Nordhausen (1891)

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Textdaten
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Titel: Nordhausen
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aus: Der Fortschritt. (16. Juli 1891)
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Erscheinungsdatum: 1891
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Erscheinungsort: New Ulm
Quelle: Scan
Kurzbeschreibung: Original erschien in der Berliner Zeitung 1891. Artikel beschreibt politische und wirtschaftliche Verhältnisse in der Stadt. Erwähnung u. a. von Adolf Grote
Digitalisat: Digitalisat
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Berl. Tageblatt
Nordhausen.




Obschon in grauen Zeiten deutscher Königssitz und des Oefteren der Ort glänzender Hoflager und Reichsversammlungen, war die Stadt und ihr Bürgerthum schon verrucht genug, schon im Jahr 1375 den Stadtadel auf immer aus der Stadt zu jagen. Seit der Zeit herrscht in Nordhausen ein demokratisches Regiment. Seitdem war von den zwei Bürgermeistern bis zum Anfang dieses Jahrhunderts stets der eine Jurist, der andere Handwerker, und wenn Preußen auch dem kecken Städtchen im Jahr 1802 seine Reichsunmittelbarkeit ausgetrieben hat, so konnte es ihm doch seinen freien Bürgersinn nicht nehmen, und der Handwerker hat noch heute in der Stadtverwaltung ein gewichtiges Wort mitzureden, ja der Stadtverordnetenvorsteher ist derzeit sogar ein vortrefflicher Handwerker, ein redegewaltiger Klempnermeister, heißt Adolf Grote und ist nicht klein zu kriegen, nicht um Alles.

Nordhausen bildet ein eigenartiges und fesselndes Bild geistiger Regsamkeit, starker Oppositionslust und unermüdlichen Kampfes gegen die Ungunst der Zeiten und der politischen und wirthschaftlichen Verhältnisse. Der Stadt der großen und zahlreichen Brennereien hat in der jüngsten Zeit keine Seide gesponnen, und ihre Hauptindustrie, durch widrige Steuerverhältnisse eingedämmt, kommt trotz aller Regsamkeit nicht vorwärts. Der Rückgang der Branntweinbrennerei – trotz der Vermehrung der Betriebe – hängt wesentlich mit der Steuer zusammen; nur die „Großen“ haben Profit durch längeren Steuerkredit, die „Kleinen“ gehen an der Steuer und an der erdrückenden Konkurrenz langsam, aber sicher zu Grunde. Dabei ist ein anderer Betrieb, das Böttchereigewerbe, in starke Mitleidenschaft gezogen; viele Böttcher sind fortgezogen; die verbleibenden klagen über mangelnden Verdienst. Die noch nicht 27,000 Einwohner zählende Stadt – seit der zweitjüngsten Volkszählung ist sie um etwa 500 Köpfe zurückgegangen – verwindet solche Verluste schwer, um so schwerer, als auch die Verkehrsverhältnisse sich durch die Bahntrace derart gespaltet haben, daß die fruchtschwere goldene Aue jetzt näher an Sangerhausen liegt und dadurch der Fruchthandel zum größten Theil an letztgenannte Stadt übergegangen ist.

Gleichwohl, die Nordhausener halten sich wacker und suchen durch doppelte Rührigkeit in anderen Betrieben das zu ersetzen, was ihnen auf dem obengenannten Gebiete entgeht.

Die Maschinenfabrik von Schmidt, Cranz & Co. Ist stark im Aufschwung; die Textil-Industrie und Weberei, die unter Anderem einen starken Export von bunten Tüchern nach Afrika unterhält, zählt namhafte Vertreter, so den Kommerzienrath Riemann, dessen Von Lucä erbaute Villa nebst großartigem Park eine Sehenswürdigkeit der Stadt bildet; die Aktengesellschaft für Tapeten-Fabrikation darf sich zu den bedeutendsten im deutschen Reiche rechnen; ausgedehnte Kunstgärntereien haben wohlbegründeten Ruf; sechs größere Brauereien arbeiten für den Export und versenden ihre Erzeugnisse bis nach Australien. Desgleichen exportiert eine ganze Anzahl namhafter Schlächtereien, und schließlich darf auch eine Industrie nicht vergessen werden, die zwar der rauchende Feinschmecker mit einem gewissen Mißtrauen betrachtet, die aber nichtsdestoweniger für den Engrosbetrieb in der Tabak- und Cigarrenfabrikation geradezu epochemachend wirkte. Es handelt sich um die hier von einem Angestellten der weitbekannten Fabrik von C. A. Knfeiff erfundene Sauce zu den Kautabaken und billigen Cigarren, die dem Etablissement schon ein Vermögen einbrachte. Der eigentliche Erfinder, ein Faktor Kempff, soll aber kein Vermögen dabei gemacht haben.

Die bauliche Physiognomie der Stadt zeigt eine eigenthümliche Mischung aller Zeitalter und Baustile. Nur das ganz Modernde und architektonisch Hervorragende ist spärlich vertreten. Obschon die Stadt vor 125 Jahren zum größten Theil abbrannte, ist Nordhausen nicht weniger als eine moderne Stadt. Auf altes Gemäuer hat man neues gesetzt, alte Holz- und Schieferbuden ein bisschen neuzeitlich überfirnißt, die alten Patrizierhäuser und Klosterhöfe ein wenig aufgefrischt und dazwischen auch manch bescheidene neue Villa und manch praktisch modernes Häuschen eingefügt, - über dem Ganzen weht aber doch ein romantisch alterthümlicher Hauch, und wenn man vom hochgelegenen Logengarten aus auf die Unterstadt hinabblickt, auf die schon manchen Jahrhunderten trotzenden, epheuumrankten Stadtmauern, auf das Gewirre und Gewinkle der Altstadt, auf die verwitterten Höfe und altersgrauen Kirchen und Thürme, dann wird Einem so historisch reminiszenzenreich zu Muthe wie dem Präsidenten eines Vereins für Alterthumskunde.

Dabei ist das Leben und Treiben in der Stadt ein durchaus modernes. Die führende Rolle spielt der Jurist, das stattliche neue Landgericht blickt beherrschend auf die verkehrsdurchfluteten Straßen, und der Referendar ist hier nicht nur Schau- und Prachtstück, sondern auch ein Ziel, von alten töchtergesegneten Familien auf Innigste gewünscht. Der junge Jurist beherrscht das Feld um so unbestrittener, als bei dem Mangel einer Garnison der sonst in den weitesten Damenkreisen beliebte Lieutenant ihm keine Konkurrenz macht. In den jäh aufsteigenden, schlechiggepflasterten Bergstraßen rollen die zahlreichen Equipagen der großen Brenner und Fabrikanten und rasselt unaufhörlich das Lastfuhrwerk; die Läden in der Rautenstraße haben fast großstädtisches Gepräge; in den ersten Hotels Römischer Kaiser und Schneegaß waltet der Geist der reformsüchtigsten Neuzeit; die Anlagen und der Stadtwald mit seinem prächtigen Bierdörfchen kennzeichnen den gemüthstiefen und naturfrohen Thüringer; in echten und unechten Kneipen „wurrl“ es von den zum Wohlleben neigenden und wohlhabenden Bürgern; der Renaissance-Prachtbau der neuen Post thut gar vornehm; die neuen Schulen sind kleine Paläste; das Armen- und Krankenwesen ist, durch großartige Akte der Privatwohltätigkeit – ich nenne nur die Stiftungen der Großindustriellen J. Plaut und die Wohltätigkeitsakte des Geh. Kommerzienraths Schreiber – mustergültig geregelt; kurz und gut. Nordhausen ist ein merkwürdiges, alterthümliches Gemeinwesen, erfüllt von neuzeitlichem Geister und reformatorischen Ideen, eine Stadt voll Wirrniß und Kampf und doch voll Selbstbewußtsein und sieghafter Lebensfrohheit. Durch die Ungunst der baulichen Anlage und der wirtschaftlichen Verhältnisse haben sich Mißstände felsenfest eingebürgert, auf die der Mißgünstigte so recht von Herzen schimpfen kann, und durch die Macht des fortschrittlichen Geistes und den in der Bürgerschaft steckenden tüchtigen Kern sind Neuschöpfungen entstanden, wie sie die bestverwaltete Großstadt nicht trefflicher aufzuweisen hat. Das wohnt hier Altes kunterbunt beisammen, ein Wogen und Kämpfen, ein Schaffen und Ringen, das für die Zukunft das Beste und Allerbeste erhoffen läßt.