Das Tapetenwunder von Bleicherode

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von Dr. Dirk Schmidt

Von der großen Terrasse der am nördlichen Hang der Bleicheröder Berge gelegenen Gaststätte „Waldhaus Japan“ in Bleicherode hat man den schönsten Ausblick auf den gesamten Harzmit einem herrlichen Panorama und sein südliches Vorland. Für jeden Gast im Sommer ein wunderbarer Platz. Doch „der Japan“ birgt einen Schatz, der ganzjährig einen Besuch mehr als lohnend macht: Im Festsaal empfängt den Besucher eine interessante und völlig unerwartete Überraschung: Zwei unter Denkmalschutz stehende, historische Bildtapeten.

„Der Japan“existiert seit den 1790er Jahren. Die damalige Gastwirtsfamilie hatte einen bis nach Japan segelnden Seefahrersohn und prahlte damit.Deshalb nannte wohl die Bevölkerung die Familie Krumbein „die Japaner,“ und das Gasthaus wurde zum „Japan“. Der am Waldrand gelegene Ausflugsort behielt seinen ungewöhnlichen Namen, der also mit Sushi nichts zu tun hat. Um 1830 wurde ein Saalbau errichtet.An den Wänden des Festsaals (12,5x9m², 5,10m Höhe) befindet sich ein Juwel, das nach heutigem Stand jedenfalls in Europa einmalig ist: Die um 1835-40 von der Tapetenmanufaktur Zuber in Rixheim/Elsass im Handdruckverfahren in Grauton(Grisaille- Technik)hergestellten Panoramatapeten „Pferderennen“ und „Arkadien“. Mit diesen Tapeten konnten die großen Flächen der Längs- und Querwand sowie die freien Flächen der Fensterwand des neuen Saales eindrucksvoll gestaltet werden. Die „Arkadien“ ist mit zwanzig Bahnen das einzige noch komplett erhaltene Exemplar dieses Motivs. Vom „Pferderennen“ sind dreißig von zweiunddreißig vorhandenen Bahnen zu sehen, zwei der fünfzehn Bahnen an der Fensterwand wurden überklebt. Die „Arkadie“ bedeckt die gesamte Langwand, das „Pferderennen“ die Querwand. Mit den zwischen den Fenstern an der Nordwand angebrachten Bahnen ergibt sich ein beeindruckendes Raumerlebnis. An anderen Standorten, auch Schlösser oder Gutshäuser, befinden sich Bildtapeten in mehr oder weniger großen Wohn-oder Gesellschaftsräumen, obendrein bedecken sie meist nur Teile der Wandflächen. Das Deutsche Tapetenmuseum in Kassel besitzt wenige Einzelbahnen der Bleicheröder Tapeten, das Französische Tapetenmuseum in Rixheim/Elsass hat von dem Motiv „Arkadien“ lediglich ein schwer beschädigtes Teilstück. Somit ist das Tapetenensemble im „Japan“ mit seiner Lokalität im geräumigen Saal eines bürgerlichen Gasthauses europaweit eine einmalige kunsthistorische Attraktion (Expertise Deutsches Tapetenmuseum, November 2021).Das alles in einem von historischen Kronleuchtern erhellten Saal: Ein festlicher Anblick.

Der Wert der Tapeten resultiert nicht allein aus der sichtbaren Raumgestaltung. Es geht auch um den Ursprung und den Gegenstand der Bildmotive, die einen Rückblick in die europäische Kultur- und Literaturgeschichte eröffnen. „Arkadien“ stellt Szenen aus dem Werk „Idyllen“ des Schweizer Schriftstellers Salomon Geßner (1730-1788) dar (in 21 Sprachen übersetzt). Er war seinerzeit neben Goethe ein sehr beliebter Autor. Auf der Längswand des Saales werden sechs liebliche und romantische, durchaus nicht kitschige Szenen aus Mythen mit idealisierten jungen Menschen in der antiken griechischen Landschaft Arkadien in einer einheitlichen und ineinander übergehenden Folge gezeigt. Das an der Stirn wand platzierte „Römische Pferderennen“ hat tatsächlich mit wilden Pferden ohne Reiter zur Karnevalszeit in Rom auf der Via del Corso stattgefunden. Nach der Schilderung in seiner „Italienreise“ hat Goethe das Schauspiel erlebt, wohl von der Wohnung des Malers Tischbein aus.Mit der zurückhaltenden Grisaille-Technik wird opulente Bildgewalt vermieden und erreicht, dass diese großflächigen Wandgestaltungen den Raum nicht total beherrschen.

Hinzu kommt die kunsthandwerkliche Bedeutung der Tapeten. Die damalige handwerkliche Herstellung solcher Tapeten ist heute für den Normalverbraucher auch theoretisch kaum nachvollziehbar: Zunächst wurde von bekannten Kunstmalern das gewünschte Gemälde als Vorlage angefertigt. Dieses wurde spiegelbildlich und vergrößert von Kunsthandwerkern auf Holzplatten (Model) von z.B. 50x60 cm (geschätzt)wie bei einem Holzschnitt geschnitten. Vermutlich benötigte man für die Tapete „Arkadien“ circa 1400 Model. Sodann erfolgte der Druck auf die circa 70 cm breiten Papierbahnen per Handdruck (bis zur Erfindung der Papierrollen 1835 wurden einzelne große Papierbögen zu Bahnen zusammengeklebt). Die Anschlussbahn musste jeweils berücksichtigt werden. Je nach Entwurf war eine unterschiedliche Anzahl von Druckvorgängen entsprechen der Anzahl der Druckfarben erforderlich (Arkadien sieben Druckfarben, Pferderennen dreizehn Druckfarben). Nach Trocknung und Auslieferung kam die Montierung an den entsprechenden Ort. Keine Naht durfte zwischen den Bahnen zu sehen sein, auch kein Druckunterschied. Die notwendige Genauigkeit stellte höchste Anforderungen. Noch heute liegen im Keller von Zuber u. Cie historische Model, mit denen alte Tapeten original angefertigt werden könnten. Leider nicht die für die Bleicheröder Tapeten.

Die mit dem kunsthandwerklichen Verfahren verbundenen Kosten müssen auch um 1835 ein Problem gewesen sein. War der Gastwirt des „Japan“ vermögend? War er kunstliebend? Niemand weiß es. Wahrscheinlich kamen die Tapeten nach Bleicherode über den Uhrmacher Becker in der heutigen Kreisstadt Nordhausen, der damals auch mit französischen Tapeten handelte und eine Tapetenfabrik gründete, die bis 1910 bestand. Der Gastwirt hatte nachweisbar Kontakt mit einem Agenten Vanne aus Rixheim. So wird er auf die Idee gebracht worden sein, die großen Flächen der Wände des neu errichteten Saalbaus mit publikumswirksamen Bildtapeten zu schmücken, um den Saal gastfreundlich zu gestalten. Möglich ist auch, dass Vanne den Weg zu einer billigen Ersteigerung auf einer Auktion in Leipzig gewiesen hat.Der Festsaal wurde jedenfalls ein kunstvoll eingerahmter großer Raum, in dem sich niemand verliert, weil geschmackvoll und zurückhaltend gestaltetes Leben ihn umgibt.

Panoramatapeten kamen im Lauf der Jahrzehnte völlig aus der Mode, sie wurden in Europa überwiegend beseitigt. Anders vielleicht in Nordamerika. Jedenfalls kannte Jackie Kennedy ihren Wert und ließ während ihrer Zeit im Weißen Haus 1961-63 eine historische Bildtapete aufhängen.Wie also konnte ein solches Schmuckstück in einer Kleinstadt ca. 180 Jahre überdauern? Gründe waren vielleicht die Abgeschiedenheit der Kleinstadt, die besondere Lage des Gasthauses, die Bewunderung der Tapeten durch die Gäste. „Der Japan“ war gewiss stets etwas Besonderes. Zur Wertschätzung kam die Alternativlosigkeit hinzu. Denn was sollte als Ersatz die großen Wandflächen ausfüllen? Die lebhaften und freundlichen Bildtapeten waren einfach ideal. So ließ man sie hängen, achtete und restaurierte sie wohl auch. In der DDR-Zeit geschah dies mit den damals vorhandenen Mitteln,das Gasthaus war Ferienheim des staatlichen Kombinats Cottana. Nach der Wende passierte nichts bis der Verfasser etwa 1998 beim Inhaber der Gaststätte anregte, Fördermittel des Denkmalschutzes zu beantragen, um die teilweise stark beschädigten Tapeten zu retten. Dafür erhielt er von ihm und später von der heutigen Chefin Nadine Froscheine Vollmacht. Die Bemühungen hatten beim Landesdenkmalamt, bei der Deutschen Stiftung Denkmalschutz und bei der Sparkassenstiftung Hessen-Thüringen schließlich Erfolg. Die jährlichen Förderanträge und der ergänzende Schriftverkehr beanspruchten Mühe und Zeit, brachten Ärger und Freude. Von 2008-2012 restaurierte die Restauratorin Andrea Strietzel aus Großwechsungen das vom Kunstmaler Deltil (1791-1863) entworfene und arg ramponierte „Pferderennen“mit großem Erfolg. Dann wurde zunächst der Saalbau saniert, an dessen Wänden es wegen Baufehler und Investitionsstaus stellenweise statische Probleme gab. Auch wurde die Bauklimatik verbessert, was für den Erhalt der Tapete unabdingbar war. Sachfremde Gründe führten anschließend leider zu einer mehrjährigen Pause. 2020 nahm der damals 90 Jahre alte Verfasser seine Bemühungen wieder auf. Die „Arkadien“ sollte gerettet werden, gestaltet sie doch die gesamte südliche Längswand und ist sie das letzte noch erhaltene Exemplar dieser prachtvollen Tapete, deren Gemäldevorlage 1806 vom Kunstmaler Mongin (1761-1827) angefertigt wurde. Seine Werke werden heute noch im Louvre gezeigt. Zunächst engagierte sich die Kreissparkasse. Mit einer Tapetenbahn war 2022 der Anfang gemacht. Dann erneuerten das Landesdenkmalamt und die Deutsche Stiftung ihre Förderung. Das Tapetenensemble sollte unbedingt im alten Glanz wieder erstehen. Vor allem war die Deutsche Stiftung engagiert, die verständnisvoll auch einsprang, wenn das Land nicht mehr konnte. Ihr gebühren großer Dank und respektvolle Anerkennung. Andrea Strietzel konnte jährlich vier Bahnen restaurieren, wobei immer wieder unerwartete Probleme im Mauerwerk, im Papier oder im Druck auftauchten. Die Kooperation mit den zwei Förderstellen klappte vorzüglich. Natürlich gab es während der Bearbeitung der Tapeten auch gastronomie- und witterungsbedingte Schwierigkeiten, die von Restauratorin und Inhaberin immer wieder behoben werden konnten. So ist zu erwarten, dass Ende 2025 die Wiedergeburt der an der Lang- und an der Stirnwand hängenden Großtapeten in alter Schönheit gefeiert werden kann. Auch wenn die vor allem wegen der Lichtverhältnisse und der Fensteröffnungen nicht so imposanten Tapetenteile an der Nordwand noch restauriert werden müssen, wird der Saal vom „Waldhaus Japan“ dann mit seinem restaurierten einzigartigen Tapetenschatz weiterhin eine bekannte und beeindruckende kunsthistorische Attraktion von Bleicherode sein.

Quellenhinweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Bernard Jacqué, Papiertapeten; Bestände, Erhaltung, und Restaurierung in Sachsen, Tagungsbuch

Schloss Wesenstein 2008.

  • Deutsches Tapetenmuseum Kassel, Expertise Dr. Wegener, November 2021
  • Hans Günter Backhaus, Thüringer Staatsanzeiger, Nr. 44/2008, S. 1.
  • Hans-Günther Mühlpfordt, Die klassizistischen Bildtapeten des Waldhauses Japan in Bleicherode,
  • Beiträge zur Heimatkunde aus Stadt und Kreis Nordhausen 1986, S. 42-57.
  • Hans-Jürgen Grönke, Die Tapetenfabrik der Familie Becker in Nordhausen, Beiträge zur Geschichte aus Stadt und Kreis Nordhausen Bd. 43,S. 2018.
  • Josef Leiß in Heinrich Olligs, Tapeten, Bd. II, Braunschweig 1970, S. 23 ff.
  • Zeitschriften, Zeitungen: Div. Artikel in „Monumente“, Thüringer Allgemeine Nordhausen.
  • Google: Stichwort „Panoramatapeten“.
  • Dieser Artikel wurde von Dirk Schmidt veröffentlicht. Stand: 11. August 2024.
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