Liebenrode - Perle der Grafschaft

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Textdaten
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Autor: K. H. Schwarz
Titel: Liebenrode - Perle der Grafschaft
Untertitel:
aus: Nordhausen-Harz und Goldene Aue
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1974
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Quelle: Scan
Kurzbeschreibung:
Digitalisat:
Eintrag in der GND: [1]
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Liebenrode – Perle der Grafschaft


Zum besseren Verständnis zuvor einige geschichtliche Bemerkungen: Im Jahre 1699 kam die Grafschaft Hohenstein zu Brandenburg und 1701 zu Preußen. Nach dem Sieg Napoleons über Preußen wurde am 15. 11. 1807 das Königreich Westfalen gebildet. Aus der Stadt Nordhausen und der Grafschaft entstand die „Unterpräfektur Nordhausen“. Nach der Schlacht bei Leipzig 1813 wurde daraus der Kreis Nordhausen. Am 1. 4. 1883 schied die Stadt Nordhausen aus dem Kreisverband aus, um einen eigenen Stadtkreis zu bilden. Der übrig gebliebene Kreisteil hieß Landkreis Nordhausen. Am 8. 8. 1888 erhielt dieser Landkreis den Namen Kreis Grafschaft Hohenstein.

Als die Grafschaft und die Stadt Nordhausen in den Jahren zwischen 1813 und 1883 noch zusammen den Kreis Nordhausen bildeten, war in den Jahren um 1875 der Landrat von Davier der oberste preußische Beamte am Südharz.

Im Jahre 1875 inspizierte Landrat von Davier seinen Kreis und kam auch nach Liebenrode. Wie der Chronist berichtet, sagte Landrat von Davier am Ende seiner Inspektion begeistert: „Liebenrode ist die Perle der Grafschaft!“ Der damalige Schulze (Bürgermeister) Andreas Hentze fragte den Landrat, wie er das meine mit der „Perle“. Der Landrat von Davier entgegnete - so der Chronist - : „Ich bezeichne Liebenrode nicht mit Unrecht als Perle der Grafschaft. Die vorteilhaften Umstände der Einwohner im allgemeinen, als auch die durch gewissenhafte Verwaltung geschaffene günstige Finanzlage der Gemeinde rechtfertigen diese Bezeichnung!“ - Es ist eine gewisse historische Ironie, daß dieser Schulze 1882 abgesetzt und wegen Veruntreuung mit Gefängnis bestraft wurde. Diese Familie Hentze ist übrigens ausgestorben.

Besonders beeindruckt schien der Landrat von Davier nun von dem Bau der Chausseen im Dorf und nach außerhalb, „wie sie wohl kaum ein Ort früher und durchgeführter aufzuweisen vermag“ (so wiederum der Chronist). — Zustatten kam der Gemeinde; Liebenrode dabei, daß das Material zum Straßen- und Gebäudebau in der Flur und in nächster Nähe vorhanden war: Steine vom „Katzenschwanz“ (Steinibrüche), Kalk von, der „Kalkhütte“, Kies aus der Wieda bei Obersachswerfen; Bauholz aus den Gemeindewäldern, den Bauernwäldern, dem „Kirchenholz“ (Kirchenwald), Wasser (zum Straßenbau) aus den vielen herrlichen Seen und Teichen, Ton für die Dachziegel von der Kalkhütte. Was der Chronist nun nicht vermerkte, was man aber wohl annehmen kann, mag der Eindruck der Liebenroder Landschaft gewesen sein, den sie auf den Landrat machte, als er in der Kutsche die Flur durchfuhr: mit Mischwäldern bestandene Hügel, blaugrüne, tiefe Seen, saftige Wiesen, reiche Äcker, Bauernhöfe, die wie Festungen da lagen. Diesen Eindruck von Liebenrode und seiner unvergleichlichen Flur nahm jeder in sich auf, der hier groß wurde oder zeitweilig dort lebte. Die 320 Einwohner waren fleißig, strebsam und bemüht, den Kindern eine gehobene Ausbildung zu ermöglichen.

Das war damals nicht so einfach wie heute. Es gab kein Kindergeld, es gab keine Erziehungsbeihilfe, es gab keine Schülerbusse, es gab keine Freifahrten, es gab keine staatlichen Zuschüsse; jedes Buch mußten die Eltern kaufen und für die Unterbringung ihrer Kinder in den Städten mit höheren Schulen oder Universitäten selbst sorgen und zahlen.

Trotzdem gingen, im Laufe von etwa 25 Jahren - von der Jahrhundertwende bis in die zwanziger Jahre des jetzigen Jahrhunderts - aus diesem Dörfchen hervor: 10 Offiziere bzw. Stabsoffiziere; 6 Lehrer: Schröder, Westerhausen, Schwarz, Fieker, Buse, Schmidt; der Oberlandesgerichtspräsident Dr. jur. A. Schmidt; der Zahnarzt Dr. med. dent. W. Henze; der Student der Theologie Henze (im 1. Weltkrieg gefallen) ; der Justizoberamtmann Henze; der zeitweilige Landrat des Kreises Grafschaft Hohenstein, Dr. rer. pol. O. Rose; der Diplomarchitekt K. Bornemann; der Diplompharmazeut A. Rose. Viele Bauernsöhne besuchten nicht nur die Landwirtschaftsschule, sondern auch die Bauernhochschule in Neudietendorf.

Nach 1945 änderte sich schlagartig und unvorstellbar das Bild von Liebenrode. -Wie es heute (1973) dort aussieht? Ich will versuchen, das Erschütterndste wiederzugeben aus dem makabren Bericht eines Landsmannes, der kurz nach der Jahrhundertwende Steinsee (1,8 km von Liebenrode entfernt) verließ und nach Amerika auswanderte. Aus verständlichen Gründen nenne ich seinen Namen nicht, sondern bezeichne ihn mit „Mister A“.

„Mister A“, in USA wohlhabend geworden, jetzt 82 Jahre alt, bekam im Sommer ds. Js. die Erlaubnis, seine ehemalige Kreisstadt Nordhausen besuchen zu dürfen. Er fand sich dort, in der 1945 zerbombten Stadt, nicht mehr zurecht. So zog es ihn wie von Magnetenhand nach Steinsee, wo er geboren, und nach Liebenrode, wo er getauft und in die Schule gegangen war. Auf dem Kreispolizeiamt in Nordhausen verweigerte man jedoch „Mister A“ die Einreise in die Sperrzone, in der Steinsee und Liebenrode liegen. Doch „Mister A“, geistig noch völlig auf der Höhe, psychologisch geschult, erweichte den diensttuenden VP-Offizier mit seinem Antrag, dann wenigstens das ehemalige KZ Buchenwald besichtigen zu dürfen. Das wurde ihm zugestanden, und der VP-Offizier erklärte: „Weil Sie sich als jetziger Amerikaner so sehr für die Greueltaten der Faschisten und nunmehrigen Kapitalisten interessieren, werden wir Ihnen ausnahmsweise die Genehmigung erteilen, in Begleitung eines Offiziers drei Stunden in Steinsee-Liebenrode zu weilen.“ So geschah es denn auch.

Als ich „Mister A“ nach seinen Eindrücken von diesem dreistündigen Besuch in der Heimat befragte, rannen ihm die Tränen über das altersgefurchte Gesicht: „Es sieht dort furchtbar aus. Es wäre besser gewesen, ich hätte die Heimat nicht wieder gesehen und sie so in Erinnerung behalten, wie ich sie verließ!“ -

Stockend, von der Erinnerung schmerzlich übermannt, kamen dann die einzelnen Sätze: „Solche verwahrlosten Straßen habe ich noch nie gesehen! - Viele Bauernhöfe sind dem Erdboden gleichgemacht! - Da liegen nur noch Schutthaufen! -Das Bauholz haben die Leute verbrannt! - Die Kirche kann man nicht mehr betreten! Es besteht Einsturzgefahr! — Viele Gebäude sind abgestützt, damit sie nicht einfallen. - Ich habe früher mal gelesen, auch Bilder von polnischen und russischen Dörfern gesehen. Ich habe diese Schilderung und Bilder immer für hitlerische Propaganda gehalten! - Aber das da, was ich gesehen habe, ist keine verlogene Propaganda, das ist Tatsache! - Es gibt zwar auch Häuser, die ordentlich aussehen! Aber der Verfall, die Verwahrlosung überwiegen. Viele Feldwege gibt es nicht mehr! Da wird durchgepflügt! Es gibt nur noch große Ackerflächen! — Und die Frauen sehen aus wie die Russenweiber auf den „Hitlerbildern“! — Sprechen durfte ich mit niemand! - Wäre ich doch nie hingekommen!“ —

Das ist aus der „Perle der Grafschaft“ geworden!

K. H. Schwarz