Friedrich August Wolf (1759–1824)

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Textdaten
Autor: Hermann Stoeckius
Titel: Friedrich August Wolf (1759–1821)
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aus: Zur Feier des vierhundertjährigen Bestehens des Gymnasiums zu Nordhausen
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Erscheinungsdatum: 1924
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Friedrich August Wolf
(1759–1821).


Von D. Dr. Hermann Stoeckius.


Ein neuer Himmel, eine neue Erde umgeben den Menschen, der die letzten vierzig Jahre des 18. Jahrhunderts betrachtet. Die Aufklärung sinkt gleich dem Abendstern unter den Horizont des menschlichen Denkens, ein neues weit glänzenderes Gestirn zeigt sich dem erstaunten Blicke des Beobachters: das Zeitalter Goethes zieht herauf. Den fundamentalen Unterschied in der Weltanschauung dieser beiden Epochen kann man etwa so formulieren: die Aufklärung denkt rationalistisch und mechanistisch; ihre Kategorien stammen aus der mathematischen Physik. In dem Zeitalter der Romantik und der spekulativen Philosophie bestimmt dagegen organisches Werden und Wachsen, Entfaltung von innen heraus als Kategorie die menschlich geschichtliche Welt und die große Gotteswelt.

Bei dem Gedanken an die Ursprünge und die Ausbreitung dieser neuen Denkweise deute ich nur einige Namen an: Winckelmann zeigte seinen Zeitgenossen, daß die griechische Kunst nur aus dem Geiste des griechischen Volkes geboren sein kann; Lessing stellte dem französischen Klassizismus die Genialität eines Shakespeares gegenüber; Kant gab der natürlichen Theologie den Todesstoß; Herder lehrte die Religion und Dichtung aller Völker als Offenbarungen des ewigen und göttlichen All-Einen erkennen und verehren; und Goethe zeigte, in Sturm und Drang reifend, daß Dichtung und Schönheit, wie Liebreiz und Jugend, ein Geschenk der Götter sind.

Die gewaltigen Gegensätze zwischen beiden Zeitaltern offenbart auch die Umstimmung in der praktischen Schätzung der Dinge: während die Aufklärung den Wert der Dinge an ihrem Nutzen (Wohlfahrt und Glückseligkeit) maß, sah das Zeitalter Herders und Goethes das an sich selbst Wertvolle als das Höchste an. Der Wert des Lebens liegt in dem freien Spiel der Muße: die Arbeit ist mit Aristoteles um der Muße wiHen oder anders gewendet: die freie Betätigung geistiger Kräfte auf allen geistigen Gebieten ist der an sich wertvolle und darum allein höchste Inhalt des Lebens — das höchste Gut und das allein Nützliche ist die Bildung (Fr. Schlegel). Bildung — dieses neue Wort ist die Bezeichnung für das neue Lebensideal. Rousseau hat als erster der Sehnsucht der Zeit nach einem neuen Lebensideal leidenschaftlichsten Ausdruck gegeben: sein neues Evangelium war der Glaube an die Natur, an die Natur im Menschen. Natur und Wahrheit sind die ersten Bedingungen alles menschlichen Wertes. Daher lautet das neue Ideal der Erziehung: naturgemäße Entwicklung der natürlichen Anlage: seid Menschen und wagt es, euere Kinder zu Menschen, schlechthin zu Menschen zu erziehen! Denn Bildung kann nur durch Entwicklung der Anlagen von innen heraus entstehen. Von Rousseaus, des Enthusiasten, nicht des Schwärmers hohen Gedanken ist dann in erster Linie Kant beeinflußt; diesem radikalen Moralisten und damit zugleich diesem radikalen Kritiker der Kultur und Bildung seiner Zeit verdankte er vor allem eine neue Wertung des Erkennens: Wissenschaft und Spekulation sind nicht von unbedingtem Werte, sie sind nicht absoluter Selbstzweck, sondern ein Mittel zu einem höheren Zweck: der moralischen Bestimmung der Menschheit zu dienen. Daher ist auch der gute Wille das einzige, was absoluten Wert hat. Und Goethe und Schiller sahen in der vollendeten Entwicklung aller menschlich-geistigen Anlagen das allein absolut Wertvolle: die „schöne Seele“ bedeutet die vollkommene Wesensgestaltung des Menschen. Diese Anschauung steht aber mit der griechischen Auffassung in innnigstem Zusammenhänge, denn Schön- und Gutheit (Kalo- kagadia) bedeutet für den Griechen die vollendete Wesensgestaltung und zugleich das höchste Gut. Und der Mann, der als freies Selbst der Welt gegenübersteht und das ihm innewohnende Bild der Vollkommenheit im Leben und Wesen ausprägt, ist der wahre Mensch. Und dieses wahre Menschentum zeigen uns die großen Gestalten des griechischen Volkes, Staatsmänner wie Perikies, Dichter wie Sophokles, Philosophen wie Plato — hochgebildete und doch ganze, natürliche Menschen! Daher bedeutet Bildung zur Humanität die Bildung nach dem Vorbilde des Griechentums. Bildung zur Humanität — diesen neuen Ausdruck für das neue Erziehungsideal hat Herder geprägt. Und er sah im Gegensätze zur Aufklärung in einem Volke ein individuelles organisches Wesen, in dem eben alle geistigen Erscheinungen durchaus national individualisiert waren. „Wäre Deutschland“, so ruft er in seinem genialen Erstlingswerk (Fragmente über die neuere deutsche Litteratur 1767), „bloß von der Hand der Zeit an dem Faden seiner eigenen Kultur fortgeleitet: unstreitig wäre unsere Denkart arm, eingeschränkt; aber unserem Boden treu, ein Urbild ihrer selbst, nicht so mißgestaltet und zerschlagen.“ Aber nur dem Einflüsse der griechischen Kultur auf unser Dasein kann er freudig beistimmen. Denn nach seiner Anschauung sind die Griechen die der Natur einmal gelungene vollkommene Darstellung der Gattung. Aus den Werken der Griechen spricht der Dämon der Menschheit rein und verständlich zu uns. Darum aber sollen wir die Werke der Griechen doch nicht etwa nachahmen, vielmehr sollen sie uns die Augen öffnen für die Aufklärung der Natur des Menschen, der Idee der Humanität. Pallas nahm dem Diomedes die Wolke vom Auge hinweg, daß er einen Gott und einen Sterblichen unterscheiden konnte; diese Wohltat gewährt uns das Studium der griechischen Kunst: wir erfüllen unsere Seele durch den Anblick ihrer Bilder mit dem Ideal des Menschen und durch Lesung der Schriften der Griechen pflanzen wir diesen zarten Keim der Humanität in uns, in das Herz unserer Jünglinge (vgl. Herders Briefe zur Beförderung und Humanität 1793).

Infolgedessen hat die historisch-philologische Beschäftigung mit den Griechen die Erkenntnis dieses einzigartigen Volkes in allen seinen Lebensäußerungen zu vermitteln: das Studium des Griechentums wird zum Gegenstand eines religiösen Kultus (naturalistisch-diesseitige Auffassung), also im Gegensätze zum Christentum, dessen Wesen ja supranaturalistischer und transzendenter Art ist. Denn „mit heiligem Ernst“, sagt der Generalsuperintendent von Weimar, „treten wir zum Olymp hinauf und sehen Götterformen im Menschengebilde. Die Griechen heben im Gegensatz zu anderen Nationen das Göttliche im Menschen zum Gott empor.“ Diese geistige Welt ist in den nächsten beiden Menschenaltern für die gelehrten Schulen und Universitäten Deutschlands von höchster Bedeutung geworden: Bildung zur Humanität oder Bildung schlechthin ward das Losungswort. Rousseaus Naturevangelium wurde durch das Evangelium der Bildung verdrängt und seine glänzendsten Verkündiger außer Herder, Goethe und Schiller waren: Wilhelm von Humboldt und Friedrich August Wolf. Sie alle verband die Liebe zum Menschheitsideal, das ihnen in der Griechenwelt sich offenbarte.

Von diesen deutschen Neuhellenen kann W. von Humboldt ein wahrhaft griechischer Geist genannt werden. Denn er besaß nach Friedrich Paulsen durch ein glückliches Naturell, was die griechische Ethik als die vollendetste Charakterbildung beschreibt: eine theoretische, unbedürftige Seele, deren ruhige Heiterkeit durch Affekte nicht gestört wurde; mit feinster Empfänglichkeit für sinnlich-intellektuelles Genießen ausgestattet, lebte er mit ganzer Hingebung und Zuversicht, wie nur je ein Grieche, in der diesseitigen Welt, das Transzendente war für ihn nicht vorhanden. Es war ihm beschieden, sein Leben ganz dem inneren Triebe gemäß zu gestalten: in völliger Unabhängigkeit lebte er, wie ein Grieche, nur sich selber und dem Staate, frei dienend, nicht Sklave des Amts. Es ist ja bekannt, daß er sich in die Stille zurückzog, um ein ganzes Jahrzehnt dem Studium der Griechen zu widmen. Die letzte Absicht dieser Studien hat er seinem Freunde Friedrich August Wolf ausgesprochen: die Kenntnis des Menschen suche er durch dieses Studium zu erlangen, denn bei jenen Schriftstellern sei der Mensch aus lauter zugleich einfachen und großen und auch schönen Zügen zusammengesetzt; ja kein anderes Volk als das Griechische habe soviel Einfachheit und Natur mit soviel Kultur verbunden. Humboldt will also nicht die Menschen, sondern den Menschen kennen lernen, und eben in den Griechen ist ihm die Idee des Menschen realisiert. Daher führt der vollkommenste Weg zur Selbsterkenntnis und Selbstbildung einzig und allein durch das Tor, über dein in goldenen Lettern steht: die vollkommene Erkenntnis des Griechentums. Aus dieser Gesamtanschauung erklärt sich denn auch die Wendung zum Historisch-Philologischen und damit zugleich der Wert der Kenntnis des Griechischen und Lateinischen für den Jugendunterricht.

Die Ideeen und Empfindungen des neuen Humanismus hat aber der heros eponymos Friedrich August Wolf in die gebildeten Kreise getragen und damit in ihnen den bedeutendsten und tiefgehendsten Einfluß ausgeübt: die Neugestaltung des Gelehrtenschulwesens in Preußen ist sein ureigenstes Werk. —

I.

Friedrich August Wolf wurde am 15. Februar 1759 zu Hainrode, einem Dorfe bei der damaligen Kaiserlichen freien Reichsstadt Nordhausen geboren. Sein Vater, dem es an geistiger Regsamkeit keineswegs gefehlt zu haben scheint, war Lehrer und Organist des Ortes und galt für einen tüchtigen Pädagogen, wie er denn im Anfänge seiner dortigen Amtsführung auch jungen Leuten, die aus der Schule nicht viel mitgebracht hatten, in den Abendstunden noch besonderen Unterricht erteilte. Auch er hatte das Nordhäuser Gymnasium mehrere Jahre besucht und den Unterricht des Konrektors (dann Rektors) Joh. Eustachius Goldhagen (seit 1753 Rektor der Domschule zu Magdeburg) genossen. Verheiratet war er mit der Tochter des Kantors und Stadtschreibers Henrici zu Neustadt (Hohenstein). Die gleiche Naturanlage, cholerischen Temperaments, doch gutherzig und weichmütig scheint auch seinem Sohne Friedrich August eigen gewesen zu sein. Wolfs Mutter besaß ein frommes Gemüt; sie hielt das kleine Hauswesen in guter Ordnung und wollte von Armut nichts wissen. Ihrer gesunden Grundsätze erinnerte sich der große Sohn noch oft und gern, wie er denn überhaupt von seiner Mutter stets mit der zärtlichsten Liebe sprach. Ihr besonders verdanke er sein geistiges Leben, und daß er von Jugend auf das Höhere im Auge behalten; überall und immer habe sie den Ehrtrieb des Knaben anzuregen gewußt und ihn einst innig geherzt, als er auf ihre Frage, was er denn werden wolle, ganz ernst geantwortet habe: „ein Superdent.“ Wolf ist ein frühreifes Kind gewesen. Daher kann es nicht wundernehmen, daß sein Vater, der, den pädagogischen Strömungen seiner Zeit folgend, eine eigene Methode für die Behandlung der lateinischen Sprache als einer zweiten Muttersprache sich aussann, ihm bereits nach Vollendung seines zweiten Lebensjahres eine große Anzahl lateinischer Vokabeln beigebracht hat, ja Wolf selbst meint, er habe für ihre Bildung und Zusammensetzung bereits ein dunkles grammatisches Gefühl gehabt. Mit fünf Jahren sagte er in der Heimatkirche zur Feier des Hubertsburger Friedens nach der Predigt ein vom Vater abgefaßtes Festgedicht auf und schon im sechsten Jahre las er an Stelle seines Vaters Predigten in der Kirche wiederholt vor zur nicht geringen Erbauung der andächtigen Zuhörer. Vier Jahre alt empfing er von seinem Vater regelmäßigen Unterricht. Vielleicht ist auch der Hainröder Pfarrer Nagel auf seine Bildung nicht ohne Einfluß gewesen. Das Lehrverfahren seines Vaters war gut: strenge Gewöhnung an deutliche Aussprache und genaue Ausdrucksweise, viel Uebung im lauten Lesen und Denken, viel Kopfrechnen und Auswendiglernen. Er pflegte dabei gern auf seinen eigenen Lehrer Goldhagen hinzuweisen und dem Sohne öfters vorzustellen, wieviel Dankbarkeit er diesem Manne schulde, da er ganz nach dessen Grundsätzen unterrichtet werde.

Am 2. März 1767 wurde sein Vater zweiter Mädchenschullehrer in Nordhausen, wo er in der Sackgasse (jetzt: Wolfstr. 7, wo der „Wissenschaftliche Verein“ zu Nordhausen dem hochberühmten Sohne eine Ehrentafel errichtet hat) Wohnung fand, und im Jahre 1773 zugleich Organist zu St. Jacobi in der Neustadt. Friedrich August wurde vom Rektor des Gymnasiums Joh. Andreas Fabricius Ostern 17G7 der Tertia zugewiesen; zu Michaelis 1768 kam er vermutlich in die Sekunda und mit 11& Jahren in die Prima. Als Religionslehrer im Gymnasium hatte er den Pastor primarius S. Nicolai E. Ch. Ostermann und den Pastor S. Blasii Joh. Phil. Lesser. Den Pfarrunterricht erteilte und die Konfirmation vollzog der Diakonus S. Blasii Jakob Zober. Unter Joh. Jordan Frankenstein (seit 1770) war Wolf auch Chorschüler. Gymnasium und Prima standen seit 1769 unter der trefflichen Leitung Hakes, dessen Vater in Nordhausen Gildemeister der Schneider und dessen älterer Bruder Oswald ebenda Pastor primarius S. Nicolai war. Leider starb dieser ausgezeichnete Schulmann bereits am 8. Februar 1771.

Von allen seinen Lehrern scheinen nur Hake und Frankenstein einen bedeutsamen Einfluß auf den jungen Wolf ausgeübt zu haben. An Joh. Konrad Hake hat er einen Lehrer gehabt, „dessen Talenten und Methoden in Sprachen“, wie er selbst bekennt, „ich meine frühere Bildung vorzüglich verdanke, einen Mann, den wenige außer seiner Geburtsstadt Nordhausen kennen mögen. Sein Andenken ist mir noch immer ehrwürdig, und ich habe ihn oft mit innigem Vergnügen in den Zirkeln derer erwähnt, die in seiner Nähe wohnten.“ Von diesem seinen Lehrer, selbst Autodidakt, bekam auch Wolf die Ueberzeugung, daß man bei angestrengtem Fleiße das meiste ohne Lehrer für sich allein aus Büchern lernen könne, eine Ueberzeugung, die für ihn umso wichtiger wurde, je mehr er durch die Beschaffenheit des späteren Schulunterrichts auf Selbstbildung sich angewiesen sah. Schon damals wird er in seinem Innern das stolze Wrort des griechischen Dichters getragen haben, das er später seinem „Lehrer“ Heyne zugerufen hat: „Ich werde nur meinen eigenen Weg wandeln.“ In welchem Geiste er aber den Weg seiner eigenen Bildung schaute, das hat er selbst unvergleichlich schön inbezug auf Winckelmann ausgesprochen: Seelen, die eine höhere Weihe mit ins Leben brächten, bedürften, nach Platons Ausspruche, gleich dem Golde der athenischen Burg, bloß sorgsame Aufbewahrung, die dem Erziehungskünstler, der selbst dem Göttlichen seinen gemeinnützigen Stempel aufzwinge, nicht ohne Gefahr anvertraut werde, lieber die Entwicklung der Grundzüge in seinem Charakter äußerte sich Wolf wiederholt: „Im dreizehnten Jahre war ich als Mensch ziemlich fertig, d. i. die charakteristischen Züge waren alle da fürs ganze Leben; der Knabe war offenbar der Mann im kleinen!“ Allein die Kontinuität der ursprünglichen Entwicklung wurde jäh unterbrochen: aus dem Wunderkind von Fleiß und Ernst wurde einer der wildesten Jungen seines Alters. Dem genialen Wildfang wußte indes Kantor Frankenstein (* 1732 zu Nordhausen; Besuch des Gymnasiums; 1754—56 Student in Jena; Lehrer und Aedituus im Altendorfe; seit 1746 als Quintus am Gymnasium; 1770 Kantor, später den Titel Musikdirektor; † 26. Mai 1785) ein lebendiges Interesse für die Erlernung der neueren Sprachen einzuflößen. Der Junggeselle Frankenstein muß ein originales Kraftgenie gewesen sein; ein Mensch, der Witz und Spott nur zu sehr liebte. Wolf selbst nennt ihn noch 1816 in einem Gespräche mit seinem einstigen Kommilitonen auf Gymnasium und Universität Konrad Gottlieb Rosenthal (* zu Nordhausen am 3. Februar 1758; 1784 Pastor zu Rehungen, dann zu Klein-Furra; † um 1835) einen „ungeschliffenen Edelstein.“ Wolf nahm zunächst das Französische wieder auf und fing zugleich das Italienische an, an das sich das Spanische und Englische anschloß. Diesen Studien widmete er sich so ausschließlich, daß er selbst erzählt: Jis mensibus, quibus primum ad italicam et anglicam linguam me applicui, nullum librum graecum et ne latinum quidem in manum sumebam. Ja seit Hakes Tod versäumte er monatelang willkürlich die Schule und hat sie in den letzten Jahren fast gar nicht mehr besucht. Freilich angesichts seines großen häuslichen Fleißes hatten selbst seine Eltern nichts dagegen, und Wolf, der die Unzulänglichkeit des Unterrichts am eigenen Leibe erfahren hatte, beschloß damals, ganz sein eigener Lehrer unter Entwerfung eines umfassenden Planes der Selbstbildung zu werden. An litterarischen Hilfsmitteln bot allerdings die Gymnasialbibliothek wenig, wohl aber öffneten die Bibliotheken einiger wissenschaftlich gebildeter Männer in der Stadt, namentlich der beiden Pastoren Ostermann und Lesser wie des praktischen Arztes Dr. Pezolt ihre Schätze. Die reichste Unterstützung aber fand er durch E. G. II. Leopold in Ilfeld, nicht hur durch gute Ratschläge, sondern auch durch Entleihung' von Büchern teils aus seiner eigenen Bibliothek, teils aus der der Klosterschule. Ja er trieb förmlich bibliologische Studien und konnte daher später rühmen, daß er durch seltsame Fügung die besten Bücher und in der vernünftigsten Folge zum Gebrauch und Studium erhalten habe. Auch das Lesen wissenschaftlicher Zeitschriften unterließ er nicht. Später hat er mit Schaudern daran gedacht, wie er von seinem 14. bis 18. Lebensjahre seine Studien mit heißem Bemühen in einem meist ungeheizten Zimmer Nächte hindurch die Füße in kaltem Wasser und die Augen abwechselnd verbunden getrieben habe. Auch die Anfangsgründe im Hebräischen hat er bei einem Juden in Nordhausen erlernt, sodaß er sich eine Art vergleichender Grammatik anlegen konnte. Schon damals begann er seiner Finanzen wegen Privatunterricht zu erteilen, der infolge der üblen Schulverhältnisse sehr begehrt wurde. Auf die Vorbereitung dazu verwandte er reichlichste Mühe, sodaß er von sich wirklich rühmen konnte, daß er in seinem 15. bis 22. Jahre durch Lehren sehr viel gelernt habe. Daneben versäumte er keineswegs die Musik und begann bei Ohr. Gottlieb Schroeter, dem Erfinder des Pianoforte und Organisten zu S. Nicolai, den Generalbaß zu studieren; dabei ergriff er mit besonderem Eifer, was Schroeter über die griechische Musik einfließen ließ. Um dieselbe Zeit sollte er auch, besonders auf den Wunsch seiner Mutter, das Tanzen erlernen. Ueber den Zirkel dieser Tanzstunde führte eine junge Kaufmannswitwe eine Art Aufsicht, von deren Reizen und feinen Geistesbildung der jugendliche Wolf bald ernsthaft gefesselt ward. Dieses zarte Liebesverhältnis übte auf seine ästhetische Ausbildung und besonders auf seinen deutschen Stil wohltätige Wirkungen aus; denn zwischen beiden wurde ein reger Briefwechsel in deutscher und französischer Sprache geführt. Klopstocks Dichtungen, namentlich seine Oden trug ihm die Dame seines Herzens vor oder sang sie ihm nach Glucks Kompositionen zum Klavier. Diese innige Geistes- und Herzensgemeinschaft fand indes durch den frühen Tod der reichbegabten jungen Frau in dem Augenblicke ein jähes Ende, wo Wolf im Begriff war, vom Gymnasium zur Universität überzusiedeln.

Nach seiner Entlassung um die Weihnachtszeit 177G erklärte er schon bei einem vorläufigen Besuche im März 1777 dem Professor Heyne an der Universität Göttingen mit aller Entschiedenheit, daß er Philologie und nur Philologie studieren wolle. Mit grämlicher Miene fragte ihn Heyne, wer ihm denn diesen törichten Rat gegeben habe, da ja die sogenannte Philologie noch gar kein selbständiges akademisches Studium sei; man müsse entweder Theologe oder Jurist sein. Trotz noch weiterer Bedenken seitens des berühmten Schulhauptes der Georgia- Augusta verharrte Wolf doch bei seinem Entschlüsse, denn ihn reize die große Geistesfreiheit, mit der gerade das Studium der Philologie betrieben werden könne, indem hier niemand wie in der Theologie um abweichender Meinungen willen verketzert, werde, und um eine der ganz wenigen Stellen dieses Lehrfaches an den Universitäten gedenke er sich später zu bewerben.

Anfangs April 1777 bezog der jugendliche Studiosus, vom Rate in Nordhausen mit „guten Stipendien“ ausgestattet, die alma mater in Göttingen. Noch schlimmer als bei Heyne erging es ihm da aber bei dem Prorektor der Universität, dem berühmten Arzte Baidinger, als er von ihm verlangte, als Philologiae Studiosus eingeschrieben zu werden. Sich vor Lachen schüttelnd, meinte Seine Magnifizenz: Medicinae studiosos gebe es wohl, auch iuris und theologiae, ja selbst philosophiae. Aber ein Student der Philologie sei ihm in praxi noch nicht vorgekommen. Des Jünglings Beharrlichkeit siegte indessen über alle formalen Bedenken: Philologiae Studiosus — so lautet des jungen Friedrich August Wolf Matrikel vom 8. April 1777. Und dieses Datum bezeichnet zugleich den Geburtstag der Philologie überhaupt, denn damit wurde ihr als einem freien Studium, das seinen Zweck und seine Berechtigung in sich selbst trage, der prägnanteste und kühnste Ausdruck gegeben. So zog der „auf eignen Grund und Boden gegründete Mann“ hinaus in das Leben, dessen stürmische Wogen auch sein Lebenschifflein hart umspülen sollten.

In seinen Studien blieb Wolf im allgemeinen Autodidakt: in den kostbaren Bücherschätzen der Universitätsbibliothek und in der reich ausgestatteten Privatbibliothek des Professors Lüder Kulenkamp fand sein umfassender vorwärtsstrebender Geist beste Nahrung. Der Besuch der Vorlesungen in den ersten 14 Tagen diente ihm nur zur Kenntnis der Quellen und Hülfsmittel seiner Disziplin. Aber auch außerhalb seines eigentlichen Studienfaches hörte er zahlreiche Vorlesungen, in denen ihn entweder Gelehrsamkeit oder Geist der Untersuchung anzogen. Infolge seines Interesses an der Kritik des Alten Testamentes bei Professor Michaelis wurde er mit einem Privatdozenten im orientalisch-philologischen Fache, Joh. Ohr. Wilhelm Diederichs aus Pyrmont, und einem Juristen, Heinrich Meurer aus den Nassau-Weilburgischen Landen freundschaftlich zusammengeführt. Seine Teilnahme an einem geselligen Abendzirkel brachte ihn ferner näher hervorragenden Persönlichkeiten wie Kästner, Lichtenberg und Kulenkamp. Dagegen wollte sich mit dem eigentlichen Fachvertreter, mit Professor Heyne, kein inneres Verhältnis anbahnen, ja Heyne war gerade ihm, der gleich einem Prometheus die Fackel der neuen Wissenschaft leuchtend in die Lande tragen sollte, in tiefstem Grunde abgeneigt. In seinem vierten Briefe an Heyne zieht Wolf selbst die Summe seiner Versuche, sich Heyne zu nähern: „... Genug, jene rauhe Begegnung (Ausschluß von einer Pindarvorlesung) war die vornehmste Ursache, warum ich das fernere Melden und Hören gänzlich aufgab, mich auf meine vorherige Studienart einschränkte und nicht einmal eine Stelle in dem philologischen Seminarium suchte, so ungern ich sie in ökonomischer Rücksicht entbehrte.“ Sein sich immer erweiternder Privatunterricht, in dem er Studierenden nicht nur lateinischen, griechischen und englischen Unterricht erteilte, sondern ihnen auch den Xenophon, Demosthenes und andere Schriftsteller erklärte, hatte bereits in den Professorenkreisen eine gewisse Sensation erregt, als ihm wider alles Erwarten ohne akademischen Grad, ohne Examen, ja ohne Mitglied des philologischen Seminars gewesen zu sein, von Heyne (vielleicht nach dem bekannten Rezepte des Promoveatur, ut amoveatur) eine Kollaboratorstelle am Kgl. Pädagogium in Ilfeld, dessen Kommissar Heyne war, und zugleich vom Professor der Theologie Joh. Peter Miller eine Hauslehrerstelle bei einem Wiener Reichshofrate angeboten wurden. Wolf entschied sich für Ilfeld und reichte Heyne als Beweis seiner Gelehrsamkeit eine Abhandlung unter dem Titel „Ketzereien über Homer“ ein. Da offenbar Heyne von dieser Leistung nicht sonderlich erbaut war, so sollte Wolf vor dem Ilfelder Rektor Carl Friedrich Meisner und den beiden älteren Lehrern eine Probelektion halten. Interessant ist Heynes Schreiben (30. August 1779) an Meisner: „. . . Der Mensch hat Fähigkeiten, aber sein Wesen gefällt mir nicht; jedoch darf das hier nicht entscheiden. . . . . Ew. Hochedelgeboren ersuche ich, ihn nach aller Strenge zu prüfen und besonders darauf zu achten, wie weit Sie sich seiner Gelehrigkeit und Folgsamkeit versichert halten können.“ Bald darauf (8. September 1779) hielt Wolf in Ilfeld seine Probelektion, deren Themata er „auf ganz eigentümliche Weise“ behandelte. Noch am gleichen Tage berichtete Rektor Meisner an Heyne über seinen Eindruck dieser Lektion (Ovid. Met. H. 761—800 und Aelian V. H. XIV 24): „ . . . ich traue ihm alle Geschicklichkeit und Tüchtigkeit im wissenschaftlichen Vortrage zu, ein sehr guter Collaborator zu werden, wenn er will. Er scheint freilich etwas eine gute Meinung von sich zu haben, und da sie nicht ungegründet ist, so nehme ich ihm das so übel nicht, wenn sie ihn in der Folge nicht zum Mißbrauch verleitet. Sonst hat mir sein Wesen viel besser gefallen, als ich nach den von ihm aus seiner Vaterstadt erhaltenen Beschreibungen vermuten konnte. Bei der hiesigen Jugend, merke ich, hat er schon einiges Zutrauen gewonnen, und das ist zugleich Gewinnst an Ansehen, um auch den Teil seiner Pflichten, die die Disziplin betreffen, ohne viel Mühe und erziehungsmäßig erfüllen zu können . . . .“

Auf Grund des Ministerialrescripts vom 21. Oktober 1779 kam Wolf am 27. Oktober nach Ilfeld, stellte sich am nächsten Tage dem Oberamtmann Wilhelm Christian von Wuellen, dem höchsten Beamten der Grafschaft Hohenstein und zugleich Administrator des Ilfelder Stiftsfonds, vor und ward am 29. Oktober um 10 Uhr vormittags in größerem Auditorium vom Direktor Meisner durch eine Rede „von den Pflichten der Lehrer“ feierlichst in sein Amt eingeführt. Die Handhabung der Disziplin im Kloster Ilfeld war auch damals nicht leicht. Kein Wunder daher, daß Wolf bei seinem jugendlichen Alter trotz „Perrücke und Tressenkleid“ in dieser Hinsicht keinen leichten Stand hatte, doch gewann er bald die richtige Position. In den zu behandelnden Disziplinariällen legte er ruhige Besonnenheit und äußerst taktvolles Vorgehen an den Tag; auch warnte er wiederholt in besonderen Voten vor allzu strenger Anwendung der Schulgesetze. Dagegen stellte er an die wissenschaftlichen Leistungen seiner Schüler mit Recht hohe Forderungen, wie sich aus seinen Gutachten bei Versetzungen deutlich ersehen läßt. Bei den Beratungen über die Auswahl eines Primus scholae (im Januar 1778) gab er folgendes interessante Votum ab: „Der Primus, den wir zu den Absichten, die durch ihn erreicht werden sollten, wünschten, ist freilich nicht da. Denn wenn ein bei gesetztem Wesen zugeich mit Kenntnissen vorzüglich versehener Scholar gesucht werden soll, so gestehe ich wenigstens, daß ich unter dem gegenwärtigen Coetus diesen nicht finden kann.“ Und wie er selbst tüchtige Schüler gern förderte, so drang er auch darauf, daß schwächeren Zöglingen von den Lehrern privatim geholfen werde. So ließ er selbst es sich angelegen sein, die drei ihm anvertrauten Scholaren in ihren Freistunden besonders zu beschäftigen und überhaupt über ihr ganzes Studium eine genaue Aufsicht zu führen, über dessen Fortgang er seinen Kollegen in der Konferenz zu berichten pflegte. Der Direktor Meisner war freilich der Ansicht, daß Wolf von seinen Schülern zu viel verlange, auch drückte ihn wohl die geistige Ueberlegen- heit des jungen Mannes, da er auf sein Ansehen als Direktor sehr eifersüchtig war. Auch Heyne scheint mit Wolfs Behandlungsart der Schriftsteller und der Scholaren nicht immer zufrieden gewesen zu sein, doch meinte Wolf: „ich sah bloß aufwallende Hitze, bittere Laune: schlimme Absichten sah ich nicht“ und schrieb eben damals zugleich dem berühmten Meister das stolze Wort von sich: „ich wandele nur meinen eigenen Weg.“ Doch erkannte er auch rühmend an, Heyne für seine Bearbeitung von Platons Gastmahl (am 16. Januar 1782 in Ilfeld abgeschlossen) „die besten Hülfsmittel von der göttingischen Bibliothek“ zu verdanken. Seine Konzentration auf das Symposion war aber eine Folge des „Schreibens Friedrich des Großen an den Etatsminister Freiherrn von Zedlitz“, das die Verbesserung des gelehrten Schulunterrichts besonders durch eine in rhetorischer und logischer Analyse mehr auf den Inhalt der alten Autoren gerichtete Interpretationsmethode bezweckte. Dieses Schreiben des großen Königs scheint ihn auch zur deutschen Erklärung veranlaßt zu haben. In seiner Vorrede gedachte er absichtlich des „Philosophen auf dem Throne und seines erleuchteten Staatsministers“; auch fehlte es nicht an einem Komplimente gegenüber dem Berliner Direktor Gedike, vermutlich in dem geheimen Wunsche, an einer preußischen Gelehrtenschule oder Universität wirken zu können, wobei auch der Gedanke an eine Heirat mit Sophia Hüpeden, der Tochter eines seiner Pathen, des Justizamtmanns Hüpeden zu Neustadt unterm Hohnstein mitgespielt haben mag.

Da erfuhr Wolf im Spätherbst 1781 durch seinen Kollegen, den Rektor Pätz, aus einem bereits drei Monate alten Stück der „hannöverschen Anzeigen“, die Ausbietung des Rektorats durch den Magistrat zu Osterode am Harz. Sofort fuhr er, ohne die notwendige Reiseerlaubnis von Heyne einzuholen, nach Osterode, wo ihm der Bürgermeister Jenisch und der Syndikus Köpp eröffneten, daß die fragliche Rektorstelle bereits an den Göttinger Repetenten J. Ch. H. Krause so gut wie vergeben sei. Dennoch trat er von seiner Bewerbung nicht zurück und wußte durch die geniale Abhaltung einer Probelektion (über eine Ode des Horaz und zwei Kapitel des Thukydides) sämtlichen Wahlherren der Stadt in dem Grade zu imponieren, daß er am 13. Dezember 1781 einstimmig zum Rektor gewählt wurde. Nach seiner Wahl sollte er aber (Ende 1781) vom Oberkonsistorium zu Hannover zu einem theologischen Examen beschieden werden. Allein Wolf perhorrescierte diese Instanz und verstand sich nur zu einem Kolloquium mit dem dazu kommissarisch beauftragten Osteroder Superintendenten C. Söllig, einem Kolloquium, das bei einem guten Frühstück abgehalten wurde, und bei dem Wolf des Erlanger Theologen C. F. Seilers Dogmatik (17741) zum ersten Male, wie Körte erzählt (I, 89), „zwischen Weingläsern liegen sah.“ Ich kann mir doch nicht versagen, hier Wolfs Erzählung in Hanharts Erinnerungen (Basel 1825) einzufügen: „Ich kam zwei Tage vor der Probelektion dort an und lernte bald meine Leute kennen. Es schien mir notwendig zu versuchen, 'was außerhalb des Lehrzimmers für den Zweck getan werden könnte. Denn daß meine Erklärungsmanier, die so sehr von der gewöhnlichen abwich, Beifall finden und der Wert des Lehrenden erkannt und richtig beurteilt werden dürfte, wagte ich kaum zu hoffen. Im Gasthof schrieb ich eine Anzahl Briefe an berühmte Männer, mit welchen ich in einigen litterarischen Verkehr gekommen war. Sie wurden nicht ohne Absicht auf den Tisch gelegt. Bald las ich den Leuten im Gesichte, daß sie — der Wirt wie der Postherr und Bürgermeister — solcherlei Kunde von mir einander mitgeteilt. Den Vorabend, den die Bewerber unter mühlicher Vorbereitung verschwitzten, brachte ich auf einem Spaziergang und nachher an der wohlbesetzten Tafel mit den Honoratioren zu. Die Mitternacht traf uns noch im angenehmen Kreise. Früh morgens wieder ein Spaziergang. In der Schule ließ ich mir von einem Schüler das Buch geben. Mit der größten Sorgfalt hatte ich allem auszuweichen gesucht, was im geringsten nur den Schein von Verlegenheit auf mich geworfen oder die Vermutung irgend einer Vorbereitung herbeigeführt hätte. Dieses Verfahren und das bald gewonnene Vertrauen zu mir, als einem, der auch außerhalb des Schulbereichs etwas wert sei, hat mich damals glücklich au das Ziel meiner Wünsche gebracht.“ So zog denn Wolf im März 1782 mit seiner jungen Frau in Osterode ein. Der junge Rektor gab wöchentlich 18 Lehrstunden, ließ nur wenige Schriftsteller in der Schule lesen, aber diese recht genau. Sein Ton im Umgänge mit den Schülern war durchaus frei und liberal, ja fast vertraulich, was aber seiner Autorität durchaus keinen Abbruch tat, weil sie auf dem Gefühl der Tüchtigkeit und der moralischen Kraft des Lehrers beruhte. Dem eigenen Studium der griechischen und lateinischen Autoren aber gab er sich mit solchem Eifer hin, daß er sein Klavier als gefährlichen Konkurrenten wiederholt zeitweise aus seinem Hause verbannte. Bei der Ausübung seiner Amtsbefugnisse (Inspektion der Unterrichtsstunden) geriet er freilich mit dem Konrektor (und Subrektor) in solche Differenzen, daß er sich schließlich genötigt sah, eine Beschwerde über beide Kollegen beim Magistrate zu Osterode (27. Juni 1782) einzureichen. Mit welchem Erfolge — läßt sich aus Mangel an städtischen Akten nicht näher sagen. Ja mit dieser städtischen Behörde selbst scheint er nicht im besten Einvernehmen gestanden zu haben. Dagegen war sein häusliches und gesellschaftliches Leben höcht angenehm und glücklich, allerdings verlor er seinen zärtlich geliebten Erstgeborenen kurz vor seinem Abgänge nach Halle durch den Tod. Denn Wolf sollte nicht lange in Osterode bleiben. Bereits gegen Ende 1782 wurden ihm zwei Direktorate (Hildesheim und Gera) angeboten. Allein der preußische Staatsminister von Zedlitz berief ihn auf Grund von Gutachten seines Freundes des Kanzleidirektors Göcking zu Ellrich, des Professors Heyne in Göttingen (übrigens teilweise ungünstig) und des Leipziger Professors Fr. Wolfgang Reiz durch ein Schreiben Biesters vom 4. Januar 1783 an die Universität Halle a. S. und zwar laut seiner Bestallungsurkunde vom 3. April 1783 als Professor nicht nur der Philologie, sondern auch der Paedagogik in specie. Im August 1783 traf Wolf in Halle ein.

II.

„Leben Sie nun,“ so schloß der Staatsminister von Zedlitz sein Schreiben an Wolf (11. April 1784), „ganz Ihrer Wissenschaft, werter Herr Professor, und helfen Sie den einen Vorwurf, der noch immer Halle traf, abwälzen, daß man dort keine Philologen bildet.“ Diese Aufgabe hat Wolf in 23jähriger hingehender Arbeit glänzend gelöst. „Ihm, dem unerreichten Lehrer, haben wir ja,“ so ruft Geheimrat Nußlin in Mannheim seinem alten Studienfreunde G.-R. Föhlisch in Wertheim an seinem 50jährigen Direktorialjubiläum (6. August 1852) zu, „die größte und schönste Aussteuer zur würdigen Hebung unseres Berufes zu verdanken. Er, in welchem wir das höchste Vorbild lebendig anregender, begeisternder Lehrweise erkannten, ist uns der weiseste Führer in die Heimat des Schönen geworden, hat unsern Sinn für alles Große und Edle aller Zeiten geweckt und geschärft, vorzüglich unsere Liebe für das klassische Altertum entzündet und uns mit dessen geistigen Heroen, den Homer, Platon und ihren Sinnesverwandten befreundet, deren Werke als unerreichte Muster des Schönen gleich den olympischen Göttern fortblühen und nimmer altern.“ Da in Deutschland die Altertumsstudien noch keine Selbständigkeit gewonnen hatten, so las Wolf bereits im S. S. 1785 ein Kolleg, in dem er bestrebt war, alles, was zu vollständiger Kenntnis des gelehrten Altertums gehöre, zu der Würde einer wohlgeordneten philosophisch-historischen Wissenschaft emporzuheben. Diese Encyklopädie und Methodologie der Studien des Altertums hat Wolf in Halle neunmal vorgetragen und sie im Jahre 1807 als „Darstellung der Altertumswissenschaft nach Begriff, Umfang, Zweck und Wert“ im „Museum“ veröffentlicht. Diese seine Darstellung ist Goethe gewidmet als dem Kenner und Darsteller des griechischen Geistes, in dessen Werken und Entwürfen jener wohltätige Geist sich eine zweite Wohnung nahm. Freilich einem Goethe und Niebuhr gegenüber hat dieses Werk sein eigener Schüler Boeckh (in einem Briefe an Schleiermacher) kühl beurteilt: das Wesen der Philologie liege doch viel tiefer als von Wolf zugegeben sei. Auch sonderte sich immer mehr eine formale und eine reale Philologie ab. Und schließlich wich das bewußte Erkennen und Begreifen des Altertums immer weiter von den Idealen Wolfs ab. Hat doch die Wissenschaft selbst den Glauben an die Antike als Ideal und Einheit zerstört! Denn die Philologie als Geschichtswissenschaft, also auch die Altertumskunde ist nicht nach ihren Idealen, sondern nach ihrer historischen Bedeutung für die Kultur der Menschheit zu werten.

Daß nach Humboldt die Erkenntnis des Menschen wesentlich aus dem Studium der griechischen Welt geschöpft werden müsse, ist auch bei Wolf die bewegende Idee. Auf dieser Idee ist dann die gelehrte Schule gegründet. Als das letzte Ziel der Erkenntnis bezeichnet auch Wolf die Kenntnis der altertümlichen Menschheit und durch und in dieser die Kenntnis des Menschen selbst, die durch beständiges Blicken auf eine große Nation und auf deren Bildungsgang in den wichtigsten Verhältnissen und Beziehungen erreicht werde. Und diese Nation könne nur die griechische sein. Nur hier wird uns das Schauspiel einer organischen Volksbildung zuteil. Denn bei welchem Volke der modernen Welt, fragt Wolf, könnten wir hoffen, etwas Aehnliches zu linden? Wo wäre eines, das seine Kultur aus innerer Kraft gewonnen, das die Künste der schönen Rede und Bildnerei aus nationalen Empfindungen und Sitten geschaffen, das seine Wissenschaften auf eigentümliche Vorstellungen und Ansichten gebaut hätte? Diese Menschenkenntnis ist aber der Weg zur Menschenbildung. „Die in sich geschlossene Welt des Altertums berührt jede Gattung von Betrachtern auf eigene Weise und bietet anderen anderes, um ihre Anlagen zu erziehen und zu üben, ihre Kenntnisse durch Wissenwürdiges zu erweitern, ihren Sinn für Wahrheit zu schärfen, ihr Urteil über das Schöne zu verfeinern, ihrer Phantasie Maß und Regel zu geben, die gesamten Kräfte der Seele durch anziehende Aufgaben und Behandlungsarten zu wecken und ein Gleichgewicht zu bilden“. Und „niemand, der unsere Studien ein wenig kennt, wird glauben, daß das, was durch historische Untersuchungen des Altertums und durch Bekanntschaft mit den Sprachen und den unsterblichen Werken desselben zur harmonischen Ausbildung des Geistes und Gemüts gewonnen wird, ebenso vollkommen auf irgend einem anderen Wege könne erreicht werden.“ Kein Wunder daher, daß das Studium des Altertums auch für den Jugendunterricht von unvergleichlichem Werte ist. Denn „die jetzige Menschheit,“ so Wolf aus Jean Pauls Levana, „sänke unergründlich tief, wenn nicht die Jugend durch den stillen Tempel der großen alten Zeiten und Menschen den Durchgang zu dem Jahrmarkt des Lebens nähme.“