Heimat und Heimkehr

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Textdaten
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Autor: Helmut Sting
Titel: Heimat und Heimkehr
Untertitel:
aus: Nordhausen-Harz und Goldene Aue
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1974
Verlag:
Drucker:
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Quelle: Scan
Kurzbeschreibung:
Digitalisat:
Eintrag in der GND: [1]
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Heimat und Heimkehr


Die Worte „Heimat“ und Heimkehr“ wurden uns jugoslawischen Kriegsgefangenen zu wahrhaft heiligen Begriffen, zu Begriffen besonderen seelischen Erlebens, zu Begriffen gleichsam märchenhaften Inhalts, zu zwei Zauberworten!

Es verging kaum ein Tag in der Gefangenschaft, an dem die meisten von uns nicht voller Sehnsucht an die Heimat zurückdachten. Der Gedanke an die Heimat, der Gedanke an die Heimkehr - lange Zeit in eine undurchsichtige Ferne entrückt - wurde zu einem Kraftquell besonderer Art. Wenn die körperlichen Kräfte unter der Last der meist unsagbar strapaziösen Arbeit zu versagen drohten, gab der Gedanke an die Heimat wie die Hoffnung auf eine Heimkehr vielen neue seelische Kraft, die sich ihrerseits wieder auf die körperliche Verfassung belebend auswirkte. Was die Heimat bedeutet, vermögen letztlich nur die zu ermessen, die von ihr gewaltsam ferngehalten werden. Für viele von ihnen wurde das Wort Heimat Inhalt ihres Lebens.

Wurde bei der Arbeit von der Heimat gesprochen, wurden nicht selten sogar sehr ruhig gewordene Kameraden wieder lebendig. Auch sie wußten dann vieles aus ihrer Heimat zu erzählen. Selbst verdüsterte Mienen erstrahlten im grauen Alltag des Gefangenenlebens bei heimatlichem Gedankenaustausch wieder in früherem Glanz. Dann aber gab es auch Augenblicke, in denen sich im Verbunden- Fühlen mit der Heimat, im gleichzeitigen Erleben der unendlichen Weite bis hin zu ihr - über etwa zweitausend Kilometer hinweg — die Augen der Gefangenen feuchteten und ihre Herzen schwer schlugen. So erinnere ich mich einer abendlichen Stunde in der Adventszeit 1945, als sich in unserem kalten, düsteren Lagerraum, in dem eine einzige alte Stallaterne ein winziges, trübes Licht spendete, ein knappes Dutzend Kriegsgefangene zusammengefunden hatte, um uns mit dem Lied zu erfreuen: Sei gegrüßt, du teure Heimat! Im Nu herrschte feierliche Stille ringsherum. Wir rückten enger zusammen und hörten lediglich unsere Herzen schlagen. Und Tränen stiegen in unsere Augen. Die Heimat war zu uns gekommen und hatte an uns gerüttelt.

Als etwa eineinhalb Jahre später die Kunde zu uns drang, daß die jugoslawischen Kriegsgefangenen aller Wahrscheinlichkeit nach Ende 1948 die Fahrt in die Heimat antreten würden, da belebte uns neue Hoffnung trotz des Mißtrauens, das wir dieser Nachricht entgegenbrachten. Jetzt vermochte uns die Last der Arbeit und das damals recht trostlose Lagerleben noch weniger niederzudrücken. Wie oft holte ich mir auch Kraft in sternklarer Nacht beim Blick zum Himmel hinauf, beim Blick zum Himmelswagen, den mir zum ersten Mal mein Vater in früher Jugendzeit in der südharzer Heimat gezeigt hatte! Er war nun für mich ein sichtbares Zeichen der Verbundenheit zur Heimat geworden.

Im Nacherleben jener Zeit neuer Hoffnung erinnere ich mich immer wieder dankbaren Herzens eines jüngeren Leidensgefährten, meines mir in schwerer Zeit zum Freund gewordenen Kriegskameraden Heinz Kunde. Als wir viele Monate zuvor noch nicht wußten, nach welchen Gesichtspunkten die Auswahl der einzelnen Kriegsgefangenen für die Heimkehr erfolgen würde - es ging damals das Gerücht, daß die jungen Kriegsgefangenen als weniger „Belastete“ den Anfang bilden sollten da versprach er mir eines Tages, an meiner Seite liegend, in die Hand, daß er gegebenenfalls zu Gunsten eines anderen zurück treten würde, um jenen großen Tag in die Freiheit, um jenen glückhaften Tag zu unseren Lieben in die Heimat hin zu einem gemeinsamen Erleben werden zu lassen. Ich legte damals in tiefem Empfinden echter Freundschaft meine Hand in die seine und erinnerte mich dabei des Wortes von Schiller: Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn.

Und so geschah es denn auch: Ein paar Tage vor dem Weihnachtsfest 1948 fuhren wir gemeinsam, zugleich mit all’ den anderen unseres Lagers, der Heimat entgegen. Nach zweitägigem Zwischenaufenthalt in Belgrad stiegen wir in den Zug, der uns bis zur deutschen Grenze bringen sollte. Als sich diesmal die Räder zu drehen begannen, da spürten wir: eine große Stunde unseres Lebens hat begonnen. Hatte doch noch der Zwischenaufenthalt in Belgrad mancherlei Sorge bereitet. Manchem Heimkehrer wurde die unmittelbare Weiterfahrt versagt, aus politischen Gründen, etwa den Angehörigen der Waffen-SS. Für sie wurde jener Tag kurz vor Weihnachten zu einer neuen großen Enttäuschung.

Ich selbst fuhr mit meinem guten Kameraden Kunde dem bekannten Durchgangslager Friedland bei Göttingen zu. In Münster trennten sich dann unsere Wege. Seine Eltern hatten nach ihrer Vertreibung aus Pommern in der Nähe von Osnabrück eine neue Bleibe gefunden. Es war inzwischen der 23. Dezember 1948 angebrochen. Mit einem langen Händedruck nahmen wir Abschied voneinander, von unseren Herzen her unzertrennlich miteinander verbunden, verbunden bis heute.

Bald darauf stand ich in Rheine auf dem Bahnhof meiner Frau, meiner Maria, gegenüber, die eine auch für sie so lange und schwere Zeit des Entbehrens, des Bangens und Hoffens, des Aufgebens unserer mitteldeutschen Heimat so standhaft durchgestanden hatte. Waren wir doch zuletzt in Naumburg-Saale wohnhaft und sie länger in Nordhausen als Diplom-Handelslehrerin tätig gewesen. Zudem war sie fast ein Jahr ohne jede Nachricht von mir geblieben, mit immer geringerer Hoffnung, daß ich noch am Leben sein könnte. So wurde Wiedersehen nach vier schweren Jahren, die die Herzen manchmal zu zerbrechen drohten, zu einem einzigartigen, unvergeßlichen Augenblick des Glücks, mit Freudentränen in den Augen, der alles Schwere der Vergangenheit vergessen ließ.

Dieser Augenblick, dieses Wiedersehen wurde zum Beginn eines neuen, wieder lebenswerten Lebens, über dem für mich aus einem tiefen Erleben als Soldat und Kriegsgefangener heraus zugleich ein Bekenntnis steht: das Bekenntnis zu Frieden und Völkerverständigung, das Bekenntnis zu gegenseitiger Achtung und Menschenwürde, im Glauben an eine glücklichere Welt.

im Dezmber 1948

Dr. Helmut Sting