Zwischen Harz und Kyffhäuser. In der Reichsstadt Nordhausen – Geschichte und Gegenwart

Aus NordhausenWiki
Textdaten
Autor: Karl Lütge
Titel: Zwischen Harz und Kyffhäuser. In der Reichsstadt Nordhausen – Geschichte und Gegenwart
Untertitel:
aus: Pariser Zeitung, Nr. 130, 12. Mai 1943, Seite 3
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1943
Verlag: Europa-Verlag
Drucker:
Erscheinungsort:
Quelle: Scan
Kurzbeschreibung:
Digitalisat:
Eintrag in der GND: [1]
Bild
[[Bild:|250px]]
Bild
Zwischen Harz und Kyffhäuser
In der Reichsstadt Nordhausen — Geschichte und Gegenwart


 Zwischen Harz und Kyffhäuser, im gewellten Hügelgelände vor dem ausdrucksvoll gefügten Naturtor „der porta eichsfeldica“, steigt das rote und blaue Dächergewirr der tausendjährigen Stadt Nordhausen rund um einen respektablen Höhenrücken an. In der Zeit der Prospektlobpreisungen hiess diese von Heinrich, dem deutschen König, gegründete und von ihm als Sitz wiederholt erwählte Niederlassung am alten Bollwerk Harz: „Stadt der Treppen“. Die alte Steinwehr der Stadtmauer, die sich die Stadt im Mittelalter gab, als sie sechshundert Jahre freie Reichsstadt war, ist noch heute erhalten, von den siebzig Türmen dagegen stehen nur wenige, und die Tore fielen als Verkehrshindernisse der Spitzhacke zum Opfer. Trotzdem blieb viel Mittelalterliches des Stadtbildes bestehen, zuvor die langen, steilen, kuriosen Treppen und die buntgescharte Häufung kleiner, meist schieferbedeckter oder fachwerkfroher Häuser in gewundenen, schmalen und ansteigenden Gassen und Stiegen.

 Unterhalb der alten Stadt zog durch die Senke zwischen dem ungestüm auffahrenden Harz und den Bergen Nordthüringens die alte Heerstrasse von Berlin nach Frankfurt vorüber, deren Lauf auch die spätere Bahn wählte. So brachte die günstige geographische Lage der Stadt gute Eisenbahnverbindungen, ausser der erwähnten, die von Berlin und von Halle durch das Eichsfeld nach Kassel zieht, eine weitere nach dem Westen, entlang dem Harz, über Northeim, eine andere nach Erfurt und endlich die Harzquer- und Brockenbahn seit der Jahrhundertwende. Industrien siedelten sich daher vor dem bebauten Höhenrücken an, und da zugleich die Oberstadt, mit ihrer aussichtsweiten Lage, zu einer Kurstadt erwuchs, fand sich die alte Stadt eines Tages in eine dreifache Rolle gedrängt, Tausendjährige mit sehenswertem Dom und zahlreichen beachtlichen grossen Bauten, Ruheständlerstadt mit Kurstadtstrassen und Industriestadt.

 Die arbeitsame Haltung der alten Reichsstadt lässt sich aus den vergilbten Blättern ihrer Chronik ablesen. Seit Jahrhunderten waren Gewerbe und Handel hier rege. Der „Nordhäuser“, der früheste Kornbranntwein, wurde ein Begriff für Deutschland und zu Anfang des vorigen Jahrhunderts schuf Hanewacker in Nordhausen den deutschen Kautabak, indem er den bisher aus Irland und Dänemark eingeführten rohen Presstabak durch aromatische Sossung zu veredeln begann. Er weckte damit eine Riesenindustrie, die den grössten Teil des europäischen Bedarfes an rauchlosem Tabak herzustellen begann und noch heute bedeutend ist.

 Zehntausende Fremde durchschlenderten vor dem Krieg allährlich die Mittelalterstadt und die reizvolle Umgebung, die mit ihren bewaldeten Vorharzhügeln unmerklich in den Harz übergeht. Heute hat sich der Menschenstrom, der behender als früher vor und zum Bahnhof zieht, gegenüber früher stark verändert. Aus rund hundert Dörfern und kleinen Städten, die sich um die 45 000 Menschen zählende Stadt geschart liegen, strömen arbeitseifrige Frauen und Männer in die Betriebe. Man wird von dem Strom ergriffen und mitgezogen, und statt der Spuren des ehrwürdigen und stolzen Einst betrachtet man den Arbeitsfleiss und die neuzeitlichen Stätten des Schaffens, die diese alte Stadt so gediegen und zeitentsprechend in der Unterstadt stehen hat wie reine Industriestädte des Reiches.

 Den neuen Aufgaben des Reiches in seinem Existenzkampf ist, wie die tausendjährige Stadt Nordhausen zwischen Harz und Kyffhäuser, manch andere alte, anscheinend in Erinnerungen und ins Früher versponnene Stadt zugewandt. Wer heute durch seinen Beruf in fremde Städte gelangt, wird mehr dieser Erscheinung sein Interesse zuwenden als den bisher üblichen Aeusserungen einer mehr oder weniger berühmten Stadt, wenn das Gesamtbild unverwischbar im Gedächtnis haften bleibt, wie es die Tausendjährige zwischen Harz und Kyffhäuser inmitten ihres Arbeitsernstes ausdrucksvoll selbst im Krieg zur Schau zu stellen vermag.

Karl Lütge