Einzug in das neue Heim in feierlichem Zuge und unter Vorantragen der auf so wunderbare Weise geretteten Bibel. Und auch fernerhin wurde er nicht müde, für diese wohltätige Stiftung einzutreten. Als Administrator des Waisenhauses begann er alljährlich gedruckte Rechenschaftsberichte zu liefern, die neben mancher guten Nachricht über Nordhäuser Leben die eingegangenen milden Spenden veröffentlichten und mit Hinweisen und Bitten und Ermahnungen nicht müde wurden.[15] Mancherlei von der guten Reichsstadt Nordhausen und ihrer Umgebung haben wir kennengelemt. Doch nun fragen wir als anspruchsvolle Reisende, ob die Stadt uns auch einiges zu lustvoller und anregender Unterhaltung bieten kann oder ob wir in ihr wie in einem abgelegenen Landstädtchen nur einen wenig besuchten, unfrohen Gasthof finden, in welchem wir uns vor abgestandenes Bier oder sauren Wein setzen und mißmutig auf die verödete Straße blicken müssen. Ein freund licher Nordhäuser Bürger weiß Rat und gibt uns den Weg nach den „Drei Linden“ an, einem Vergnügungslokal, das draußen vor dem Grimmei ganz allein auf dem Anger zwischen Mühlgraben und Zorge liegt, aber ganz neu eingerichtet und mit einem Saale ausgestattet ist. Erwartungsvoll machen wir uns auf den Weg, gehen durchs Neue-Wegs-Tor, steigen die Johannistreppe herab, machen schleunigst, daß wir am Hause des Scharfrichters vorbeikommen, das hier liegt, und folgen dem munteren Schwarme der Menschen, der den „Drei Linden“ zuströmt, um das spectaculum, das dort gezeigt wird, zu sehen. Treten wir nun um das Jahr 1730 an einem schönen Sommerspätnachmittage in den Drei-Linden-Saal, so finden wir da ein zahlreiches Publikum aus allen Ständen und jeglichen Alters versammelt in gespannter Erwartung, von einer fahrenden Truppe eine lustige und lehrreiche Tragödie aufgeführt zu sehen, vielleicht die von Dr. Faust und seinem Lasterleben. Schon vor dem Saale künden große und bunte Plakate das Schauspiel an. Ein großer Mann in rotsamtnem Frack und mit schlecht gepuderter Allongeperücke erklärt einem hochverehrlichen Publiko an der Hand dieser Bilder den wesentlichen Gang der Handlung, und der unvermeidliche Hanswurst neben ihm verdreht ihm die Wörter, ahmt, das Gesicht verzerrend, die Fratzen der Reklame nach und schmeichelt dem Publikum in deutlicher und einleuchtender Weise. Im Saale selbst sind lange Tische und Bänke aufgestellt; auf den Bänken sitzt ein buntes Gemisch. Hier ein Trupp Jungvolk beiderlei Geschlechts, das sich das eben erst eingeführte und billige Getränk, die Gose, bestellt hat, dort wieder sitzt ein Grüpplein aufrechter Graubärte beisammen, die wacker aus langen Tonpfeifen schmauchen; dort in jener vorderen Saalecke haben sich einige befreundete Familien niedergelassen, zwei junge Mütter haben ihre Säuglinge mitgebracht und reichen ihnen in all dem Lärm und Getöse eifrig die Nahrung. In der ersten Reihe vor der Bühne stehen gar Stühle um die Tische für die Herren Ratsmitglieder und Standespersonen, soweit diese nicht vorziehen, auf der Bühne selbst Platz zu nehmen und aus nächster Nähe der ingeniösen Handlung zu folgen. An einem Tisch vor der Bühne bemerken wir den Bürgermeister und Juristen Kegel in eifrigem Gespräch mit dem Bürgermeister und Krämer Lerche. Kegel war der erste Mitarbeiter Riemanns am großen Emeuerungswerke. Er war es, der zuerst die Notwendigkeit der Straßenbeleuchtung für Nordhausen eingesehen hatte. Am 7. Oktober 1726 und dann nochmals am 21. Oktober hatten Bubenhände in der Sackgasse, der heutigen Wolfstraße, die Dunkelheit benutzend, Feuer anlegen wollen. Da brachten einige Bürger auf eigene Kosten vor ihren Häusern Laternen an, um das lichtscheue Gesindel zu vertreiben. Kegel nahm diesen Gedanken auf. Er setzte zunächst im Rate durch, daß die Märkte um das Rathaus herum mit Laternen versehen wurden und daß der Rat den Bürgern, die Lampen vor ihren Häusern brennen wollten, aus städtischem Vorrat die Pfähle dazu lieferte. So war denn schon 1730 in Nordhausen manches Licht aufgesteckt, so daß die Stadt in dieser Beziehung keineswegs zurückstand hinter der Residenz Kassel, die 1721, und hinter der neuen preußischen Universität Halle, die 1728 Beleuchtung bekam. Allmählich, bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, erhielten alle deutschen Städte ihre Beleuchtung; in den engeren Gassen hingen die Öllampen an Drähten über den Straßen, in den breiten Straßen und auf den Plätzen ruhten sie auf hohen Pfählen. Fortan war bei einiger Aufmerksamkeit abends wenigstens auf 30 Schritt die Gewähr gegeben, daß man nicht in ein Schlammloch trat, in der Gosse entlanglief oder über einen noch nicht fortgekarrten Dunghaufen stolperte, sondern hübsch die festen Stellen im Erdreich aussuchte oder von einem Schrittstein zum andern „hinübervoltigierte“. Über derlei Verbesserungen städtischen Wesens unterhielten sich naturgemäß die Herren Kegel und Lerche, während sie vor leerer Bühne in Drei-Linden-Saale saßen. Wir nehmen wenigstens an, daß die beiden Bürgermeister von solchen ernsthaften Dingen sprachen und nicht etwa die Nordhäuser chronique scandaleuse vorhatten, da sie öfter auf den Herrn Rektor Weber deuteten, der mit dem Kantor Andreas Demelius und einem erwachsenen Sohn unfern von ihnen an der Seite des Saales stand. Mit jenem Sohne hatte es nämlich folgende Bewandtnis: Im Jahre 1707 vermählte sich der damalige Konrektor Weber mit einer Tochter des wohlansehnlichen Bürgermeisters K ... . Doch schon einen Tag nach der Trauung kam die junge Frau mit einem Knäblein nieder, und da dies dem vernünftigen 18. Jahrhundert ein unvernünftig’ und unnatürlich’ Wachstum erschien, mußte sich die junge Mutter etwas eingehender zu dem Falle äußern. Und sie erklärte, - wohl mit schwacher Stimme und unter einigem Erröten - daß der Schüler H ... des Kindleins Vater sei, so daß diesmal nicht der Schüler des Lehrers, sondern der Lehrer des Schülers Spuren gefolgt war. Der Schade war aber bei der hochansehnlichen Herkunft der Wöchnerin schon 1708 von Kaiser Joseph durch Dispensationsedikt kuriert worden, was freilich Vater K ... mancherlei Gulden mag gekostet haben. Jedenfalls hatte Rektor Weber anno 1730 einen dreiundzwanzig Jahre alten ansehnlichen Sohn, mit dem er in den Drei-Linden stand, um Komödie spielen zu sehen. Das eigentliche Schauspiel hub freilich noch immer nicht an. Aber ein Komödiant, der fast wie ein fahrender Geselle auftrat, mit kurzer Jacke und offener Brust, trug einige der neuesten teutschen Gedichte vor, mit Leidenschaft und mit Feuer, ganz ihrem Inhalt entsprechend. Dem Rektor gefielen die Poemata gar nicht. Er hatte mitskandiert und fand nur selten einen richtig gebildeten Alexandriner. Absprechend äußerte er sich über die Roheit der Gedichte dem Kantor gegenüber, und sein Sohn, der viel auf gute Sitte hielt, pflichtete ihm eifrig bei. Doch Demelius trat warm für den Autor ein, einen gewissen Christian Günther, von dem er ein Bändchen Gedichte besäße, aus deren Sang heraus er endlich einmal des Menschen ganze Freud’ und ganzes Leid vernähme. Der junge Schauspieler auf der Bühne, der ein Feuerkopf schien und nicht ungebildet, war gerade dabei, noch eines der vom Herrn Rektor beanstandeten Gedichte vorzutrage, als Herr Postmeister Filter zu der Gruppe trat, dröhnenden Beifall klatschte und mit lauter Stimme noch ein Gedicht verlangte. Weber schaute sich mißbilligend um, doch machte er höflich Platz, da Filter ein angesehener Mann war und im Begriffe stand, sich mit der Tochter des allgewal tigen Bürgermeisters Riemann zu verloben. Alsbald unterhielt sich Filter auch mit dem Kantor über Christian Günther, dieses „remarquable Ingenium“, von dem er meinte, er habe endlich einmal wieder durch das Gestrüpp und elende Zeug der Hochzeit- und Kindtaufcarmina hindurch sich aufgeschwungen zum reinen Äther des Pamassus. Jene Gelegenheitsdichter schwitzten sich ihre klapprigen Alexandriner aus den Fingerspitzen, um ein paar Groschen willen, dieser Günther aber habe seine Gedichte mit seinem Herzblut geschrieben, und er halte ihn für einen Liederdichter, wie ihn die teutsche Nation seit Herrn Walter, der Nachtigall von der Vogelweide, nicht mehr besessen. Eifrig stimmte Demelius ihm bei, und so schloß denn Filter die Unterhaltung mit den Worten: „Komm er, Herr Kantor, und Er auch, Herr Rektor, wenn er auch sauertöpfisch schaut, da er mit all seiner Gelehrsamkeit dergleichen Carminia doch nicht zuwege bringt, - ich lad’ Sie ein zu einer bouteille französischen Rotweins!“ Und damit schritt er auf den Tisch zu, an dem die beiden Bürgermeister saßen. Bald lobten alle den guten Wein. Eine etwas spitze Bemerkung Kegels aber, man wisse wohl, woher das Geld für den Wein komme, da nirgends so teure Frachten wie in Nordhausen bezahlt würden, schnitt der Herr Postmeister Filter gewandt ab, indem er auf den Ursprungsort des Weines hinwies und fragte, ob schon einer der Herrn etwas gehört habe von dem hell leuchtenden Stern, der jetzt über Bordeaux zu strahlen beginne. Ein Charles de Sekondat, Baron de Montesquieu, Präsident des Parlaments zu Bordeaux, habe - zwar anonym, aber man kenne doch den Verfasser - eine geistvolle Satire, die lettres Persantes, auf die gesamten französischen Zustände veröffentlicht. Unter der Hand des Autors verwandle sich das glänzende Geschmeide Frankreichs in ein Häuflein widerlichen Geschmeißes. Solche Kritika sei für die bestehende gesellschaftliche Ordnung aus höchste gefährlich, doch müsse man den esprit bewundern. – Unterdes hatte die Komödie begonnen; alles lauschte gespannt, folgte mit naivem Zittern dem furchtbaren Schicksal, dem der böse Dr. Faust verfiel, und ging mit größtem Entzücken auf die tollen und derben Späße des Harlekin ein, der die Szenen zwischendurch immer wieder mit seinen Bocksprüngen verwirrte. Filter und Demelius klatschten am Ende beträchtlichen Beifall. Herr Krämer Lerche aber berichtete mit Hinblick auf das Stück, er habe jüngst beim Besuch der Leipziger Messe vernommen, daß alldort ein junger Professor mit Namen Gottsched einen auf die reine Vernunft gegründeten „Versuch einer kritischen Dichtung für die Deutschen“ herausgegeben habe. Herr Gottsched stehe auch im Begriff, mit der Neuberin, welche dort eine Theatergruppe leite, Verbindungen anzuknüpfen und das deutsche Theater zu reformieren. Im galanten Leipzig seien schon die groben Späße des Hans Wurst verpönt, und auf der Bühne gingen nur noch ernste und bedeutende Dinge vonstatten. Ihm als einem der Vernunft ergebenen Manne müsse solches Beginnen gefallen, und er trinke deshalb auf Meister Gottsched. Lachend erhob Filter sein Glas dagegen und meinte, die jetzige vernünftige Welt mit ihren Regeln und Gesetzen werde die edlen Künste noch allesamt umbringen. Er halte es mehr mit dem ganzen, vollen Gefühl, das allein den menschlichen Geist zu seinen höchsten Leistungen befähige, und diese allein könnten die Menschen begeistern. Er trinke deshalb auf die freie Dichtund Schauspielkunst. Bedächtig hatte der Jurist Kegel diese Trinksprüche mitangehört und meinte alsdann gelassen zu Filter, Gefühl und Überschwang seien ja wohl zu Zeiten recht gut, - desipere in loco, wie der jetzt auch bei deutschen Dichtem in Aufnahme kommende Poet Horatius sich ausdrücke - doch verwirrten sie ihm, dem Herrn Kegel, zu sehr die Menschen und Dinge, und mit Gefühl ließe sich jedenfalls ein Staatswesen nicht leiten und in Ordnung halten. Deshalb hätten ja schon ihre seligen Herrn Väter 1673 das ausgelassene Gregorsfest der Schüler abgeschafft, und jetzo sei man dabei, den Maiengang Gymnasii nach dem Kohnstein ebenso zu verbieten. Mit größtem Mißfallen habe jüngst Magistrates vernehmen müssen, daß den Primanern beim letzten Maienfest eingefallen, gar im Schurzfell zu kneipen und, was noch schlimmer, daselbst nicht Nordhäuser, sondern Wofflebener, d. h. verruchtes Preußenbier zu trinken. Das könne so nicht fortgehen; ebenso wenig wie die Zuchtlosigkeit der Schuhmachergilde beim Merwigslindenfest. Unter solchen Exzessen müsse das ganze Staatswesen leiden.[16] Da schlug Johann Filter lachend auf den Tisch und rief: „Ihr Herrn Juristen und Rationalisten werdet den Menschen noch so lange alle fröhliche Lust zum Atmen nehmen, bis Euch ein Sturm und Drang um die Nase fährt, daß jedes Schnaufen Euch vergeht.“ - Damit hob er die Sitzung auf und verlegte sie für seine Person in des Rates Weinkeller am Markte. – Sind wir nun müde von all dem Schauen, so lädt uns manches Gasthaus zu Ruh und Rast ein. Freilich die ältesten Herbergen, die Nordhausen aufzuweisen hatte, bestanden im 18. Jahrhundert schon nicht mehr oder waren zu gänzlicher Bedeutungslosigkeit herabgesunken. So weiß uns kaum noch ein Nordhäuser den Weg nach dem alten Gasthof „Zur roten Tür“ zu zeigen, der an dem Platze lag, wo die Jüdenstraße nach der Predigerstraße einbog. Diese im 14. Jahrhundert berühmte Gaststätte war noch Ausgang des 16. Jahrhundert wohl bekannt, büßte dann aber ihr altes Ansehen ein. Dagegen war der „Adler“ neben der Finkenburg, der seinen Namen von jener Zeit her trug, als der deutsche Ritterorden im Besitze dreier Höfe nördlich der Wassertreppe auf dem Boden der alten Heinrichsburg war, noch immer ein vornehmer Gasthof, in welchem auch Adlige gern abstiegen, vor allem diejenigen, die nebenan im Domstift einen Domherrn besuchen wollten. Ebenso stand ein anderes Gasthaus, „Der goldene Stern“, vor dem Neuen Wege noch in bestem Flor. Es war schon 1413 eine anerkannte Gaststätte, war 1712 niedergebrannt, hatte dann aber noch einmal fröhliche Auferstehung gefeiert. Neben diesen alten machten sich aber neue und neueste Gasthöfe breit. Die im 16. und 17. Jahrhundert nannten sich fast sämtlich, sieben an der Zahl, nach ihrem Besitzer, einer trug aber einen besonders vornehmen Namen. Das war der 1603 am Kornmarkt errichtete „Römische Kaiser“. Ein Mann aus angesehener Nordhäuser Familie, der Ratsherr Michael Rinckleb, hatte ihn erbaut und vom Rate dafür besondere Privilegien erhalten. Es hatte sich nämlich in der Stadt der Mangel an wirklich gut und modern eingerichteten Gasthäusern bemerkbar gemacht, in denen auch Reisende von Stand Quartier nehmen konnten. Um diesem Übelstande abzuhelfen, um Nordhausen nicht bloß als dauernden Ruhesitz für alternde Adlige und adlige Damen angenehm zu machen, sondern in der Stadt auch durchreisenden Herrschaften gefälligen Aufenthalt zu bieten, förderte der Rat das Unternehmen Rincklebs in jeder Weise. Sein gastliches Heim bekam Freiheit von der Grundsteuer, vom Ackerzins und vom Wachtgeld; zwei Fuder Heu von den städtischen Wiesen für die Pferde der Gäste erhielt der Besitzer umsonst geliefert. Für diese Vorteile verpflichtete sich Rinckleb, Fremde von Adel und Leute, die mit eigenem Wagen nach Nordhausen kamen, aufzunehmen; gewöhnliche Gespanne, Fußgänger und „sonst verdächtige“ Personen durfte er dagegen abweisen. – Seitdem besteht also der „Römische Kaiser“, und im 17. Jahrhundert mögen die in ihm bei vollen Weinkannen zechenden Adligen des öfteren nicht weniger ruhestörenden Lärm verursacht haben als nebenan in ihrem Zunfthause die lustigen Schuhmacher.[17] Wir als bescheidene Wanderer müssen uns natürlich nach einer weniger anspruchsvollen Herberge umschauen und tun es auch gern, da eine ganze Anzahl modern eingerichteter Gasthäuser neu entstanden sind: Das „Weiße Roß“, der „Englische Hof“, der „Berliner Hof“ und wie sie sonst heißen mögen. Hoffentlich hat in der Schenke, in der wir einkehren, nicht gerade ein hessischer, hannöverscher oder preußischer Werbeoffizier sein Quartier aufgeschlagen. Denn dann dürfte es dort wenig gemütlich sein, da fortwährend werbende Unteroffiziere mit entlaufenen Bauern, Handwerksburschen oder Gesellen, die wegen irgendeiner Schandtat vom Gericht gesucht werden und sich deshalb in den bunten Rock flüchten müssen, ein- und ausgehen, ihnen Schnaps und Bier spendieren und den ersten Blutsold auszahlen. Zuweilen konnte man in einem Gasthause, in dem ein solches Werbebureau aufgeschlagen war, selbst Zeuge recht häßlicher Auftritte werden, wie es denn wohl vorkam, daß jemand das Handgeld angenommen hatte, hinterher aber Reue über den Handel empfand und das empfangene Geld zurückzahlen wollte. Doch der Werbeoffizier wollte von seiner Beute nicht mehr lassen, und während er den Verführten mit Gewalt festhalten ließ, nahmen seine Freunde und Nordhäuser Bürger für den jungen Rekruten Partei und suchten ihn zu befreien. Dann war der Lärm da, es fetzte blutige Köpfe, und womöglich mußte, um die Ruhe wiederherzustellen, der Rat einschreiten. Das tat er freilich ungern genug, denn er wußte, wie leicht er dadurch recht folgenreiche Auseinandersetzungen mit großen Potentaten heraufbeschwören konnte. So geschah es z. B. 1742, als der preußische Leutnant von Wulffen wegen eines entlaufenen Handgeldempfängers sich in der Stadt voll Ungebühr benahm und deshalb in Arrest abgeführt wurde. Sein König, Friedrich II. von Preußen, hielt natürlich die Hand über den Werbeoffizier und nahm am 5. Januar 1743 die Inhaftierung seines Offiziers zum Anlaß, sich ganz allgemein über die Haltung der Stadt, die sich den Anwerbungen geflissentlich widersetzte, zu beschweren.[18] Also etwas vorsichtig in der Wahl des Gasthauses mußte man im 18. Jahrhundert sein, und ehe man sich entschloß, einen Wirt um Herberge anzugehen, war es gut, erst den einen oder anderen Nordhäuser Bürger um Rat zu fragen; und wenn auch die Herbergsverhältnisse schon wesentlich besser waren, als sie noch 1610 der welterfahrene und weitgereiste Arzt Hippolyt Guarinonius beschreibt, so war immerhin Vorsicht geboten, und auch aus den soeben geschilderten Unzuträglichkeiten kann man verstehen, daß man noch immer nicht gern und weit reiste, sondern den glücklich pries, dem im eigenen Heim ein ruhiges und beschauliches Leben zu führen vergönnt war. So saßen sie denn, die friedsamen Bürger Nordhausens, gern nach Feierabend vor ihren Haustüren; waren doch bei vielen Türen in den steinernen Türeinfassungen rechts und links schmale Steinsitze angebracht, auf denen man hocken und mit den Nachbarn plaudern konnte. Oder aber: Man klappte von der horizontal geteilten Tür einfach die obere Hälfte auf und lehnte bequem die Arme auf die untere Türhälfte zu einem Schwätzchen mit dem draußen stehenden Nachbarn. Manches Haus, besonders in den breiteren Straßen und auf den Plätzen, besaß auch eine Freitreppe, und oben auf den Treppenabsatz wurden dann gegen Abend Stühle zum Ausruhen gestellt. Die Frau Meisterin ging dann wohl die Treppe hinab, um mit ihrer Freundin von gegenüber Neuigkeiten auszutauschen und zwischendurch die Straße abwärts nach dem Brunnen zu schielen, von wo die Dienstmagd Wasser holte. Denn ein plauderndes Beisammenstehen mit anderen Mägden, die auch zum Schöpfen gekommen, war wohl erlaubt; aber wehe ihr, wenn sie einem Burschen, den das Treiben des jungen Mädchenvolks angelockt haben mochte, gar zu verheißungsvoll zunickte, die gute Sitte gröblich verletzend. Nicht nur eine tüchtige Strafpredigt setzte es dann, sondern die Kecke mochte sich auch vor der schlagfertigen Meisterin inacht nehmen; denn Lehrlinge und Mägde bekamen in jenen Tagen Riemen und Stock nicht selten zu fühlen. Der Meister aber saß oben auf seinem Straßenthron, ließ die schwieligen Hände ruhn, rauchte sein Pfeifchen, blickte die Straße entlang, freute sich über dieses und jenes und über sein eigenes Anwesen und ärgerte sich auch wohl über das neue, höchst prunkhaft und kunstvoll geschmiedete Ladenschild seines Nachbarn und Konkurrenten, welches so sinnfällig die Ware des Ladeninhabers pries, daß auch ein des Lesens Unkundiger - und das waren damals noch die meisten Käufer - sogleich erfuhr, was er dort erhandeln konnte. Vornehmere Leute zeigten sich natürlich nicht auf der Straße. Sie hielten sich in ihren weitläufigen Gärten hinter dem Hause auf, hatten sich dort ein hübsches Gartenhaus ä la mode gebaut, nach dem neuesten Rokokogeschmack mit reichem Zierrat beladen, mit weißgestrichenen Bänken und Tischen ausgestattet und vielleicht gar mit einem galanten Gemälde im Geschmacke Watteaus geschmückt. Hier, bei solchem Lusthäuschen erlaubte sich nämlich auch der würdige Bürger das leichtfertige Getändel der neusten Bauweise, während er von seinen Wohnhäusern die französische Art femhielt und sie nach alter Weise einfach und mit hohem Dache baute, höchstens sich einen feierlichen und ernsten Barockaufsatz oder Giebel gestattete und die sanften Bögen und spärlichen Ornamente dieses Stils auch an seinen Haustüren anbringen ließ. Am Tage standen die Haustüren meist offen; ungehindert konnte der Besucher ins Haus gelangen. Mit einbrechender Dunkelheit aber verschloß man sie, und dann mußte der späte Gast zum Türklopfer greifen, um sich bemerkbar zu machen. War er rücksichtsvoll und achtete die Ruhe der Nacht, so scharrte er nur mit dem Gehstock oder sonst wie an der Tür; doch wenn die Magd in der Küche hantierte oder in irgendeinem ferneren Stübchen beschäftigt war, mußte man schon etwas lauter pochen. War man in das Haus eingetreten, so befand man sich in dem möglichst geräumig gehaltenen Flur. Nicht immer sah es hier ganz sauber und aufgekramt aus; denn der Flur diente als Stapelplatz für alles mögliche; Krämer und Handwerker lagerten hier gern den Vorrat, den sie im Laden nicht unterbringen konnten, Gänse- und Hühnerkäfige dienten nicht selten zu weiterer Zierde des Flures. Hinter einem Holzverschlag führte die Treppe in den geräumigeren Keller hinab. Diese Keller waren einstmals viel wichtigere Gelasse als heute. Denn hier standen die verschiedenen Fässer Wein, daneben lagen die Heber und Trichter; aber auch ein Häuflein Pottasche und Schwefel fehlte nicht, die den Wein verbessern und ihm größere Haltbarkeit verleihen sollten. Einen Winkel füllte auch ein tüchtiger Berg weißer Sand, von dem zum Bestreuen von Flur und Diele genommen wurde, in dem aber auch Rüben und Früchte steckten, die sich hier frisch erhielten. Schließlich lag in den Kellerräumen auch meist die Waschküche des Hauses. Eine weitere Treppe führte vom Flur hinauf in die Diele des ersten Stockwerkes. Diese Treppen waren fast stets dunkel, und die ungleichmäßige Zahl von Stufen zwischen den einzelnen Absätzen brachte den Besteiger nicht selten in Gefahr. Schön geschnitzte Geländer bemerkte man in Nordhausen fast gar nicht; zu schwer war die Stadt von den verschiedenen Bränden betroffen worden. Da hatte man möglichst schnell und billig aufbauen müssen und hatte sich Luxus nicht leisten können. Einigermaßen wohnlich schaut oben die Diele drein. Einige mächtige Schränke und Truhen dienten zu ihrer Ausstattung. War das Haus nur einigermaßen wohlhabend, so legte man Wert darauf, wenigstens den einen oder anderen schön geschnitzten, mit Säulen und Simsen verzierten Schrank zu besitzen. Aber fast nirgends traf man in Nordhausen Möbel aus ausländischem Holze, etwa Ebenholz oder Mahagoni, an; auch waren sie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch nirgends modisch poliert. Denn der im guten Sinne konservative Charakter der Bevölkerung und die Entlegenheit von fürstlichen Residenzen, die am schnellsten der Mode folgten, ließ die Nordhäuser noch lange an altem Brauch und Hausrat , ? festhalten. Es waren handfeste Schränke und Kisten, Tische und Stühle, welche in den Wohnungen standen, und das Holz stammte von den Eichen Ellrichs und Walkenrieds oder auch von den Eichen und Fichten des nahen Kirchhofholzes bei Petersdorf. Und nun wollen wir von der Diele aus in das Wohn- und Arbeitszimmer des Mannes treten, der vielleicht in jenen dreißiger und vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts den ganzen Sinn und Geist seiner Zeit von allen Nordhäusern am besten auszuschöpfen, zu verarbeiten und in sich aufzunehmen vermochte. Das war der Pastor Friedrich Christian Lesser. Weilen wir im Geiste an einem Spätsommertage des Jahres 1746 gegen Abend im Pfarrhaus von St. Jakobi bei dem nun schon 54jährigen, etwas müden, kränkelnden Manne. Eine wohltuende, friedvolle Dämmerung liegt in dem ziemlich großen Gemach. Die Wände sind nicht mehr wie im 16. und teilweise noch 17. Jahrhundert mit Holztäfelung versehen, weil diese den Ratten und Mäusen zuviel Schlupfwinkel gewährten, sondern sind mit einfachen Papiertapeten beklebt. Die Gipsdecke weist in der Mitte ein recht freundliches Stuckomament auf, und von hier herab hängt der eigentlich einzige wertvolle und etwas prahlende Schmuck des Zimmers, ein edler Kronleuchter mit vielem Bergkristall. In der Mitte der Stube steht ein derber, wachsgebohnter Tisch auf barock gedrechselten Beinen; hinter ihm hat das sogenannte Faulbett seinen Platz, eine hölzerne Bank mit steifen Rück- und Seitenlehnen, auf der das Sitzen oder Liegen nur durch Decken und Kissen bequem gemacht wird. Ein paar Stühle mit gepolsterten Sitzen und hohen geschnitzten Lehnen stehen hie und da. Auf dem Wandbord hinter dem Faulbett sind um eine schöne silberne Kanne mehrere zinnerne Flaschen und Schüsseln als Zierrat gruppiert. Daneben sind aber auch ein paar Leuchter und zinnerne Becher zu täglichem Gebrauche aufgestellt. Da sich unser Lesser mit den neuen eisernen Öfen, die in jüngster Zeit aus den Südharzer Eisenhütten geliefert wurden, nicht befreunden kann, befindet sich in der hinteren Stubenecke ein tüchtiger Kachelofen, dessen weißglasierte Kacheln ganz nettes Bildwerk zeigen. In der einen vorderen Ecke am Fenster steht der breite, mit einigen Geheimfächern versehene Schreibtisch; daneben hat ein Tischchen mit einem Schachbrett Platz gefunden, und darüber sind an der Wand Fächer für Briefe und für ein Kartenspiel angebracht. Ein paar gute Originalgemälde, wie sie in jener Zeit jeder leidliche Haushalt aufzuweisen hat, hängen an den Wänden. Im übrigen ist das Zimmer mit Büchern und zahlreichen Sammlungen von Steinen und von Getier aller Art über und über angefüllt. Auf den Fensterbrettern blühen etwelche Blumen in „Scherben“, in Blumentöpfen. Vor dem Schreibtisch am Fenster sitzt unser Pastor Lesser selbst, auf gepolstertem, hochlehnigem Sessel. Er hat von seiner Arbeit aufgeschaut, da das Tageslicht schon schwindet, blickt nun gedankenvoll über den Schreibtisch hin, auf dem neben ein paar schweren aufgeschlagenen Folianten mehrere Steine mit seltsamen Tierabdrücken ruhen, und blickt über den Schreibtisch hin auch zu dem schlichten Kruzifixus und zu dem Modell eines einfachen Gotteshauses daneben. Dieses Gotteshäuschen hat ihm schon manchen Seufzer entlockt und manches Verzagen, und der Gekreuzigte hat ihm immer wieder Trost gespendet. Weit zurück fliehen in dieser Stunde der Besinnung die Gedanken des Ausruhenden. So denkt er an seine hier in der Heimat verlebte Jugend, da der Vater Diakonus von St. Nikolai war, denkt an seine Gymnasialzeit, wo er noch Schüler war in dem uralten Gemäuer des einstigen Predigerklosters an der Kutteltreppe, wo ihm, dem kränkelnden Knaben, das wilde Treiben seiner Kameraden und die nicht immer zarte Hand der Lehrer manche sorgenvolle Stunde bereitet hatten, wo ihn dann aber im Hause des Rektors Meier zum ersten Male die wohltuende Hand eines wahren Erziehers und bedeutenden Gelehrten geführt. Von dieser ersten Lehrzeit schweift dann der Blick hinüber nach Halle und Leipzig, und ein Glanz tritt in die Augen des Sinnenden, als er der Tage gedenkt, da er an der eben erst gegründeten Universität Halle zu Füßen seines verehrten Lehrers und väterlichen Freundes A. H. Francke sitzen konnte. Hart hatte ihn damals das Schicksal angepackt, denn seine Familie war durch den Brand des Jahres 1712 arm geworden, und er mußte sich mit Stundengeben und Freitisch kümmerlich durchs Leben schlagen. Und doch hatte sein Gott es gut gemeint mit ihm, da er in Francke einen Lehrer gefunden hatte, der ihm den Kem des Christentums, eines Christentums nicht des Wortes, sondern der Tat, erschloß, und da er in Francke einen allzeit hilfsbereiten Freund gefunden hatte, der auch für seinen von schwerer Krankheit befallenen Jünger sorgte. Durch sein erstes Studium, die Medizin, hatte er eine große Liebe zur Naturwissenschaft, zum Sammeln und Beobachten aller möglichen Steine und Kräuter und Tiere gewonnen, und durch sein anderes Studium, die Theologie, war er dazu gelangt, alle die einzelnen Beobachtungen, die er gemacht, die Erkenntnisse, die er gewonnen, zueinander in Beziehung zu setzen und sich Gedanken zu machen über ihr Werden und Sein, über ihren Wert im Weltall und ihre Stellung zu jenem höchsten, unerforschlichen Wesen. Und rückschauend sieht sich Lesser weiterhin in Berlin die naturhistorischen Sammlungen studieren, gedenkt voll wehmütiger Freude seiner Ausflüge und Entdeckungsreisen in die Berliner Umgebung und nach der Orangerie von Schönhausen. Aus den Launen von Fürsten zog er lernbegierig manchen Gewinn. Seine Hauslehrerzeit in Kinderode bei dem sächsischen General von Grosse und in Großwerther bei dem Herrn von Arnstedt bringt ihm die erste Muße zur Sichtung und Verwertung der bisherigen Studien. Vierundzwanzigjährig kehrt er dann schließlich, am 15. Dezember 1716 zum Pastor der Frauenbergkirche gewählt, in die Heimatstadt zurück. 1724, nach dem Tode seines Vaters, wird er auch Administrator des Waisenhauses. Hier in Nordhausen schien er nun alles zu besitzen, um ein glückliches Leben führen zu können. Sein Amt und seine Seelsorge ließen ihn in den Spuren seines verehrten Lehrers A. H. Francke wandeln, und dennoch bedeutete dieses Amt nicht solche Last, daß es ihm nicht Zeit gewährte zu allen möglichen Lieblingsstudien draußen in der Natur auf einsamen Wanderungen und drinnen am stillen Tisch des Gelehrtenzimmers. Doch immer wieder trafen ihn neue Schicksalsschläge. Seine treue Weggenossin, die dem gesundheitlich nie ganz Kräftigen wacker zur Seite gestanden, wurde ihm durch dem Tod entrissen; eine zweite Gemahlin, eine Tochter des preußischen Rates Joh. Günther Riemann und Schwester der beiden Bürgermeister Riemann, zog in sein Haus ein. Jedoch mehr noch als bisher wurde er seit dem Tode der ersten Gattin von schwermütigen Anwandlungen gepeinigt, denen zu begegnen die Ärzte ihm weite Spaziergänge anrieten. Wenn er aber dann abends in sein Heim zurückgekehrt war, las er die neuesten Werke, in denen aufgeklärte Männer seiner Zeit ihre Anschauungen über Gott und Natur niedergelegt hatten und in denen er vieles als übereinstimmend mit seinen eigenen Naturstudien anerkennen mußte. Und wenn er nun jetzt, nach vielen Jahren, dieses sein einstiges Studium überdenkt, dann verschlingen sich dem frommen, vom Pietismus ausgegangenen Manne krampfhaft Hände und Finger, aus der Brust löst sich ein tiefer Seufzer, nicht der Erleichterung, sondern der Qual, und in seinem Gedächtnis steigen jene ersten Verse eines alten Heldengedichtes auf, das ihm zufällig einmal aus vergilbten Blättern auf den Tisch geflogen war: Ist zwivel herzen nächgebür, Zweifel! Zweifel an dem Worte der Bibel! Zweifel, er der Sohn einer frommen Stadt, eines frommen Vaters, der Schüler eines frommen Lehrers, er, selbst erfüllt von tiefster Frömmigkeit und Zuversicht zu dem himmlischen Vater, der seinen Sohn auf die Erde geschickt, sie zu erlösen. Aber konnte man denn alles, was man mit eigenen Augen sah, mit den Fingern ertastete, was man verstandesgemäß überlegte, in Einklang bringen mit der Heiligen Schrift! Und wenn nicht? Log die Schrift? log die Natur? logen Verstand und Sinne? Wahrlich, der erste große Erneuerer der Wissenschaft, Baco von Verulam, hatte sich’s Leicht gemacht. Er vertraute seinen Sinnen und seiner Vernunft, und was er mit diesen nicht begreifen konnte, überließ er der guten Theologia. Damit war für unseren Lesser nichts gewonnen. Und ebenso wenig konnten ihn die späteren Engländer befriedigen. Hatte John Locke versucht, moderne Erkenntnis und christliche Grundanschauung in Übereinstimmung zu bringen? War der Menschheit mit der Verwässerung der Lehren des Christentums zu dem armseligen Bettel einer landläufigen Morallehre gedient, wie sie Locke und die Deisten vomahmen, um sich nach beiden Seiten hin zu salvieren? Nun, mit diesem Engländer und seiner Willensfreiheit, die so arg gegen die Lehren des Kirchenvaters Augustin und Martin Luthers verstieß, wurde er noch fertig. Er glaubte fest an die Wahl durch die Gnade Gottes und damit an die Unfreiheit menschlichen Willens. Diese Anschauung lehrte ja aber auch der große Atheist Baruch Spinoza! Und nun tauchte dieser ganz große verfluchte Jude auf, dieser Spinoza, der Gott nicht außerhalb der Welt annimmt und als ihren Schöpfer bezeichnet, sondern Gott und Welt gleichsetzt, unendlich, ewig, zwecklos, nur sich selbst Zweck. Es muß ja eine Blasphemie sein, wenn der Jude erklärt, daß nicht ein göttlicher Wille in allen Dingen waltet, sie erzeugt, ordnet, lenkt nach einem bestimmten Endzweck hin! Ein asylum ignorantiae für den Naturforscher soll nach den Worten Spinozas diese Annahme von dem zweckmäßigen göttlichen Walten in der Natur sein? War er, der Pastor Lesser, nicht auch Naturforscher, und glaubte er nicht gefunden zu haben, daß der himmlische Vater alles schön und zweckmäßig eingerichtet? Aber dann wieder die bestechende Sicherheit in der Beweisführung Spinozas! Und wenn man’s recht nahm, war es nicht ein erhabener Gedanke, die Unendlichkeit der Welt und die Unendlichkeit Gottes gleichzusetzen? Und dennoch! Kein Wille und kein Verstand sollte zu Gottes Wesen gehören? Fürwahr, gegen diesen Unglauben wollte er, der Naturforscher und Theolog Lesser, selbst zu Felde ziehn. So entstanden neben kleineren Abhandlungen Lessers drei große Schriften, die Lithotheologie, die Testaceotheologie und die Insektotheologie, alles Werke, aus denen seine gründlichen Naturstudien über die Steine, die Muscheln, die Insekten hervorleuchten, und in denen er beweist, daß ein Gottesmann gründliche Kenntnisse von der Natur haben müsse, „denn ohne dieselbe wird er nicht imstande sein, den atheistischen Spöttern recht zu begegnen, da im Gegenteil er ihnen eher beikommen kann, wenn er geschickt ist, ihnen aus dem großen Buch der Natur ... die vernünftige Harmonie, die weise Ordnung und den abgezielten Endzweck jeglicher Kreaturen ... vor die Augen zu legen“. Und nun denkt unser Lesser daran, daß er als von der Obrigkeit berufener und eingesetzter Prediger auch von Amtswegen die Pflicht hatte, aufzutreten gegen die Atheisten auf der einen Seite und die Konventikler auf der anderen. Gewiß, er stand selbst gegen den unfruchtbaren Dogmatismus der alten Lutheraner, predigte eine verinnerlichte Religiosität und lehrte, daß sich die Frömmigkeit in guten Werken äußern müsse, aber er war doch ganz der Meinung der übrigen Nordhäuser Geistlichen und der regierenden Herren, daß die Kirche alle möglichen Sekten nicht dulden könne, die ihre Erbauung außerhalb des Gottesdienstes suchten, die das Predigtamt verwarfen, schließlich gar die Ehe angriffen, die menschliche Arbeit für unnütz hielten und alles Heil von der eigenen Erleuchtung und, den wackeren Jakob Böhme ganz verkennend, von einem mystischen Versenken in Gott erwarteten. So mußte er dem alten Haudegen Konrad Dielfeld recht geben, der schon 1680 die Nordhäuser Konventikler abgefertigt hatte mit seiner Schrift: „Gründliche Frage, ob neben der öffentlichen Kirchenversammlung auch noch einige Privat- und Hauszusammenkünfte zur Erbauung der christliche Kirche vonnöten.“ Und als 1719 die sogenannten Engelsbrüder in der Nordhäuser Kirche Verwirrung anstiften wollten, war er, der Pastor Lesser, selbst gegen sie aufgetreten, und der Anführer der Sekte Georg Kürmes hatte aus der Stadt weichen müssen.[19] Jetzt, in der Mitte der vierziger Jahre, schien wieder eine Bewegung der Sektierer im Gange zu sein, hatten doch schon mehrere verlauten lassen, daß die Abendmahlsfeier überflüssig sei. - Ein duldsames Lächeln flog über die verwitterten Züge des Nachsinnenden. Führten nicht viele Wege zu Gott? Sollte man nicht jeden frei gewähren lassen, seinen Gott zu suchen nach seiner Art und seinem Wesen? Hatte er als Pietist von den Orthodoxen nicht selbst Anfechtungen genug erfahren müssen? Wie war es denn vor 10 Jahren in dem berüchtigten Nordhäuser Gesangbuchstreit? - und Lesser fuhr mit der Hand über Stirn und Augen und stützte das Haupt dann in den auf der Sessellehne ruhenden Arm. - Das war damals ein munterer Federkrieg gewesen! Der brave Kantor des Gymnasiums Christian Demelius hatte 1686 das erste von der Obrigkeit anerkannte Gesangbuch für Nordhausen herausgegeben, und der Vertrieb dieses Buches war nach dem Tode des Vaters auf den Sohn Andreas Demelius übergegangen. Das Buch war gewiß gut und recht brauchbar, doch schien es unserem Lesser allzuviel veraltete, im Text schwer verständlich gewordene, in der Melodie wenig ansprechende Choräle zu bergen. Wieviel neue, lieblichere und wohllautendere Lieder gab es nicht jetzt, welche das innige Versenken in den Herzensjesus verherrlichten oder gar dem „neuen Jerusalem“ entgegenjauchzten. So hatte sich denn Lesser im Verein mit seinem Amtsbruder von St. Petri Joh. Christoph Tebel unter ausdrücklicher Billigung seines Verwandten, des allgewaltigen Bürgermeisters Ch. Volkmar Riemann, daran gemacht, ein neues Gesangbuch zusammengestellt und im Februar 1735 der Öffentlichkeit übergeben. Da aber brach der Sturm los. Die rechten Orthodoxen der Stadt Nordhausen, dann aber auch mancher auswärtiger Pfarrer, unter ihnen ein Anonymus, der unter dem Namen Paläologus Philymnus in der Querfurter Zeitung schrieb, griffen die Verfasser aufs schmählichste an. Da wurde nicht bloß die Behauptung aufgestellt, die alten Gesänge würden von Lesser und Tebel „schnöde, verächtlich und geringschätzig traktieret“, während doch gerade die neuen Lieder „allezeit gefährlich“ seien „mit ihren Galantismen und der bloßen Lieblichkeit ihrer Verse“, sondern es wurde auch den Verfassern vorgeworfen, daß sie sich an den größten Glaubenshelden des Evangeliums, in Sonderheit an Luther selbst, vergriffen hätten. Dem Angriff folgte die Abwehr und der Gegenangriff, und der Streit erhitzte um so mehr die Köpfe, als Riemann und der Nordhäuser Rat das neue Gesangbuch mit ihrer Autorität deckten. Doch mochten einigen Ratsmitgliedem schließlich selbst Zweifel an der Güte des neuen Buches gekommen sein. Einige Ausmerzungen waren ja auch schwer zu rechtfertigen. So war der Choral „Es ist das Heil uns kommen her“ verschwunden; die Herausgeber erklärten ihn als mangelhaft in der Form, im Vortrage undeutlich, inhaltlich z. T. anstößig. Es war ferner weggeblieben „Wie schön leucht’t uns der Morgenstern", weil trotz der schönen Melodie die Verse schlecht gebaut seien; es fehle „Nun freut Euch, liebe Christen, g’mein“, weil das Lied „dunkle und harte Redensarten“ enthielte, und endlich war sogar ausgelassen Paul Gerhards „O Haupt voll Blut und Wunden“, da es „theatralisch“ anmute.[20] Als schließlich der Rat gar angegriffen wurde und unter seinen Mitgliedern Bedenken entstanden, hielt Riemann im Februar 1736 eine große, außerordentlich geschickte Verteidigungsrede, die später durch den Druck verbreitet wurde und so auf uns gekommen ist. Und wie sonst, so setzte sich der Bürgermeister auch diesmal durch. Das Gesangbuch blieb eingeführt. Allerdings zogen die Verfasser aus dem Streite eine Lehre, und als 1737 die zweite Auflage ihrer Liedersammlung erschien, war diese um 143 Lieder vermehrt, unter ihnen fand sich auch wieder manch’ altes, zunächst gestrichenes Lied, und in dieser Form blieb das Nordhäuser Gesangbuch dann weiter in Gebrauch.[21] Er, Lesser, war es also, der die Lieder ausgesucht hatte, welche jetzt allgemein in Nordhausen gesungen wurden. In dem Bewußtsein, im Kampfe für sein Werk seinen Mann gestanden zu haben, reckte sich der im Sessel Sitzende auf, und selbst etwas wie Stolz flog über seine Züge. Hatte er nicht auch Zeit seines Lebens vorangestanden unter den Nordhäuser Geistlichen, ohne Pastor primarius zu sein, nur als schlichter Pfarrer am Frauenberge, dann als Pfarrer an St. Jakobi? Er und kein anderer hatte 1730 zum Reformationsfest die Schrift verfaßt, die das freudige Bekenntnis Nordhausens zum evangelischen Glauben enthielt, er hatte für die Salzburger Emigranten gesorgt, er war der beliebteste „Flurprediger“ im Hospital von St. Cyriaci, und er war seit 1739 auch Seelsorger des Martinihospitals. So stand er mitten unter der Nordhäuser Bürgerschaft als geachteter Mann, fühlte sich selbst als Bürger und seiner Vaterstadt tief und innig verbunden. Zu ihrem Ruhme nahm er, der Nimmermüde, deshalb auch den Gedanken seines längst verblichenen Freundes von St. Blasii, des Pfarrers Kindervater, auf, eine Chronik der Stadt Nordhausen zu schreiben. 1740 waren diese „Historischen Nachrichten von der Kaiserl. und des Heiligen Römischen Reiches Freyen Stadt Nordhausen“ erschienen. Der Verfasser wußte selbst gut genug, daß er mit seiner lückenhaften und nicht immer kritischen Materialsammlung nur eine winzige Vorarbeit für die Geschichte seiner Heimatstadt geleistet hatte, und doch konnte er stolz auf dieses Werk sein; denn vielfach hatte er mit sicherem Blick für das Wesentliche die Auswahl getroffen. So überschaute Lesser in einer Dämmerstunde des Jahres 1746 sein ganzes Leben und Streben. - „Mein ganzes Streben?“ fragte er still; und voll zärtlichster Liebe glitt sein Blick zu dem kleinen Modell auf seinem Schreibtisch hinüber, dessen Umrisse bei den starken Schatten, die jetzt in der Stube lagen, nur noch undeutlich zu erkennen waren. So entzündete er denn die Studierlampe, deren weißlackierter Blechschirm zwar das Licht auf die Arbeit konzentrierte, deren Flamme aber noch von keinem Zylinder zusammengehalten war, so daß die offene Flamme des aus einem Ölbehälter gespeisten Dochtes rauchte und rußte und der Docht alle Augenblicke geputzt werden mußte. Bei dem trüben, gelben Schein der Lampe hielt er nun das Modell in der Hand, das er sich für seine Studierstube nach einem größeren Holzmodell selbst gefertigt hatte. 1741 war er vom Frauenberge herab nach der Neustadt als Pfarrer gekommen und hatte hier eine der ältesten und baufälligsten Kirchen vorgefunden. Die Altendorfer Kirche hatte man Ausgang des 17. Jahrhunderts noch einmal zusammenflicken können; diese Neustädter Jakobi-Kirche aber war durch Alter und Blitzschlag und Feuersbrunst so mitgenommen, daß nur ein Neubau übrigblieb. Als Lesser der Gemeindevertretung und dem Rate die Notwendigkeit dieses Neubaues vorstellte, stimmte jeder zu; aber die arme Gemeinde hatte kein Geld, und der Rat, der in den letzten Jahren die Stadt beleuchtet, gepflastert, bebrückt, befestigt, verschönt hatte, konnte für einen kostspieligen Kirchenbau auch keine Mittel flüssig machen. So hatte Lesser zwar die Genehmigung zum Neubau, aber kein Geld, ihn ins Werk zu setzen. Doch da bewährte er sich nun als echter Jünger Franckes, der auch nur eine winzige Kollekte als Grundstock für alle seine gewaltigen Bauten gehabt hatte. Er entfaltete eine rege und rührende Werbetätigkeit für seine Kirche, um die 10000 Taler zusammenzuscharren, die der Neubau erforderte. Schon sein erster Aufruf im Jahre 1742 ward weithin gehört, und 1743 war wenigstens eine solche Summe beisammen, daß der Rat glaubte, die Einwilligung zum Abbruch der alten Kirche geben zu können. Am Sonntag nach Trinitatis 1744 hielt Lesser seine letzt Predigt in dem alten Gehäuse, dann siedelte er für die Bauzeit mit seiner Gemeinde in das Stift von St. Martini über, und nach der feierlichen Grundsteinlegung am 14. Juli 1744 konnte der Neubau endlich beginnen. Wieviel Sorge bei den unzureichenden Mitteln, wieviel Ärger mit den Maurern, wieviel Anfechtung von Übelwollenden hatte er schon in dem ersten Baujahre zu kosten bekommen! Und doch hatten sich auch edle Menschen zur Unterstützung gefunden, und das Werk war gefördert worden. Eine besondere Erleichterung war es, daß Herzog Karl von Braunschweig billiges Baumaterial zur Verfügung stellte. Es stammte aus den Klosterruinen von Walkenried, denen 4000 Kubikfuß Quadersteine entnommen werden durften. So reckten sich allmählich die Mauern empor. Voll Hoffnung stellte Lesser sein Modell auf den Schreibtisch zurück. Denn auf der Treppe ließen sich Schritte vernehmen, und gleich darauf trat auch schon hinter der anmeldenden Magd Seine Magnifizenz, der Herr Bürgermeister Chilian Volkmar Riemann, selbst in die Stube. Der Bürgermeister lachte, da er noch flüchtig beim Eintritt gesehen hatte, daß Lesser soeben sein Lieblingsspielzeug aus der Hand gelegt hatte. Freudig streckte der Pfarrer dem Gast, der noch ein paar Jahre älter als er selber war (1687 geb.), aber voller Frische und Tatkraft, die Hand zum Willkommen entgegen, während die Magd die Talglichter eines dreiarmigen Leuchters entzündete. Denn die teuren Wachslichter des Kronleuchters, die nicht abgeschnuppt zu werden brauchten, brannten nur bei festlichen Gelegenheiten. Beide Männer nahmen am Tische Platz, und Lesser mußte seinem Schwager Bericht erstatten über den Fortgang des Baus. Er war in letzter Zeit mehr gefördert worden, als Riemann angenommen hatte, und da er nun sah, daß das Werk gedieh, meinte er beiläufig, daß bei eintretender Geldknappheit wohl auch einmal Ratsmittel zur Verfügung stehen könnten, aber in bescheidenem Umfang, wie er nicht zu betonen vergaß.[22] Dann schüttete er aber dem Freund und Verwandten das Herz aus über die jüngste Bewegung der Separatisten und Sakraments Verächter und bat um des Pfarrers Rat. Der setzte sich zurecht und begann eine gründliche theologische Auseinandersetzung voll ernstlicher Sorge um das Seelenheil der Sektierer, aber doch mit dem Grundton von Duldung und Liebe auch zu den abseits der Kirche weidenden Schafen. Doch Riemann unterbrach ihn ungeduldig und erklärte, der Pfarrer verkenne das für ihn als Bürgermeister Wesentliche. Es handele sich um die Frage, ob dieser Seperatismus für das Staatswesen erträglich sei, ob man trotz Gefährdung von Ruhe und Ordnung dergleichen Gebahren dulden könne, und ob man - ein Seufzer entrang sich den Lippen des Staatsoberhauptes - im Rate selbst, ja an führender Stelle im Rate einen Verächter des Abendmahls belassen dürfe. Scharf blickte Riemann den Freund an, doch der senkte voll Bedenken die Augen. Er wußte wohl, auf wen der Bürgermeister zielte. Es war Andreas Sigismund Wilde, erst seit zwei Jahren Bürgermeister und Amtsgenosse Riemanns, aber schon immer sein Gegner. Wo er nur konnte, hielt er, der Sproß aus uralter Nordhäuser Familie, dem verhaßten Emporkömmling das Widerspiel. Die Lust aber, sich in Gegensatz zu offiziellen kirchlichen Anschauungen zu setzen, schien ihm im Blute zu liegen; hatte doch einst sein Urahn Georg Wilde seinen Syndikusposten wegen calvinischer Neigungen aufgeben müssen.[23] Jetzt, wo Wilde soeben sogar die persönliche Lauterkeit seines Gegners in Zweifel gezogen hatte, wollte Riemann diese Neigung zum Seperatismus benutzen, um den Feind unschädlich zu machen. Lesser überlegte und sagte dann, auf seine Finger blickend, vorsichtig: „Der aufgeklärte Geist unseres Säkulums läßt es nicht zu, der Opinion eines einzelnen Fesseln anzulegen mit der Gewalt und den Armen des Staates, sondern gestattet nur Auseinandersetzungen mit Wort und Schrift, glaubt an Überzeugung und Belehrung, und was mich betrifft, so hoffe ich, daß der allgütige Gott den Abgeirrten erleuchtet. Die Freiheit Individui, zu spekulieren und raisonnieren, darf nicht beschränkt werden. Wird freilich die Bewegungsfreiheit des einzelnen so groß, daß ein öffentliches Ärgernis entsteht und daß die Interessen rei publicae violieret werden, müssen wohl Polizei und Zensur, Verbot und Ausstoßung herbei. Wo aber der Limes ist, an dem die Freiheit Individui aufhöret, muß zu Gunst und Gedeihen der Sozietas entschieden werden von Fall zu Fall“ „Hochwürden, Herr Pfarrer“, lachte Riemann, „mit solchem Sprüchlein ist mir nicht gedient. Doch sehe ich schon, daß einem Regenten der neue Geist der Aufklärung und Toleranz, dem auch ich huldige, nicht selten rechtes Kopfweh bereiten kann. - Nun, wir werden sehen; geht es wirklich hart auf hart, so hoff’ ich wenigstens auf die schreibgewandte Feder des Herrn Pastors von St. Jakobi. Und damit: Bon soir!“ – Wilde wurde am 5. April 1747 vom Amte suspendiert, beugte sich aber in religiöser Beziehung, als am 15. August 1751 eine Ratsordnung herauskam, die den Sektierern auferlegte, bis Michaelis in den Schoß der Kirche zurückgekehrt zu sein oder die Stadt zu räumen. Einige andere Separatisten verharrten bei ihrem Widerstand, und so mußten 1752 zwölf Familien auswandem. Die meisten fanden bei Friedrich dem Großen in Preußen Unterkunft. Pastor Lesser hatte noch 1752 durch ein Schriftlein zum Guten reden wollen, doch Rat sowohl wie Sektierer blieben unbeugsam.[24] Mehr Freude als an dieser bedauerlichen Starrköpfigkeit hatte er an seinem Kirchenbau. Am 24. August 1747 konnte „der Busch auf gesteckt werden“, am 12. Oktober 1749 fand die Einweihung statt. Sie ging unter größter Feierlichkeit vor sich, und wir erwähnen nur, daß der Rektor des Gymnasiums Goldhagen dazu eine Kantate gedichtet hatte, die von unserem Freunde, dem Organisten Schröter, in Musik gesetzt worden war. – Am 17. September 1754 ist Lesser, 62 Jahre alt, gestorben; er wurde in seiner Jakobikirche zur rechten Seite des Altars begraben.[25]
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