Nordhausen April 1945: Hintergründe, Opfer, Erinnerung

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Nordhausen April 1945: Hintergründe, Opfer, Erinnerung ist der Name eines Forschungsprojektes, das seit 2019 die Luftangriffe auf Nordhausen untersucht und 2023 abgeschlossen sein soll.

Vorbereitung

Am 5. Dezember 2018 beschloss der Stadtrat der Stadt Nordhausen die Beauftragung eines wissenschaftlichen Forschungsprojektes. Am 20. Juni 2019 konstituierte sich der vom Oberbürgermeister berufene wissenschaftliche Beirat. Nach Sichtung und Bewertung der Ausschreibungsergebnisse wurde Jens Schley (M.A.) vom wissenschaftlichen Beirat einstimmig ausgewählt und hat in der Folge im August 2019 den Werkvertrag unterschrieben.

Problemstellung

Seit Ende der 1940er Jahre wird in Nordhausen die Zahl von 8.800 Luftkriegsopfern kolportiert. Im Zuge des Forschungsprojekts zur Aufarbeitung der Luftangriffe kamen die Historiker Jens Schley und Saskia Zweck jedoch zu dem Ergebnis, dass diese hohe Opferzahl nicht belegbar ist, sondern auf einer 1948 durch die Stadtverwaltung Nordhausen erstellten Schätzung basierte. Durch die Auswertung und Zusammenführung von bisher nicht beachteten Archivdokumenten zur Registrierung, Bergung und Bestattung der Toten konnten die Historiker nachweisen, dass es sich bei der Zahl von 8.800 um eine deutliche Übertreibung handelte, die nicht mit zeitgenössischen Quellen belegbar ist. Aus Sicht des Forschungsprojekts lässt sich die genaue Opferzahl zwar aufgrund der Kriegszerstörungen nicht mehr rekonstruieren, fest stehe aber, dass die kolportierte Zahl als politisch motivierte und interessengeleitete Schätzung einzuordnen sei.

Nach Einschätzung des Forscherteams sollte Nordhausen die damalige Schätzung in der Nachkriegszeit Vorteile beim Wiederaufbau und der Versorgung mit Ressourcen bringen. Die Stadt nutzte die vermeintlich hohe Opferzahl demnach als moralisches Argument, um im Verteilungskampf um die knappen Mittel für den Wiederaufbau zu punkten. Über diesen Weg fand die Zahl von 8.800 auch Eingang in die öffentliche Erinnerungskultur und das Gedenken an die Luftangriffe.

Als Angriffsziele identifizierten die Historiker zum einen den Nordhäuser Hauptbahnhof als wichtigen Verkehrsknotenpunkt. Zum anderen galt nach Analyse des Forschungsprojekts die Boelcke-Kaserne im Süden der Stadt als mögliches Ausweichquartier oder Evakuierungsziel für Kommandozentralen und hohe Militärfunktionäre der Wehrmacht und NS-Führung. Die alliierte Militärführung ging seit Mitte März 1945 davon aus, dass sich die Spitzen von Partei und Wehrmacht aus Berlin absetzen und versuchen könnten, sich in einer „Alpenfestung“ im Süden Deutschlands neu zu formieren. Auf diesem Weg könnten Mitteldeutschland und damit auch Nordhausen als Zwischenstation dienen. Entsprechend wurden nach Einschätzung der Historiker die Bahnanlagen und die Kaserne als mögliche Anlaufstellen bombardiert.

Tatsächlich befand sich in der Boelcke-Kaserne ein Sterbelager mit KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern. Dieser Umstand war den britischen Planern der Angriffe nicht bekannt. In der Kaserne wurden nach den Bombardierungen über 2000 Tote auf dem Gelände gefunden, von denen ein Großteil bereits vor den Angriffen ums Leben gekommen war. Die Toten gehörten zu den tausenden Menschen, die in der Region Nordhausen Zwangsarbeit leisten mussten. Viele der Opfer kamen aus dem KZ Mittelbau-Dora.

Die weitgehende Zerstörung der Stadt nur wenige Tage vor der Kapitulation wirkt aus heutiger Sicht schwer nachvollziehbar. Aus damaliger militärischer Perspektive unter den Bedingungen eines verbissen und mit allen Mitteln geführten totalen Krieges sind die Bombardierungen nach Analyse des Forschungsprojekts aber erklärbar. Für die britische Militärführung bestand trotz des nahenden Kriegsendes weiterhin die Notwendigkeit, Infrastruktur und mögliche Versorgungspunkte des Gegners anzugreifen und Funktionsfähigkeit zu nehmen.

Die schweren Zerstörungen und Opferzahlen der Luftangriffe auf Nordhausen müssen laut Einschätzung der Historiker daher im Kontext der Kriegsumstände betrachtet werden. Für die betroffene Zivilbevölkerung bedeuteten die Bombenabwürfe eine Katastrophe und menschliches Leid, das durch militärische Logik nicht gemindert wird. Die individuellen Schicksale der Opfer und Überlebenden stehen im Vordergrund der Erinnerung. Die historische Analyse kann jedoch die Einordnung in den Gesamtkontext des Krieges leisten und damit zu einem differenzierteren Bild der Ereignisse beitragen.

Die Aufarbeitung der Luftangriffe ist in Nordhausen nach Ansicht des Forscherteams auch vor dem Hintergrund der eigenen Verstrickung in das NS-System und der Mitverantwortung für die Kriegsfolgen zu sehen. Viele Aspekte der regionalen Zeitgeschichte, wie die Ausbeutung von Zwangsarbeitern auch aus dem KZ Mittelbau-Dora, wurden in Nordhausen lange verdrängt. Im Zuge des Forschungsprojekts soll durch die Auswertung von Originalquellen ein differenzierteres Bild der Geschehnisse gezeichnet werden, das über die lange tradierten Narrative und Mythen hinausgeht. Damit leistet die historische Forschung nach Einschätzung der Wissenschaftler einen Beitrag zu einem kritischen und selbstreflektierten Umgang mit der eigenen Geschichte, der die individuelle Erinnerung der Opfer und Leidtragenden in den Vordergrund stellt.


Externe Verweise