Wie ein Pogrom gemacht wird – Die „kochende Volksseele“ von Nordhausen
WIE EIN POGROM GEMACHT WIRD
Die „kochende Volksseele“ von Nordhausen“
Schandszenen auf dem Marktplatz
Prag, 1. September.
Die neue Welle der Terrormassnahmen im Dritten Reiche kann in der Auslandspresse meist nur stichwortartig registriert werden, denn es dringen nicht viel Einzelheiten über die Grenze. Aber es ist gut, einmal so ein Pogrom mit seinen schauerlichen Details zu verfolgen. So wurde vor einigen Tagen berichtet, dass in der Stadt Nordhausen am Harz der katholische Pfarrer in Schutzhaft genommen wurde, weil er einem SA. Mann das kirchliche Begräbnis verweigert habe. Was sich hinter dieser lakonischen Nachricht verbirgt, haben Augenzeugen gehört: An einem Sonntag ertrank beim Baden der katholische SA.-Mann Paffrath, ein Angestellter der Stadtverwaltung. Am nächsten Vormittag ersuchten die Eltern den Pfarrer Dechant Hunstiger um die Ansetzung des Begräbnisses. Der Pfarrer erwiderte, dass Paffrath aus religiösen Gründen exkommuniziert gewesen und dass für eine kirchliche Beerdigung die Zustimmung der Ordinariats notwendig sei, die er sofort einholen wolle. In der Tat konnte Dechant Hunstiger etwa um 5 Uhr nachmittags der Familie mitteilen, dass die bischöfliche Zustimmung zum Begräbnis erteilt sei. Diese Mitteilung aber nützte den armen Pfarrer gar nichts mehr. Denn die Familie Paffrath war am Vormittag empört zur örtlichen Parteileitung gelaufen und hatte berichtet, dass der Pfarrer nicht sofort ein kirchliches Begräbnis zugesagt hatte. Die Parteistelle erkannte die gute Gelegenheit, dem ihr schon lange politisch verdächtigen Geistlichen eins auszuwischen. Sie kommandierte eine wilde Volksmenge vor das Pfarrhaus, ein Anführer hielt eine wüste Hetzrede und geisselte das „volksverräterische Treiben“ des Dechanten, der vor einigen Monaten einem zum Tode verurteilten Verbrecher die Absolution erteilt, jetzt aber einem braven SA.-Mann die Bestattung in geweihter Erde verweigert habe. Diese Szene spielte sich abends um 8 Uhr ab, also 3 Stunden nachdem die Familie des Toten erfahren hatte, dass dem Begräbnis nichts im Wege stehe! Hiervon verlautete natürlich kein Wort. Man zerrte den Dechanten, einen stattlichen westfälischen Bauernsohn, auf die Strasse, band ihm ein Stirnband um, auf dem stand: „Ich bin ein Lump“! und führte ihn so mit Gejohl durch die Stadt. Verhöhnt und bespieen, geschlagen und getreten musste der Geistliche durch die Strassen laufen. Ein katholischer junger Mann, der sich der Horde entgegen zu stellen wagte, wurde halb tot geschlagen. Er sowohl wie der Pfarrer sind dann ins Konzentrationslager überführt worden. Und der ganze grausige Vorfall wurde der Oeffentlichkeit mit den nüchternen Worten mitgeteilt: „Der Dechant Hunstiger in Nordhausen musste in Schutzhaft genommen werden, weil er, der noch kürzlich einem Mörder die Absolution erteilt hatte, einem ertrunkenen SA.-Mann das kirchliche Begräbnis verweigerte.“ Nun aber war die Nordhäuser Volksseele im Kochen und was lag näher, als ein Pogrom? Die jüdische Bevölkerung durchlebte schlimme Tage, denn überall erfolgten antisemitische Exzesse. Das grösste Fest für Alt und Jung war es, als man den Viehhändler Selig und den 82-jährigen Kaufmann Bacharach im Triumphzug zum Kornmarkt, dem Hauptplatz der Stadt, schleppte und die beiden Unglücklichen unter Führung des Kreisleiters Keiser in den Neptunbrunnen warf. Grund: Rassenschändung! Als die Hitlerjungen genug „Gaudium“ gemacht hatte, erklärte der Kreisleiter lachend, dass nunmehr „die Aktion beendet“ sei. Die beiden Opfer des Pogroms mussten schwer krank ins Krankenhaus gebracht werden. Zum Unglück für die ritterlichen Kämpfer steht aber der Neptunsbrunnen gerade vor dem Hotel „Römischer Kaiser“, wo zufällig eine grössere Anzahl von Engländern und Holländern wohnte. Diese Gäste gaben ihrer Entrüstung über das Schauspiel unverhohlen Ausdruck: „Das sind also die „Gräuelmärchen“ der Auslandspresse!“ Nun, wir werden für eine wahrheitsgemässe Berichterstattung sorgen!“ Und über Nacht war Nordhausen alle ausländische Gäste los. Jetzt endlich erschien die Gestapo aus Berlin, und wie man hört, haben die örtlichen Parteistellen eine gehörige „Abreibung“ bekommen. Die wird sicher helfen – mindestens für 8 Tage! |