Als ich Ständiger in Nordhausen war

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Textdaten
Autor: Carl Bulcke
Titel: Als ich Ständiger in Nordhausen war
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aus: Nordhausen. Wie es unsere Dichter sahen…
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Erscheinungsdatum: 1927
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Als ich Ständiger in Nordhausen war
Von Carl Bulcke


Vor dem infam grauen Justizgebäude, rechts und links vom Eingang, blühten gerade, als ich am 1. Juni des Jahres 1909 in Nordhausen als Assessor einrückte, zwei entzückende Fliederbüsche, - es war das dieser Helle, blasse Armeleute-Flieder, der in der Provinz Sachsen neben jedem Bahnwärterhaus steht: Und er nahm seine Pflicht, zu blühen, so ernst, er war so überladen mit aufwärtsgesträubten Blüten, daß kaum ein grünes Blatt zu sehen war. Wenn hier solche Sanftmut geduldet wird, dachte erfreut meine Seele, so wirst du dich hier nicht totarbeiten. Wobei zu bemerken ist, daß eine solche Absicht mir auch ganz und gar fernlang. Die Tür am Eingang des infam grauen Hauses hatte natürlich auch einen Drücker, wie ihn jede rechtschaffene Tür besitzt,- doch ich sah sofort als erfahrener Jurist, daß dieser Türdrücker längst für den erprobten Fachmann als entbehrlich ausgeschaltet galt und daß diese Tür genau so beschaffen war, wie bei den vielen anderen Landgerichten, die ich bereits glücklich gemacht hatte, diesen Landgerichten in Naumburg und Halle, in Erfurt und leider auch ln Magdeburg, in Halberstadt und Torgau, in Stendal und in Meiningen. In der Türverschalung links unten gab es nämlich ein kleines Loch, so klein oder so groß wie etwa ein Fingerhut, und dieses Loch war dadurch entstanden, daß im Lauf der vielen Jahrhunderte die vielen Assessoren und was sonst so in einem Landgerichtsgebäude zu tun hat, aus Faulheit mit der Spitze des Handstockes in diese linke Ecke der Türverschalung hineingestoßen hatten, um die Tür zu öffnen. Aha, dachte erfreut meine Seele.

Und dann ging ich die Steinstufen hinauf: diese Steinstufen waren ausgebuchtet von den Schritten der vielen hundert Assessoren, die im Lauf der Jahrhunderte diese Treppe seufzend und unbesoldet betreten hatten. Ich trug übrigens einen langen, schwarzen Bratenrock und hatte einen Zylinderhut auf dem Kopf, denn gleich sollte ich vor der neuen Gnadensonne erscheinen. Liebes Kind, sprach meine Seele, freue dich mit mir: Du bist zwar heute noch nichts anderes als ein Assessor, von dem genau zwölf auf ein Dutzend gehn, vergiß das ja nicht. Doch von heute an bist du Ständiger, denn du hast es schriftlich in der Tasche, daß dir eine ständige Stelle übertragen worden ist. Also sei nicht bange, wenn du vor dem Gewaltigen stehst und vergiß nicht, was du zu sagen hast.

Es sei alles schön und gut, sagte der Gewaltige, und eigentlich sei ihm ein anderer Assessor lieber gewesen, aber das tue alles nichts zur Sache und ich sei ja nun einmal da. Der Mensch sei auf der Welt, um zu arbeiten, und da wolle er mich gleich darüber unterrichten, daß hier seit Jahrhunderten stramm gearbeitet würde,- und wieviel Stunden am Tag ich Wohl sonst so bei den anderen Behörden zu tun gehabt hätte. — O, dir kann gleich geholfen werden, dachte meine Seele, und ich antwortete mit Herzlichkeit, daß ich mit drei Stunden Arbeit am Tag bisher immer ziemlich gut ausgekommen sei. Worauf sich die Gnadensonne verfinsterte und mich bedeutete, daß ich Mühe haben werde, mit zehn Stunden am Tag das Arbeitspensum zu bewältigen.

Getrost: Ich bin zu dem strengen Erstaunen meiner Gnadensonne keinen Tag dieser drei Jahre länger als drei Stunden im Durchschnitt in dem infam grauen Hause gewesen. Es ging nämlich auch so und es stellte sich sogar zu meinem fröhlichen Erstaunen sehr bald heraus, daß die Gnadensonne insgeheim nicht unehrliche Grundsätze hatte.

Doch dies alles zu erzählen, ist unwichtig. Die Stadt Nordhausen machte in einer Beziehung nicht den geringsten Unterschied von anderen Städten. Die guten Nordhäuser, wenigstens zu meiner Zeit, prügelten und zankten sich, betrogen und bemausten sich gegenseitig genau so, wie es die Naumburger, die Hallenser, die Erfurter und leider auch die Magdeburger, die Meininger und die Stendaler ebenfalls taten. Lind wenn solche Neigungen natürlich auch höchst tadelnswert waren und man in der schwarzen Robe und das Strafgesetzbuch unter dem Arm häufig sehr böse Worte über solche Streiche zu sagen verpflichtet war, so besaßen doch diese Neigungen jedenfalls das eine Gute, daß man vom Staat deshalb 250 Mk. monatlich bekam und ein sonst ganz vergnügtes Leben führen konnte. Sehr viel wichtiger zu erzählen ist, daß sich in meinem Dienstzimmer ein vielhundertjähriger gußeiserner Ofen befand, der, wenn man auf den schwankenden Dielen das Zimmer betrat, eine kleine Verbeugung nach vorn machte, und der, wenn er im Winter, mit Kohlen gefüllt, weißglühend und unzureichende Wärme zu verteilen sich bemühte, in solchem Zustand des Weißglühend und der Altersschwäche gefahrdrohend nach allen Seiten taumelte. Es sind in diesen drei Jahren durch das fragwürdige Wohlwollen der Justizverwaltung viele, viele, viele Neferenöare nebst Tennisschlägern und Ansichten meiner Ausbildung anvertraut gewesen. Ich bezweifele, ob die Kenntnisse, die sie durch mich erwerben sollten, auch wirklich vollzählig durch mich erworben wurden. Eins aber hat jeder für sich von diesen jungen Herren mit Genauigkeit gelernt: Wie man einen alten, vielhundertjähriger Ofen zur Wärmeabgäbe verleitet und mit Respekt behandelt.

Wir hatten im Frühling oben im dritten Stock des Landgerichtsgebäude draußen auf ein Fenstersims ein Schüsselchen mit Wasser gestellt. Darin badete jeden Vormittag eine schneeweiße Amsel. Sie war nah befreundet mit mir und kam zwei Jahre lang an jedem Sommertag. Dann hat sie wahrscheinlich die Katze des Gefängniswärters geholt. Es war außerdem am Ausgang des Korridors eine Holzkiste da, auf der Becker und ich manche halbe Stunde, in der die Akten sich ausruhen mußten, gesessen und geplaudert haben. Von dieser Holzkiste aus sah man über den ganzen Harz, sah man über das Gewirr roter und grauer Dächer bis hinein in die Lieblichkeit der blauen, hellblauen, dunkelblauen, m weitester Fernsicht verschwimmenden Höhenzüge der Berge und die liebe Seele war voller Andacht, wenn man dort sah. Doch der arme Becker starb bald darauf und es wurde mir verleidet, allein auf der Holzkiste zu sitzen.

Erst acht Jahre sind es her, da ich heute diese Erinnerungen aufzeichne und mir kommt es vor, als sei ein Menschenalter darüber vergangen und als gäbe es in meinem Leben nichts Unwahrscheinlicheres als diese drei Jahre in Nordhausen.

Denn es ist ja bekanntlich in diesen acht Jahren allerhand dazwischen gekommen. Ich bin grau und alt geworden in diesen acht Jahren, ich lebe hier, irgendwo in Berlin, hoch oben im vierten Stock einer Mietswohnung wie ein Einsiedler auf hohen Bergen und trage in meiner Brust den Schmerz, den mit mir jeder andere gute Deutsche auch trägt.

Gab es das alles einmal wirklich? Es gab draußen, in der hübschen kleinen Stadt Nordhausen, Stolbergerstraße 16, in idyllischer Behaglichkeit eine Wohnung von 6 hübschen Hellen Zimmern, die tausend Mk. kostete. Es gab dazu einen Vorgarten, in dem die Veilchen im Frühling blühten, es gab einen Garten nach hinten hinaus und es war ein Kirschbaum in diesem Garten, der ziegelrote Kirschen trug, groß wie Taubeneier. Es gab, gleich als wir eingezogen waren, einen Morgen, als weit über den Garten hinweg Ser Khffhäuser im Frührot glühte, und mir mein erster Sohn beschert wurde. Wir fanden Menschen, die uns wohlgesinnt waren, wir fanden Freunde, die noch heute unsere Freunde sind. Wir hatten dreitausend Mark im Jahr Gehalt, gut, es kam noch einiges aus meinen Büchern hinzu, es war wenig genug, was hinzukam, und wir haben uns manchen Wunsch versagen müssen. Doch wir haben niemals Not gelitten. Wenn am Sonnabend Abend die wohlhabenden Bürger der Stadt in der Harmonie für drei Mark zur Nacht aßen, so konnte man sich einen solchen Luxus natürlich nicht leisten. Aber am Sonnabend Abend verkaufte mir dann der freundliche Oekonom der Harmonie eine Schüssel voll Essen: Mal war es putenbraten, mal war eö Pfeffer potthast, mal war es Gänseklein, meistens war es aber ein ganz vortrefflich zubereitetes Zungenragout mit Pasteten und jedesmal kostete eine solche Schüssel, die für uns beide samt Dienstboten reichte, fünfunö- siebzig Pfennige. And wenn wir dann zu Abend gegessen hatten, gingen wir jedesmal, und zwar nicht bloß am Sonnabend, in das Kaffee Dietze, wo wir mit all unseren vielen jungen Bekannten zusammensaßen, denen es auch nicht viel besser ging als uns, und die deshalb mindestens ebenso vergnügt waren wie wir.

Llnser Freundeskreis und wir, wir waren lustige harmlose Menschen. Denn wir waren jung. Mich hat oft ln späteren Jahren mit Trauer bewegt, daß wir damals in übermütiger Laune ein wunderliches Spiel trieben, dessen Erfinder ich selber war und von dessen hellseherischer Bewußtheit ich damals nichts ahnte. Ich sagte: Es wird eine furchtbare Zeit über das Land kommen. Wir werden durch Krieg, Hungersnot und Umsturz, alles drei zusammen oder eins oder zwei von den dreien, nicht mehr mit Sicherheit in dieser Stadt leben können, wir werden sehr unglücklich sein, wenn wir nicht heute Vorkehrungen treffen. Ich schlage also vor, daß wir die petersöorfer Kolonie gründen. — Petersdorf war nämlich ein Dorf, das eine Stunde von der Stadt entfernt in einer Talsenke gelegen war, ein schmuckloses und bescheidenes Nest, das mir gerade wegen seiner Armut eben recht war. Ich hatte es einmal ln dienstlicher Angelegenheit entdeckt, als mit großem Genöarmerieaufgebot und Kriminalbeamten aus Berlin kilometerbreit nach einer Leiche gesucht werden sollte und ich war sehr überrascht gewesen, als in unwirtlicher Gegend, versteckt zwischen Hügeln und Waldstreifen, abseits jeder Bahnverbindung, abseits jeder Chaussee, noch auf 50 Schritt Entfernung niemand ahnen konnte, daß hier ein puppenkleines Dorf gelegen war. Llnö da ich in diesem Dorf ein paar uralte Häuser sah und da damit der Gedanke nahe lag, daß schon im dreißigjährigen Kriege dies Dorf allein wegen seiner Lage jeder Llnbill entzogen worden war, lag der Gedanke nahe, dies arme kleine petersdorf zu einer Kolonie auszusuchen. Was halb im Ernst, halb im Scherz gesagt war, wurde nun ein Scherzspiel. Auf kommunistischer Grundlage, was wußten wir von Kommunismus, wurde eine Verwaltung eingerichtet, und alle Nord- Häuser Bekannten wurden, ohne daß sie es wußten, in diesen Kommunismus ausgenommen. Zunächst, das war unerbittliche Meinung, wanöerte der Stammtisch der Hundertjährigen mitsamt meiner Gnadensonne und unserem verehrungswürdlgen Herm Präsidenten sofort in das Spritzenhaus, um als Erwerbslose auf öffentliche Kosten verpflegt zu werden. Llnsere Nachbarin wurde die Dorfschöne. Justus wurde Schulmeister. Der kleine Hahn bekam die Gastwittschaft, denn darauf verstand er sich. Hubertchen durfte mit Ser Klingel im Dorf hemmgehn und die TageSneuigkelten auS- rufen. Matches sollte Damenschneider werden. Der Herr Professor Zwanziger wurde zum Ehrenbürger von petersdorf und der Herr Direktor K wurde einstimmig zum Dorftroödel ernannt. Das war ein Spaß durch lange vergnügte Sommerwochen und auch M., Sen wir zum Bürgermeister von petersdorf erwählt hatten, beteiligte sich Saran. In diesen Wochen stand der Hallehsche Komet am Himmel und wurde wegen seiner Unansehnlichkeit verspottet. Än diesen Wochen sagte eines Nachts zu mir M., als wir nach Hause gingen, toternst und in Versunkenheit: „Wenn Sie Ähren plan mit petersdorf verwirklichen wollen, so bekommen Sie von mir das Geld dazu. Nichts ist ernster als der ernste Grundgedanke dieses Plans. Wir mühten aber sofort anfangen. Wir sprechen über den Grundgedanken zu keinem Menschen. Wir bauen zunächst drei, vier, fünf Blockhäuser. Wir ziehn sofort dorthin, wir tun ruhig unseren Dienst weiter, ich fahre Sie im Auto jeden Tag zur Stadt.“ —

Es wurde später noch oft, nun war es aber wieder nur Scherz, besprochen, wie solch ein Blockhaus aussehn, wieviel Grund und Boden zu jeder Stelle gehören müßte, wie man am schnellsten die einfachsten Kenntnisse der Bauernwirtschaft sich aneignen könnte. Dann schlief die Sache ein, denn jeder von uns hatte viel zu viel Alltägliches zu bedenken.

Die drei Jahre ln Noröhausen sind nach innen gesehn die fleißigsten Jahre meines Lebens gewesen. Ich habe Bücher geschrieben, also kann ich mich Schriftsteller nennen. Es gibt freilich heute in Deutschland viele Tausend, die auch Bücher schreiben und ich habe beiläufig nicht den geringsten Grund, Wunsch und Anlaß, irgendwie mit diesen Leuten als handelseins zu gelten. Ich bin Amateur, ich bin Beamter, man möge mich zufrieden lassen,- ich schreibe meine Bücher, wann und wie es mir gefällt. Was ich etwa als Künstler kann, habe ich zum besten Teil diesen Jahren in Noröhausen zu verdanken: Ich habe, wie ein Musiker das tun muß, in diesen drei Jahren die Tonleitem des Stils geübt, ich habe, wie ein Maler, der auf sich hält, Hefte und Hefte voll Skizzen angefettigt. Go sieht ein Milchwagen, so sieht eine Gewitterstimmung, so sieht ein wütender Bürokrat aus. Das Wenigste von diesen Arbeiten ist veröffentlicht, es war auch gar nicht dazu bestimmt, einmal veröffentlicht zu werben. Es war eine schöne, eine sehr schöne Zeit.

Ich habe auch gelitten in dieser Stadt. Ich vertraute inbrünstig auf die Kraft meines Könnens, es lauerte Sie Gefahr, daß ich die besten Jahre meines Lebens in einem gleichgültigen Dienst und in einer verschlafenen Stadt vertrödlen könnte. Der plan, den ich eines Nachts faßte, wurde in ein Paar Minuten gefaßt. Damit auch ja keine Hemmung am anderen Tage diesen plan stören düste, wurde der Brief, großes Schreiben auf gebrochenem Bogen, noch in der gleichen Nacht zum Briefkasten getragen. Drei Wochen später hatte ich den Urlaub in der Tasche und wir fuhren auf vier Monate nach Italien. Und wir fuhren aus nebeligem Februar mitten in jubelnden Frühling hinein.

(Geschrieben für „Heimatland" im Oktober 1920.)