Nordhausen, die tausendjährige Stadt am Harz
Nordhausen, die tausendjährige Stadt am Harz
Tausendjährige Städte haben Wohl ein Anrecht darauf, daß man von ihnen spricht, namentlich dann, wenn sie in der Wertschätzung der Zeitgenossen bei weitem noch nicht den ihnen gebührenden Platz einnehmen. In einer solchen Lage befindet sich Nordhausen, das nicht nur unter den Randstädten des Harzes, sondern auch im allgemeinen lange Zeit eine Art Dornröschenrolle gespielt hat. Freilich, den „alten Nordhäuser“ kannte man weit und breit, auch Wohl den guten Nordhäuser „Priem“; Geschichtskundige wußten vielleicht auch, daß Nordhausen ehemals freie Reichsstadt war; wer irgendwie politisch eingestellt war, kannte Nordhausen Wohl als eine freisinnige Stadt; und wer gegen Ende des vorigen Jahrhunderts in seinen Mußestunden sich gar mit deutscher Lyrik befaßte, hatte wahrscheinlich auch etwas von Albert Traeger gelesen, wenn er vielleicht auch nicht wußte, daß dieser im bürgerlichen Leben Rechtsanwalt in Nordhausen und nur im Nebenberufe Dichter war. Aber diese Kenntnisse über Nordhausen in industrieller, geschichtlicher, politischer und literarischer Hinsicht besaßen doch eine zu geringe Werbekraft, um Besucher anzulocken; und die Stadt als solche, ihre landschaftliche Lage, ihre wirtschaftliche Bedeutung, ihre Verkehrsverhältnisse, ihr Kunstleben, alles das, was die Aufmerksamkeit der Reisenden erregen konnte, war so unbekannt, wie das Innere Tibets. Zum Teil lag das an der Stadt selbst, die in Verkennung der Zeitverhältnisse sowohl manche Entwicklungsmöglichkeiten sich hatte entgehen lassen, als auch den Erscheinungen des stärker werdenden Fremdenverkehrs nicht mit der nötigen Aufmerksamkeit gefolgt war, so daß sie unbeachtet am Wege liegen blieb. Erst in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts fing man an, das Versäumte nachzuholen und es anderen Städten im Wettbewerb um die Geltendmachung ihrer Vorzüge gleichzutun. Und das konnte der Stadt nicht schwer fallen. Nordhausen liegt am Südrande des Harzes und wird dadurch aller der Vorzüge teilhaftig, mit der die Natur eine vom Gebirge zur Ebene übergehende Landschaft in freigebigster Weise ausstattet. Es vereinigt sich hier die Großartigkeit und Mannigfaltigkeit des Berglandes mit der Lieblichkeit und der stillen Anmut weiter Ebenen. Von der Höhe von etwa sechshundert Metern (Poppenberg) sinken die Berge in Abstufungen bis zu der Ebene der Goldenen Aue hinab, bald in langgestreckten Höhenzügen sich hinziehend, bald in spitzer Kegelform aufragend, hier eine sanfte Wölbung bildend, da in schroffer Wand abfallend, die Höhen mit dunkeln Wäldern, die Täler von Saatfeldern oder bunten Wiesenteppichen bedeckt, überall aber durch Linien und Farben sich voneinander abhebend. Zahlreiche Punkte der Umgebung der Stadt bieten überraschende Rund- und Weitsichten: über die Ebene der Goldenen Aue hinweg bleibt der Blick haften an dem Kyffhäuser, dem Possenturm bei Sondershausen, der Eichsfeldischen Pforte, der Hasenburg, dem Ohmgebirge, bis er sich schließlich in weiter, duftiger Ferne verliert. Auch der in die Geschichte der Stadt zurückschauende Blick verliert sich in grauer Vorzeit. Nordhausen schickt sich an, seine Tausendjahrfeier zu begehen. Wer aber kann sagen, wieviele Jahrhunderte, ja Jahrtausende früher hier schon Menschen gewohnt haben? Zahlreiche Funde aus der Bronze- und Steinzeit im Gebiete der Stadt und ihrer Umgebung weisen bereits auf eine verhältnismäßig dichte Besiedelung in dieser Frühzeit hin. Das erste Dämmerlicht der Geschichte fällt auf unsere Gegend zur Zeit der Karolinger. Durch die fränkische Eroberung des alten Thüringerreiches (531), das bis an den Harz reichte, war auch unsere Gegend unter die Herrschaft der Franken gekommen. Es ist bekannt, wie die Franken sich die eroberten Länder planmäßig durch militärische Siedelungen sicherten. Von den Grenzgebieten ausgehend, sonderten sie überall herrenloses oder herrenlos gemachtes Land als Königsgut aus und legten dort Reichshöfe an, die im Kriege einen Stützpunkt für das Heer bildeten, und von denen in friedlichen Zeiten das dazu gehörende Land bewirtschaftet wurde. Auch für Nordhausen ist ein solcher Reichshof nachgewiesen. In Thüringen scheint die Aussonderung von Königsgut erst später vor sich gegangen zu sein. Vom Main, von der Werra und Fulda drangen die fränkischen Beamten in die Täler des Landes ein. Bis zum Jahre 775 war die Arbeit im Tale der Unstrut von der fränkischen Hauptstelle Mühlhausen aus abwärts bis zur Helmemündung und in den Nebentälern der Wipper und Helme bis Artern und von hier auswärts bis Tilleda beendet. Um 785 waren die Beamten bei Nordhausen tätig. Da entstand hier an der Kreuzung alter Heerstraßen ein fränkischer Reichshof. Er lag am Frauenberge, südlich von der jetzigen Frauenberger Kirche. Noch heute erhebt sich hier auf einem sehr alten, steinernen Unterbau ein hohes Fachwerkgebäude; das wird die Stelle sein, wo das Herrenhaus des Reichshofes gestanden hat. Gegen Ende des zwölften Jahrhunderts wurde es ein Nonnenkloster; das heutige Fachwerkgebäude, das städtisch ist und alten Frauen ein Unterkommen gewährt, stammt aus der Zeit um 1500. Südlich und westlich von dem Herrenhause nach dem Mühlgraben zu standen die Wirtschaftsgebäude, und nördlich vom Reichshofe am Frauenberge, in der Frauenberger Stiege und der Lichten Gasse, werden die fränkischen Krieger gewohnt haben, die den Wacht- und Schutzdienst versahen und in der Landwirtschaft tätig waren. Ihre Wohnungen bildeten das Reichsdorf Nordhausen, die erste dörfliche Niederlassung in geschichtlicher Zeit im Gebiete der heutigen Stadt. Mehr als hundert Jahre später finden wir nordwestlich vom fränkischen Reichshofe einen zweiten Hof; er gehörte dem deutschen König Heinrich I. Um das Jahr 900 war sein Vater, der Sachsenherzog Otto, auch Herzog von Thüringen geworden, nachdem der Herzog Burchart von Thüringen im Kampfe gegen die Ungarn gefallen war und keiner das Land vor ihren wilden Schwärmen besser zu schützen vermochte, als der mächtige Sachsenherzog Otto, dessen Besitzungen sich schon bis in die Goldene Aue und an die Unstrut hin ausdehnten. In dieser unruhigen Zeit wird er oder sein Sohn und Nachfolger Heinrich I. hier in Nordhausen an einer besser geschützten Stelle, als es der Reichshof war, einen neuen Wirtschaftshof angelegt und abseits davon eine Burg erbaut haben. Als Heinrich dann König wurde, hieß der Hof „Königshof“, dessen Lage noch heute durch die Straßenbenennung „Königshof“ gekennzeichnet ist. Die Burg stand wahrscheinlich in der Nähe des Domes. Nach dem fränkischen Reichshofe führten alle alten Straßen, auf denen ein feindliches Heer herankommen konnte, während sie an dem sächsischen Königshof, der auf einem steilabfallenden Berge lag, vorbeigingen. Zu dem neuen Hofe hatte Heinrich Wohl den größten Teil der Ländereien des Reichshofes gelegt, dessen Rest noch bis zum Jahre 1200 weiterbestand und von einem Reichsvogt verwaltet wurde. Als dann um 1200 auf dem Boden des Reichshofes ein Nonnenkloster gegründet wurde, erhielt dieses die noch vorhandenen Besitzungen und Einkünfte des Hofes. Von dem sächsischen Königshofe, nicht von der fränkischen Siedelung, ist die heutige Stadt Nordhausen ausgegangen, indem um den Königshof her Leute sich ansiedelten, so daß hier bald ein kleiner Ort entstand, der nun Nordhausen hieß, während die fränkische Ansiedelung am Frauenberg mit Alten Nordhausen bezeichnet wurde. Heinrich I., der Gründer des Deutschen Reiches, kann daher auch als der Gründer Nordhausens angesehen werden. Im Jahre 927 schenkte er Hof und Burg mit allem, was dazu gehörte, seiner Gemahlin Mathilde. Dieses Schenkungsjahr, das urkundlich feststeht, gibt der Stadt die Veranlassung, 1927 ihre Tausendjahrfeier zu begehen. Als König Heinrich I. gestorben war, lebte seine Witwe, die Königin Mathilde, abwechselnd in Nordhausen und Quedlinburg. Im Jahre 962 gründete sie in Nordhausen ein Nonnenkloster, aus dessen Kirche der Dom hervorgegangen ist. Ihr Enkel Otto II. schenkte dem Kloster den Ort Nordhausen; die Aebtissin des Klosters war also jetzt die Herrin der Stadt. Im Jahre 1158 erhielt sie von Friedrich Barbarossa auch noch die Burg und den Herrenhof, so daß ihr nun der ganze Ort unterstellt war. Etwa zweihundertfünfzig Jahre wurde die Stadt von der Aebtissin des Klosters regiert. Im Jahre 1220 hörte dies Verhältnis auf: da verwandelte Kaiser Friedrich II. das Nonnenkloster in ein Mannesstift und trennte die Stadt davon, die nun unmittelbar dem Reiche unterstellt wurde. Dadurch ward Nordhausen eine freie Reichsstadt, was sie bis 1802 geblieben ist. Als die Stadt von geistlicher Herrschaft frei war, leitete sie ihre Geschicke selbst durch einen Rat, der an ihrer Spitze stand. Sie konnte sich nun ungehindert von fremden Einflüssen entwickeln. Was sie im Laufe der Zeit geworden ist, verdankt sie durchweg eigener Tüchtigkeit. Fürstenhnld hat sie nie sonderlich mit Gunst überschüttet. Ein seiner Kraft sich bewußtes aufstrebendes Bürgertum fühlte sich stark genug, seine Angelegenheiten selbst zu ordnen. Zunächst freilich mußte es noch allerlei Entwicklungskrankheiten durchmachen. Wie in anderen Städten, so entbrannten auch hier heftige Standeskämpfe zwischen den Geschlechtern, den früher vom Dorfe der Stadt zugewanderten Adelsfamilien, die zunächst die Herrschaft an sich gebracht hatten, und dem zu Innungen zusammengeschlossenen Handwerk, das von dem Stadtregiment fast ausgeschlossen war. Mit dem Sturm auf das Riesenhaus, der sogenannten Revolution am 13. Februar 1375, wurde der Kampf zugunsten der Zünfte entschieden: einundvierzig ihrer Gegner wurden „auf ewige Zeiten“ aus der Stadt verbannt. Die Stadtverwaltung geht nun in die Hände der neun ratsfähigen Zünfte über. Aeußerlich erweiterte die Stadt sich. Zu dem Marktkirchenbezirk, aus dem der Ort ursprünglich bestand, kamen im zwölften Jahrhundert der Petri- und der Blasiikirchenbezirk, im dreizehnten näherte sich Alten - Nordhausen vom Frauenberge her der Stadt; 1365 vereinigte die Neustadt, die bis dahin eine besondere Gemeinde gebildet hatte, sich mit der Oberstadt, zu gleicher Zeit geschah das Wohl auch mit dem alten Dorf (Altendorf). Dem äußeren Wachstum entsprach ein Aufblühen im Innern. Die Bürger kamen zu Wohlstand, der namentlich in stattlichen Bauten zum Ausdruck kommt. Der Dom erhielt im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert sein jetziges Aussehen; um 1400 bekam er die geschnitzten Chorstühle, die von hohem künstlerischen Werte sind. Von den übrigen Kirchen ist besonders die Frauenbergskirche, im reinen romanischen Stil, hervorzuheben. Unter den öffentlichen Gebäuden ist das Rathaus (1608) im Stil der deutschen Renaissance trotz vieler Umbauten noch immer beachtenswert. Den Höhepunkt in der Entwicklung des städtischen Lebens bildet die Zeit der Reformation mit dem Bürgermeister Meyenburg, dem Freunde Luthers und Förderer seines Werkes. In dem Stadtbilde dieser Zeit fehlen aber auch die Schatten nicht. Die Reichsfreiheit hatte ihre Kehrseite. Das kleine Gemeinwesen bildete einen Staat für sich, der rings umgeben war von mehr oder weniger mächtigen Herren, die sich nur zu gern auf Kosten des schwachen Nachbarn zu bereichern suchten. Und in der rauhen Zeit hatte nur der Stärkere recht. Daher finden wir die Stadt auch in ewigen Fehden mit den raublustigen Grafen von Honstein, von Schwarzburg, von Stolberg und anderen. Die Reichsfreiheit war daher für die Stadt in ihren Beziehungen zu den Nachbarn von recht zweifelhaftem Wert. Im Jahre 1802 hatte die reichsstädtische Herrlichkeit ein Ende; die Stadt kam infolge der Verhandlungen der Reichsdeputation an Preußen und ist mit Ausnahme der westfälischen Zeit von 1806—1813 bis heute dabei geblieben. Auf eine tausendjährige Geschichte blickt die Stadt zurück. Dreiunddreißig Geschlechterfolgen haben sie bevölkert. Aus der kleinen Landsiedelung ist eine Industriestadt von etwa 37 000 Einwohnern geworden. Demgemäß hat sich auch ihr Aeußeres verändert; doch nicht so, daß nun an die Stelle des Alten das Neue getreten ist, sondern entsprechend dem Wort „Der Ölen Erbe loost nich verderbe“ ist das Alte rücksichtsvoll gepflegt, während man anderseits aber auch dem Neuen den Eintritt nicht verwehrt hat. In diesem entwicke- lungsgeschichtlich bedingten Nebeneinander liegt der besondere Reiz, den das äußere Bild Nordhausens bietet. Ein Gang durch die Straßen und Gassen, über die Treppen und Stiege der Stadt, etwa vom Bahnhofe aus über den Lohmarkt nach dem Neuen Wege und über den Primariusgraben in die Rautenstraße wird dem Reisenden überraschende Eindrücke geben; während er hier in einem der traulichen alten Nester Wilhelm Raabes zu sein glaubt, umbraust ihn dort die rastlose Zeit des zwanzigsten Jahrhunderts. Ein anderes offenbart sich nicht sogleich dem flüchtigen Blick, nämlich, daß in Nordhausen von jeher auch geistiges Leben, Wissenschaft und Kunst zu Hause gewesen ist. Bis in die Zeit der Reformation reichen die Anfänge des Gymnasiums zurück, das 1924 sein vierhundertjähriges Bestehen feiern konnte. Von bedeutenden Musikern sollen aus dem achtzehnten Jahrhundert nur Christoph Gottlieb Schröter, der als Organist an St. Nicolai gewirkt hat und namentlich als Erfinder einer verbesserten Hammermechanik am Klavier berühmt geworden ist, und aus dem neunzehnten Jahrhundert Willing, Sörgel und Früh erwähnt werden. Von der Pflege der dramatischen Kunst legt das neue Stadttheater an der Promenade, das 1917 eröffnet wurde, Zeugnis ab. Ein gut ausgestattetes Museum, eine reichhaltige Volksbücherei, eine Lesehalle, Kunstausstellungen, wissenschaftliche Vereine sind weitere Anzeichen der Wertschätzung von Kunst und Wissenschaft in Nordhausen. Auch ein groß angelegter Spielplatz für Spiel, Sport und Turnen muß in diesem Zusammenhange erwähnt werden. Diese großzügige Anlage hat die Stadt bereits im Jahre 1923 in beschränktem Umfange der Benutzung übergeben; sie ist aber erst im Sommer 1925 eingeweiht worden. Sie umfaßt rund 22 Hektar und mißt in der größten Ausdehnung 595 : 385 Meter. Von dieser Gesamtanlage entfallen auf die Sportfelder selbst über 19 Hektar, bei einer Länge von 380 Meter und 250 Meter Breite. Darin sind enthalten: ein Stadion von über 2 Hektar Größe mit einer Radrennbahn von 454 6/11 Meter, einer 400 Meter-Laufbahn und 2000 Sitz- und 5000 Stehplätzen. Die Spielfläche außerhalb des Stadions umfaßt neun Felder in den Ausmaßen der Fußballfelder. In der Anlage sind im Sommer 1926 neu hergerichtet: vier Tennisplätze, eine Reitbahn, ein Luft- und Sonnenbad. In diesem Jahre wird im Anschluß an das Luftbad ein Freibad in dem Ausmaß 20 x 70 Meter geschaffen. So bietet Nordhausen in Vergangenheit und Gegenwart das Bild einer betriebsamen und geistig regen Stadt. |