Das Nordhäuser Gymnasium im Weltkriege 1914-18

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Textdaten
Autor: Max Paul
Titel: Das Nordhäuser Gymnasium im Weltkriege 1914-18
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aus: Zur Feier des vierhundertjährigen Bestehens des Gymnasiums zu Nordhausen
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Erscheinungsdatum: 1924
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Digitalisat: PDF (66 MB)
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Das Nordhäuser Gymnasium im Weltkriege 1914/1918.


Von Studienrat M. Paul.


Wer aus der Geschichte des „Gymnasium Nordhusanum“, die wir der fleißigen Arbeit Dr. Silberborths verdanken, sich unterrichten wollte, welche unmittelbaren Rückwirkungen der dreißigjährige Krieg auf das Gymnasium und seinen unterrichtlichen Betrieb gehabt hat, der wird nicht ohne Verwunderung feststellen, wie wenig uns davon überliefert ist, so wenig, daß man fast glauben könnte, der schreckliche Krieg, der Deutschlands Gaue so viele Jahre durchtobt und verwüstet hat, sei fast spurlos an Nordhausens Lateinschule vorübergegangen. Nicht anders steht es mit dem Napoleonischen Zeitalter und den Kriegen von 1866 und 1870—71. Zwar wird uns aus dem Deutsch-französischen Kriege von den ins Feld ziehenden Primanern und dem Heldentod des Mathematikers Emil Thomae berichtet, wir hören auch von einigen Siegesfeiern des Gymnasiums, aber im ganzen hat man hier wie sonst den Eindruck, als ob der Betrieb der Schule durch die großen geschichtlichen Ereignisse kaum beeinflußt oder wesentlich gestört worden sei. Vielleicht scheint es aber auch nur so, weil die Quellen schweigen, und uns erwächst gerade daraus die Pflicht, zu verhüten, daß einst in der Geschichte derselbe Eindruck von dem Weltkrieg 1914—18 entsteht. Es soll nicht wieder der Vergessenheit anheimfallen, was unser Gymnasium in diesen gewaltigen vier Jahren geleistet und gelitten hat; und wenn es auch nicht mehr getan hat als jedes andere Provinzgymnasium im Innern Deutschlands, und wenn vieles von dem, was zu sagen ist, für die deutsche Schule ganz allgemein gilt, so gibt die bevorstehende Jubelfeier zum Gedächtnis des 400jährigen Bestehens unserer altehrwürdigen Schule einen besonderen Anlaß, dieses jüngste schicksalsschwere Erleben festzuhalten und damit zugleich einen Beitrag zu liefern für eine spätere Weiterführung der Geschichte des Gymnasiums, die Silberborth aus wohlerwogenen Gründen mit den letzten Jahren des vergangenen Jahrhunderts abgeschlossen hat. Weil es sich bei dieser Skizze nur um Material für eine Geschichte handelt, zusammengestellt von einem, der die Zeit teils daheim im Lande, teils draußen im Felde miterlebt hat, so mag es verstattet sein, der Darstellung eine persönlichere Farbe zu geben und, wie es nicht zu vermeiden ist, die Namen nicht nur von Toten und Gefallenen zu nennen, sondern auch von lebenden Kriegsteilnehmern und anderen Männern unter Lehrern und früheren Schülern, von deren Verdiensten die Tatsachen selber zeugen. Es liegt dieser ganzen Darstellung die Gewißheit zu Grunde, daß Deutschland sich noch einmal vom Boden erheben wird und dann aus den denkwürdigen Taten seiner Söhne, die bislang wie mit einem Schleier des Schweigens bedeckt zu sein scheinen, Kraft und Leben schöpfen wird, um die Ketten zu brechen, in denen unser Volk jetzt schmachtet.[1]

Mobilmachung und erste Einwirkung der kriegerischen Ereignisse

Als am Nachmittag des 28. Juni 1914, eines sonnigwarmen Sommertages, der Telegraph die Kunde von der Ermordung des österreichischen Thronfolgerpaares meldete, da durchzuckte wohl manchen jäh die Erkenntnis., daß diesem Ereignis eine verhängnisvolle Bedeutung zukomme. Aber bald beruhigte man sich in dem Gedanken, daß es den Diplomaten, wie schon manches Mal, so auch jetzt wieder gelingen würde, einen Weg zu finden, um das Entsetzliche zu vermeiden, das in finsteren Wolken Jahr um Jahr drohend am politischen Himmel gestanden hatte. Als dann am 4. Juli die ersehnten Sommerferien begannen, dachte man wenig an Verwicklungen politischer oder gar kriegerischer Art und zerstreute sich wie sonst fröhlichen Sinnes in die Sommerfrischen an der See und im Gebirge. Einer und der andere reiste gar nach dem Ausland, ohne zu ahnen, daß er in wenigen Wochen nur unter größten Schwierigkeiten die Heimreise ermöglichen -werde. Noch als am 23.'Juli die österreichische Note mit ihren ultimativen Forderungen in Belgrad überreicht wurde, glaubte man im größeren Publikum nicht an den ganzen Ernst der Lage. Erst als man merkte, daß der unvermeidlich gewordene Krieg Oesterreich- Ungams mit Serbien die russische Mobilmachung zur Folge hatte, sah man die riesengroße Gefahr eines europäischen Krieges vor Augen, der sich durch Englands Beitritt bald genug zu einem Weltkrieg auswachsen konnte. Gerade der Durchschnittsdeutsche, der trotz der immer zunehmenden Spannung und feindlichen Umklammerung des letzten Jahrzehnts einen Krieg wegen seiner unabsehbaren Auswirkung und vernichtenden Schärfe nicht für wahrscheinlich halten konnte, sah sich mit einem Male einer Lage gegenüber, die im deutschen Volke zunächst ein Erschrecken, eine beklemmende Spannung, dann ein Auflodern der gesammelten Kraft in beispielloser Begeisterung zur Folge hatte. Nur wer den dumpfen Druck, das ständige Gefühl einer gewitterhaft geladenen Atmosphäre in den letzten Vorkriegsjahren miterlebt hat, kann diesen elementaren Ausbruch des Volksempfindens, dieses Aufjauchzen gegenüber der kommenden Auseinandersetzung verstehen. Dabei handelte es sich nicht etwa um einen bloß gefühlsmäßigen Ueberschwang; denn die gleiche Erregung bemächtigte sich des reifen Mannes, ja des bejahrten Greises kaum weniger stark als der wehrfähigen Jugend. Noch aber bemühte sich der deutsche Kaiser um Lokalisierung des Konflikts und Aufrechterhaltung von Verhandlungsmöglichkeiten, als Rußland das Deutsche Reich mit seiner Mobilmachung- vor vollendete Tatsachen stellte; und nun folgten sich die großen Ereignisse Schlag auf Schlag: am 31. Juli Verhängung des Kriegszustandes im Deutschen Reich, deutsches Ultimatum an Rußland und Frankreich; am 1. August Mobilmachung des deutschen Heeres und der Kaiserlichen Marine. Mit dieser Anordnung war der Höhepunkt der Begeisterung und des nationalen Hochgefühls erreicht. Nun setzte die Tat ein, und dem Ablauf eines riesigen Uhrwerks gleich vollzog sich in den ersten Augusttagen das in langer Friedenszeit bis ins kleinste vorbereitete und durchgearbeitete organisatorische Meisterwerk der deutschen Mobilmachung. Bereits am 2. August rollten die ersten Militärtransporte durch Nordhausens Bahnhof, um sich von Stunde zu Stunde zu mehren und in einer ununterbrochenen Zugfolge von 15 bis 20 Minuten zu gipfeln. Mit Staunen sah die Bevölkerung diese ans Wunderbare grenzende Leistung, die sie beruhigte und zugleich zur höchsten Kraftanstrengung anspornte. Naturgemäß war das Miterleben dieser Tage in Deutschlands reiferer Jugend am stärksten, und wie im ganzen Reiche, so wurden auch an Nordhausens höheren Schulen die Schüler aller Klassen von einer Begeisterung ohnegleichen gepackt. Die ersten Mobilmachungstage fielen noch in die Ferien, und mit Spannung und Ungeduld wurde diesmal der Schulbeginn und noch mehr der Ministerialerlaß über die Abhaltung der Notreifeprüfung herbeigesehnt. Die Zahl der nicht unmittelbar wehrpflichtigen Jünglinge und Männer, die sich freiwillig zum Eintritt in das Heer meldeten, war gleich am 1. Mobilmachungstag bedeutend und wuchs von Tag zu Tag. Schon wurden die Meldelisten für dieses und jenes Regiment geschlossen, und die Primaner fürchteten, zu spät zu kommen. Sobald daher der Erlaß, der die Notreifeprüfung anordnete, veröffentlicht war, wurde die Prüfung auf Mittwoch, den 5. August, als den erstmöglichen Termin festgesetzt. Als sich an diesem Tage die Schulgemeinde nach den Sommerferien wieder in der Aula zusammenfand, zeigte es sich, daß die Mobilmachung schon erheblich in den Organismus der Schule eingegriffen hatte. Vom Lehrerkollegium war als ältestes Mitglied der Hauptmann d. L. Prof. Dr. Haufe bereits am 1. August trotz seines Alters von 59 Jahren einberufen und mit der Bewachung der Brücken und Bahndämme in der näheren Umgebung Nordhausens beauftragt worden. Ebenso waren gleich am 2. August Oberlehrer Thiede als Vicefeldwebel zum Inf.-Regt. Nr. 82 nach Göttingen und Wissenschafti. Hilfslehrer Dr. Walther als Offizierstellvertreter in das Sächs. Res.-Inf.-Regt. Nr. 102 nach Dresden eingezogen worden, mit dem der letztere alsbald auf den westlichen Kriegsschauplatz ausrückte. Auch der Probekandidat Bublitz kehrte nicht aus den Ferien zurück, sondern teilte mit, daß er beim Inf.-Regt. Nr. 54 in Kolberg eingetreten sei. Die Einziehungen beschränkten sich aber nicht nur auf das Lehrerkollegium, sondern betrafen auch den Schuldiener Hugo Küster, der am 1. Mo- bilmachungstage als etatmäßiger Feldwebel in das Ersatzbataillon des Res.-Inf.-Regts. Nr. 82 eingestellt wurde, und endlich den Heizer Wolf, der als Wehrmann nach Magdeburg kam. Es machten sich also schon allenthalben Lücken bemerkbar, als mit Beginn des Unterrichts am 5. August zugleich die erste Notprüfung dieses Krieges abgehalten wurde, der viele andere folgen sollten. 12 Oberprimaner und 4 Unterprimaner, die das entsprechende Klassenalter aufwiesen und für den Militärdienst tauglich befunden worden waren, unterzogen sich ihr und bestanden sämtlich, aufrichtig beneidet von ihren Mitschülern, besonders auch von den beiden Klassenkameraden, die für den Dienst mit der Waffe noch nicht als tauglich bezeichnet waren und deshalb nach den Bestimmungen des Erlasses zur Notreifeprüfung nicht zugelassen werden keimten. Gleichzeitig fand eine Notprüfung für die Erlangung des Zeugnisses zum einjährig-freiw. Dienst statt, der sich aber nur 1 Untersekundaner unterzog. Dagegen meldeten sich 3 Untersekundaner, 1 Obersekundaner und 4 Unterprimaner, um mit Zustimmung ihrer Eltern sofort als Kriegsfreiwillige in den Heeresdienst einzutreten. Erst nachträglich wurde diesen Schülern auf Grund eines späteren Ministerialerlasses in den Abgangszeugnissen die Versetzung in die nächsthöhere Klasse zuerkannt, eine Vergünstigung, die sie, wie Direktor Orth im Jahresbericht von 1914 rühmend hervorhebt, in ihren Entschlüssen nicht beeinflußt hatte.

Voll Stolz entließ die Schule alle diese von innerer Begeisterung glühenden Jünglinge, die zum Teil kaum dem Knabenalter entwachsen und doch freudig bereit waren, ihr junges Leben für Deutschlands Ehre und Größe in die Schanze zu schlagen. Ja, das Gymnasium Nordhusanum durfte stolz auf seine Schüler sein, denn deutlich zeigte sich in diesem Augenblick wie im ganzen Verlauf des Krieges, daß der Geist der höheren Schule im allgemeinen und des humanistischen Gymnasiums im besonderen seine Feuerprobe bestand, wo es galt, die deutsche Kultur zu bewahren und zu retten vor den gewaltigen Gefahren, die ihr von russischer Barbarei und gallischem Chauvinismus drohten. Wie unter der warmen Frühlingssonne, die das letzte Eis zum Schmelzen bringt, der Saft in allen Pflanzen steigt und mit seiner aufgespeicherten Energie überall Zweige und Knospen und Blätter hervortreibt, so weckte in jenen Augusttagen die Hochstimmung der nationalen Erhebung ein ungeahntes Leben voll Kraft und Opfersinns, einen Willen zur Hingabe für das Ganze, wie er in dieser Stärke und Allgemeinheit wohl noch nie in der deutschen Geschichte hervor getreten ist. Jeder deutsche Mann, jeder Jüngling bis zum Knaben hinab wäre am liebsten sogleich mit unserem herrlichen Heere hinausgezogen, und wer daheim bleiben mußte, war unruhig in sich und spürte das Verlangen, irgendwie Hand anzulegen und an seinem Teile zum Gehngen des Riesenwerkes beizutragen. So fühlte es das Lehrerkollegium, so die Schülerschaft des Nordhäuser Gymnasiums. Als daher das Rote Kreuz mit der Bitte herantrat, die Schüler der oberen Klassen möchten sich zur Verfügung stellen, um bei der Verpflegung der Truppen am Bahnhof mitzuwirken, da fand sich sofort eine genügende Anzahl bereit, in Gruppen geordnet, abwechselnd am Nachmittag, am Abend und auch in den Nachtstunden am Bahnhof zu sein und dort an die durchkommenden Truppentransporte warmen Kaffee, Brote und allerlei Liebesgaben zu verteilen. Sie bekamen dabei zugleich einen unvergeßlichen Eindruck von der Stärke und Ausrüstung des deutschen Heeres, von dem vorzüglichen Geiste der nach West und Ost rollenden Truppen und der außerordentlichen Leistung der preußischen Staatseisenbahn.

Noch war die Mobilmachung im vollen Gange, da kam am 7. August bereits die Kunde von dem Fall Lüttichs, das von den deutschen Truppen im Sturm erobert worden war. Der Jubel darüber war um so größer, als man es kaum fassen konnte, wie eine so starke und modern ausgerüstete Festung durch überraschenden Handstreich hatte genommen werden können. Zum ersten Male feierte die Schulgemeinde einen deutschen Sieg mit Gesang und kurzer Ansprache; sie ahnte dabei nicht, daß an den Kämpfen, die sich weiter um Lüttich und Namur entspannen, bereits einer von den Kriegsfreiwilligen teilnahm, die eben erst die Notreifeprüfung abgelegt hatten. Und doch war dem so! Dem Oberprimaner Johannes Cordes, einem Pfarrerssohn aus Crimderode, war einige Monate vorher die Aufnahme als Fahnenjunker in das Kurhess. Pionier-Batl. Nr. 11 in Hann.-Münden für Ostern 1915 zugesichert worden. Sofort nach bestandener Notprüfung am 5. August stellte er sich dem Bataillon und rückte bereits am nächsten Tage, unausgebildet wie er war, mit der Truppe nach Belgien aus, wo er an den Kämpfen um die genannten Festungen beteiligt war.

Nach dem Fall Lüttichs und dem ersten Siege bei Mühlhausen legte sich vorerst die Hochspannung, die diese Ereignisse ausgelöst hatten; man wurde sich bewußt, daß es unsere Truppen in West und Ost mit emstzunehmenden und starken Gegnern zu tun hatten und daß sie blutigen Kämpfen entgegen gingen. So begann denn auch die nüchterne Schularbeit wieder und zwar im vollen Umfange, da es erfreulicherweise gelang, eine vollständige Vertretung aller ausgeschiedenen Lehrer herbeizuführen. Den altsprachlichen Unterricht übernahmen hauptsächlich die beiden dem Gymnasium zugeteilten Probekandidaten Möricke und Thienemann, die mit voller Stundenzahl herangezogen werden konnten. Für die Erteilung des neusprachlichen Unterrichts stellte sich in anerkennenswerter Weise ein seit 4 Jahren im Ruhestande lebender früherer Lehrer der Anstalt, Professor Neuhoff, zur Verfügung. Da ferner mit der Notprüfung die Oberprima als selbständige Klasse in Wegfall kam, so konnte ohne weitere Hilfe auch noch der Unterricht von Professor Oelmann gedeckt werden, der am 17. August als Offizier- Stellvertreter in das Landst.-Inf.-Bat. Naumburg eingestellt wurde und mit demselben bald darauf nach Belgien, vorläufig zum Dienst in der Etappe, ausrückte. Mit seinem Ausscheiden trat zunächst eine Pause in den Einberufungen ein, und der Unterricht konnte im ganzen ungestört fortgeführt werden, zumal mit Beginn des Winterhalbjahres dem Gymnasialkollegium zwei durch Zusammenlegung von Klassen freigewordene Lehrer vom Realgymnasium, Prof. Dr. Otten und Dr. Silberborth, überwiesen wurden.

Lehrer und Schüler im Heeresdienst und an der Front

Durch den raschen Vormarsch in Belgien, die großen Anfangserfolge gegen Frankreich und den glänzenden Sieg Hindenburgs bei Tannenberg hatte sich die in der deutschen Oeffentlichlikeit weitverbreitete Meinung verstärkt, daß es sich in diesem Kriege wesentlich um einen kurzen Feldzug mit wenigen großen, aber vernichtenden Entscheidungsschlachten handele. Daher der allgemeine Eifer, mit dabei zu sein und zu helfen, die Freudigkeit Opfer zu bringen und die Sorge vieler junger Menschen, sie möchten zu spät kommen und das große Erleben versäumen. Als jedoch nach der Mameschlacht der Vormarsch im Westen zum Stehen kam und der Bewegungskrieg in den Stellungskrieg mit seinem gänzlich veränderten Charakter überging, als sich im Osten die gewaltige russische Uebermacht immer stärker fühlbar machte und durch Verluste wie die bei Tannenberg in keiner Weise geschwächt zeigte, fühlte sich das allgemeine Bewußtsein befremdet und war genötigt, sich auf einen langen vertust- und opferreichen Krieg gefaßt zu machen, dessen weiterer Verlauf durchaus undurchsichtig war. Die Hoffnung, den Krieg noch im Jahre 1914 zu beendigen, schwand immer mehr; man begann die militärischen Erfolge anders zu werten und die Kräfte auf der Gegenseite richtiger einzuschätzen. Zugleich wandelte sich mit dieser Erkenntnis die hellodernde Begeisterung der ersten Wochen allmählich in den stillen, tiefen Emst des Bewußtseins, einen Kampf um Sein oder Nichtsein zu führen, und in den entschlossenen Willen, in diesem Ringen nicht zu unterliegen. Es ist klar, daß die starken Anforderungen an Menschen und Material, die der Krieg nach mehreren Fronten bei immer noch wachsender Zahl der Feinde zur Folge hatte, sich entsprechend auch im Leben des Gymnasiums bemerkbar machen mußten. Bis zum Ende des Jahres verließen im ganzen nicht weniger als 30 Schüler die Anstalt, um als Kriegsfreiwilige ins Heer zu treten. Unter diesen befanden sich 3 kräftige Jungen, die eben erst das 15. und IG. Lebensjahr vollendet hatten, 8 standen im siebzehnten und 10 im achtzehnten Lebensjahr. 10 von den 30 Freiwilligen sollten bereits bis September 1917 ihre Treue mit dem Tode besiegeln. Von den Lehrern der Anstalt wurde zunächst der Direktor, Prof. Dr. Orth, am 1. Dezember als Oberleutnant d. L. eingezogen und mit der Führung einer Kompagnie am Offizier-Gefangenenlager Hann.-Münden beauftragt. Seine Vertretung übernahm der älteste Lehrer, der bereits 70jährige, aber fast jugendlich rüstige Prof. Dr. S c h a m b a c h , dem aus den zahlreichen Veränderungen in der Zusammensetzung des Kollegiums eine nicht geringe Arbeitslast und Unruhe erwuchs. Am 1. Februar 1915 wurde der Probekandidat Möricke zur Ersatzreserve des Inf.-Regts. Nr. 94 und der Zeichenlehrer Froneberg zum Inf.-Regt. Nr. 82 eingezogen. Anfang März schied dann der zum Fußart.-Regt. Nr. 18 nach Mainz einbprufene Oberlehrer Dr. Silberborth wieder aus dem Gymnasialkollegium aus. Ferner trat am 1. Mai desselben Jahres Oberlehrer Paul als Kriegsfreiwilliger in das Feldart.-Regt. Nr. 75 in Halle a. S. ein. Schließlich wurde noch der Vorschullehrer Bodemeyer trotz wiederholter Reklamation seitens der Behörde zum Heeresdienst eingezogen. Um die so entstandenen Lücken auszufüllen, wurden die Oberlehrer Ecke und Dr. Baake vom Realgymnasium an das Gymnasium überwiesen. Die Vertretung in der 3. Vorschulklasse übernahm Frau Mittelschullehrer Muegge, den Zeichenunterricht erteilten die Zeichenlehrer Riemann, Lange und Hesse von hiesigen städtischen Schulen. Auch die Geistlichen der Stadt boten dem Gymnasium ihre Hilfe an; einige Zeit erteilte Pfarrer Blech den Religionsunterricht in U II und IV. Vorübergehend sah sich der stellvertr. Direktor sogar genötigt, von dem opferwilligen Anerbieten des Pastors Gewalt Gebrauch zu machen, der mehrere Monate den Lateinunterricht der O HI übernahm und ihn den 22 Schülern mit Rücksicht auf seinen körperlichen Zustand in der Privatwohnung erteilte. Mit Beginn des Wintersemesters 1915 konnte erfreulicherweise der Direktor selbst in sein Amt zurückkehren; sein Verbleiben in Münden wurde nicht länger benötigt, weil inzwischen eine genügende Anzahl verwundeter und in Genesung begriffener Offiziere für Verwendung in der Heimat zur Verfügung stand. Eine weitere Erleichterung für die Schule bedeutete es, als Oberlehrer Thiede im Mai 1916 aus dem Heeresdienst entlassen wurde, weil er wegen seines Gesundheitszustandes für die Verwendung im Feld nicht in Betracht kam. Trotzdem gab es immer noch neue Störungen und Unterbrechungen im Unterrichtsbetrieb, da wiederholt Einziehungen von Lehrern vorkamen, die ihrer körperlichen Konstitution nach nur garnisondienstfähig waren; so wurden im Mai 1916 Dr. Treu und im Dezember desselben Jahres Dr. Baake für mehrere Wochen einberufen und nur auf dringliche Reklamation wieder freigegeben. Es war für den Direktor wie für seinen Stellvertreter nicht leicht, bei allen diesen Einberufungen und Zwischenfällen den Stundenplan aufrechtzuerhalten und den Unterricht, soweit es irgend möglich war, ordnungsmäßig weiterzuführen. Aber wie im Felde, so war auch in der Heimat und im Zivilberuf der Wille da, einzuspringen und Lücken auszufüllen, wo immer sie sich auftaten. Wem Alter und Gesundheitszustand verwehrte, dem Vaterland draußen an der Front zu dienen, dessen Denken und Sehnen ging doch immer wieder hinaus, dorthin, wo die heißen Kämpfe tobten, wo im Westen die deutschen Truppen einer Uebermacht von Feinden und einem unerhörten Ansturm mit überlegenen Kampfmitteln aller Art eisernen Widerstand entgegensetzten, dorthin, wo im Osten die verbündeten Heere die gewaltige Macht des Russenreiches zerschlugen, Serbien und Rumänien auf die Knie zwangen. An allen diesen Fronten, ja fernhin bis nach Palästina, standen Schüler und Lehrer des Gymnasiums, und ich wollte, ich könnte ihnen allen auf ihren Feldzügen folgen und ihren Taten ein Denkmal setzen, ein Denkmal ihrer Tapferkeit und Opferwilligkeit, ihrer Leiden, ihrer Siege und ihres Sterbens. Solche Aufgabe zu erfüllen, ist, zumal im Rahmen dieser Skizze, unmöglich; es gelang nicht einmal festzustellen, wieviel ehemalige Schüler des Gymnasiums auf den verschiedenen Schauplätzen des Weltkrieges zu Lande, zu Wasser und in der Luft mitgekämpft haben. Nur daß sie in allen drei Elementen Tüchtiges geleistet haben, ist uns von vielen bekannt geworden, vom einfachen Musketier und Kanonier bis zum Kampfflieger, vom schlichten Leutnant bis zum Stabschef des Oberkommandos Ost. Uns erfüllt berechtigter Stolz, daß wir Männer zu den ehemaligen Schülern zählen dürfen wie den General Hoffmann, der zu dem glänzenden Dreigestirn gehört, das uns im Osten von Sieg zu Sieg geführt hat. Unser größter Stolz aber sind die 97 Toten, Lehrer und Schüler der Anstalt, deren Namen in goldenen Lettern auf dem Ehrendenkmal unserer Aula verzeichnet sind. Aus Kernholz deutscher Eiche geschaffen, soll es ihr Gedächtnis für alle Zeit festhalten und den nachwachsenden Geschlechtern vor Augen stehen als stete Mahnung zu werden wie die, von denen es kündet. Eine nahezu vollständige Zusammenstellung der Namen aller Gefallenen mit den wichtigsten Angaben aus ihrem Leben hat Direktor Orth, dessen Tatkraft das Denkmal seine Entstehung und künstlerische Gestaltung verdankt, in der Gedächtnisschrift gegeben, die er zum Totensonntag 1919 als Bericht über die Einweihung des Ehrenmals (9. April 1919) erscheinen ließ.

Hier müssen wir uns beschränken, noch einmal der beiden Männer zu gedenken, die der Tod unmittelbar aus dem Lehrerkollegium gerissen hat, des Vorschullehrers Ferdinand Bodemeyer und des Zeichenlehrers Hans Froneberg. Wer unter denen, die von Bodemeyer in die Geheimnisse des Abc und der Rechenkunst eingeführt worden sind, gedächte nicht in Dankbarkeit des stillen, freundlichen Lehrers, der dem kleinen Vorschüler mit väterlicher Liebe begegnete und ihn mit großem pädagogischen Geschick zu leiten wußte! Er machte nicht viel Wesens von sich, erfüllte aber stets freudig und gewissenhaft seine Pflicht. So zog er auch hinaus ins Feld, hinweg von Frau und Kindern. Am 14. Juni 1917 ward er als Unteroffizier an der Westfront durch eine Granate schwer verwundet und starb am gleichen Tage im Feldlazarett zu Laon, wo er auf dem Soldatenfriedhof begraben liegt. Und Hans Froneberg! Noch nicht 23 Jahre alt, war er Ostern 1914 zunächst kommissarisch mit der Verwaltung der Stelle eines Zeichen- und Turnlehrers am Gymnasium beauftragt worden. Selbst noch ein Jüngling mit dem Frohsinn und der unbekümmerten Zuversicht seiner Jahre, fühlte er sich den älteren Schülern gegenüber mehr als Freund und Kamerad und hatte mit seinem sonnigen Wesen bald ihre Herzen gewonnen. Draußen im Felde avancierte er binnen Jahresfrist zum Offizier, blieb bis Herbst 1917 an der Ostfront, wo er sich in dem vereisten Wasser der Pripetsümpfe eine schlimme Nierenentzündung zuzog. Er nahm dann an der Flandernschlacht teil, mußte im Schrecken ihres Eisenhagels zeitweise die Aufgaben eines Bataillons- und Regimentskommandeurs erfüllen und war zuletzt Führer einer Maschinengewehrkompagnie, an deren Spitze er, längst mit dem Eisernen Kreuz II. und I. Klasse ausgezeichnet, an der großen Offensive des Jahres 1918 beteiligt war. Seit dem 11. Oktober wurde er, der bei einem Vorstoß in der Nähe von Cambrai in Feindeshand gefallen war, vermißt. Lange blieben die Eltern in banger Ungewißheit um den geliebten Sohn, bis schließlich spätere Nachrichten keinen Zweifel mehr zuließen, daß man mit seinem Tode zu rechnen hatte. Das Andenken der beiden Gefallenen wird an unserer Anstalt fortleben, solange es als eine Ehre gilt, für das Vaterland Blut und Leben zu opfern.

Ueber den Toten aber wollen wir auch der Männer nicht vergessen, die gleich ihnen als Lehrer am Gymnasium ins Feld gezogen sind, die aber das Walten des Schicksals durch schwere Kämpfe hindurchgeführt und ihrem Beruf zurückgegeben hat. Prof. Dr. Haufe, der als Hauptmann d. L. bis April 1917 Führer einer Kompagnie beim Kriegsbekleidungsamt Cassel gewesen war, wurde Anfang Mai trotz seiner 62 Jahre an die Ostfront versetzt und zwar zum Stabe der 75. Res.-Division, bei dem er u. a. die Stellungskämpfe an der Zlota-Lipa und Lomnitza (Ostgalizien) miterlebte. Eine schwere Erkrankung an der Ruhr führte ihn gegen Ende des Jahres aus Kurland, geschmückt mit dem Eisernen Kreuz, in die Heimat zurück.

Als nächstältestes Mitglied des Kollegiums war Professor 0elmann, wie oben erwähnt, Ende August 1914 mit einem Landsturmbataillon nach Belgien ausgerückt, mit dem er zunächst im Etappendienst verwendet wurde. Auf seine Meldung Mai 1915 zum Res.-Ers.-Regt. Nr. 4 versetzt, nahm er als Kompagnieführer an den Stellungskämpfen in mehreren Abschnitten der Westfront teil und zeichnete sich Mai 1917 in hervorragender Weise bei den Kämpfen aus, die zur Wiedereroberung der in der großen französischen Frühjahrsoffensive verloren gegangenen wichtigen Punkte am Chemin des Dames geführt werden mußten. Wir lesen darüber in dem von der „Heeresgruppe Deutscher Kronprinz“ herausgegebenen Bericht: „Bei Parguy und Filain errang der angreifende Franzose am 5. Mai unbestritten seinen größten Erfolg an der Aisnefront. In den gut ausgebauten Steinbrüchen südlich Pargny, in kleinen Schluchten und Hohlwegen und in der weithinschauenden Berthe Ferme fand er Stützpunkte und Seitendeckungen genug, um seine Stellung für uneinnehmbar zu halten. In der Tat war es ein schweres Stück Arbeit, die ins Tal geglittenen Linien wieder auf den Berg hinaufzustemmen und über den Damenweg hinwegzutragen. Das erste Vorbrechen richtete sich am Abend des 14. Mai gegen die Berthe Ferme. Trotz Regen und zähem Schlamm erkletterte die 8. Kompagnie eines aus Hanseaten und Oldenburgern bestehenden Regiments unter Führung des oft bewährten 44jährigen Leutnants 0elmann von Filain her den Steilhang, erreichte in heftigem Maschinengewehrfeuer die auf der Hochfläche gelegene Ferme und warf den Gegner — es waren Jäger, die sich bei Bouchavesnes die höchste Truppenauszeichnung, die Fangschnur, verdient hatten — im Kampf Mann gegen Mann aus Kellern und Trümmern heraus.“ 73 Mann, 3 Offiziere waren die Beute des Erfolges allein an dieser Stelle. Leutnant Oelmann, der durch ein Maschinengewehrgeschoß in den Oberschenkel verwundet worden war, wurde für seine Tat mit dem Ritterkreuz des Hohenzollemschen Hausordens ausgezeichnet. Das Eiserne Kreuz I. Klasse hatte er sich kurz vorher bei einem erfolgreichen Grabenangriff erworben.

Nicht weniger ehrenvoll war die Beteiligung Dr. Walthers am Krieg vier schwere Jahre lang. Schon auf dem Vormarsch in Frankreich erwarb er sich Mitte September 1914 als erster Offizier seines Bataillons das Eiserne Kreuz II. Klasse. Er nahm dann an den Wandlungen des Krieges an der Westfront in seiner sich ständig steigernden Wucht teil, erlebte ihn in ermüdenden Stellungskämpfen, in der schweren Champagneschlacht 1915, Sommeschlacht 1916, er erlebte ihn in der grausigsten Weise in der Flandernschlacht 1917, in der er als Bataillonsadjutant im Res.-Inf.-Regt. Nr. 102 mitkämpfte. Wie durch ein Wunder zweimal der Hölle bei Paschendale und Zonnebeke unverwundet entronnen, wurde ihm im November 1917 vom König von Sachsen persönlich die höchste sächsische Kriegsauszeichnung, das Ritterkreuz des St. Heinrichsordens, überreicht, nachdem er sich bereits bei Langemark das Eiserne Kreuz I. Klasse erworben hatte. Er lernte dann noch einen eisigen russischen Kriegswinter kennen, war Zeuge des Zusammenbruchs der russischen Front, machte einen Vorstoß tief ins bolschewistische Rußland mit, bis er, an die Westfront zurückgekehrt, im Anfang der großen deutschen Frühjahrsoffensive 1918 verwundet wurde.

Nur kurz war, verglichen mit diesem reichen Erleben, die Zeit, die dem Oberlehrer Paul an der Front vergönnt war. Als Kriegfreiwilliger in einer Feldartl.-Abteilung des deutschen Alpenkorps nahm er an den beschwerlichen, aber interessanten Feldzügen in Südtirol und auf dem Balkan Herbst 1915 teil. Bereits im Juni 1916 wurde er jedoch vor Verdun durch Granatvolltreffer so schwer verwundet, daß er für die weitere Verwendung an der Front ausscheiden und nach seiner Wiederherstellung März 1917 in seinen Zivilberuf zurückkehren mußte.

Wenn hier nur diejenigen Kriegsteilnehmer Erwähnung- finden, die 1914—18 dem Lehrerkollegium des Gymnasiums angehört haben, so ist dies durch die Begrenzung unserer Aufgabe auf den genannten Zeitabschnitt bedingt. Aus demselben Grunde sind einige nähere Angaben auch nur von denjenigen Schülern möglich, die 1914 noch die Schule besuchten. Soweit sich feststellen ließ, haben von 285 Schülern 105 am Kriege teilgenommen und an der Front gestanden; von ihnen haben 20 ihr blühendes Leben für das Vaterland gegeben. Eine kleine Zahl — und doch, wieviel Trauer und Herzeleid ist gerade mit ihr verbunden! In mehreren Familien waren es die einzigen Söhne, mit denen sie zugleich alle Hoffnung ihres Lebens opfern mußten; von mehreren fielen 2 oder 3 Söhne, und nur ein letzter Bruder blieb zurück. Einige von den Gefallenen waren beim Kriegsausbruch fast noch Kinder und schienen ihrem ganzen Wesen nach zu allem anderen bestimmt, als auf die schrecklichen Schlachtfelder Flanderns hinauszuziehen. Gleichwohl haben sie ihren Mann gestanden, so gut wie einer. Mehrere haschte der Tod schon im ersten Gefecht; einen holte er sich noch, als er lange Tage und Wochen die wilde Sommeschlacht bestanden und sich auf der Ablösung bereits 16 Kilometer hinter der Front befunden hatte. So wahllos packt der Krieg seine Opfer!

Zum Schluß mag uns eine Uebersicht über die Stellen, an denen die 97 auf der Ehrentafel Verzeichneten gefallen sind, eine Vorstellung geben, wie weit ehemalige Schüler des Gymnasiums am Krieg in seiner ganzen Ausdehnung und besonders an seinen Brennpunkten beteiligt waren. Von den 20 Toten des Herbstes 1914 fielen 6 auf dem Vormarsch in Frankreich, 2 in den ersten Kämpfen im Elsaß, 6 bei dem heftigen Ringen in Flandern und 5 in Ostpreußen und Polen. Das Jahr 1915 brachte die große, erfolgreiche Offensive im Osten; in den mit ihr verbundenen Kämpfen fielen von den 27 Toten dieses Jahres nicht weniger als 18, während auf dem westlichen Kriegsschauplatz nur 8 verblieben. 1916 neigte sich das Schwergewicht des Krieges wieder nach dem Westen; 4 Tote forderte das blutige Ringen vor Verdun, 6 die Schlacht an der Somme; 4 blieben in der Flandemschlacht 1917 und 12 bei der großen Westoffensive und den Rückzugskämpfen des Jahres 1918. 1 fiel in den Iltisbergen vor Tsingtau, 1 in Deutsch-Ostafrika; je einen birgt die Erde Serbiens, Rumäniens und Palästinas. 1 sank mit der „Pommern“ in der Skagerrakschlacht, 2 stürzten mit dem Flugzeug ab. Der erste von den Toten fiel schon am 10. August 1914, den letzten erreichte das feindliche Geschoß noch am 25. Oktober 1918.

Es ist ein langer blutiger Reigen, der da vor unserer Seele noch einmal vorüberzieht, und der Anblick will uns fast das Herz brechen in dem Gedanken an den niederschmetternden Ausgang des Krieges. Sie alle starben, damit Deutschland lebe, damit es wachse an allen Kräften und sich reicher entfalte zu den Aufgaben, die seine weltgeschichtliche Bestimmung schienen. Das Schicksal hat es anders gewollt. Wir haben erschüttert schauen müssen, was ihnen erspart geblieben ist: Deutschlands Sturz von einer Höhe ohnegleichen in eine Tiefe, die wir vielleicht auch heute noch nicht ermessen können. Aber gleichwohl, sie sind für Deutschlands Größe gefallen, und ihr Blut schreit auf von der Erde, bis erreicht ist, wofür sie starben.

Die Schule im Dienst des Durchhaltens

Bei der räumlichen und zeitlichen Ausdehnung des Krieges, bei den bis dahin unerhörten Anforderungen, die sowohl an die kämpfenden Truppen als auch an die Bevölkerung im Lande in allen ihren Schichten gestellt werden mußten, zeigte es sich immer deutlicher, daß für die Erreichung des Enderfolges die Haltung der Heimat von kaum geringerer Bedeutung sein mußte als die Tapferkeit und Widerstandsfähigkeit der Truppen an der Front. Seitdem nach dem Rückschlag an der Marne im September 1914 die Hoffnung auf eine rasche, erfolgreiche Beendigung des Krieges geschwunden war, wurde die Aufgabe immer brennender, den Willen zum Durchhalten im deutschen Volke lebendig zu erhalten und zu stählen. Unter den Organen, die für die Erfüllung dieser Aufgabe in Frage kamen, stand die deutsche Schule nicht an letzter Stelle; sie hat sich derselben willig unterzogen und darf sich im ganzen bewußt sein, getan zu haben, was in ihren Kräften stand.

Die Seele der deutschen Jugend war so durchglüht von dem Willen zur Tat, daß die Schule empfänglichen Boden fand für alle Einwirkungen und Anregungen, die durch sie an die Kinder herantraten. Infolgedessen war es ihr möglich, auch auf das Elternhaus einen nicht zu unterschätzenden Einfluß zu gewinnen und Erfolge zu erzielen, die durch unmittelbare Mahnungen an die Erwachsenen niemals zu erreichen gewesen wären. Wenn es aber die Schule als eine heilige Pflicht empfand, alle Mittel und Wege zu benutzen, die den Willen zum Durchhalten in der Jugend und durch sie im ganzen Volke stärken konnten, so fühlte sie sich dabei weit entfernt von künstlicher Stimmungsmache, die von außen als etwas Wesensfremdes in sie hineingetragen worden wäre. Nein, es handelte sich — das darf man mit gutem Recht von der ganzen Zeit bis in den Herbst 1918 sagen — um ein ursprünglich quellendes Leben, das auch durch die Revolution nicht in seinem Kern getroffen werden konnte, wie die Haltung der Jugend in ihrem größten Teil bis heute zeigt. Das hat in erster Linie seine Wurzel darin, daß die Zeit selbst, die großen Ereignisse und Erlebnisse in der jugendlichen Seele Wandlungen herbeiführten, wie sie von Menschen nimmermehr künstlich hervorgerufen werden konnten. So war es geradezu eine Unmöglichkeit, einen großen Sieg nur in der Klasse zu feiern; die überquellende Freude, das Feuer der Begeisterung drängte zum Gemeinschaftserleben der ganzen Schule in der Aula, in der den kindlichen Sextaner das gleiche innere Band umschlang wie den Primaner, der vielleicht schon bald dem Ruf zur Fahne folgen mußte. In diesem Sinne beseelte auch das Nordhäuser Gymnasium ein Geist, ein Wille, der seine Bewegung erhielt durch den Wetteifer, mit dem die einzelnen Klassen sich der Erfüllung der vielseitigen Einzelaufgaben widmeten, von denen wir im folgenden sprechen wollen. Es müssen diese Tatsachen festgehalten werden auf die Gefahr hin, daß eine spätere Zeit darin eine mehr oder weniger idealisierende Darstellung erblickt.

Als Gesamtheit trat die Schulgemeinde in den Andachten zusammen, die viermal in der Woche stattfanden und Gelegenheit gaben, alle Ereignisse des Krieges, die freudigen wie die trauervollen, die wachsende Not, die Schwere der Verantwortung, losgelöst vom Alltag, durch eine in überzeitlichen Werten wurzelnde Betrachtung zu beleuchten, sie den Schülern in Herz und Gewissen zu schreiben und die notwendigen Mahnungen aus dem Rahmen schulmäßiger Belehrung herauszunehmen. So spiegelt sich in der fortlaufenden Reihe jener Andachten der Krieg in allen seinen Wendungen wider, zugleich als ein Zeugnis dafür, wie sich die deutsche Seele gemüht hat, des schweren Erlebens vor dem Angesicht des Ewigen Herr zu werden und sich dadurch zu stärken für die nüchterne Arbeit des Alltags. Denn nach der Andacht ging es in die Klassen, und nun beschäftigte man sich mit lateinischer Stilistik oder mathematischen Konstruktionsaufgaben, als ob nicht weit draußen die Granaten unerbittlich ihre Bahn zogen und vielleicht in diesem Augenblicke ein Leben auslöschten, das sich noch vor kurzem mit den gleichen Aufgaben gemüht hatte. Wenn die Wirkung der Andachten, der Gedichte und Feldbriefe, die dabei hin und wieder vorgelesen wurden, sich mehr auf das Gemüt erstreckte, so ist es selbstverständlich, daß die Schule sich keine Gelegenheit entgehen ließ, auch sonst das Gegenwartserleben in Beziehung zum Unterricht zu setzen. Die besten Voraussetzungen hierfür bot natürlich der Geschichtsunterricht, der sich die Aufgabe stellen mußte, seine Belehrung bis in die unmittelbare Gegenwart fortzusetzen und vor allem zu zeigen, welche Gründe und Vorgänge den Weltkrieg in seinem außerordentlichen Umfang herbeigeführt haben. Es handelte sich dabei hauptsächlich um den Nachweis, daß in diesem Kriege das Recht auf unserer Seite sei, daß jenes Recht, welches sich allen Deutschen unmittelbar im guten Gewissen bestätigte, durch die geschichtlichen Tatsachen auch vor Vernunft und Wissenschaft als unwiderleglich dargetan werden konnte. Dabei fiel von der Wirklichkeit des Weltkrieges und der Gruppierung der Mächte in ihm ein neues Licht auf viele geschichtliche Vorgänge älterer und jüngerer Zeit. Kein Wunder, daß die Geschichtsstunde anders als sonst auf die jugendliche Seele einwirkte, die in dem dargebotenen Stoff nirgends mehr ein totes Wissen sah, sondern aufs lebendigste spürte, wie Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in ununterbrochener Wechselwirkung mit einander verwoben sind. Es kann hier nur andeutungsweise darauf hingewiesen werden, wieviel auch der gesamte übrige Unterricht, vor allem im Deutschen und in der Religion, Gelegenheit bot, einmal das Zeiterleben zu läutern und zu vertiefen, andererseits das rege Nationalgefühl der Jugend zur Befruchtung und Belebung des Unterrichts heranzuziehen. Aber nicht nur Vertiefung der Erkenntnis, sondern auch vielseitige Bereicherung des positiven Wissens konnte dem Schulunterricht der Krieg bringen, der alle Errungenschaften der Technik und Naturwissenschaft benutzte, der in drei Kontinenten und auf dem ganzen Weltmeere geführt wurde. Physik und Chemie, Erd- und Länderkunde hatten, entsprechend geleitet, den Vorteil davon. Verfügungen der Schulbehörden machten solche Verknüpfung ausdrücklich zur Pflicht; es gab aber auch wohl ohnedem nicht leicht einen Lehrer, der sich diese einzigartige Gelegenheit entgehen lassen mochte.

Dabei war sich die Schule sehr wohl der Grenzen bewußt, die jedem theoretischen Unterricht, und sei er der lebendigste, gezogen sind. Darum spornte sie die Jugend, wo sie nur konnte, zur Tat und zum opferbereiten Handeln an, damit sie sich so als Glied der großen Volksgemeinschaft tatsächlich fühlen lernte. Wir haben schon im 1. Abschnitt hervorgehoben, wie die Jugend und zwar der Knabe nicht weniger als der Jüngling geradezu nach Betätigung dürstete. Solchem Eifer bot zunächst die Goldsammlung ein geeignetes Feld.

Es war eine der wichtigsten Maßnahmen für die finanzielle Mobilmachung zum Kriege, wenn die Reichsbank bestrebt war, gleich anfangs ihren Goldbestand nach Möglichkeit zu stärken. Fand auch ihr Aufruf weithin bei den Erwachsenen Gehör, so daß sie freiwillig ihr gemünztes Gold, ihre goldenen Uhrketten und Schmucksachen an die überall eingerichteten Goldankaufstellen ablieferten, so gaben doch die Kinder dieser Stammlung erst den richtigen Nachdruck; besonders die Schüler der Unterklassen ruhten nicht, bis Mutter ihr letztes Zehnmarkstückchen herausgab, das sie eigentlich als Notgroschen hatte behalten wollen, oder die goldenen Ohrringe, die ein teures Andenken an die Großmutter darstellten, opferte. Wo schulpflichtige Kinder in einem Hause waren, ist wohl restlos alles Gold abgeliefert worden; denn die Buben und Mädchen erlahmten in ihrem Eifer nicht, anfangs aus reinster Begeisterung, später auch deshalb, weil dem erfolgreichsten Sammler ein Ehrendiplom ausgestellt und der eifrigsten Klasse ein schulfreier Tag gewährt wurde. Bis Ostern 1917 gingen auf diese Weise rund 40 000 Mark in gemünztem Golde durch die Hand des Rendanten Seehaus, der sich um diese wie um alle anderen Schulsammlungen besonders verdient gemacht hat.

Ebenso wichtig wie die Mehrung des Goldbestandes war für die finanzielle Rüstung des Reiches der volle Erfolg der aufgelegten Kriegsanleihen; auch hierbei hat sich die Schule sowohl in den Dienst der Propaganda wie in den der Zeichnung selbst gestellt. Bei der Zusammensetzung unserer Schülerschaft, die zum weitaus größten Teil dem Mittelstand angehört, sind Zeichnungsbeträge wie die für die 5. und 7. Anleihe in Höhe von 28 920 Mark und 27 866 Mark nicht gering anzuschlagen, und was diese durch die Schüler erfolgten Zeichnungen überhaupt zu bedeuten hatten, mag man aus der Feststellung des Provinzial-Schulkollegiums Magdeburg ersehen, das als Gesamtbetrag der selbst vollzogenen und geworbenen Zeichnungen auf die 1. bis 6. Kriegsanleihe an allen höheren Schulen der Provinz die Summe von 22 174 280 Goldmark angegeben hat, während die Sammlung von gemünztem Gold durch die höheren Schulen bis Ostern 1917 den Betrag von 2 658 911 Mark ergab.

So wirkungvsoll die Mitarbeit der Schule in finanzieller Beziehung gewesen ist, so nachhaltig und vielseitig war sie es auch auf wirtschaftlichem Gebiet. Es bedurfte nach Kriegsausbruch kaum der Mahnung der Behörde, daß von deutschen Jungen nur deutsche Erzeugnisse in Stahlfedern, Zeichenpapier u. dgl. gekauft werden sollten. Wie der fremde Gruß „adieu“, so wurden hinfort auch alle Artikel, die von Feindeshand hergestellt waren, nachdrücklich abgelehnt. Bald aber ließen die Anordnungen der Behörden den wachsenden Ernst der wirtschaftlichen Lage erkennen, so die Zulassung wichtiger Lehrmittel und Schulartikel aus Ersatzmaterial, z. B. bei der Tinte und beim Papier in allen seinen Verwendungsformen. Februar 1916 nötigte der Bedarf an Kriegsmaterial zu der Abmontierung der kupfernen Blitzableiteranlage und ihrem Ersatz durch anderes Material. Selbst die Platinvorräte des Physikalischen Kabinetts wurden, so gering sie an sich waren, vom Kriegswirtschaftsaint in Anspruch genommen. Von größerer Bedeutung waren die Maßnahmen, die von der Schule zur Ersparnis von Kohlen getroffen werden mußten. Am schlimmsten stand es in dieser Hinsicht im Winter 1916—17, der von Ende Januar bis März eine außerordentliche Kälte brachte. Infolgedessen mußte trotz aller nachteiligen Folgen die Schließung der Turnhalle und der völlige Wegfall des Nachmittagsunterrichts angeordnet werden, damit bereits von 11 Uhr an die Befeuerung der Kessel eingeschränkt werden konnte; auch auf die Heizung’ der Aula wurde verzichtet, wodurch fortan im Winter die gemeinschaftlichen Andachten in Wegfall kamen. Aber alle diese Maßnahmen genügten noch nicht. Leider hatte auf Befehl der Militärbehörde das Gymnasium vorübergehend den jeweiligen Tagesbedarf, den das Reservelazarett in der Provinzial-Erzie- hungsanstalt an Kohlen benötigte, aus seinem Bestand abzugeben und sah sich deshalb wie alle anderen Schulen Nordhausens gezwungen, vom 7. Februar an Kohlenferien eintreten zu lassen, die bis zum 5. März andauerten. Die sonstigen Sparmaßnahmen aber beschränkten sich nicht auf diesen Winter, sondern blieben auch in den folgenden Jahren bestehen. Im Wintersemester 1917—18 machte man obendrein den Versuch, den Gymnasialflügel des Schulgebäudes von der Heizung überhaupt auszuschließen, um für die Zentralheizung mit einem Kessel auszukommen, der dafür den ganzen Tag über in vollen Betrieb genommen und in seiner Heizkraft dementsprechend ausgenützt werden sollte; Gymnasium und Realgymnasium hatten also nunmehr in demselben Flügel Unterricht und zwar abwechselnd eine Woche am Vormittag von 8—¾1 Uhr und die andere am Nachmittag von 1¼—6 Uhr. Da aber diese Einrichtung beim frühen Eintritt der Dunkelheit und bei der nicht unbedeutenden Zahl auswärtiger Schüler viele Schwierigkeiten und Nachteile im Gefolge hatte, konnte sie nur kurze Zeit durchgeführt werden. Es war jedenfalls das kleinere Uebel, wenn in diesem Jahr wie in den nächstfolgenden die Weihnachtsferien um 2 bis 3 Wochen verlängert wurden.

Nahm so die Schule ihren vollen Anteil an der wirtschaftlichen Not auf sich, so suchte sie andererseits Notständen abzuhelfen, wo und wie immer sie konnte. Sie mußte oft genug dabei ihre eigenen Interessen hintanstellen und Schädigungen in Kauf nehmen, die in ihrer Häufung und allmählichen Steigerung die eigentliche Schularbeit und ihre Ziele in nicht geringem Maße beeinträchtigten. Aber hinter der Not des Vaterlandes mußte die der Schule zurückstehen, und die Schule hat die von ihr geforderten Opfer freudig gebracht.

In erster Linie und am meisten wurde die Hilfe der Schüler, besonders der älteren, in der Landwirtschaft benötigt. Bis zum Sommer 1916 zwar hatte der Landwirt im allgemeinen von den „feinen Stadtjungen“ nicht viel wissen wollen, aber als im Herbst 1916 langanhaltender Regen während mehrerer Wochen das Roden der ohnehin schlecht geratenen Kartoffeln unmöglich machte und die Arbeitskräfte infolge der fortgesetzten Einberufungen immer mehr zusammenschmolzen, da wandten sich einige Güter an die Schulleitung mit der Bitte, ihnen die Schüler der mittleren und oberen Klassen zur Verfügung zu stellen. Bis spät in den November hinein haben die braven Jungen allen Unbilden der regnerischen Witterung getrotzt und sich um die Bergung eines nicht unbeträchtlichen Teiles der wertvollen Kartoffel- und Rü- benernte verdient gemacht. Ende November kam sodann ein Befehl der Militärbehörde, der anordnete, daß sich die Schüler der Klassen 0 III bis 0 I für Entladung von Güterwagen zur Verfügung zu halten hätten. 59 Schüler der mittleren und oberen Klassen meldeten sich für diesen nicht leichten Dienst und wurden öfter in kleineren Gruppen von der Verwaltung des Güterbahnhofes angefordert. Die Tertianer, die für solche Verwendung noch nicht brauchbar waren, machten sich verdient, indem sie an einer Reihe von Vor- und Nachmittagen den gesamten Kohlenbedarf des Gymnasiums für den Winter in die Keller schafften. Wiederholt wurden ferner Primaner zu mehrwöchiger Aushilfsarbeit auf dem Landratsamt oder in städtischen Büros herangezogen und haben die ihnen gestellten Aufgaben stets zur Zufriedenheit ausgeführt; einige ältere Schüler, die besonderes Interesse für Elektrotechnik hatten, arbeiteten monatelang in benachbarten Elektrizitätswerken. Ein Primaner hat in seiner freien Zeit mehrere Wochen lang im Geschäft eines Spediteurs, dessen Sohn und Knecht eingezogen waren, sogar den Dienst als Rollkutscher übernommen und sich dabei so geschickt und brauchbar erwiesen, daß er sich den besonderen Dank des Geschäftsherrn verdiente.


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In festere Formen wurde der gesamte Hilfsdienst der Schüler gebracht, nachdem im Dezember 1916 das Hilfsdienstgesetz erschienen war, das alle Deutschen im Alter von 17 bis 60 Jahren, soweit sie nicht zum Dienst mit der Waffe tauglich waren, zum Hilfsdienst in der Heimat verpflichtete. Für sämtliche höheren Knabenschulen der Provinz Sachsen wurde im April 1917 von dem Kriegswirtschaftsamt Magdeburg in Verbindung mit dem Provinzial-Schulkollegium eine besondere Organisation geschaffen, die in erster Linie die hilfsdienstpflichtigen Schüler umfassen sollte, weiterhn aber auch jüngere kräftige Jungen, die freiwillig eintreten konnten: die sogen. Jungmannen-Organisation oder abgekürzt „Imo“. Sie baute sich während des Frühjahrs 1917 weiter aus und war besonders für die Verhältnisse der großstädtischen höheren Schulen, deren Angehörige in ganzen Gruppen auf größeren Gütern verwendet wurden, vorzüglich geeignet, so daß ihre Einrichtungen auch in anderen Provinzen Nachahmung fanden. An jedem Ort ernannte das Kriegswirtschaftsamt einen Vertrauensmann für sämtliche höhere Knabenschulen. In Nordhausen wurde für dieses Amt der Direktor des Gymnasiums ausersehen, dem durch die mannigfaltigen Aufgaben, die damit verbunden waren, eine nicht geringe Mehrarbeit erwuchs. Die Hilfsdienstpflichtigen selbst wurden in eine Anzahl von Gruppen zusammengefaßt, von denen jede einem Führer, meist einem jüngeren Oberlehrer, unterstellt war. Der Führer hatte seine Gruppe, deren Angehörige entweder geschlossen auf einem Gute arbeiteten oder, wie es meist der Fall war, einzeln in kleinen Bauernwirtschaften untergebracht waren, zu übeiwachen, sich von ihrer Unterbringung und ihrer Führung zu überzeugen sowie die Lohnverhältnisse zu regeln. Denn um nicht in preisdrückerischem Sinne zu wirken, war für die Jungmannen ein bestimmter Verpflegungssatz und ein Lohn festgesetzt, der zum Teil in Form eines Taschengeldes dem Jungmannen selbst zufloß, zum anderen Teil zur Bestreitung der Unkosten der Organisation und zur Beschaffung von billigen Kleidern und Schuhen verwendet wurde. Die Imo selbst lieferte haltbare Arbeitsanzüge aus einem Baumwollstoff zum Preise von 15—20 Mark, ebenso Schuhwerk, meist ausgebesserte Miltärstiefei und -Schnürschuhe, für 7,50 Mit. und 14,50 Mk. das Paar. Die hilfsdienstpflichtigen Schüler, für die es keinen Anspruch auf Ferien gab, wurden vor Eintritt in den Dienst von einem Militärarzt auf ihre körperliche Eignung hin untersucht; sie waren gegen Unfall versichert und hatten gegebenenfalls Anspruch auf die Brotzulage für Schwerarbeit, ein Recht, das bei der großen Brotknappheit ebenso wichtig wie mühsam errungen war. Der Hilfsdienst der Schüler nahm im weiteren Verlauf der Jahre 1917 und 1918 einen solchen Umfang an, daß viele Schüler den ganzen Sommer über der Schule fernblieben und daß mehrere Monate lang die Klassen 0 II und I aufgelöst werden mußten. Fast ausnahmslos haben sich die Schüler unserer Anstalt unter den bisweilen nicht leichten Verhältnissen tadellos geführt und sind den Bauernwirtschaften, in denen sie mehrfach die einzige männliche Kraft darstellten, eine wirkliche Hilfe gewesen. Wie staunte mancher Vater, wenn er gelegentlich seinen Sohn draußen auf dem Lande aufsuchte; kaum konnte er in dem gemächlich hinter dem Pfluge herschreitenden Bauersmann, der schief im Munde die kurze Tonpfeife trug, seinen Jungen wiedererkennen. Jedenfalls wird es für die Schüler ihr Leben lang bedeutsam bleiben, daß sie in jenen Jahren in innere Fühlung mit der Landwirtschaft traten und am eigenen Leibe erlebten, mit welchen Beschwerden und Entbehrungen die Landarbeit verbunden ist. Sie erhielten einen Einblick in ganz andersgeartete soziale Verhältnisse und bekamen zugleich eine Ahnung von der Bedeutung, die der Boden und das Bauerntum für das gesamte Leben eines Volkes und seine Wirtschaft haben. Wohl keiner kehrte in die Schule zurück, ohne deutliche Wandlungen an Körper und Geist durchgemacht zu haben, und dieser Gewinn sowie das Bewußtsein erfüllter Pflicht im Dienst des Vaterlandes mochte ihnen reiche Entschädigung sein für die nicht geringen Ausfälle, die sie an Kenntnissen und Schulung des Intellekts in Kauf nehmen mußten. Auf alle Fälle war es nicht nur ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit, wenn die Behörde anordnete, daß diesen Schülern aus ihrem geleisteten Hilfsdienst kein Zeitverlust für die Osterversetzung und die Zulassung zur Reifeprüfung erwachsen sollte. Denn mochte es mit den positiven Kenntnissen an vielen Stellen hapern, die Not der Zeit hat jenen Schülern die erforderliche geistige und sittliche Reife fürs Leben gegeben und sie mehr zum Charakter geprägt, als es die Schule tun konnte.

Hatte der Hilfsdienst in seinem bisherigen Umfang wesentlich nur die oberen Klassen getroffen, so sollte vom Frühjahr 1918 an durch die Laubheu- und Bucheckernsammlung die ganze Schule in Mitleidenschaft gezogen werden. Der Gedanke der Laubheusammlung wurde aus dem bedrohlichen Mangel an Futtermitteln für den Pferdebestand des Feldheeres und der Etappe geboren. Dieser Mangel mußte um so bedenklicher wirken, als die deutsche Front seit dem 21. März aus der jahrelangen Erstarrung erwacht war und der Stellungskrieg mehr oder weniger wieder dem Bewegungskriege Platz gemacht hatte, wobei den Pferden eine überaus wichtige Rolle zufiel. Das junge Laub der Buche wurde abgestreift, in eigens dazu gelieferte Säcke gefüllt, an Sammelstellen aufgehäuft, in Dörranlagen getrocknet, dann gemahlen und mit Melasse zu einer Art Kuchen verarbeitet, die von den Pferden gern genommen wurden und in ihrem Nährwert nach Feststellung der Wissenschaft ein gutes Ersatzfutter darstellten. Es ist klar, daß ungeheure Mengen von Laubheu benötigt wurden, wenn ein nennenswerter Nutzen herausspringen sollte. Sobald deshalb das junge Grün hinreichend entwickelt war, setzte Anfang Juni die Sammeltätigkeit ein, für die sämtliche Knaben- und Mädchenschulen aller Gattungen herangezogen wurden . Jeder Schule wurde von der Forstverwaltung ihr besonderes Revier und ihre Sammelstelle zugeteilt; alle Kinder waren staatlicherseits gegen Unfall versichert. Zuerst begann die Sammlung in der näheren Umgebung der Stadt und zwar für die beiden höheren Knabenschulen, die meist gemeinschaftlich arbeiteten, im Alten Stolberg und im sogen. Haselhai. Wer damals dabei gewesen ist, erinnert sich noch mit Freude dieser Junitage, wenn die Schülerschaft der mittleren und unteren Klassen, ein frohes Lied auf den Lippen, geschlossen in den sonnigen taufrischen Morgen hinauszog, frei von aller Schulsorge und doch sich bewußt, ein notwendiges Werk im Dienst des Vaterlandes zu tun. Denn war man erst am Sammelrevier angelangt, begann die Arbeit sogleich mit allem Eifer. Wohl gab es da auch manchen Drückeberger, der sich in die Büsche schlug und keinen Spaß daran hatte, seine Hande beim stundenlangen Abstreifen der Zweige wundzuscheuern. Aber die Aufsichtsführenden, die Lehrer und einige ältere Schüler, die aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Landwirtschaft tätig sein konnten, hatten solche Faulpelze bald entdeckt und stellten sie dahin, wo sie arbeiten mußten. Im ganzen aber war der Fleiß anzuerkennen, da das Ergebnis der Sammlung klassenweise zusammengestellt und somit der Wetteifer dauernd wacherhalten wurde. Als die Wälder, die zu Fuß erreichbar -waren, eine weitere Ausbeute nicht mehr zuließen, verlegte man die Sammeltätigkeit in den Harz, wohin die Schüler jeden Morgen durch lange Sonderzüge gebracht wurden. Mit der Zeit verlor naturgemäß das Laubabstreifen den anfangs damit verbundenen Reiz; denn Tag für Tag bis in die Nachmittagstunden fortgesetzt, ermüdete es den Körper und stumpfte den Geist ab, so daß mancher Junge sogar den geordneten Unterricht herbeisehnte. Dazu kam, daß die Verpflegung für den ganzen Tag nicht unerheblichen Schwierigkeiten begegnete. Bei dem Mangel an Brot, Butter, Fett und allem Belag war es den Müttern vielfach unmöglich, ihren Jungen, deren Appetit durch den ständigen Aufenthalt in der frischen Luft nicht verringert wurde, die nötige Anzahl von belegten Broten mitzugeben; so waren die Rationen knapp, trotzdem man sich mit Kartoffelsalat, Reisbrei und allerlei Suppen behalf, die in Büchsen und Thermosflaschen mitgenommen wurden. Um die Sammlung in geschlossenem Verbände möglichst lange fortzusetzen, wurden durch behördliche Anordnung die großen Ferien um 14 Tage hinausgeschoben. Auch in den Sommerferien selbst führte man die Laubgewinnung in beschränktem Maße weiter, allerdings mit verhältnismäßig geringem Ergebnis. Deshalb setzte nach Schulbeginn die Arbeit noch einmal mit erhöhtem Nachdruck ein und dauerte den ganzen August an, bis der nahende Herbst dem Laubsammeln ein natürliches Ende bereitete. Die Tagesleistung beider höherer Schulen betrug in der besten Zeit durchschnittlich 22 Zentner, die Gesamtleistung 423 Zentner. Im ganzen hatte der Sammeleifer aller Schulen im Reiche, wie die Oberste Heeresleitung ausdrücklich anerkannte, ein erfreuliches Ergebnis gezeitigt und dem Feldheere in Zeiten der Futternot eine nicht unwesentliche Hilfe geleistet.

Bald aber sollte der Herbst eine neue, nicht minder wichtige Aufgabe stellen. Es handelte sich jetzt um die Bergung eines Bucheckern ertrages, wie er mit solchem Reichtum kaum zweimal in einem Menschenalter wiederkehrt. Bei der außerordentlichen Fettnot, die schon jahrelang im deutschen Volke herrschte und sich mit jedem Monat noch steigerte, mußte der reiche Gehalt an einem vortrefflichen Speiseöl, das mit diesem Bucheckernbehang gegeben wurde, geradezu als eine Gunst des Himmels erscheinen. Die Schwierigkeit lag nur in der möglichst ausgedehnten Erfassung dessen, was die Natur in so verschwenderischer Fülle bot. Das mehr oder weniger zufällige und wahllose Sammeln einzelner Personen und Familien hatte für die Allgemeinheit nur eine beschränkte Bedeutung und konnte keine rationelle Verwendung der Ernte im Interesse der Volksemährung sichern. Deshalb griffen die Behörden ein, um einmal das Sammeln auf die breiteste Basis zu stellen, und dazu eigneten sich wieder am besten die Schulen, um andererseits aber auch dafür zu sorgen, daß systematisch ein Forstrevier nach dem anderen abgeerntet wurde. Auf Anordnung des Kriegswirtschaftsamtes wurden also im September 1918 überall Ortssammelstellen errichtet, welche die Eckern in Empfang zu nehmen und für zweckmäßige Weiterverwendung zu sorgen hatten. Die Schulen wurden in den Dienst der allgemeinen Volksernährung gestellt in der Weise, daß die Kinder nicht für den Bedarf ihrer eigenen Familie sammeln, sondern den gesamten Ertrag gegen eine Geldentschädigung von 1,65 Mark und die Anwartschaft von 60 g Speiseöl für 1 kg Eckern an die Sammelstelle abliefern sollten. So zogen denn auch die Schüler des Gymnasiums wieder in den Wald, zunächst zum Kohnstein, später unter Beförderung durch Sonderzüge in den Südharz. Mit langen Stangen wurden die Eckern abgeklopft; auch kletterten gewandtere Jungen auf die Bäume und schüttelten von den einzelnen Zweigen die Früchte, die in ausgespannten Laken und Tüchern aufgefangen wurden. Meist aber las man die wie gesät am Boden liegenden Eckern mit den Fingern auf, wobei der Ertrag ebenso von der Geschicklichkeit und dem Eifer der Sammler wie von der Ergiebigkeit des Bezirkes abhing. Jedenfalls stellte sich das Sammeln der Bucheckern bald als ein mühsames und wenig angenehmes Geschäft dar. Der Oktober war schon kühl, Regen und Nebel feuchteten den Boden samt dem Laub und den Eckern; die Finger wurden klamm, die Knie feucht trotz der untergelegten Mäntel, der Rücken durch das stundenlange Bücken steif. Dazu trat gerade in dieser Zeit die tückische Grippe in verstärktem Maße auf, so daß sich die Reihen der Sammler täglich mehr lichteten und der Eifer der Uebriggebliebenen herabgestimmt wurde, zumal der Ertrag ihres Fleißes nicht unmittelbar ihrer eigenen Familie zugute kam. Auch lastete die Ahnung der nahenden Katastrophe schon auf allen Gemütern und ließ jede derartige Anstrengung als zwecklos und vergeblich erscheinen. So wurde denn Ende Oktober die Sammelarbeit eingestellt, deren Ergebnis den gehegten Erwartungen nur unvollkommen entsprach. Immerhin konnten vom Gymnasium über 850 Pfund, von allen Schulen Nordhausens zusammen 11 467 Pfund Bucheckern an die Sammelstelle abgeliefert werden, und es herrschte allgemeine Befriedigung, als die Schüler später das durch ihren Fleiß verdiente Gel in Empfang nehmen konnten, dessen vorzügliche Beschaffenheit die volle Anerkennung der Mütter fand.

Die Laubheu- und Eckernsammlung erstreckte sich in der Hauptsache, wie schon gesagt, auf die Schüler der unteren und mittleren Klassen. Die Primaner und Sekundaner waren fast sämtlich den ganzen Sommer über in der Landwirtschaft beschäftigt und wurden noch bis in den November hinein benötigt, u. a. um auf einem größeren Gut der Umgebung beim Maschinendrusch und bei der Rübenernte zu helfen. Erst als die Demobilisierung dem Lande genügend Arbeitskräfte zurückgab, stellte die Imo ihre Tätigkeit ein und löste sich am 15. Dezember 1918 als Organisation auf. Sie konnte mit Recht darauf hinweisen, daß sie dem Vaterlande in schwerster Zeit wertvolle Dienste geleitet habe, und mancher der damaligen Jungmannen wird sich in wehmütiger Freude erinnern, mit welchem Stolz er seiner Zeit das von der Imo gestiftete Abzeichen für geleisteten Hilfsdienst als erste wohlerworbene Auszeichnung in Empfang genommen hat. Eine weitere Anerkennung für freiwillig geleisteten Hilfsdienst als Jungmann war darin zu sehen, daß seit September 1917 ein entsprechender Vermerk in die Abgangs- und Reifezeugnisse aufgenommen wurde.

Haben wir bisher die Hauptlinien verfolgt, in denen sich die Betätigung unserer Schule und Schülerschaft in wirtschaftlicher Hinsicht vollzog, so bliebe das Bild doch ein unvollständiges, wollten wir nicht wenigstens einen Blick werfen auf die zahlreichen Einzelsammlung langen, an denen die Schule während der ganzen Kriegszeit mitgearbeitet hat und die in ihrer Häufung und Vielseitigkeit eine nicht zu unterschätzende Belastung darstellten.

Schon als im September 1914 in Nordhausen die ersten Verwundeten eintrafen, wollten unsere Schüler nicht fehlen, wenn es galt, den braven Feldgrauen nach den harten Entbehrungen und den heißen Kämpfen des Vormarsches das Leben in der Heimat so angenehm wie möglich zu gestalten. So brachten sie für das Lazarett in der Provinzial-Erziehungsanstalt eine Menge von frischem Obst, eingemachten Früchten, Schokolade, Zigarren und andere Genußmittel sowie Handwagen voll Bücher und Zeitschriften aus den Elternhäusern herbei. Drei Schüler aus Niedersachswerfen sammelten zu Weihnachten 1914 nicht weniger als 98 Würste. Als sich der Feldzug in den ersten Kriegswinter hinzog, erhob sich der Ruf nach wollener Unterkleidung, Handschuhen und Kopfschützern für das Feldheer; auch hierbei halfen die Schüler eifrig sammeln, besonders in der „Reichswollwoche“ vom 18. bis 24. Januar 1915. Mit der längeren Dauer des Krieges und der zunehmenden Knappheit an Kriegsmaterial jeder Art, dessen Bedarf weit über alle Berechnungen des Friedens hinausging, sah sich die Kriegswirtschaft immer mehr genötigt, alles zu erfassen, was an Altmaterial im Lande vorhanden war. Auch hierbei rechnete man nicht umsonst auf die Mitarbeit der Schule. So sammelten namentlich die Schüler der unteren Klassen unter der anspornenden Leitung des nie ermüdenden Lehrers Seehaus ganze Wagenladungen von Altpapier, Weißblechdosen, Staniol, Alteisen, Blei, Gummiabfällen und Flaschen. Was im ganzen dabei herausgekommen ist, läßt sich infolge Vernichtung der Unterlagen leider schon jetzt nicht mehr feststellen; daß es aber nicht gar so wenig gewesen ist, mögen beispielsweise nur folgende Einzelposten zeigen; es wurden gesammelt: Herbst 1914 an Staniol 3 große Waschkörbe voll, an Gummiabfällen 40 kg, an Kirschkernen für Oelgewin- nung im Sommer 1916 3 Ztr., desgl. an Pflaumenkernen 7 Ztr., Zigarrenkisten für Beschäftigung, insbesondere Laubsägearbeiten der Verwundeten ein zweispänniger Wagen voll. Bei den vom Roten Kreuz veranstalteten Sammlungen haben sich die Schüler für die zeitraubende Form des Haussammelns mit Listen immer wieder zur Verfügung gestellt. So brachten bei der „Ubootspende“ 1917, deren Ertrag in erster Linie für die tapferen Besatzungen der U-Boote und deren Hinterbliebenen bestimmt war, 12 Untersekundaner mit jüngeren Gehilfen die Summe von 3995 Goldmark zusammen. In gleicher Weise beteiligten sich die Schüler 1918 an der „Kolonialkrieger-“ und der „Ludendorffspende“ und haben sich den Dank und die Anerkennung des Roten Kreuzes verdient, dem sie überdies regelmäßig die Schul- und Singeprämien, den Ertrag, der sich aus dem Verkauf des gesammelten Altmaterials ergab, und andere Ersparnisse überwiesen. Alle diese Einzelheiten seien nur deshalb erwähnt, weil sich erst aus ihrer Gesamtheit ein Eindruck von der Fülle der Anforderungen geben läßt, die in den Kriegsjahren an die Schule herantraten.

Bei alledem darf man nicht vergessen, daß die Behörden im Interesse einer rationellen Wirtschaft von der Schule eine vielseitige Einwirkung und Aufklärung im Unterricht selbst erwarteten. Das fing schon mit dem täglichen Brot an, dessen Bedeutung den jüngeren und manchmal auch den älteren Schülern anfänglich durchaus nicht klar war. Als sich die Erwachsenen bereits Einschränkungen im Brotverbrauch auferlegen mußten, sah man in den Klassen und auf dem Schulhofe noch manchmal ein achtlos weggeworfenes Frühstücksbrot liegen. Hier setzte die Arbeit der Schule ein, die den Schülern, namentlich auch denen vom Lande, die Heiligkeit des Brotes ans Herz legte und die größte Sparsamkeit in seinem Verbrauch zur Pflicht machte; daran knüpften sich dann weiter Belehrungen über die Gefahren, die für das Durchhalten aus dem Verfüttern von Brotgetreide an das Vieh erwuchsen, sowie Aufklärung über das Kriegskartoffelbrot („K.-Brot“). Durch die Schule wurde ferner auf das Elternhaus eingewirkt, damit es sich bereit finde, die Kartoffeln nur noch in der Schale zu kochen, zu ihrer Streckung die Kohlrübe heranzuziehen, „deutschen Tee“ zu sammeln, Pilze und allerlei „Wildgemüse“ zu verwenden. Demselben Zweck diente die Mahnung, zur Streckung des Leders die Kinder in Schuhen und Sandalen mit Holzsohlen gehen zu lassen, obwohl deren lautes Klappern auf den steinernen Korridoren der Schule eine wenig erfreuliche Störung bedeutete.

Selbstverständlich konnten in dieser Hinsicht nur Anregungen gegeben werden: alles Uebrige tat dann die Not der Zeit schon selbst. Wie sehr durch die Einwirkung der Schule das Verständnis beispielsweise für die Wertschätzung des Brotgetreides wuchs, zeigte sich in dem Eifer, mit dem die jüngeren Schüler Aehren lasen und häufig im Herbst auch mit Spaten und Hacke den Hamstern nachstellten, um ihnen die oft nicht unerheblichen Wintervorräte an Getreide abzunehmen. Diese Hinweise mögen genügen, um zu zeigen, wie vielseitig die Schule mittelbar oder unmittelbar das deutsche Wirtschaftsleben fördern und den Willen zum Durchhalten stärken konnte. Unwillkürlich aber werden bei dieser nüchternen Zusammenstellung in allen, die jene Zeit bewußt miterlebt haben, Erinnerungen aufsteigen, unfrohe Erinnerungen an die ungezählten großen und kleinen Nöte des täglichen Lebens, die allesamt zu der einen unübersehbaren Kriegsnot gehören, in der sich das deutsche Volk vier lange, bange Jahre behauptet hat. Und wir können von diesem Kapitel nicht scheiden, ohne der unerhörten Tragik zu gedenken, die darin liegt, daß das deutsche Volk wie in militärischer so auch in wirtschaftlicher Hinsicht Riesenkräfte entfaltete, um der Not, die durch die vierjährige, fast vollständige Abschließung vom Wirtschaftsleben der übrigen Welt hervorgerufen wurde, zu begegnen, daß es sich aber gerade durch diese Abwehr in der zu lange andauernden Not selbst verzehrte und in seiner Widerstandskraft zermürben ließ, ehe es den Preis für alle Tatkraft und Ausdauer erringen konnte.

Beeinträchtigung der Schularbeit durch Folgeerscheinungen des Krieges

Wenn wir von dem, was die höhere Schule im Kriege leistete, bisher ein Bild mit lauter lichten Farben entwerfen konnten, so hat sich dabei jedem Betrachter schon von selbst der Gedanke aufgedrängt, daß diesem Bilde noch die Schatten fehlen, die ihm notwendig angehören müssen, und wenn wir bisher wesentlich nur von der Not des deutschen Volkes gesprochen haben, so dürfen wir jetzt nicht von der Not der deutschen Schule schweigen, die durch sie veranlaßt worden ist. Mehr als einmal häuften sich während des Krieges Umstände, von denen jeder einzelne genügte, um einen geordneten Unterrichtsbetrieb unmöglich zu machen, und man muß sich nur darüber wundern, wie es trotz allem möglich war, die höhere Schule in ihrem Grundcharakter und Bestand fast unverändert durch den Krieg zu bringen. Man vergegenwärtige sich, was es heißt, wenn gleich mit der Mobilmachung vier ordentliche Lehrkräfte und bald auch der Direktor aus einem an sich kleinen Kollegium herausgenommen werden, wenn sich Ersatzunterricht notwendig macht durch Heranziehung von Männern, denen ihr Alter längst die wohlverdiente Ruhe gegeben hatte oder von solchen, denen infolge ihrer Jugend die nötige Unterrichtserfahrung fehlte. Bei jeder neuen Einziehung einer Lehrkraft trat zunächst eine Störung des Stundenplans ein; es machte sich Vertretung notwendig, bei der nicht immer gerade das Fach berücksichtigt werden konnte, dessen Vertreter der Ausgeschiedene gewesen war. Oft vergingen Wochen, bis die Lücke wieder leidlich geschlossen war. Eine andere noch tiefer eingreifende Schädigung der Schule wurde durch den häufigen Ausfall einzelner Stunden und ganzer Vormittage bedingt, wie ihn allerlei Umstände freudiger und ernster Natur herbeiführten. Die frohen Anlässe fielen fast ausschließlich in die beiden ersten Kriegsjahre, als die deutschen Heere im Westen wie im Osten von Sieg zu Sieg schritten und die Heimat immer wieder mit stürmischer Freude über die Großtaten ihrer herrlichen Söhne erfüllten. Wenn die Extrablätter erschienen, wenn die Glocken von den Türmen läuteten und Haus bei Haus sich mit den Fahnen schmückte, da gab es in der Schule kein Halten mehr. Vorbei war es mit der Aufmerksamkeit; kein Lehrstoff wollte die Jungen fesseln; es gab nur eins: Hinauf in die Aula, kurze Ansprache, Gedenken der Tapferen, begeisterter Gesang des Deutschlandliedes und dann hinaus ins Freie, um sich der vollen Freude der Jugend hinzugeben! Vollzog sich der Schulausfall anfangs infolge der nicht aufzuhaltenden Begeisterung wie von selbst, sobald die Nachricht eines großen Sieges eintraf, so gab von März 1915 an die Behörde bestimmte Anweisung, daß bei „entscheidenden Siegen“ der Unterricht nach der zweiten Stunde mit einer kurzen Feier zu schließen sei.

Von 1916 an wurden solche frohen Tage selten; um so öfter führten nun Anlässe der Not zu Ausfall des Schulunterrichtes. Anfänglich handelte es sich dabei noch um Einzelbeurlaubungen von Schülern der oberen und mittleren Klassen zu landwirtschaftlichem Hilfsdienst; seit Ostern 1917 aber kam es, wie im 3. Abschnitt des Näheren ausgeführt wurde, zur Schließung ganzer Klassen für mehrere Monate oder den ganzen Sommer und Herbst; 1918 wurde gar der Unterricht der gesamten Schule von Anfang Juni bis Ende August und dann noch einmal im Oktober ausgesetzt, um der Laubheu- und Bucheckernsammlung Platz zu machen. Im Winter dagegen war es der Kohlenmangel, der von 1917 an zur Verlängerung der Weihnachtsferien um mehrere Wochen oder zu besonderen Kälteferien (Februar 1917) führte. Es leuchtet ohne weiteres ein, daß Unterbrechungen des Unterrichts von solchem Ausmaß durch keinerlei noch so gesteigerte Anstrengungen von Seiten der Lehrer und Schüler ausgeglichen werden konnten. Es handelte sich dabei ja gar nicht nur um eine rechnerisch zu addierende Stundenzahl, die in Wegfall kam; stärker und nachhaltiger als der Ausfall an sich wirkte die Ablenkung von der ruhigen Arbeit und dem wirklichen Interesse für den in der Schule gebotenen Lehrstoff. In den ersten Monaten nach Kriegsausbruch waren die Jungen mit jeder Faser ihres Herzens draußen bei den kämpfenden Truppen, unter denen sich vielleicht der Vater oder Bruder befand. Als dann durch die Länge der Zeit die Teilnahme an den Vorgängen im Felde naturgemäß nachließ, da wirkten alle jene Momente auf die Seele der Schüler ein, die bereits geschildert wurden: die immer wiederholte Sammeltätigkeit, der Hilfsdienst in Landwirtschaft, Büro und Industrie. AVer als jugendlicher, in voller Entwicklung begriffener Mensch den ganzen Sommer und Herbst hindurch kaum irgendwelche Berührung mit geistiger Arbeit gehabt hat, wer ganz in der praktischen Betätigung und in dem Interesse für die kleine Bauernwirtschaft aufgegangen ist, von dem kann man nicht erwarten, daß er sich in derselben seelischen und geistigen Verfassung befindet wie ein Schüler, der nicht aus dem alltäglichen und regelmäßigen Gang des Unterrichts herausgekommen ist. Schon rein äußerlich fällt ihm, in die Schule zurückgekehrt, das andauernde Sitzen schwer, noch weniger ist er imstande, sogleich wieder jedem Stoff, der gerade behandelt wird, die erforderliche Aufgeschlossenheit und Aufmerksamkeit entgegenzubringen. Er muß ein Gefühl der Fremdheit überwinden und sich erst allmählich innerlich zurechtfinden gegenüber den völlig andersgearteten Anforderungen, die nun wieder an ihn als Schüler herantreten. Mit solchen Tatsachen mußte die Schule rechnen und sich abfinden.

Lagen diese Schwierigkeiten mehr auf seelischem Gebiet, so bedeutete eine kaum geringere Not die körperliche Unterer n ä h r u n g und die dadurch bedingte Schwächung im Gesundheitszustand vieler Schüler. Vom zweiten Kriegsjahr an war sie festzustellen und forderte mit jedem Semester eine steigende Beachtung. Ihre Ursache lag in dem Mangel an wichtigsten Lebensmitteln, besonders an Brot, Fett, Fleisch und Zucker sowie in der Verwendung zahlreicher minderwertiger Ersatznährmittel. Vielfach zeigte sich die Unterernährung bei den Kindern schon äußerlich in Zartheit und Blässe des Gesichtes, in einer kümmerlichen Entwicklung des ganzen Körperbaues und auffallenden Herabsetzung des Körpergewichts; geistig äußerte sie sich in einer durch die Blutarmut herbeigeführten leichten Ermüdbarkeit und Verminderung der Gedächtniskraft, die übrigens auch viele Erwachsene bei sich feststellen mußten. Selbst wo diese Folgen der Unterernährung weniger deutlich hervortraten, hatte die Schule doch mit einer verringerten Leistungsfähigkeit zu rechnen. Infolgedessen sah sie sich außerstande, durch erhöhte Anforderungen in der regelmäßigen Unterrichtszeit einen Teil von dem wieder einzubringen, was durch die Ausfälle verloren gegangen war. Im Gegenteil, vielfach mußte die Schule darauf verzichten, auch nur das Maß an häuslicher Arbeit zu verlangen, das in Friedenszeiten üblich gewesen war. Wie an so vielen anderen Uebeln der Zeit, trug auch daran die Schuld der K o h 1 e n m a n g e 1, der die Familien meist nötigte, ihr Leben tagsüber in einem einzigen Zimmer zuzubringen. In diesem Zimmer wohnte und aß man, in ihm wurde Besuch empfangen und die Unterhaltung geführt; in ihm hatten zugleich die Kinder ihre häuslichen Arbeiten für die Schule anzufertigen, zu schreiben, zu rechnen und zu lernen. Dabei wurde die zur Verfügung stehende Zeit noch durch den Mangel an Gas und Petroleum verkürzt, der die Beleuchtung des Zimmers auf bestimmte Abendstunden einschränkte. So konnten die Schüler in der Tat ihre Pflicht gegenüber der Schule nur mangelhaft erfüllen, und die Schule wiederum sah sich genötigt, ihre Zielforderungen herabzusetzen, die Jahrespensen zu verkürzen und über Mängel und Lücken hinwegzusehen, wo sie es unter normalen Verhältnissen nimmer hätte tun dürfen. Die Aufsichtsbehörde gab dazu ihre ausdrückliche Ermächtigung und Anweisung. Durch Beschneidung des Lehrstoffes der einzelnen Klassen müsse Zeit gewonnen werden, um die durch Schulausfall und Kohlenferien entstandenen Lücken auszufüllen und Wiederholungen vorzunehmen; bei der Versetzung solle ausdrücklich auf die besonderen Umstände Rücksicht genommen und mit entsprechender Milde verfahren werden. Bis 1916 konnten annähernd die normalen Anforderungen aufrechterhalten werden. Dann aber nötigte die Schließung ganzer Klassen dazu, wiederholt zu Ostern auf jede Scheidung nach Reife und Unreife zu verzichten und ohne Rücksicht auf die Leistungen des einzelnen Klassen im ganzen zu versetzen. Die mit einer solchen Maßnahme verbundenen Gefahren: zunehmende Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit der Schüler gegenüber den Forderungen der Schule mußten in Kauf genommen werden.

Es war natürlich, daß in diese Entwicklung je länger je mehr auch die Notprüfungen hineingezogen wurden. Nach dem Ministerialerlaß vom 1. August 1914 bestand die Notreifeprüfung für alle Schüler, die der Prima mindestens im 3. Semester angehörten, aus einer schriftlichen und mündlichen Prüfung, für die Oberprimaner, die sich bereits im 4. Halbjahr befanden, nur aus einer mündlichen Prüfung. Sie war ebenso wie die für beurlaubte oder entlassene Heeresangehörige bestimmte Kriegsreifeprüfung nach Inhalt wie Umfang der Anforderungen gegenüber der normalen Reifeprüfung nicht unerheblich erleichtert. Notreifeprüfungen und Notversetzungen in die nächsthöhere Klasse konnten für den Ostertermin vom 1. Juni, für den Michaelistermin vom 1. Dezember jedes Jahres an für alle Schüler stattfinden, die von einem Truppenteil für den Heeresdienst angenommen waren. Kehrten so versetzte Schüler nach einer Verwundung oder Erkrankung in die Heimat zurück, so waren sie ohne Aufnahmeprüfung in die Klasse aufzunehmen, in die sie durch die Notversetzung eingerückt waren. So sah man im Sommer 1915 nicht weniger als 6 Feldgraue unter den Primanern sitzen, die als Verwundete in das Reservelazarett Nordhausen aufgenommen waren und die Erlaubnis erhalten hatten, die Zeit der Genesung zur Vorbereitung auf die Kriegsreifeprüfung zu benutzen, die sie sämtlich bis zum Herbst bestanden haben; gleichzeitig nahm ein aus U H abgegangener Matrose am Unterricht teil, um die Primareife zu erlangen. Auch später haben auf diese Weise noch einzelne Heeresangehö- rige das Kriegsreifezeugnis erworben. Es verdient rühmend hervorgehoben zu werden, daß die Unterrichtsverwaltung während des ganzen Krieges und auch nach seinem Abschluß auf jede Weise bedacht war, den Kriegsteilnehmern, die ohne Reifezeugnis die Schule verlassen hatten, die Erwerbung desselben noch nachträglich zu ermöglichen. Bald nach Abschluß des Waffenstillstandes wurden Sonde rlehrgänge eingerichtet, an denen die von der Front zurückkehrenden Kriegsteilnehmer je nach ihrer Vorbildung auf Grund einer Vorbereitung von —1- oder Ikijähriger Dauer das Reifezeugnis erwerben konnten. An den höheren Knabenschulen Nordhausens wurde je ein halb- und ein ganzjähriger Lehrgang für Gymnasiasten, Realgymnasiasten und Oberrealschüler eingerichtet, in denen im ganzen ca. 50 Kriegsteilnehmer für die Ablegung der Kriegsreifeprüfung vorbereitet wurden. Am Gymnasialkursus I (Ljährig) nahmen 13, am Kursus II (einjährig) 7 und zwar meist ehemalige Nordhäuser Gymnasiasten teil. Mit anerkennenswertem Eifer widmeten sie sich ihrer Aufgabe, die bei der jahrelangen Entwöhnung von aller geistigen Arbeit keine geringe Energie und Selbstüberwindung forderte. Es bedeutete deshalb für manchen von ihnen nicht nur einen Zeitgewinn, sondern eine dankbar empfundene Befreiung von einer drückenden Last, als durch einen Ministerialerlaß vom Februar 1919 allen ehemaligen Kriegsteilnehmern, die bis Ostern 1917 regelrecht nach U I versetzt und von der Schule aus ins Heer eingetreten waren, das Zeugnis der Reife ohne Prüfung zuerkannt wurde. 8 ehemalige Schüler des Gymnasiums, die bis Kriegsschluß im Heeresdienst gestanden hatten, wurden dieser Vergünstigung sofort teilhaftig, zwei andere erhielten das Zeugnis im Juni 1919, nachdem sie noch mehrere Monate lang dem Vaterland im Grenzschutz gedient hatten. Am 12. Dezember 1919 fand die letzte Kriegsreifeprüfung für die Teilnehmer des einjährigen Lehrganges statt; eine Veranlassung, weitere Sondermaßnahmen für Kriegsteilnehmer zu treffen, lag nun nicht mehr vor, so daß vom Januar 1920 an wieder die normalen Bestimmungen in Kraft treten konnten.

Sicherlich darf man nicht verkennen, daß alle diese durch den Krieg bedingten Anordnungen und Maßnahmen, die auf eine Milderung und Herabsetzung der Anforderungen hinausliefcn, eine nicht ganz unbeträchtliche Senkung der früheren Bildungshöhe in unsern Schulen zur Folge hatten. Aber man darf andererseits auch nicht vergessen, daß dieser Ausfall in intellektueller Hinsicht seinen Ausgleich fand in der allgemeinen Lebensreife, die den ehemaligen Kriegsteilnehmern in den allermeisten Fällen eigen war. Vielfach handelte es sich ja doch um Offiziere, die trotz ihrer Jugend im Felde bereits ein hohes Maß von Verantwortung zu tragen hatten, so daß von ihrer Entschlußkraft und Besonnenheit das Wohl vieler Untergebenen abhing. Mit gutem Recht konnte daher die Unterrichtsverwaltung diesen jungen Männern auch bei einem geringeren Schatz an positivem Schulwissen die Reife zuerkennen und vertrauen, daß sie bei ihrem gesteigerten Verantwortungsgefühl die für ihren Beruf und das Studium notwendigen Kenntnisse sich selbst zu erwerben suchen würden. Man darf es den Kriegsteilnehmern nachrühmen, daß sie diese Erwartung nicht getäuscht haben. Der Schule selbst freilich war durch die Schädigungen, die sie im Gefolge des Krieges getroffen hatten, eine Aufgabe gestellt, deren Bewältigung die größte Hingabe und Selbstverleugnung von ihr forderte. Keinen Augenblick durfte sie vergessen, durch welche außerordentliche Zeiten und Hindernisse hindurch die Jugend gegangen war, die in den nächsten Jahren die oberen Klassen füllte; andererseits mußte sie um ihrer selbst willen die Zügel allmählich fester fassen und trotz aller Lücken, mit denen sie im Wissen dieser Jahrgänge zu rechnen hatte, die Bildungshöhe wieder zu gewinnen suchen, unter der eine höhere Schule und vor allem ein humanistisches Gymnasium nicht Zurückbleiben darf, ohne seine Existenzberechtigung in Frage zu stellen.


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Kriegsausgang

Daß der Schule die Erfüllung ihrer Aufgabe im ganzen gelang, verdankt sie hauptsächlich dem bedeutsamen Umstand, daß sie auch fernerhin mit einer Schülerschaft rechnen konnte, die in ihrer Wesensrichtung durch die Revolution kaum merkbar verändert war. Wer das Bild, das diese Skizze von der geistigen und seelischen Verfassung der Jugend an den höheren Schulen entwirft, in der Hauptsache als richtig anerkennt, den kann es nicht wundernehmen, daß diese Jugend dem Umsturz, der unmittelbar auf den Waffenstillstand folgte, innerlich und äußerlich vollständig fernstand. Sie hatte in den vier Jahren von 1914 bis 1918 zu entschieden in der Kampffront draußen und in der Heimat gestanden, sie hatte für den Aufstieg und Sieg Deutschlands zu große Opfer gebracht, als daß sie die Ereignisse, die den Krieg zum unseligen Abschluß brachten, anders auffassen konnte als einen Teil des namenlosen Unglückes, das jetzt über das Deutsche Reich hereinbrach. Als daher die Revolution auch ihr die Hand hinstreckte und von Freiheiten sprach und von neuen Rechten, die sie der Schülerschaft der höheren Schule zu bieten habe, da zeigte sich diese auf der ganzen Linie völlig ohne das erhoffte Verständnis und wollte auch von den Freiheiten und Rechten nicht das Geringste wissen. Das kam doch wohl in erster Linie daher, daß die Schüler wie im allgemeinen, so auch an den Nordhäuser höheren Schulen an ihrem Teil nichts gespürt hatten von dem „Ungeist der toten Unterordnung, des Mißtrauens und der Lüge“, von dem der Aufruf des Ministers Hänisch sprach, als sei er eine ganz allgemeine Tatsache. Sie fühlten, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, weder Feindschaft gegen ihre Lehrer noch Sehnsucht nach einer mit dem Wort „Schülerräte“ gekennzeichneten Freiheit, die in der Praxis leicht auf eine Gefährdung des vorhandenen Vertrauens und eine Untergrabung der nun einmal notwendigen Schulzucht hinauslaufen konnte. Wenn aber das Ministerium von 1919 durch seine Maßnahmen die Schule mit einem „neuen Gefühl der Mitverantwortung für die Zukunft unseres Volkes“ erfüllen wollte, so hatte die Jugend der höheren Schule ja eben während des Krieges schlicht und eindringlich durch die Tat bewiesen, daß sie von diesem Gefühl lebendig durchdrungen und zu seiner Betätigung durch große Opfer bereit gewesen war. Keine wohlwollenden Worte jedoch, keine noch so verlockenden Zukunftsbilder konnten beseitigen, was nunmehr diese selbe Jugend aufs stärkste durchbebte: das Gefühl grenzenloser Enttäuschung über den Ausgang des Krieges, der mit so gewaltigem Einsatz begonnen und geführt worden war, das Gefühl der Trauer und Scham, daß Deutschland wehr- und waffenlos unter dem Fuß erbarmungsloser Sieger lag. Weil sie, ob mit Recht oder Unrecht, in der Revolution die Ursache für einen großen Teil dieses Unheils erblickte, konnte sie nicht anders, als ihr in allen ihren Erscheinungsformen eine entschiedene Absage erteilen.

So erklärt sich die unbestreitbare Tatsache, daß sich heute die Jugend der höheren Schule fast restlos zu dem gleichen Ideal bekennt, das sie von 1914 bis 18 erfüllt und zu so denkwürdigen Taten befähigt hatte. Es ist und bleibt demgegenüber die hohe und verantwortungsvolle Aufgabe der Schule für die Zukunft des deutschen Volkes, in der heranwachsenden Jugend solchen Geist opferwilliger Tat zu erhalten, ihn immer von neuem zu wecken und zu heiliger Vaterlandsliebe zu vertiefen, damit die jugendlich stürmische Begeisterung nicht, die Wirklichkeit überspringend, nutzlos verpufft, sondern in verhaltener Kraft zu einem stillglühenden Feuer werde, das in heißer Sehnsucht nach der Befreiung des deutschen Bodens erst dann aufflammt, wenn die harte Welt der Tatsachen dafür Luft und Raum gewährt.

  1. Anm. Die Darstellung beruht außer auf der eigenen Erinnerung des Verfassers hauptsächlich auf den handschriftlich niedergelegten Jahresberichten des damaligen Direktors des Gymnasiums, Geh. Studienrats Dr. Orth, sowie auf den Schulakten, enthaltend die Kriegsverordnungen 1914—18.