Zwei deutsche Helden, Scharnhorst und Blücher, in Nordhausen
Es war am 12. Oktober 1806, am Tage nach der unglückseligen Doppelschlacht von Jena und Auerstedt. Scharnhorst hatte vom König den Befehl erhalten, die flüchtenden Truppen zu sammeln und zu ordnen. Von Sömmerda gings nach Sondershausen. Hier traf auch Hohenlohe, von Erfurt kommend, ein. Und in welch einer Verfassung traf er ein! Noch vor wenigen Wochen der Stolz und die Hoffnung der Armee, erschien er nun gebrochen, entmutigt und kaum noch eine leise Hoffnung hegend.
Woher sollte er auch noch Hoffnung nehmen? Das Heer war jeder Disziplin entledigt. Kaum, daß der Soldat noch des Befehls achtete. Der Hunger machte ihn fanatisch, rücksichtslos und roh. Er nahm die Nahrung da, wo sie zu kriegen war. Bediente sich zu ihrer Erlangung der Mittel, die ihm zur Verfügung standen. Wozu trug er eine Waffe, wenn er sie nicht zur Stillung seines Hungers gebrauchen sollte?
Dazu die Beunruhigung durch den Feind! War eine Kolonne im Begriff, in einer Ortschaft Rast zu machen und Quartier zu nehmen, so erschienen auch schon die Tirailleure. Dann hieß es, aufzubrechen und sich in Sicherheit zu bringen. Als allgemeines Ziel wurde Nordhausen bekanntgegeben. Dort würde man zur Ruhe kommen. In den Kellern und Speichern dieser Stadt den nötigen Vorrat zur Stillung des Hungers finden. Und dann... Hei! Hohei! War Nordhausen nicht die weltberühmte Stadt der feinen Schnäpse?! „Branntwein trinken, Branntwein! Das ist das Leben! Das bringt Stimmung! Diese Wirtschaft, diese Schinderei ........... pfui Deibel! Mag der König selber sehen, wie er mit dem Franzmann fertig wird! Sind wir mit ihm beweibt? Pah —! Sind wir nicht! Jibt er uns nichts zu fressen, so jehen wir! Und wenn's zu dem Napoljum wäre!
Der Soldat ist frei!
Er verschießt das Blei
Für jeden, der zahlt
Und nicht nur prahlt!
Der Soldat ist zu Haus
Wie im Speicher die Maus!
Sie kennt nur das Naschen,
Er füllt sich die Taschen!
Doch wo nichts zu holen.
Bleibt beiden jestohlen!
Der Soldat ist frei!
Komm, Mädel, Juchhei!
In galliger Bitterkeit und mit beißendem Humor wurden die sonst wohl mit herausforderndem Übermut gesprochenen Verse durch die Lippen gepreßt. Auf Scharnhorsts Gemüt wirkten sie erschütternd. Was wußten diese irgendwo angeworbenen Burschen von Heimat und Vaterland? Und doch sollten sie Heimat und Vaterland mit ihrem Blute verteidigen! Mit ihrem Blute!
Scharnhorst starrte in die Weite und lachte bitter auf, sehr bitter. Wann traten an die Stelle dieser Ehr- und Pflichtlosen die besten Männer des deutschen Vaterlandes —?
Nun war er mit seinen zügellosen Söldnerscharen in Nordhausen angelangt. Und diese ruhige, schöne Stadt zwischen dem Kyffhäuser und dem Südharz wurde unversehens zu einem Tummelplätze geschlagener, hungernder und in eiliger Flucht wild aufgelöster Abenteurer.
War das ein wüstes, tolles Treiben in den Straßen! War das ein Lärmen, Johlen und Spektakeln in den Schenken! Und welch ein Zulauf vor den Kaufmannsläden! Als aber die Inhaber ihre Ware weggegeben, ohne bezahlt zu werben, schlossen sie die Türen. Da wurden sie mit Gewalt erbrochen, und die Söldner nahmen, was ihnen in die Finger kam: Eßwaren, Schmuckstücke, Spielsachen, Frauenwäsche. Auf der Straße, in den Kneipen oder wo sonst jemand angetroffen wurde, der nicht abgeneigt war, ein Geschäft zu machen, wurden die Sachen eingetauscht. Eine Flasche Schnaps, ein Stück Speck, auch eine Rolle Kautabak, waren die begehrtesten Artikel. In Nordhausen ging's drüber und drunter. Die Reste von zwei geschlagenen Armeen fanden die erste Gelegenheit, sich zu verschnaufen und ihren tierischen Instinkten freien Lauf zu lassen.
Scharnhorst, dem Generalquartiermeister, lag die Pflicht ob, zu beruhigen, zu besänftigen und zu ordnen. Soweit die Truppen schon in persönliche Berührung mit ihm gekommen waren, konnten sie der Wirkung seiner gewinnenden Art nicht widerstehen. Sie hörten ja aus allen seinen Worten und sahen es in jedem Blick der Augen, wie gut und ehrlich er es meinte. Sie zweifelten auch nicht daran, daß die Forderungen, die er stellte, nötig seien. Andere, denen er bisher noch fremd geblieben war, namentlich die Leute aus Hohenlohes Korps, die ja bei Jena gekämpft hatten, stutzten, wenn sie ihn hörten und ihm dabei ins Auge sahen, wurden ein wenig verlegen, knurrten vor sich hin und gingen ihrer Wege.
Was war's für ihn und für das Heer da für ein Segen, daß ihm jemand zur Seite stand, der durch ganz andere Mittel auf die Massen einzuwirken wußte! Dieser schon ältere Mann mit den großen, sprühenden Eulenaugen und dem weihen, struppigen Bart verstand es, in feurigen, jugendfrischen Worten die Mannschaft aufzurütteln; sie auch durch die Derbheit und den Humor seiner Sprache mitzureißen und sie widerstandslos unter seinen Willen zu zwingen. Es war Blücher, der preußische Reitergeneral aus schwerer, großer Zeit.
Hier in Nordhausen traten der tiefe Denker und großzügige Pläneschmied und die mitreißende, tatenfreudige Soldatennatur des Feldlagers und der tobenden Schlacht zum erstenmal in engere Beziehung zueinander. Hier wurden sie aneinander warm, hier schlossen sie eine Freundschaft, die durch keinen Mißton getrübt werden sollte, die von dem einen bis an den frühen Tod, von dem andern weit über des Freundes Grab hinaus in unverbrüchlicher Treue und Wärme gewahrt wurde. Welch ein Gegensatz im Wesen dieser Männer! Und dennoch eine Einheit! Beide deutsch bis auf die Knochen, deutsch bis in das Mark! Treu und wahr und ohne Falsch, als seien sie aus lauterem Sold geprägt! Welch eine Fügung, daß sie sich fanden! Wann haben sich Freunde so glücklich ergänzt wie diese Männer! Zwei Heldennaturen sondergleichen! Und doch wie himmelweit verschieden die Auswirkung ihres Heldentums!
Am dritten Abend nach der verhängnisvollen Doppelschlacht war's Scharnhorst und Blücher gelungen, einige Ordnung in die Trümmerreste der Armee zu bringen. Und es war höchste Zeit! Schon erschienen die ersten Reiter der nachfolgenden Franzosen vor dem Toren Nordhausens.
Scharnhorst erhielt von Hohenlohe den Befehl, das Heer quer über den Harz zu führen. Der Fürst wußte, welche Schwierigkeiten mit dem Marsche verknüpft waren. Aber gerade deswegen hatte er den Weg durchs Gebirge ausersehen. Durch die Unwegsamkeit des Geländes hoffte er den verfolgenden Feind am ersten von sich abzuschütteln.
Der Gedanke war nicht schlecht. Dennoch mußte Scharnhorst widersprechen. Die Gespanne der Artillerie waren erschöpft und völlig abgemagert. Wie sollten diese Gäule die dreißig schweren Geschütze, den Rest des ganzen Heeres, über die steilen Berge bringen?
Was anfangen? Guter Rat war teuer, und die Zeit drängte. Daß die starke Festung Magdeburg das Ziel der Truppen war, wußte auch der Feind. Wie das Elbbollwerk erreichen? Südlich des Harzes nach Osten auszuweichen, ging nicht an. Der Feind würde dem Heere in die Flanke fallen und ihm den Weg abschneiden. Scharnhorst zog die Brauen zusammen und nahm erneut die Karte in die Hand. „Hoheit", sagte er darauf zum Fürsten, „es gibt nur einen Ausweg: die Täuschung! Statt nach rechts muß nach links ausgebogen werden! Wir müssen das Gebirge nach Westen zu umgehen!"
„Die Zeit, Scharnhorst! Bedenken Sie die Zeit! Magdeburg rückt um das Doppelte von uns ab!"
„Von allen Übeln ist das Kleinste am erträglichsten!"
Der Fürst seufzte, preßte die Lippen aufeinander und sagte: „So gehen Sie!"
„Aber ich muß Deckung haben, Hoheit! Gehen die Geschütze verloren, so ist alles verloren!"
„Ihr Vorschlag?"
„Ich bitte um ein Bataillon Infanterie und mehrere Schwadronen Kavallerie. Am liebsten unter General von Blüchers Führung!"
Auch dieser Antrag ward genehmigt, und noch am gleichen Abend wurde von Nordhausen aufgebrochen. Unaufhaltsam ging es vorwärts, die ganze Nacht, bis an den Morgen. Viermal mußten Bäche und kleine Flüsse durchkreuzt werden. Um die Brücken für die Geschütze freizulassen, wateten Reiter und Fußsoldaten durch Bach und Flüßchen. Nicht selten standen die Männer bis an die Brust im Wasser. So wurden bei Tagesgrauen Scharzfeld und Herzberg erreicht. Ein großer Vorsprung war gewonnen, und der Feind hatte die Spur verloren. Das Geplänkel der Tirailleure hörte auf, und der Marsch konnte in etwas ruhigerem Tempo vor sich gehen.
Über Osterode ging's auf Seesen zu, Goslar ward nicht berührt, und schon nach zwei Tagen wurde in Salzgitter Quartier genommen.
Scharnhorst schickte auf dem ganzen Marsche Reiter voraus,- sie hatten Vorspannpferde aufzutreiben und unbrauchbar gewordene Gäule gegen gesunde auszutauschen. So ging es flott von statten, und der Weg nach Magdeburg wäre im ebenen Gelände bald zurück gelegt worden. Da prallte die Nachricht an Scharnhorsts und an Blüchers Ohr, daß ... jawohl: Magdeburg hätte kapituliert!!
Dem Helden von Auerstedt entwich das Blut aus den Wangen, und eine steinerne Starre trat ihm ins Gesicht. Zu sagen wußte er nichts.
Blücher aber fing an zu donnerwettern, daß dem einen angst und bange wurde, dem andern aber vor Erleichterung die Augen an zu leuchten fingen.
- (Eine Überarbeitung aus dem kürzlich bei Fr. Wich. Grunow in Leipzig erschienenen großem Romanwerke „Scharnhorst, der deutsche Mann und Held", das hiermit allen Lesern angelegentlichst empfohlen wird. W. K.)