Idioticon der nord-thüringischen Mundart

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Idioticon der nord-thüringischen Mundart
Untertitel den Bürgern Nordhausens gewidmet
Autor Martin Schultze
Verlag Nordhausen : Förstemann
Erscheinungsjahr 1874
Umfang VII, 69 Seiten
 Im Bestand der Stadtbibliothek Nordhausen.
Stand: 20. Mai 2016
Editionsrichtlinien:
  • Dieser Text wurde teilweise Korrektur gelesen und spiegelt somit keinen endgültigen Bearbeitungsstand wider.

Vorwort

Zu den lieblingsbestrebungen des allzufrüh verblichenen meisters deutscher Wissenschaft, A. Schleicher, gehörte die aufstellung einer vergleichenden grammatik aller lebenden deutschen dialecte, sowie die Sammlung des unter die einzelnen stamme vertheilten deutschen sprachgutes. Als nothwendige vorarbeiten für ein solches unternehmen bezeichnete er die grammatische behandlung der verschiedenen mundarten durch angehörige der betreftenden landschaften. Nun existieren auch bereits idiotica und lexica mehrerer ober- und niederdeutscher dialecte, es fehlt jedoch noch unendlich viel, um eine übersieht über das gesammt-gebiet zu ermöglichen. Am wenigsten literarisch gebraucht und wissenschaftlich behandelt sind die mundarten Mitteldeutschlands, wahrscheinlich weil sie bei den „gebildeten“ jener gegenden einer grösseren Verachtung begegnen, als dies bei den bewohnern Süddeutschlands einerseits und der norddeutschen tiefebene andererseits der fall ist. Das vorliegende büchlein soll der ausfüllung dieser lücke, wenn auch nur in sehr beschränktem kreise, dienen helfen.“

Der nord-thüringische dialect unterscheidet sich von allen anderen rein oberdeutschen mundarten, denen er im übrigen ganz entschieden angehört, lautlich besonders durch die eigentlich niederdeutsche erweichung des s vor vocaleu. Speciell vom siidthüringischen und meissnisch-obersächsischen dialecte, dem er sonst am nächsten verwandt ist, unter- scheidet er sich dadurch, dass er die media vor vocalen duldet, die dort regelmässig in die „trockene“ tenuis übergeht. Der Oberdeutsche im allgemeinen spricht „sein“ und „wessen", der Süd-Thüringer im besonderen „kinter“ und „wieter", während der Nord-Thüringer, wie der Nieder- deutsche, „sein“ und „wesen“ (niederl. zijn, wezen), sowie „kinder“ und „wieder“ sagt. Der dialect hat seinen hauptsitz am südrande des Unterharzes, besonders in der ehemaligen grafschaft Hohenstein, Den mittelpunkt des bezirks, in dem er gesprochen wird, bildet die Stadt Nord- hausen. Rings um dieselbe hört man ihn in grösserer oder geringerer eigenthümlichkeit in den kleineren Städten, flecken und dörfern des kreises Nordhausen und des amts Hohenstein (Ilfeld). Sein gebiet grenzt im osten an das zum meissnisch-obersächsischen gehörige mansfeldische, im Süden an das eigentlich (süd-)thüringische und im Südwesten au das eichsfeldische gebiet, welches letztere den Übergang bildet zum fränkischen. Nach norden und nordwesten bezeichnet es, abgesehen von den fränkischen bergstädten des Oberharzes, die äusserste grenze der oberdeutschen gegen die niederdeutsche (niedersächsische) spräche. Während man in EUrich noch den liohensteinischcn dialect hört, reden die Bcnneckensteiner bereits eine rein nieder-deutsche mundart.

In früheren Zeiten war dieser dialect in Nordhausen die allgemeine Umgangssprache, und zwar derart, dass er nicht nur im gewöhnlichen verkehr von vornehmen und geringen geredet wurde, sondern dass selbst bis in dies Jahrhundert hinein die lehrer der unteren classen am gymnasium sich oft desselben bedienten. Nur auf der kanzel, in der gerichtsstube und in den höheren gymnasial- classen gebrauchte man die Schriftsprache. Gegenwärtig kommt er immer mehr in verfall, was seineu grund darin hat, dass in den höheren ständen fremde demente zu über- wiegen anfangen. Man hört ihn jetzt, ausser gelegentlich im schoosse weniger alter familien, nur noch in den niederen Volksschichten, Zum schriftlichen verkehr ist er wohl nie benutzt worden, nur ihre poetischen (?) ergüsse haben bis- weilen uordhäuser bürger in dieser mundart zu papier gebracht.

Bei der vielfachen berührung, in welche die Nordhäuser, besonders nach der incorporation der stadt in Preussen (1803 und zum zweiten male 1814), mit den eingewanderten „fremden“ kamen, fiengeu sie an, sich ihrer spräche zu schämen und sich jenen, die alle mehr oder weniger richtig „hochdeutsch“[1] sprachen, zu accommodieren. Statt nun aber den volksdialect ganz zu beseitigen, und 80 zu sprechen, wie man schrieb, begnügte man sich, denselben durch aufnähme hochdeutscher laute und formen zu verbessern. Man beeilte sich, das ae heller (mehr wie ä) auszusprechen und ii (i^) und uu (ü^) in die diphthonge ei und au zu verwandeln, sträubte sich jedoch entschieden z. b. gegen die aufnahme hochdeutscher dativformen mir, dir, ihm.

So ist es gekommen, dass man jetzt in Nordhausen drei mundarten kennt, die reine hochdeutsche, die von fremden und von solchen eingeborenen gesprochen wird, die durch langen Umgang mit fremden den Widerwillen gegen dieselbe überwunden haben; ferner die reine nordhiisische (sonst auch wohl geradezu diitsch genannt), die von bauern, arbeitern und in wenigen alten familien geredet wird; endlich das moderne namenlose gemisch mit dem hochdeutschen anstrich, das man von vielen leuten des mittelstandes und von den meisten dienstboten hören kann. Es ist dies eine erscheinung, die den benachbarten niederdeutschen gegenden, wo man nur platt und hochdeutsch kennt, ganz fremd ist.

Was die hier angewandte Orthographie betrifft, so soll sie hauptsächlich die richtige ausspräche angeben, ohne jedoch die etymologie zu verdunkeln. Es sind daher die nüancen der vocale sorgfältig unterschieden, auch ist ihre Quantität bezeichnet, dagegen habe ich mich hin- sichtlich der consouanten der hochd. srhroibweise möglichst angeschlossen, ihre ausspräche aber in den verschiedenen fällen durch regeln bestimmt. Nur statt des hochd. v ist stets f geschrieben, weil ö als vocal dienen musste. Da die länge der vocale durch Verdoppelung oder Verbindung derselben ausgedrückt wird, so ist das dehnende h über- flüssig geworden, und zwar sogar da, wo es wurzelhaft ist (zaen für zehn, zie für ziehen); nur wo zwei sylben bildende vocale zusammentreffen, ist es, um undeutlichkeit zu vermeiden, stehen geblieben (ruohig), obwohl es auch da nicht gesprochen wird. Für das in jeder oberdeutschen mundart unberechtigte th ist einfaches t geschrieben. Auch die Verdoppelung der consonanten ist eigentlich überflüssig, da nach jedem betonten kurzen vocal der consonant geschärft lautet. Der deutlichkeit wegen ist sie jedoch, wenigstens im inlaute, in den meisten fällen beibehalten.

Da an sprichwörtlichen redensarten nur verhältnissmäßig wenig in diesem dialect existiert, und dies wenige, mit ausnahme obscöner phrasen des gemeinen lebens, fast ganz der Schriftsprache entnommen ist, so würde eine Aufzählung derselben nicht viel interessantes bieten. Auch von kinderliedern und sprechspielen hört man gegenwärtig nur hochdeutsche, die allerdings oft komisch genug verstümmelt sind. Um nun nicht schon gedrucktes noch einmal zu producieren, sah ich mich genöthigt, als sprachprobe einen eigenen kleinen versuch zu geben, an dessen literarischen werth ich einen nicht zu hohen masstab zu legen bitte. Die wähl der Nibelungenstrophe bedarf wohl nicht der entschuldigung bei einem dialecte, der dem mittelhochdeutschen so viel näher steht als die Schriftsprache.

Cüstrin, im October 1873.
Der Verfasser.

Einzelnachweise

  1. Unter hochdeutsch (hd.) wird hier überall die jetzt gebräuchliche Schriftsprache verstanden, unter alt- und mittelhochdeutsch (ahd. und luhd.) die von der Wissenschaft so benannten älteren dialecte.