Städtebaulicher Denkmalschutz in Bleicherode: Das Kanzleikarree
Dieser Bericht ist ohne ein paar Worte zu seiner Vorgeschichte nicht vollständig: 1996 war das große Grundstück der Alten Kanzleieine trostlose Ruinenlandschaft (Anwohner: „Nur Ratten und Mäuse“). Die Gebäude (Haupthaus, Scheune, Remise) waren zerfallen oder wurden mit Stützbalken vor dem Einsturz gesichert. Nach Sicherungsmaßnahmen der Deutschen Stiftunggelang es, mit Fördermitteln der Europäischen Union und des Landes das1661 errichtete Baudenkmal zu retten. DasHaupthaus wurde 2007 eingeweiht, die Scheune folgte 2010, die Remise 2012. Das geschlossene Anwesen wurde Dank der unermüdlichen ehrenamtlichenAktivitäten des 2000 gegründeten Fördervereins zu einem gesellschaftlichen und kulturellen Schwerpunkt der Stadt und zu einem Beispiel für den respektablen Denkmalschutz in Thüringen. Doch zum Thema: In Bleicherode wird nun mit Fördermitteln des Freistaats in Höhe von 700 Tsd. € der erste Bauabschnitt eines Projekts realisiert, das ein gutes Beispiel für den städtebaulichen Denkmalschutz sein wird. Das Kanzleikarree, dessen Mittelpunkt die denkmalgeschützte Alte Kanzlei(1661) ist, soll zu einem Kultur-und Gesellschaftszentrum neu- und umgestaltet werden. Das Karree ist das Herzstück der alten Oberstadt. Für die wirtschaftlich nach der Wiedervereinigung stark geschwächte Stadt hat diese Maßnahme eine massive Bedeutung. Die früher beachtliche Webereiindustrie ging zugrunde, das ehemals große Kaliwerk ist nur noch in kleinem Umfang tätig. Außerhalb des Zentrums liegende Supermärkte haben zur Verödung des Stadtzentrums geführt. Starke Abwanderung war die Folge, die Überalterung ist massiv. So kanndas Projekt „Kanzleikarree“ einen starken Betrag zur Vitalisierung Bleicherodesund vor allem seiner Oberstadt leisten. Die Neugestaltung des Kanzleikarrees wirdauch ein Beispiel „par excellence“ für den städtebaulichen Denkmalschutz sein. Das bis auf eine Öffnung an der nördlichen Seite umbaute Karree besteht aus dem barocken Fachwerkbau „Alte Kanzlei“, zwei Wohnhäusern, einem Gewerbebau, der großen Kanzleischeune mit Wohnanbau und einer kleineren Scheune. Sie umrahmen eine sehr große freie Hoffläche. Genutzt werden nur die Gebäude und das Hofgelände des in der Mitte gelegenenGrundstücks der denkmalgeschützten undvor fünfzehn Jahren restaurierten Alten Kanzlei: Haupthaus, Scheune, Remise. Die westlich und östlich benachbartenGebäudesind Sanierungsfälle und stehen seit Jahren leer. Deren trostloser Anblick beeinträchtigt in hohem Maß die bauliche Attraktivität der Alten Kanzlei. Der Sanierungsbedarf der Nachbarbauten schmälert obendrein die Wohnqualität des gesamten oberstädtischen Quartiers,was wiederum auch für die Stadt und ihr Image nachteilig ist. Die um 1660 errichtete Alte Kanzlei gehört zu den schönsten barocken Fachwerkbauten der Region. Sie war einmal Verwaltungssitz der Grafschaft Hohenstein. Seit etwa 1698 befanden sich in ihrem westlichen Obergeschoss die ersten Bet- und Schulräume der jüdischen Gemeinde der Stadt. 1791 überließ die aufklärerische Eigentümerin Gräfin Hagendiese Räume der jüdischen Gemeinde unkündbar und immerdar. Bis zur Einweihungder großen Synagoge 1882 dauerte diese Nutzung. Die Alte Kanzlei ist der letzte in seiner ursprünglichen Gestalt erhaltene historische Ackerbürgerhof der Stadt, dessen Scheune mit ihrem gewaltigen Dachgebälk jeden Besucher beeindruckt. Das geschichtsträchtige Baudenkmal wurde zum Aushängeschild der Stadt. Die beachtlichen Aktivtäten des 2000 gegründeten Fördervereins „Alte Kanzlei“haben zunehmend gezeigt, dass die2005-2012 restaurierten Gebäude der Alten Kanzleibaulich und räumlich nicht ausreichen, um den heutigen Nutzungsmöglichkeiten gerecht zu werden. Das beeinträchtigtdie Attraktivtät des Baudenkmals und die gebotene Wirtschaftlichkeit seiner Nutzung. Die Restaurierung des Baudenkmals beschränkte sich auf die Wiederherstellung des ursprünglichen Baubestands. Die sich später ergebenden und vom Förderverein initiierten Nutzungsmöglichkeiten konnten nicht ausreichend berücksichtigt werden. Es war auch nicht vorauszusehen, dass die Stadtbücherei, die Dokumentationen und Ausstellungen zur Geschichte der jüdischen Gemeinde, der historischen Stadt um 1900, der vor 1961 in der Stadt bestehenden Landwirtschaftsbetriebe, der Handweberei und der Kartografie die heutige hohe Besucherzahl erreichen und zur Anerkennung als außerschulischer Lernort führen würden. Vor allem aber sind es die gesellschaftlichen Aktivitäten des Fördervereins wie Kanzleiadvent, Versammlungen, Hoffeste, Märkte, Ausstellungen und Gesellschaften, aus denen sich Anforderungen an die sanitäre Ausstattung, an Gastronomie sowie an Garderoben- oder Depoträume ergeben. Die Besucherzahl beträgt schon mal mehrere hundert. Zudemfehlt ein Großraum. Es entstand also Raumbedarf,nichts lag näher als der Blick auf die ungenutzten Nachbargebäude, die leer standen. Die Vorstellung verdichtete sich, dass dieKanzlei mit den Nachbargebäuden zu einer Nutzungseinheit verbunden werden könnte, in der sich alle Mängel der Kanzlei beseitigen lassen, weil in den Nachbargebäuden entsprechende Nutzungsmöglichkeiten vorhanden sind. So ergab sich im Förderverein seit 2015 der Gedanke „Nutzungseinheit Kanzleikarree“. Das war dann zugleich die Stunde, in der man an den „städtebaulichen Denkmalschutz“ dachte, denn die Vision eines Kanzleikarrees erfüllte alle Voraussetzungen dieses Förderprogramms der Bundesregierung. Nach dessen Begründung ist das Ziel, „… dass sich die historischen Stadtquartiere…zu lebendigen Orten entwickeln, die für Wohnen, Arbeit, Kultur und Freizeit gleichermaßen attraktiv sind und sowohl Einwohner als auch Besucher anziehen. Auch als Wirtschafts- und Standortfaktor stellen baukulturell wertvolle …Stadtquartiere ein großes Potenzial dar: Aufgrundihres historisch gewachsenen Stadtkernsundihres individuellen Erscheinungsbildessind sie attraktiv für Touristenund werden von Unternehmen bei der Standortwahl bevorzugt. Darüber hinaus stärken Sanierungsmaßnahmen die örtliche mittelständische Wirtschaft, insbesondere Handwerk“. Diese Vorstellungen werden mit der Neugestaltung des Kanzleikarrees erfüllt. Im östlich der Kanzleischeune liegenden Gewerbebau wird im Erdgeschoss eine geräumige Küche mit Durchgang zur Kanzleischeune und zum Hofdes Karrees entstehen. Ebenso Sanitärräume, die den Ansprüchen größerer Veranstaltungen genügen. Im Obergeschoss des Gebäudes befindet sich ein großer Nähsaal, der für Veranstaltungen wie Vorträge, Kammerkonzerte, Ausstellungen, Versammlungen geeignet ist.Seine Verbindung mit dem Heuboden der unmittelbarangrenzenden Kanzleischeune wäre möglich, wodurch die Kombination beider Großräume zusätzliche und wertvolle Nutzungsmöglichkeiten eröffnen würde.Im Erdgeschoss der Kanzleischeune müsste die Ausstellung „Handweberei“ der Neugestaltung weichen und einen anderen Platz finden. Sokönntenim Bereich des Scheuneneingangs die notwendigen Frei- und Durchgangsflächen für das „Foyer“ der Gast- und der Großräume der Kanzleischeune und des Saalbauseingerichtet werden. Freundliche und originelle Gast- oder Aufenthaltsräume sind in der Kanzleischeune mit dem Gesellschaftsraum sowie in der Remise ausreichend vorhanden.Im Sommer käme die Hofnutzung dazu (Gartenlokal, Hoffeste, Märkte, Konzerte, Theater). Diese Bedingungen lassen ein beachtliches gesellschaftliches und gastronomisches Leben erwarten. Im WohnhausNr.130 unterhalb der Kanzlei könnten eine Wohnung (Hausmeister?) und Co-Working-Räume eingerichtet werden.Das westliche, rechtgroße Wohngebäude Nr. 132 könnte in Verbindung mitder anschließenden Scheune das seit Jahren wegen Baufälligkeit geschlosseneHeimatmuseum aufnehmen, in das auch die Geräte der Handweberei- Ausstellung integriert werden könnten.Auf dem umbauten großen Hofgelände sind nachBewertung des Stadttheaters NordhausenFreilichttheater und Konzerte möglich, zumal der Hof der dreiseitigen Bebauung der Nr. 132 einen guten Bühnenraum mit bester Akustik abgibt. Auch steht der Saal der Nr. 130 für kulturelle Veranstaltungen zur Verfügung. Alle diese Möglichkeiten zeigen, dass das Kanzleikarree ein Kultur- und Gesellschaftzentrum werden kann, dessen Anziehungskraft über die Grenzen der Landgemeinde hinausgehen dürfte.Es ist beachtlich, wennes dem Förderverein mitder Stadt gelungen ist, dass nun der Grundstein für die Neugestaltung des für die Oberstadt so wichtigen Gebäudekomplexes gelegt wird, der noch 1996 eine trostlose Ruinenlandschaft war. Wir erleben eine Erfolgsgeschichte, die dem beispielhaften und von der Landesregierung immer wieder betonten Einsatzehrenamtlich engagierter Bürger zu verdanken ist. Natürlich muss auch dem Freistaat und der Stadt für die finanzielle Förderung und die verwaltungsmäßige Unterstützung gedankt werden. Was jetzt entsteht, braucht die Unterstützung und Mithilfe der Bleicheröder, insbesondere der Jüngeren. Die Mitgliedschaft im Förderverein ist ein wichtiger Beitrag zum Gelingen des Kanzleikarrees. Im Mittelpunkt der Nutzung des Karrees werden stets die historischen Gebäude des Baudenkmals Alte Kanzlei stehen. Sie werden in das Alltagsleben integriert, zum täglichen Erlebnis für jedermann. Ein historisches Baudenkmal zum anfassen, das nützlich ist. Genau das will der städtebauliche Denkmalschutz.
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