Der Nachtwächter von Ellrich

Aus NordhausenWiki
Version vom 21. Dezember 2022, 20:40 Uhr von Vincent Eisfeld (Diskussion | Beiträge) (Textersetzung - „I"“ durch „!"“)


1. Kapitel

Der Leser macht die Bekanntschaft Karlinens und des Herrn Referendars Schmaling. — Wie Karline geärgert wird, und was sich unter einem Pudel alles verbergen Kann. — Litterarische Schönheiten aus dem vorigen Jahrhundert, und des Referendars Meinung über Geister. — Zwei Träume.

Am Fuße des Harzes, da, wo die reißende Zorge das Gebirge verläßt und zwischen ihm und den vorgelagerten Kalkbergen, welche es wie einen Gürtel umschließen, in breitem steinichten Bette dahinfließt, liegt die kleine Stadt Ellrich, einst die Hauptstadt der Grafschaft Hohnstein, deren Gebiet sich weit um die freie Reichsstadt Nordhausen herum, diese eng einschließend, und über Ellrich hinauf in das Harzgebirge hinein ausdehnte. Die grafschaftliche Herrlichkeit war aber längst erloschen, als unser gegenwärtiges Jahrhundert in Sturm und Drang auf der Weltbühne erschien, und die einstige gräfliche Haupt- und Residenzstadt war längst eine gewöhnliche Kleinstadt geworden, deren Bewohner in spießbürgerlicher Einfachheit ihre Aecker bauten, wie früher auch, und mit den Einwohnern der umliegenden Orte im Harze und „unten in der Grafschaft" regen Handel und Wandel hatte.

Unweit des Marktes der Stadt, in der Straße, welche den Namen der Salzstraße führt, stand zu Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts noch ein Haus aus der alten gräflichen Zeit, zweistöckig, mit dem hohen spitzen Giebel der Straße zugekehrt, und präsentierte sich da in der Reihe der Häuser eben so eigenartig, wie dies sein damaliger Besitzer, der Referendar Schmaling, in jeder Gesellschaft in und außer dem Hause tat; und beide, das Haus und sein Herr, zogen die Aufmerksamkeit eines jeden auf sich, welcher ihre Bekanntschaft machte. Die anderen Häuser der Straße standen in schlichtem weißen Anstrich bescheiden in ihrer Reihe; nur Türen und Fensterläden waren schön grün oder rot bemalt, und nahmen sich auf der weißen Fläche des Hauses aus gleich den Schönpflästerchen auf einem aristokratischen Damenantlitze der damaligen Zeit. Schmalings Haus stand da im rosafarbenen Kleide und schaute mit seiner schokolade- farbenen Tür und dito Fensterläden und mit seinem aufrecht stehenden Giebel stolz auf die anderen Häuser herab, deren Dächer nach vorn weit überragten, gleich einem auf ihr Haupt gesetzten schützenden Schirm. An den Nachbarhäusern deuteten die großen eisernen oder messingenen Drücker und die darunter befindlichen Schlüssellöcher auf die zum Teil kunstvoll gearbeiteten voluminösen Schlösser der alten Zeit, auf deren Schlüssel die Schneider bei Anfertigung der Taschen respektvoll Rücksicht zu nehmen hatten ob ihrer Größe und Schwere. An Schmalings Hause fehlte so Drücker als Schlüsselloch, dagegen erhob sich aus der Mitte der Schokoladentürfläche ein kunstvoll gearbeiteter messingener Klopfer mit einem Löwenkopfe an der Oberseite, alles daran zu jeder Zeit blank geputzt. Unter dem Klopser war ein messingener Knopf, und wer an der stets geschlossenen Tür Eintritt in das Haus begehrte, hatte den Klopfer zu heben, um ihn auf den Knopf aufschlagen zu lassen. Laut hallte es dann durch das ganze Haus und nicht lange brauchte man zu warten, dann ließen sich auf dem knirschenden Sande der Hausflur Schritte vernehmen, von innen wurde ein Riegel geschoben, die Türe öffnete sich leise und vorsichtig, und in dem Rahmen derselben erschien zunächst eine große weiße Haube, unter welcher ein immer etwas stark gerötetes runzeliges Frauengesicht meist nicht eben freundlich hervorschaute. Aber diese Unfreundlichkeit lag nicht etwa in dem Wesen der Oeffnenden, sondern war der leicht verzeihliche und meist schnell vorübergehende Aerger über die Störung in irgend einer wichtigen häuslichen Beschäftigung — und welche war wohl unwichtig! — der Karline, der treuen Magd und dem sorgenden Schutzengel des Herrn Referendars, als welchen dem geehrten Leser wir sie vorzustellen uns hiermit erlauben. Und sie behauptete, daß es immer dann klopfe, wenn sie am wenigsten abkommen könne. War zum Beispiel Milch auf dem offenen Herdfeuer, und sie hatte dieselbe eben durch einen letzten nachgelegten trockenen Holzspan dem Kochen nahe gebracht, dann begehrte unter zehn Fällen wohl neunmal irgend jemand Einlaß; sie eilte, noch einen besorgten Blick auf die langsam steigende Milch werfend, an die Tür, öffnete; nach kurzem flüchtigen Gruße entschuldigte sie sich, daß sie erst nach der Milch sehen müsse, ließ den Eingetretenen, ohne nach seinen Wünschen zu fragen, stehen und eilte zurück in den Raum, den sie mit Vorliebe „mein Appartemang" nannte. Aber da war das Unglück in der Regel geschehen. Mit leichtem Schreckensruf sieht sie, wie der lustig flackernde Holzspan schadenfroh die Milch rasch bis über den Rand des Topfes getrieben, und wie die so Aufgeblasene eben an dem Topfe entlang ins Feuer fließt- Oder wenn sie am Sonnabend den Teig knetete zu dem herkömmlichen Sonntagskuchen, und sie mußte aus der Küche an die Türe, die Aermel des Kattunkleides hoch aufgestreift, an den Händen den gelben Eierteig, so daß sie nicht einmal zugreifen kann, sondern mit dem Ellenbogen den Riegel mühsam zurückschieben muß und dann in der Türe mit den Teighänden stehen und Bescheid geben, wenn der Eingetretene in kleinstädtisch umständlicher Weise sein Begehren vorbringt, dann ist das wiederum recht ärgerlich, und sie kann beim besten Willen kein freundliches Gesicht zu Wege bringen. Aber wären dies nur die einzigen Verdrießlichkeiten gewesen, welche der Klopfer an der Türe ihr bereitete, sie hätte sich darüber getröstet! Doch eine Zeitlang war er die Ursache schweren Kummers, der ihr Gemüt nicht wenig angriff und sie aus der Fassung brächte.

Das ging so zu:

Die männliche Schuljugend, namentlich diejenige, welche in das tatendurstige Alter eingetreten ist, welches unter dem Namen der „Flegeljahre" allen Eltern und Schulmeistern nur zu wohl bekannt ist, nahm an dem Schmalingschen Klopfer ein ganz besonderes Interesse. Wenn sie sich in der Dämmerung oder später am Abend auf dem Markte um das ehrwürdige alte Rathaus mit seinen verlockenden Verstecken in Betreibung von allerhand Spielen herumtummelten, kamen sie auch wohl in die Salzstraße. Wie hätten sie aber diese passieren können, ohne den Schmalingschen Klopfer zu versuchen! Vorsichtig drückte sich einer von ihnen an dem Hause entlang, während die übrigen sich in den Winkeln und Torwegen der gegenüberstehenden Häuser verbargen, der Dinge harrend, die da kommen würden. War jener dann die beiden steinernen Stufen zur Haustüre leise hinaufgestiegen, hob er den Klopfer geräuschlos, um ihn mit aller Wucht auf den Knopf fallen zu lassen, daß es laut durch die fülle Straße hallte, und dann selbst spurlos in irgend einen Winkel zu den Kameraden zu verschwinden. Die alte Karline aber kam pflichtgetreu, die Küchenlampe in der Hand, die sie beim Oeffnen der Türe vorsichtig mit der Hand vor dem Erlöschen durch den Windzug zu schützen suchte. Wenn sie dann, die Lampe hoch haltend, hinausblickte und niemanden sah, vermutete sie wohl die Urheber, und dann war es mit ihrer guten Laune vorbei. In lautem Schelten machte sie ihrem Herzen über die „ungezogenen Bengels", wie sie sich ausdrückte, Luft, während die so Apostrophierten, geschützt durch die abendliche Dunkelheit, an dem ihnen komisch erscheinenden Gebühren der Alten in der matt erleuchteten Haustüre sich belustigten und alle ihnen gespendeten Ehrentitel ohne Erregung auf sich nahmen.

Die Kecksten unter ihnen, es waren die beiden Sprößlinge des Arztes und des Apothekers, die in der Nähe am Markte wohnten, kamen eines Abends bei einer solchen Gelegenheit, als Karline den Text ihrer Strafpredigt nahezu erschöpft hatte, in der größten Harmlosigkeit hervor, gingen, die Hände in den Hosentaschen, so ganz wie zufällig die Straße entlang bis in Karlinens erleuchteten Bereich, traten teilnehmend heran, und Apothekers Otto fragte mit der unschuldigsten Miene: „Was gibt es denn, Karlinchen?"

„Ja", eiferte sie und sah den Frager mißtrauisch an: „Was es gibt! Ihr werdet schon wissen, was es gibt. Seid gewiß auch dabei gewesen!"

„Wobei denn?" fragten die Unschuldigen.

„Wobei? — Nun geklopft habt ihr, damit ich herauskommen soll, und dann seid ihr ausgerissen."

„Aber Karline !" riefen die beiden vorwurfsvoll. „Wie .kannst du von uns so etwas denken! Wir kommen ssoeben von Hause und sind heute noch gar nicht hier Newesen."

„So?" fragte Karline etwas besänftigt. „Na freilich, fiür euch wäre es auch eine Schande, wenn ihr die Leute zmm Narren haben wolltet! Wenn eure Eltern das erführen, würdet ihr schön ankommen. Denn die leiden -soolche Ungezogenheiten nicht."

„Nein, gewiß, Karlinchen, da hast du recht, das leiden sie nicht," beteuerte Apothekers Otto im Tone festester Ueberzeugung.

„Weißt du, Otto, wer das gewesen sein kann?" wandle sich Doktors Hermann an seinen Freund. Verwundert und gespannt, was der findige Doktorsprößling wohl ausgesonnen haben mochte, verneinte Otto, worauf jener fortfuhr:

„Hast du nicht Roths Schusterjungen aus der Vorstadt vorhin gesehen, als wir hierher gingen, wie er an der Ecke stand und um sie herum sah? Ich wette drauf, der ist es gewesen, oder ich will, gleich ...Was er wollte, sagte er nicht, jedenfalls suchte er aber nach einer Beteuerung für seine Behauptung, durch welche er sein Gewissen nicht allzusehr beschweren möchte, fand aber keine, bis Otto einfiel:

„Ja, Karlinchen, da hat Hermann recht. Der ist es gewesen und kein anderer. Er schleicht überhaupt immer abends hier in der Stadt herum."

„So?" rief die Alte, die schweigend zugehört hatte, nur halb überzeugt. „Ist das auch wahr?"

„Ganz gewiß! Sieh, Karlinchen, in der Stadt haben wir dich zu gern, es tut's keiner von uns. Aber so ein Vorstädtler, wie dieser Schusterjunge, der bringt das schon schändlicherweise fertig."

„Was!" rief nun Karline überzeugt. „Dieser Schlingel will hier in die Stadt kommen und anständige Leute schikanieren! Denn der Herr Referendar ist ein anständiger und vornehmer Mann, und wenn er auch noch nicht zu Hause ist, so könnte er doch da sein, und wenn er nicht da ist, dann bin ich doch da, und was den Herrn Referendar angeht, das geht mich auch an, und wenn solche Gemeinheiten mit unserem Klopfer hier geschehen, das laste ich mir nicht gefallen und der Herr Referendar auch nicht, denn der Herr Referendar ist eine Respektsperson, und wenn so'n Pechvogel, so'n Schusterjunge den Klopfer anfassen will, dann kann ich mich den ganzen Tag hinstellen und kann ihn mit Spiritus und Ziegelmehl putzen, daß er wieder blank wird. Aber da muß sich der Herr Bürgermeister neinmengelieren und der Polizeidiener Pfeifer und der Nachtwächter Demut, denn die sind dazu da, und der Herr Referendar wird's ihnen schon sagen, daß sie es tun." Und so räsonierte Karline weiter, bis ihr Otto ins Wort fiel:

„Weißt du, Karlinchen, der Bengel muß Haue kriegen!"

„Ja," erwiderte sie, „ich werde morgen zu seinem Meister gehen, und da werde ich ja sehen, ob der noch Zucht und Ordnung hält unter seinen Lehrburschen."

„Das würde ich an deiner Stelle nicht tun," entgegnete Otto.

„Nein, Karlinchen," stimmte Hermann aus guten Gründen bei, „das mußt du nicht tun. Denn wenn du zu Meister Roth kommst, dann richtest du nichts aus, darauf kannst du dich verlassen.

Hermann fuhr fort: Der Herr Referendar läßt ja nicht bei Roths arbeiten. Ja, wenn ihr bei ihm arbeiten ließet, dann wäre das eine andere Sache! Herrjeh, die Keile, die er dann kriegte, und unbesehen!"

Die Argumente schienen der Karline zu imponieren und sie schwieg, als Otto sogleich ausrief:

„Ich hab's, wie's gemacht wird, Karlinchen. Wir hauen ihn!" Dabei faßte er seinen Freund am Arme und trat unternehmend vor die Alte, als ob es schon losgehen sollte.

„Ja, wir hauen ihn!" sprach Hermann ebenfalls entschlossen.

„Ach, geht doch!" erwiderte Karline erfreut und doch abwehrend. „Ihr werdet euch doch nicht mit einem Vorstädter Schusterjungen abgeben!"

„Nein, Karline," sagte Hermann stolz. „Abgeben werden wir uns nicht mit ihm. Aber Haue kann er doch kriegen, wenn er hierher kommt und dich schikanieren will."

„Ja, eine Frechheit ist es. Aber eure Eltern, was würden die sagen!"

„Die erfahren das nicht, das bleibt unter uns dreien. Und wir hauen ihn, und dann wollen wir doch mal sehen, ob er wieder kommen wird, dich zu ärgern. Sag' mal, Karlinchen, habt ihr denn noch von den schönen Renetten aus Eurem Garten?" fragte Otto in kühnem Entschlüsse, nachträglich doch auch einen materiellen Vorteil bei diesen Verhandlungen zu erzielen.

„Ach ja," antwortete Karline zögernd. „Renetten sind noch da. Der Herr Referendar und ich essen ja keine, weil's mit unseren Zähnen schlecht bestellt ist, das heißt, der Herr Referendar hat eigentlich gute Zähne, aber er macht sich nichts aus Obst."

„Du, Karlinchen, unsere Zähne sind noch ganz gut. Und ehe die Aepfel bei euch verfaulen, könnten wir sie doch lieber essen."

Der Grund war zu einleuchtend, als daß Karline hätte widerstehen können. Sie hieß die beiden jungen Ritter, welche sich für sie zu schlagen im Begriffe waren, warten und verschwand in der Hausflur. Sogleich kamen aus den Verstecken die Kameraden der beiden Nichtsnutze herbei und es begann eine lebhafte Verhandlung: „Du, Otto, mir gibst du einen ab!" — „Mir auch!" So wurde leise und eindringlich gefordert. Mit unbestimmten Versprechungen und unter dem Hinweis, daß Karline jeden Augenblick zurückkommen könne, wurden die Dränger mit Mühe von der Türe hinweggewiesen. Darauf erschien Karline, in der Schürze die verlangten Aepfel, die sie unparteiisch an die beiden Helden verteilte. Diese nahmen mit. einem „Schönen Dank" von ihr Abschied, die Türe schloß sich. Auf dem Markte aber ent11 spann sich eine jener Szenen, wie sie unter Kindern häufig vorzukommen pflegen. Die einen begehrten möglichst viel, weil sie ein Anrecht zu haben glaubten, und die anderen waren entschlossen, so wenig wie möglich zu geben, im Bewußtsein des faktischen Besitzes. Die Aepfelinhaber versuchten mit Hilfe ihrer gerühmten guten Zähne das Streitobjekt an Zahl und Größe so schnell als möglich zu vermindern, und erreichten in der Tat, daß die anderen in Anbetracht dieses Umstandes sich zuletzt mit Hälften und Vierteln begnügten, um nur etwas von der gemachten Beute zu bekommen; und der kleinste, des Ratskellerwirts Heinrich, mußte mit einem einzigen Abbiß sich zufrieden geben, der noch dazu durch die vorgehaltenen Finger auf ein Minimum beschränkt wurde. Das Manöver der städtischen hoffnungsvollen Jungen hatte sich in den mannigfachsten Variationen vor Schmalings Hause oft abgespielt, denn nicht nur der Klopfer, sondern der einmal erzielte materielle Erfolg reizte zu immer neuen Versuchen. Aber es kam die Zeit, wo der alten Karline ein Licht aufging über das Treiben der Knaben; und als diese eines Tages ihr Spiel in neu ausgesonnener Variante und mit obligatem Personenwechsel wiederholen wollten, wurden sie kurz und nicht sehr freundlich abgewiesen, und die Türe flog ihnen vor der Nase zu. Das war ärgerlich, und wie das nun so geht, anstatt sich selber die Schuld für die unfreundliche Behandlung zuzumessen, warfen sie ihren Groll auf Karline und berieten, wie sie sich unbemerkt rächen könnten. Da verfielen sie denn auf folgende Posse. Eines Abends brächte einer der Knaben einen frischen Knochen aus der elterlichen Küche mit. An demselben war ein langer dünner Draht befestigt, dessen anderes Ende in eine Schlinge zusammen gebogen war. Diese wurde um den Löwenkopf von Schmalings Klopfer be12 festigt, der Knochen aber vor die Stufen der Haustüre gelegt. Dann holte Apothekers Otto seinen Hund, einen weißen Pudel, und leitete ihn an den Knochen. Der Hund fand den Knochen begehrenswert und wollte ihn wegschleppen, um ihn ungestört abnagen zu können. Er faßte ihn mit den Zähnen fest und wandte sich zum Gehen. Als er sich aber entfernte, wurde der Draht mit fortgezogen, dadurch hob sich der Klopfer an der Türe, soweit dies möglich war, und als er nicht weiter nach- gab, ließ sich auch der Knochen nicht weiter schleppen, rutschte dem Hunde aus den Zähnen und fiel zurück vor die Stufen der Türe, mit -ihm natürlich auch der Klopfer mit weithin vernehmbarem Schlage auf den Knopf. Der Hund knurrte und sprang dem Knochen nach, um ihn wieder zu erhäschen. Gleich aber erschien Karline, und als der Hund den Knochen wieder aufnehmen wollte, öffnete sie gerade die Türe und zog damit Draht und Knochen näher an den Eingang heran. Sie bemerkte jedoch weder den seinen Draht, noch in der schwachen Beleuchtung den vor den Stufen liegenden Knochen. Karline sah niemanden, dagegen sprang der Pudel, in der Meinung, daß sie ihm den leckeren Knochen entziehen wolle, gegen sie knurrend und zähnefletschend an. Rasch schlug sie die Türe wieder zu und war im Begriffe, sich zur Küche zu begeben, als es wieder klopfte. In der Meinung, daß es wieder, wie so oft, ein ungezogener Junge sei, stieg sie eine Treppe höher, um vom nächsten Fenster der ersten Etage den unverschämten Klopfer zu erspähen. Es war nicht sehr finster, und sie konnte von oben ganz gut sehen, was vor der Türe vorging. Es war niemand zu sehen. Doch in dem Augenblicke hob der Hund, der noch da war und am Boden geschnuppert hatte, den Kopf und wandte sich zum Gehen. Da klopfte 13 es wieder. Erbost fuhr der Hund herum nach der Türe und sing laut zu bellen an. Karline erschrak und strengte ihre Augen an, den Klopfenden zu entdecken, aber es war wirklich niemand da, so sehr sie auch schaute. — Das war ihr doch sonderbar I Sie sah, der Hund suchte nach der Türe zu, als ob er wittere, hob dann wieder den Kopf, ging einen Schritt rückwärts, als ob er die Türe nicht aus dem Auge verlieren wolle, und — wieder klopfte es. Der Pudel erhob aber jetzt ein so klagendes Geheul und geberdete sich so verzweifelt, daß es zum Erbarmen war. Noch einen scheuen Blick warf Karline nach unten auf die Stufe der Türe und auf den davor- stehenden heulenden Hund. Dann schloß sie leise das Fenster. Es überlief sie eiskalt. Leise ging sie die Treppe hinunter, nahm im Hausflur die stehen gelassene Lampe auf und trat in die Küche, die Türe fest hinter sich zu- schließend. Dann setzte sie sich vor das Herdfeuer. Es fröstelte sie. Sie legte die Hände in den Schoß und rührte sich nicht, und der eine Gedanke nahm sie ganz gefangen: Welche unsichtbare Hand hat geklopft? Denn den Klopfer zu heben, dazu gehört eine Hand, und an der Hand sitzt doch auch noch ein Mensch. Aber weder Hand noch Mensch war da, und doch hat es menschlich geklopft. — Menschlich? — Nein, das war kein menschliches Klopfen! Es war ein geheimnisvolles Klopfen, ein Klopfen aus der Geisterwelt, von der sie so viel in ihrem Leben gehört hatte. Ja, ja, es mußte ein Geist gewesen sein, der Einlaß begehrte, vielleicht, — denn das Klopfen hatte aufgehört, weil der Draht vom Klopfer abgerutscht war, - - war er eingetreten, durch die Türritze, oder sonstwo. Scheu sah sie sich in der halbdunkeln Küche um. — Hatte nicht der alte Nachtwächter Demut neulich erzählt, wie nachts eine weiße Frau vom Frauenbergskirchhofe gerade in die Salzstraße hineingegangen wäre, wie er in 14 seiner bekannten furchtlosen Weise auf sie zugegangen sei, um sie zu beschwören, und als er einen kraftvollen Geisterspruch gesagt habe, sei die weiße Frau zusammengeschrumpft und als ein Pudel nach dem Kirchhofe zu gelaufen! Ja, ja, es war nicht Apothekers Pudel heute abend gewesen, sondern ein Geist als Pudel, der eigentlich eine weiße Frau war. Aber daß diese gerade vor ihre Türe kam! — Ach, da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen! Die selige Frau Konrektor war es! — Sie sah sich in der Küche um, an deren dunkeln Wänden der Schein des flackernden Herdfeuers allerhand phantastische Gestalten in fortwährender Beweglichkeit erscheinen ließ, als müsse die Frau unter ihnen sein. Wer weiß! Sie wandle ihren Blick wieder dem Feuer zu und rückte die Brände zurecht. — Aber was konnte die Frau Konrektor wollen? — Da trat ihr denn die letzte Lebenszeit der seligen Frau vor Augen. „Karline," hatte sie einst gesagt, es war kurz vor ihrem Ende, „Karline, du bist nun einunddreißig Jahre bei uns, und du hast meinen Sohn, den Herrn Neferendar — anders nannte ihn die Frau Konrektor nicht — von klein auf gekannt. Und sein Vater, der Herr Konrektor, konnte sich nicht viel um ihn bekümmern, denn er hatte mit den bösen Jungen in der Schule und mit seinen lateinischen und griechischen Büchern zu tun. Da habe ich denn die ganze Sorge für das Kind auf mir gehabt, und ich habe ihn behütet und bewahrt bis jetzt, wie meinen Augapfel. Aber wenn ich tot bin, dann hat er niemanden weiter als dich. Und du mußt mir versprechen, daß du ihn in deinem Leben nicht verläßt und für ihn sorgst, wie wenn du seine richtige Mutter wärst. Ich hätte sonst im Grabe keine Ruhe." — Ja, im Grabe keine Ruhe, hatte die Frau Konrektor gesagt. — Bis jetzt hatte sie Ruhe gehabt. — Was war es, daß sie diese nicht mehr hatte? Karline hatte doch 15 ihr Versprechen, das sie der Frau gegeben hatte, ihres Wissens treu zu erfüllen gesucht, sie hatte getan, was sie tun konnte und ihn behütet, wie ein kleines Kind. Sie lebte nur für ihn, ihr ganzes Sinnen und Denken, ihr Wirken und Schaffen war nur für ihn. Wenn er zum Beispiel Donnerstag abends — der einzige Tag in der Woche, an dem er ausging — in der Völlmerei saß, dem Gasthause, wo die Vornehmen der Stadt ihr Glas Braunbier tranken, dann hatte sie regelmäßig ein Viertel nach zehn Uhr die große Laterne angebrannt, den runden Mantel umgelegt, unter welchem sie die Laterne, wenn sie fortging, verbarg, und hatte so in der Nähe der Gast- hofstüre geduldig gewartet, bis ihr Herr, gewöhnlich um halb elf oder auch etwas später, herauskam, hatte dann die Laterne unter dem Mantel heroorgezogen und war an ihn herangetreten, um ihm nach Hause zu leuchten. Und wenn dann die anderen Herren, die vielleicht bei ihm waren, wohl hin und wieder ein neckendes Wort über ihre Fürsorge fallen ließen, hatte sie regelmäßig ihr Kommen als ein rein zufälliges darzustellen versucht, was doch niemals wahr war. Aber die Herren sollten doch nicht wissen, daß der Herr Referendar von ihr abgeholt würde, denn das könnte seinem Renommee schaden; und am allerwenigsten sollten sie von seiner Schwäche erfahren, die ihn im Dunkeln nicht gern allein nach Hause gehen ließ. Dann war sie sorgfältig hinter ihm her gegangen und hatte die Laterne nach vorn gehalten, damit er genau sehe, wohin er trete. Karline kümmerte es wenig, ob sie mit dieser oder jener trocknen oder nassen Vertiefung des holperigen Weges über den Markt Bekanntschaft machte. Was seine Wäsche anbetraf, so hatte sie die langen spitzen Vatermörder immer so steif gestärkt und geplättet, wie sie das von der Frau Konrektor gelemt hatte, und sie, 16 nämlich die Vatermörder, sahen immer recht stattlich aus der hohen steifen Halsbinde heraus, so daß, wenn er zur Seite blicken wollte, der Oberkörper eine viertel- oder halbe Links- oder Rechtsschwenkung machen mußte, denn den Kopf allein konnte er absolut nicht wenden. So mußte es ja auch sein. Seine Nanking-Beinkleider und Westen, wie oft wusch und plättete sie dieselben, so daß er namentlich Sonntags immer aussah, als wäre er aus dem Ei, das heißt aus dem Gelben davon, herausgeschält worden! Auch die gelben Knöpfe seines blauen Fracks putzte sie alle Tage, bevor er ausging nach dem Gericht. Und die Kost? Sie hatte, das wußte sie ganz genau, den Küchenzettel und die Einteilung der seligen Frau Konrektor beibehalten. Daß er dabei nicht fett wurde, sondern ebenso mager blieb, wie zur Zeit seiner Frau Mutter, das war doch kein Zeugnis gegen sie. Es war wahr, die anderen Herren seines Alters waren meist rund und voll geworden, während bei ihm die Gegend, wo der Magen seine geheimnisvolle Tätigkeit übt, eine ewige Kaverne blieb, deren Tiefe nur zur Zeit der Kirmsen etwas abzu- nehmen schien. Aber zu dieser Zeit, was hatte sie da für Not und Sorge auszustehen, und was für Arbeit mit Kamillentee und Pfefferminz- und Fliedertee, damit er nicht krank wurde von dem Vielerlei, was er bei solchen Gelegenheiten zu sich nehmen mußte, denn er war es doch auch gar nicht gewohnt. — Dies und noch mancherlei ging an Karlinens Geist vorüber, und sie kam zu dem Schlüsse: sie hatte ihre Schuldigkeit getan. Was konnte die Frau Konrektor wollen? Warum hatte sie im Grabe keine Ruhe? Der Gedanke daran erregte so ihr Mitleid mit sich selbst und machte sie so unglücklich, daß ihr die alten Augen übergingen, und Träne auf Träne die runzeligen Wangen herunterrollte auf die blaue Küchenschürze, daß diese ganz feucht davon wurde. 17 Draußen aber waren die Jungen samt Pudel und Knochen abgezogen, als sie die Fruchtlosigkeit ihrer Bemühungen sahen. So hatte Karline lange gesessen. Das geisterhafte Klopfen hatte bald aufgehört, und der Tränenquell war schließlich versiegt. Immer aber war sie noch in tiefen und schweren Gedanken. Da klopfte es wieder; es war die bekannte Art des Referendars, ihres Herrn. Rasch sprang sie auf, um zu öffnen. Mit größerer Zuvorkommenheit und in herzlicherem Tone als sonst empfing und begrüßte sie ihn und geleitete ihn in die Stube, wo sie ihm Hut und Stock abnahm. Dann holte sie den geblümten Kattunschlafrock, während er den Frack ab- legte, und half ihm beim Anziehen. Als dies geschehen, eilte sie zu dem hochlehnigen Sessel, schob ihn an den Tisch, pustete und wischte noch einmal darüber hin, damit kein Stäubchen darauf wäre, und entfernte sich dann geräuschlos in die Küche, das Abendbrot zu bereiten. „Du lieber Gott," sprach sie leise vor sich hin, „er ist ja doch eine Waise und hat nun seit so vielen Jahren auch keine Mutter mehr. Was sollte er denn wohl anfangen, wenn ich nicht für ihn sorgte! Ein anderer Mensch bekümmert sich doch nicht um ihn. Ach, Frau Konrektor»," rief sie beschwörend aus, „sie können gewiß und wahrhaftig Ruhe haben! Ich sorge für ihren verwaisten Sohn!" Dann stand sie eine Weile sinnend. „Und heute abend soll er auch ausgeschlagens Eier haben, nicht bloß Kartoffelsuppe und Butterbrot!" Dabei schlug sie, froh ihres heroischen Entschlusses, sich in die Seite und ging an den Schränk, Eier und Speck zum Braten herauszuholen. Unterdessen saß die vierzigjährige Waise in der Stube im Lehnstuhle, die langen hageren Beine übereinander 2 18 geschlagen,, die von dem geblümten Schlafrocke schonend bedeckt wurden. Den schmächtigen Oberkörper an die hölzerne Lehne des Stuhles gedrückt, den Kopf nach vorn geneigt, glich er einer an einem Staket emporgewachsenen Pflanze, welche infolge herrschender Dürre den Kopf hängen läßt. Während Karline das lukullische Abendbrot des Herrn präpariert, haben wir Muße, uns eingehender mit diesem zu beschäftigen. Es konnte wohl weit und breit keinen Menschen geben, bei dem alles in solcher Harmonie stand, wie bei dem Referendar Schmaling. — Schmaling war sein Name und schmal war auch alles, was in, an und um ihn war, vor allen Dingen auch seine Einkünfte, die er als wohlbestallter Referendar des Landesgerichts zu Ellrich bezog. Lang und schmal war seine ganze Gestalt, und absolut nichts Hervorragendes an ihm zu sehen. Der Kopf erhob sich über den schmalen Schultern auf langem Halse, der durch die charakteristische schwarze steife Binde bis unter das Kinn eingeschnürt war. Er sah, wenn der Vergleich erlaubt ist, einem Kürbis im Herbste ähnlich, der seine von Reife zeugende obere gelbe Hälfte unbe- schattet der Sonne preisgiebt. Die Nase sprang scharf gezeichnet als langer krummer Haken aus dem Gesichte, welches den vielen Aktenmenschen eigenen pergament- artigen Teint trug. Unter ihr eine bartlose Oberlippe, welche stets fest auf die Unterlippe geklemmt war, so daß der Mund sich nur als ein langer schmaler Querstrich des langen Gesichts kennzeichnete. Ueber den etwas abstehenden Ohren waren die wenigen flachsblonden Haare von hinten nach vorn gekämmt und lagen dicht an den Schläfen an, diese bedeckend, ähnlich den Scheuklappen eines Kutschpferdes, etwas darüber hinausstehend. Wenn er ging, hingen die langen Arme meist schlaff und nach oom baumelnd herab. 19 Schon bei der Frau Konrektor war es Grundsatz gewesen, bei schmaler Kost als Mensch zu existieren und sich seines Daseins zu freuen; und dieser Grundsatz wurde bedingt durch die geringe Witwenpension und eine kleine Rente, die ein vor dem Tore liegendes Grundstück ein- brachte. Mit diesen Mitteln mußte sie sich und ihren Herrn Sohn erhalten bis zu seinem Eintritt in den Dienst der heiligen Iustitia als Referendar, und auch dann noch, ja dann erst recht. Denn die Referendare von damals hatten, so verschieden sie von den heutigen in Kleidung, Gewohnheiten usw. vielleicht waren, mit diesen doch eins gemeinsam: sie bezogen ihr Gehalt immer in spe und brachten daher zwar Akten, nie aber etwas Klingendes vom Gericht und aus der Gerichtskasse heim. Jener Grundsatz der Frau Konrektor war nun aus Pietät gegen dieselbe von Karline aufrecht erhalten worden, und der Referendar hatte sich dem gefügt; ob auch aus Pietät oder aus einem anderen Grunde, darüber konnte man mit Sicherheit nie etwas in der Stadt erfahren. War er außer dem Hause eingeladen, namentlich auf Kirmsen, dann zeigte er von dieser Pietät keine Spur, zum Schrecken Karlinens. — In seiner Kleidung war er sehr konservativ. Im Sommer trug er Tag für Tag nankingene gelbe Unaussprechliche und dito Weste; darüber den blauen Frack mit gelben Knöpfen. So lange er beim Ellricher Landgericht als Referendar fungierte, hat man ihn zu dieser Jahreszeit nicht anders gesehen. Im Winter dagegen vertauschte er das gelbe Nankingene mit grauem Tuchenen. Nur der Frack blieb, über welchen er bei schlechtem Wetter einen Mangtäng hing, wie Karline ihn nannte, nach damaliger Mode mit großem Doppelkragen, und am Kragen vorn mit geschnörkeltem messingenen Schlosse zum Schließen versehen. Zur größten Schonung seiner Kleidung von früh auf angehalten, zeigte der betreffende Teil seines 20 Budgets, in welchem die Ausgaben dafür eingetragen wurden, oft Jahre lang ein Vakat. Erst wenn Karline betreffs der Nankingenen erklärte, nun ginge es doch nicht mehr, sie könne sie nicht mehr waschen, und namentlich der beim Sitzen in besondere Mitleidenschaft gezogene breite Teil zerginge ihr im Waschfasse unter ihren Händen ganz und gar wie Zunder, erst dann wurde Schneider Ziegenbein gerufen, um Ersatz zu schaffen. Das war dann immer ein Ereignis, und wenn er mit den neuen Gelben zum ersten Male durch die Straße ging, dann riefen die aus dem Fenster zufällig Blickenden oder die ihm begegnende Schuljugend einander zu: „Wißt ihr schon? der Referendar hat neue Nankingene!" Und das Gerücht davon verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die ganze Stadt. An Fräcken hat der Herr Referendar nach genauer Ermittelung in seinem Leben nur drei getragen, alle von derselben Farbe und demselben Schnitt, blau mit gelben Knöpfen, hoch am Halse emporstehenden Kragen und langen Schößen, vorn dagegen weit nach oben und den beiden Seiten zu ausgeschnitten. Den ersten Frack bekam er, als er sein Referendarexamen machte, und seine Mutter bezahlte ihn gern; den zweiten, den sie auch, aber weniger gem bezahlte, erhielt er, als ihm einst der Landesgerichtsrat gesagt hatte, in dem abgewetzten Spargelstecher könne er als königlich angestellter Referen- darius um der Würde seines Amtes willen doch unmöglich mehr einhergehen, und er möge sich in Hoffnung der nun bald eintretenden Zeit eines fixen Gehaltes doch ein passenderes Kleidungsstück anziehen. Gehalt bekam er nach diesem Monitum seines hohen Chefs zwar noch lange nicht, aber er erschien doch einige Zeit darauf auf der Amtsstube im neuen Frack, den Schneider Ziegenbein mit viel Kunst und Geschick ganz nach dem Muster des ersten angefertigt hatte. Den dritten Frack erhielt er auf 21 Drängen Karolinens, aber den bezahlte die Frau Konrektor nicht mehr, denn sie hatte eben die Augen für immer zugetan, und Karline war in ihre Rechte eingetreten. Kraft dieser hatte sie denn gleich am Sterbetage gesagt: „Nein, Herr Referendar, mit dem Frack geht es zum Begräbnis absolutemang nicht. Denn den kagen sie schon so viele Jahre, und bei solcher Gelegenheit, wenn einem die Eltern sterben, dann schafft man sich ein neues Kleidungsstück an. Das muß es abwerfen. Und die Leute würden schön darüber sprechen, wenn sie sich beim Begräbnis ihrer leiblichen Mutter nicht einmal einen neuen Frack anschafftenl Und es geschieht doch Ihrer Mutter zu Ehren !" Der Herr Referendar hatte bei diesen Worten seine alte Karline wohl etwas erschrocken angesehen ob des kühnen Vorschlags und Anschlags, aber er hatte es doch stillschweigend geduldet, als Ziegenbein kam und mit dem neu fabrizierten Papiermuß an dem langen Körper herummaß und dabei ein über das andere Mal seufzte, daß die Zeit von drei Tagen für ein so wichtiges Kleidungsstück doch gar zu knapp bemessen wäre. Doch es wurde zur rechten Zeit fertig; freilich hatte sich der kleine Schneidermeister, wie er selbst lange nachher noch erzählte, dabei so abgehaspelt, daß er kaum das Leben davongetragen hatte; und der Lehrling sprach auch noch oft davon, wie er in diesen drei Tagen mehr Schelte bekommen hätte, als sonst in vier Wochen, so ärgerlich wäre der Meister darüber gewesen, daß er es nicht wenigstens acht Tage vorher gewußt. Das Kleidungsstück wäre auch gewiß nicht fertig geworden, wenn die Frau nicht Tag und Nacht mit daran gesessen und genäht hätte, und er, der Lehrjunge nämlich, hätte die ganze Wirtschaft allein besorgen müssen und das kleine Kind auch noch dazu. Jedes Jahr zu Weihnachten bekam der Referendar, 22 früher von seiner Mutter und nach ihrem Tode von Karlinen, eine grauwollene gestrickte Unterjacke, aber keine fertig gekaufte, wie man sie heutigen Tages in allen möglichen Fassons nach dem Rezepte von Professoren und Nichtprofessoren überall bekommt, sondern die Frau Konrektor und Karline fertigten sie selbst, und nur die Wolle dazu lieferte Jude Frohnhausen in der Vorstadt. Als Karline nach der Seligen Tode ihrem Herrn zum ersten Male dies nützliche und notwendige Kleidungsstück verehrte, meinte sie, es sei zwar nicht so fein gestrickt, wie die Selige dies verstanden hätte und röche auch nicht so gut, denn Ollewang*) hätte sie nicht, und in der Küche, wo sie sie doch heimlicherweise hätte stricken müssen, da hätte es bei konträrem Winde immer Rauch, und der zöge immer in die Wolle. Aber wenn der Herr Referendar sie eine Weile getragen hätte, dann würde sich das wohl geben. Und darin hatte Karline wieder einmal recht. Zu Weihnachten und einige Zeit nachher roch der Herr Referendar immer etwas angeräuchert, und der Apotheker Schlichtweger — das war ein arger Spötter — hatte einmal die Aeußerung getan, um diese Zeit hätte der Referendar die größte Aehnlichkeit mit einem geräucherten Hering. Der Referendar aber kehrte sich an derlei Redensarten nicht, denn, was ja der Zweck war, das Kleidungsstück machte ihm das Weihnachtsfest doppelt angenehm, indem es die Eigenwärme seines langgedehnten Körpers mehr zusammenhielt, wenigstens in seinem oberen Teile. Kam aber das Frühjahr und mit ihm die Wärme, dann verstand der Referendar in vortrefflicher und seiner Gesundheit nicht im mindesten nachteiligen Weise sich allmählich des warmen Kleidungsstückes zu entledigen. In den ersten warmen Tagen des März oder April fing er ) Lrru 60 Levauto. 23 an die beiden Aermel der Jacke aufzutroddeln, so daß sie vorerst ein kleines Stück kürzer wurden, und in gleicher Weise fing er an, das Rumpfteil zu verkürzen. Das wurde, je nach der zunehmenden wärmeren Witterung, fortgesetzt, bis etwa zu Anfang Juni die Aermel fast ganz verschwunden waren und von der übrigen Jacke nur noch ein schmaler Streifen von Schulter zu Schulter den Körper umschloß. Dieser Streifen wurde ganz entfernt und damit der Rest des Winterkleidungsstücks, sobald der erste heiße Sommertag ins Land kam. Die durch das Auftroddeln der Jacke gewonnene Wolle verschenkte der Referendar, ungeachtet des Protestes von Karline, an die in der Nähe wohnenden Schulbuben, welchen sie zur Anfertigung ihrer Frühjahrs - Spielbälle sehr willkommen war. Wenn er dann auf einem Sonntagsspaziergange seine kleinen Freunde mit solchen Bällen spielen sah, dann blieb er wohl lange stehen und verfolgte den Flug der metamorphosierten Iackenteile, und ein Zug der Befriedigung lag auf seinem sonst so trockenen Aktengesichte. Kam er aber nach Hause, so sagte er launig: „Karline, heute habe ich meine Unterjacke vom vorigen Winter springen und fliegen sehen." Doch kehren wir zurück in das Allerheiligste Karlinens, die Küche, wo sie gegenwärtig, mit vor Eifer und von dem offenen Herdfeuer gerötetem Gesichte, ihrem Herrn durch die Bereitung von etwas „Extraordinärem" eine besondere Freude zu machen im Begriffe stand. Klak! fiel das erste Ei in die siedende Butter, daß es zischte. „Wenn er's nur nicht früher gewahr wird, als bis ich sie ihm bringe!" murmelte sie. Und klak! folgte das zweite. „Ob ich wohl noch eins nehme?" fragte sie sich und hielt das dritte Ei in der Hand. „Ach ja," sagte sie leicht seufzend. „Ich spare es ein andermal." Und rasch entschlossen ließ sie das Ei den beiden ersten nach24 folgen. Und als es in der Pfanne so recht brodelte und prutzelte, und ihr das Fett heiß ins Gesicht sprang, da lächelte sie selig und sagte leise: „Ja, Frau Konrektor, Sie können ganz ruhig sein, ihr Herr Sohn soll's gut haben! Ich sorge dafür." Darauf trug sie ihm das Essen hinein, Pellkartoffeln und ausgeschlagene Eier. Und als sie nun sah, wie schon der bloße Geruch der aufgetragenen Speise von ihm mit dem langen Riecher begierig eingesogen wurde und er im Vorgeschmack die schmalen Lippen netzte, da konnte sie nicht sogleich wieder hinausgehen. Sie blieb stehen und sah zu, wie er ein Ei nach dem andern verschwinden ließ und schälte ihm die Kartoffeln dazu, damit er gar keine Mühe habe. Als er fertig war, ging sie hinaus, nahm die übrig gebliebenen Kartoffeln, wischte damit die in der Pfanne sitzen gebliebene Butter aus und aß sie und war glücklich und zufrieden im Bewußtsein ihrer Fürsorge für ihren verwaisten Referendar. Diesem hatte es wirklich gut geschmeckt, und nach getaner Arbeit setzte er sich denn auch um vieles behaglicher als sonst in seinem Lehnstuhle zurecht und glättete den geblümten auf den übereinandergeschlagenen langen Spazierhölzern. „Ach, wenn ihn die Frau Konrektor jetzt so sitzen sähe!" dachte Karline, als sie bald darauf, das Strickzeug in der Hand, in die Stube trat. „Wenn ich sie nicht störe," sagte sie laut, „dann setze ich mich mit meinem Strickzeug an den Tisch, damit ich in der Küche die Lampe nicht zu brennen brauche." Bereitwillig, wie immer, gab der Referendar die Erlaubnis, ließ sich noch ein Buch geben um zu lesen, und dann setzte sich Karline ihm gegenüber. Während sie nun die Stricknadeln eifrig handhabte, las der Herr Referendar zum, wer weiß wie- 25 meisten Male den hochinteressanten, von Cramer*) in Nordhausen herausgegebenen Roman, welcher den Titel trug: „Ritter Kuno von Schauerstein, oder: Das Schreckgespenst der Hölle."

  • ) Ein bekannter Berleger einer Anzahl Ritter« und Geister« geschichten.

Der Referendar war glücklich wieder beim vierten Bande angelangt. In der Stube hörte man nichts als das leise Ticken der Pendule auf der Kommode und das noch leisere Aneinanderklappen von Karlinens Stricknadeln. So hatten sie oft zusammen gesessen, die vierzigjährige Waise und die fünfzigjährige ihn bemutternde Dienstmagd, und gesprochen wurde selten von ihnen. Heute Abend aber sollte das anders kommen. Als der Referendar eine Zeitlang gelesen, hielt er plötzlich inne und sah zu Karline hinüber. Vielleicht trug das genossene Abendbrot nicht wenig dazu bei, ihn heute abend redselig zu machen, er brach die Stille und sagte: „Karline, du bist zwar nicht litterarisch gebildet, aber es gibt doch auf dem Gebiete der Litteratur Schönheiten, die auch von dem einfachsten Gemüt empfunden werden. Das, was ich eben gelesen habe, gehört in diese Spezies, und wenn du willst, lese ich dir die Stelle noch einmal laut vor." „O, Herr Referendar, das ist für mich eine grotze Ehre und Freude, wenn sie mir was vorlesen wollen, und es strickt sich dann noch einmal so gut, und ich lerne vielleicht auch noch etwas dabei." »Dann höre zu!" Und der Referendar las: „Der Ritter Kuno von Schauerstein auf Drachenfels trat klirrenden Schrittes in das mit schwarzem Tuche ausgeschlagene Gemach der alten Burg, die beiden Doggen folgten ihm auf dem Fuße und drängten sich winselnd an ihn heran. In dem Kamine 26 brannte das rote Feuer und eine von der Decke herabhängende silberne Lampe spendete ihr spärliches Licht. Wild stieß der eisenbepanzerte Ritter sein breites Schwert, an dem braune Rostflecken, entstanden von dem Blute der schrecklich Erschlagenen, den Glanz des mörderischen Eisens verdunkelten, auf den gekörnten Estrich und rief mit schrecklicher Stimm: .Holla I' — Und: .Holla I' tönte es im Widerhall aus den dunkeln Ecken des dunkeln Gemachs. — Holla!' rief er zum zweiten Male noch lauter und wilder. Holla! Ihr Knappen, ihr säumigen Hunde!' — Aber dumpfer noch hallte es wieder: Holla!' und kein dienender Knappe erschien. Und zum dritten Male mit der donnernden Stimme rief er sein Holla.' Da kam kein äffendes Echo zurück, aber mit gewaltigem, dröhnenden Schlage barst die schwarze Wand gegenüber, Ampel und Feuer erloschen und aus gähnender Kluft sprang ein versengender, weit in das Gemach züngelnder, glutroter Feuerstrahl. Ein zweiter, noch heftigerer Donnerschlag erschütterte die gequaderte Feste bis in den felsigen Grund. Vor dem zurückweichenden Burgherrn aber stand ein in Scharlach gekleideter Ritter, das vom Höllenfeuer gerötete Antlitz blickte ernst auf den Schauersteiner und aus dem Helmbusch funkelten unheimlich die giftigen Blicke eines scheußlichen Basilisken. Ha!' rief Kuno von Schauerstein entsetzt, .schon wieder?' — .Schon wieder!' entgegnete der Rote mit hohler Grabesstimme. ,Zum zweiten Male hast du durch eine Schreckenstat, die Ermordung der minniglichen Jungfrau Amaranthe von Schwanen- heim und Lilienkron, mich aus der Unterwelt peinlich gerufen, dir zur Warnung. Noch eine Tat, wie diese, Ritter Kuno von-Schauerstein, und der Drachenfels, auf dem du hausest, wird von den Fürsten der Hölle 27 zerschmettert werden und du mit ihm, und dein verruchter Geist hinabgeführt von den Mächten der Finsternis zur ewigen Qual!' Sprach's und verschwand. Der Ritter von Schauerstein aber rief: ,Tod und Teufel! Holla, Knappen! Wein her! Wein^ Da erschienen furchtsam die Knappen und geleiteten den gestrengen Herrn zur eichenen Tafel und brachten den feurigen Wein zum wüsten Gelage.--------------" Der Herr Referendar war zu Ende mit der schönen Stelle und jeder unparteiische Leser wird mir zustimmen, wenn ich behaupte, daß der litterarische Geschmack des Vortragenden für jene Zeit gewiß ein sehr entwickelter war und von hoher ästhetischer Bildung zeugte, sonst hätte er das Schöne des Vorgetragenen nicht so tief empfinden können. Auch auf Karline hatte ohne Zweifel, wie der Referendar vorhergesagt, Kuno von Schauerstein einen tiefen Eindruck gemacht, aber noch aus einem andern Grunde. Sie saß da, gesenkten Blickes, das Strickzeug vor sich in den Schoß gelegt, die Hände darüber gefaltet, und war sehr nachdenklich geworden. Die Episode aus Cramer trat in Verbindung mit dem Erlebten von heute abend. Wenn Cramer von Geistererscheinungen berichtete, so war kein Zweifel über das Vorhandensein solcher. Das war in früherer Zeit gewesen, und jetzt gab es ohne Zweifel noch Geister. — Doch wer hätte besser darüber Auskunft geben können, als der Herr Referendar? Als Gerichtsperson mußte er alles wissen. Diese Gedanken gingen an ihr vorüber, während der Referendar ihr sinnendes Schweigen zu gunsten des Cramerschen Stiles deutete. „Nehmen sie's nicht übel, Herr Referendar," brach Karline endlich das Schweigen, „aber ich muß sie etwas fragen. Man hört so mancherlei von Geistern und erlebt auch so mancherlei, das heißt, ich will nicht von mir 28 sprechen," — hierbei senkte sie den Blick, weil ihr das Gewissen schlug über die Unwahrheit, welche sie damit aussprach — „ich meine den Nachtwächter Demut. Der erzählt ja oft, daß er Geister gesehen hat, und ich glaube auch, daß die Menschen, wenn sie gestorben sind, wiederkommen können, wenn sie noch etwas auszurichten haben. Aber dann erscheinen sie doch als Menschen, wie auch da im Buche steht, denn ein Ritter ist doch auch ein Mensch. Aber haben sie schon einmal gehört, daß die Geister sich verwandeln können und so, es ist fast zu schenierlich zu sagen, so als ein Vieh erscheinen können. Aber nehmen sie's nicht übel, wenn ich dumm frage." „Liebe Karline," erwiderte der Gefragte nach einer Weile, denn die Frage kam unerwartet, und er legte sich nachdenklich in den Lehnstuhl zurück. „Die Frage ist nicht so dumm, als du denkst. Schon seit den ältesten Zeiten ist sie von den gelehrtesten Leuten aufgeworfen und diskutiert worden. Die Möglichkeit, daß Geister auch in anderer als menschlicher Gestalt erscheinen können, ist schon in frühester Zeit angenommen worden. So behaupteten z. B. die Aegypter, wie im Orbis pietus gar lehrreich zu lesen ist, daß die Geister der Menschen nach dem Tode in irgend ein Tier verwandelt würden." „In ein Tier!" fiel Karline mit schwerem Seufzer ein und nickte unmerklich. „Jawohl, in ein Tier. Und jede Menschenklasse hatte ihre besondere Tierform, welche sie annahm, und in dieser liefen sie bei Hellem Tage umher," fuhr der Referendar belehrend fort. „Bei Hellem Tage? Da würde ich mich nicht fürchten." „Taten die alten Aegypter auch nicht. Aber sie waren sehr höflich gegen solche Tiere, z. B. gegen gewisse Ochsen, welche an der Stirn gezeichnet waren, denn das waren nach ihrer Meinung verwandelte Könige, und für diese 29 Art der Könige bauten sie Paläste. Ob das richtig ist, will ich in clubio lassen; soviel steht aber fest, daß kein späteres Volk Ochsen als Könige verehrt hat. In unserer Zeit aber glaubt man immer noch an Tiergeister, und da habe ich erst neulich ein Buch von einem gewissen Doktor Faustus gelesen, was davon erzählt, daß ein unterirdischer Geist als Pudel erschienen ist, als ein wirklicher und schwarzer Pudel." „Ach, du mein Sixchen!" preßte Karline angstvoll hervor. „Da ist am Ende —" Erschrocken hielt sie inne, während der Referendar, ohne ihre Erregung zu bemerken, fortfuhr: „Und dieser Pudel hat dem Doktor Faustus allerlei Dienste getan und hat sich mit ihm über mancherlei recht gelehrt unterhalten." „Der Pudel?" fragte Karline atemlos. „Ja, der Pudel, oder vielmehr der Geist als Pudel. Ich habe beim Lesen dieser Reden als Jurist nicht unterlassen können, meine Zweifel auszusprechen. Denn der Doktor Faustus hat wohl, wie erzählt wird, auch Jura gehört, aber meines Wissens keine Examina gemacht und ist weder als Referendarius, noch als Auskultator tätig gewesen, und das ist auch der Grund, warum ich seine sämtlichen Angaben über die geisterhafte Hundegeschichte in cludio stellen muß. Denn um festzustellen, ob in einem Hunde ein Geist steckt, muß mancherlei beobachtet werden. Es mußte genau festgestellt werden Ort und Zeit, wo der Geist mit dem Hunde identisch wurde, und bei solcher Gelegenheit hätte man ihn in ergreifen und in gehöriger Weise vor einer juristisch befähigten Person unter Hinzuziehung glaubhafter Zeugen protokollarisch feststellen können: Stand, Namen, Herkunft des Geistes, frühere Beschäftigung, und wie er auf den Hund, will sagen, auf die Idee kam, ein Hund zu werden. Ein 30 solches Protokoll würde allein für mich maßgebend sein, denn nur richterliches Erkenntnis kann eine so dubiose Sache entscheiden." — Soweit der Herr Referendar. Karline saß wie in stiller Ergebung da und ließ die Auseinandersetzung des Referendars, welche von seinem Standpunkte als angestellter und, was noch schwerer in die Wage fällt, besoldeter Beamter, allen Irrtum aus- schlossen, über sich ergehen wie etwas, von dem man nicht weiß, ob man es in die Kategorie des Guten oder Schlimmen rechnen soll, denn sie hatte von der gelehrten Auseinandersetzung und den lateinischen Brocken, die nun einmal notwendig dazu gehören, nichts weiter verstanden, als daß ein Geist sich in einen Hund verwandeln könne. Das war genug. Und weil es ihr Herr Referendar sagte, galt ihr dies Zeugnis mehr als alle Erzählungen des Nachtwächters Demut und ihre eigenen Erfahrungen. Denn mochte der Herr Referendar in allen das Haus und seinen äußeren Menschen betreffenden Angelegenheiten auch noch so sehr ihrer Ueberwachung und Fürsorge bedürfen, was gelehrte Sachen und sein Amt anbetraf, galt er ihr als die höchste Autorität in der ganzen (ehemaligen) Grafschaft Hohnstein, den Herrn Landesgerichtsrat ausgenommen. Jener Pudel des Doktor Faustus — sie hatte den Namen wohl gemerkt — war ein Geist aus der Unterwelt gewesen. Darum hatte er auch eine schwarze Farbe gehabt. Sie hatte im Leben noch nicht gehört, daß die Geister aus jener Gegend, die auch für gewöhnlich Teufel genannt werden, anders als schwarz sein könnten. Aber der Pudel von heute abend war weiß gewesen I Selbstverständlich ! Die gute Frau Konrektor, die in ihrem Leben kein Wässerchen getrübt hatte, die hatte mit dem Schwarzen nichts gemein I Und als sie dies dachte, kamen der alten Karline alle die allegorischen Redewendungen in den -ZI- Emn, welche sie von Geistlichen gehört hatte, wenn von den Bewohnern jener Regionen die Rede ist, die nach dem irdischen Jammertals in ewiger Freude und Herrlichkeit leben, von weißen Jungfrauen und weißen Lämmern und so weiter. Ja, ja, die Frau Konrektor, so schloß sie, konnte nur als weißer Pudel erscheinen. Als sie mit vielem Zeitauswande auf ihrem Gedankengange so weit gekommen war, wollte sie ihr Strickzeug wieder aufnehmen. Da bemerkte sie, wie ihr gelehrtes Gegenüber den Gramer in den Schoß legte und die Lippen sich öffneten zu einem ausdrucksvollen Gähnen. Kuno von Schauerstein konnte dies ungeachtet seiner Schönheit nicht verhindern. Für Karline aber war es eine Mahnung, daß ihr Herr ein menschliches Wesen sei, das nach so vieler Anstrengung am Tage gar sehr der Ruhe bedürfe. Karline erhob sich und sagte: „Herr Referendar, es ist schon Neun durch, da müssen sie sich hinlegen und ihren Augen Ruhe gönnen, sie strengen sie Tags über genug an." Dann setzte sie ihren Stuhl beiseite, und ihr Herr erhob sich ebenfalls, dehnte sich, wünschte ihr schläfrig „gute Nacht" und ging nach der anstoßenden Kammer zu, sich schlafen zu legen. Karline rief ihm eine „wohlschlafende Nacht" zu, um dann selbst sich in ihr im oberen Stock befindliches, bescheidenes Schlafgemach zu begeben. Aber ihre Gedanken drehten sich unausgesetzt um die Frau Konrektor und den Pudel, bis sie einschlief. Dann spann ihre Phantasie aus dem heute abend Erlebten und Gehörten allerlei Bilder. Es klopfte an ihre Kammertür, und zagend rief sie: „Herein!" Da kam ein weißer Pudel auf den Hinterbeinen hereingetanzt. Herrjemine! dachte Karline, er macht nicht einmal die Türe wieder zu, das ist mir doch gar zu schenierlich! Als ob das Tier ihre Gedanken erraten hätte, sprang es zurück und klinkte zierlich mit den Vorderpfoten zu, schob auch den 32 Riegel vor. „Herr meines Lebens, was will das Vieh?" sprach Karline indessen. Der Pudel kam zurück und tanzte vor ihrem Bette herum. Plötzlich aber wurde er salsch und knurrte und fletschte die Zähne, und wie sie in Angst das Tier ansah, da hatte der Pudel ganz das Gesicht der Frau Konrektor, und das sah so recht wehleidig zornig aus; plötzlich sing er an zu reden, und so recht vorwurfsvoll kam es heraus: „Ach, Karline, an seiner Unterziehjacke sind ja zwei Knöpfe abgerissen, und du hast sie nicht angenäht!" — „Ach, Frau Konrektor," erwiderte Karline beklemmt, „nehmen sie's nicht übel, aber ich hab's gewiß und wahrhaftig nicht gesehen, und ich will sie ja auch annähen." — Da wurde die Frau Konrektor wieder freundlich und tanzte so recht übermütig in der Kammer herum, als Pudel, und Karline dachte: „Was macht doch die Frau Konrektor für närrische Sprünge; das hätte sie bei ihren Lebzeiten nicht getan!" — „O, ich kann's noch viel besser," sagte der Pudel, und — schwapp, saß er auf Karlinens Bett und seiltänzerte auf der Bettkante herum, als ob er's extra gelernt hätte. Aber Karlinen wurde immer bänglicher zu Mute, je näher das Tier kam — denn das Gesicht der Frau Konrektor hatte er abgelegt, und es war wieder ein ganz gewöhnlicher Pudel, wie alle Pudel. — Als er nun gar mit seiner feuchten Schnauze sich über sie beugte und an ihrem Gesichte herumschnupperte, da war es ihr, als ob sie um Hilfe schreien müßte; aber die Brust war ihr wie zugeschnürt und sie brächte keinen Ton heraus. Das schien denn doch den Pudel zu erbarmen, und er nahm wieder die Gestalt der Frau Konrektor an; sie setzte sich auf den Bettrand und sagte mild: „Karline, ängstige dich doch nicht, ich bin's ja!" Da ergriff diese die Hand der Dasitzenden und erwiderte mit eindringlicher Bitte: „Ach Gott, Frau Konrektor, tun sie mir den einzigen Gefallen 33 und kommen sie nicht wieder als ein Pudel!" — Da lachte die Frau so recht freundlich, wie sie dies bei Lebzeiten wohl getan hatte, aber sagen tat sie nichts mehr, und plötzlich — wachte Karline auf, und die Dämmerung drang eben durch das Fenster. Jäh richtete sie sich auf und sah in der Kammer umher. Alles hatte seine gehörige Ordnung und war nichts zu sehen. „Gott sei Dank!" flüsterte sie und legte sich noch für eine kurze Zeit auf die andere Seite. Auch der Herr Referendar hatte eine unruhige Nacht. Es träumte ihm, er säße aus seiner Gerichtsstube, und vor ihm lagen gewaltige Aktenstöße. Auf einem derselben las er immer und immer wieder, und die Frakturbuchstaben schienen immer größer zu werden: „Bagatellprozeß des Rittergutsbesitzers, Amtmanns Kuno von Schauerstein, gegen die unverehelichte Karoline Braun wegen Forderung von 3 Talern 27 Silbergroschen und 2 Pfennigen." — Ja, es stand richtig da. Und der Referendar grübelte und sann: Wofür Karline das nur schuldig geworden sein mag? Da ging die Tür der Gerichtsstube auf, und dröhnenden Schrittes trat der Amtmann Wiede- mann aus Werna herein, aber er sah ganz aus wie Kuno von Schauerstein. Auf dem dicken Haupte saß eine hohe Mütze mit einer langen Troddel, die beim Gehen hin und her baumelte. Um die Schulter hatte er das knallrote Umschlagtuch seiner Frau geworfen, was ihm ein infernalisches Aussehen gab. „Holla!" rief Wiedemann - Kuno so recht aus vollem Halse. „Holla! Wie steht's mit meinem Prozeß?" und blickte den Referendar durchbohrend an. „Ja," entgegnete der Referendar kleinlaut, „hier haben sie ja nicht angegeben, hochedler Herr Ritter von Schauerstein auf Drachenfels, wofür Karline ihnen besagte Summe von 3 Talern 27 Silbergroschen und 2 Pfennigen schuldig geworden s 34 ist." — „Das wissen sie nicht? Und sie wollen königlich preußischer Referendar des Landesgerichts zu Ellrich sein? Ha, ha, ha !" lachte er schauerlich, daß es den Referendar kalt überlief. Dann trat er diesem näher, blickte ihn mit unheimlich funkelnden Augen an und schrie: „Das ist für die Butter und die Eier und die Käse, die das alte Wurm aus meiner Wirtschaft bekommen hat und die sie" — hier sah Wiedemann-Schauerstein noch fürchterlicher aus — „die sie gegessen haben. Die borgt für sie und füttert sie und" — diese Worte kamen recht höhnisch heraus und er maß den sprachlos gewordenen Referendar mit den Augen von oben bis unten — „und dabei bleibt er dürre zum Anbrennen !" Und nun machte Wiedemann - Schauerstein allerhand drohende Gestikulationen, so daß dem armen Referendar immer banger und ängstlicher zu Mute wurde, und wer weiß, was noch geworden wäre, wenn nicht die liebe Sonne ein Einsehen gehabt und ihren ersten Morgenstrahl dem Referendar ins Gesicht gesandt hätte, daß er erwachte, in Angstschweiß gebadet. Spät, stand er heute auf und setzte sich in gedrückter Stimmung in seinem Geblümten zu dem Morgenkaffee, den Karline hereinbrachte. Als diese dann so recht mütterlich sorgend ihm alles zur Hand stellte, da wurde er fast weichmütig. Sie aber machte sich in der Stube zu schaffen, während er Kaffee trank, und fragte dann zögernd: „Ach, Herr Referendar, 's ist zwar schenierlich gleich früh beim Kaffeetrinken, aber ich muß sie doch fragen: Sind — sind an ihrer, mit Respekt zu sagen, Unterzieh- jacke vielleicht Knöpfe los?" „Nein, Karline," beeilte sich der Referendar zu erwidern, „das ist nicht der Fall, du — du sorgst ja für alles!" Und er wurde bei diesen Worten verlegen, denn 35 er dachte an Wiedemann - Schauerstein, und was ihm dieser die vergangene Nacht vorgehalten hatte. Karline aber atmete erleichtert auf, ging hinaus in die Küche, und während sie den zweiten Kaffeeabguß bereitete, sagte sie leise vor sich hin: „Da hat sich die Frau Konrektor doch geirrt!" Als die Zeit der Bürostunden gekommen war, trat Karline wieder in die Stube. Der Herr Referendar hatte seinen Geblümten abgelegt und bereits Chemisette und Kragen umgebunden. Karline eilte herbei, wischte die Hände, welche etwas feucht sein mochten, an der Küchen- schürze ab und holte aus der Kommode die hohe, steife Halsbinde, um sie kunstgerecht um den Hals des Herrn zu legen. Der Referendar stellte sich vor den Spiegel, Karline griff mit der einen Hand nach der hölzernen Fußbank, setzte sie hinter die lange Gestalt ihres Herrn, kletterte hinauf, und während der letztere seine Vatermörder gerade richtete und bis zu der entsprechenden Höhe emporzog, so etwa bis zur Gegend der Nasenspitze, umfing die Binde den langen Hals. „Sagen sie's, Herr Referendar, wenn's genug ist!" sagte Karline, als sie das eine Ende der Binde in die Schnalle des andern Endes gesteckt hatte und nun anzog. Das geschah; Karline befestigte das überstehende Binden- ende mit einer Stecknadel, damit es nicht über den Kragen des Frackes sich hinausschiebe, was zu ihrem Kummer doch zuweilen geschah, wenn er in der Hitze der Amtsgeschäfte die Stecknadel verlor; und nun half sie noch beim Anziehen der Weste und des Frackes. Den Stock, den schon der Herr Konrektor getragen, holte sie auch herbei, und als der Herr Referendar Komplet da- stand, entließ sie ihn mit ihren stillen Segenswünschen. Doch er zögerte, als er die Schwelle der Stubentür überschreiten wollte. Verwundert blieb auch Karline stehen. 3* 1 — 36 — „Sag' 'mal, Karline," und er blickte wie in Gedanken verloren durch die Tür. „Du nimmst wohl die Butter immer noch von Wiedemanns?" „Ei freilich, Herr Referendar!" erwiderte Karline fast gekränkt. „Das ist doch immer die beste Rittergutsbutter, und eine andere setzte ich ihnen doch gewiß nicht vor." „Ja! Hm! Aber! Nicht wahr, wir sind doch Wiedemanns nichts schuldig?" „Gott soll mich bewahren, Herr Referendar, was denken sie denn? Ich und schuldig bleiben? Nee, Herr Referendar, was würde da wohl die Frau Konrektor selig sagen, wenn sie noch lebte! Karline bleibt nichts schuldig, schon um der Frau Konrektor willen. Warum.. ?" Der Referendar ließ sie nicht ausreden. „Ach, ich meinte man ... ich weiß ja . . . Na, adieu, Karline!" Und leicht ging er durch den Hausflur und zur Tür hinaus. Karline schaute ihm durch das Fenster gedankenvoll nach. „'s ist doch ein hübscher Mann, unser Herr Referendar!" sprach sie vor sich hin. „Aber — schuldig bleiben? Und bei Wiedemanns? Ja, ja, er ist immer auch ein bißchen wunderlich; aber das hat er von seinem gelehrten Vater, der war auch so, und das kann man ihm nicht übel nehmen. — Nee, Frau Konrektor, Gott bewahre mich, ich nehm's ihm nicht übel."

2. Kapitel

Eins Tuchmacherfamilie. — Wie man in den neuerworbensn Landesteilen zum Patriotismus erzieht und was das für Folgen hat. — Wie der Landssgsrichtsrat Weimar die Pascher*) behandelt. — Eine Frau, die beim Tode ihres Mannes nicht einmal weint, und ein Dsfsrsndar, welcher Gesichter schneidet. — Karline und die Frau Konrektor, da sie noch lebte. — Nachtwächter Demut und Herr Engelmann.

  • ) Schmuggler.

einem kleinen, einstöckigen Hause am Tore wohnte zu derselben Zeit, als das im vorigen Kapitel Erzählte geschah, eine arme Frau mit ihrem Sohne. Das heißt, sie wohnte in der Stube rechts vom Eingänge, oder lag vielmehr da, denn sie war seit zwei Jahren an den Füßen gelähmt und an das Bett gefesselt. Ihr Sohn, welcher Zimmermann war, und infolge dessen viele Tage, ja oft Wochen nicht zu Hause, hatte die Giebelstube inne, zu welcher eine schmale hölzerne Treppe vom Hausflur führte. Links im Hausflur befand sich noch eine Stube, in welcher für vier Taler jährlich Herr Engelmann, ein Student der Theologie, jetzt Schreiber und Winkeladvokat, wohnte und schrieb. Sie, die Frau Mehmel, war schon seit vielen Jahren Witwe; er, der Herr Engelmann, war noch nicht ganz Witwer; seine Frau hatte sich von ihm bloß getrennt, weil er, ihrer Meinung nach, nicht für sie paßte, und sie bekümmerte sich seitdem nicht mehr um ihn, mochte er sterben oder verderben. Daher sah es denn bei ihm auch meistens aus, wie überall, wo keine Frau ist, das heißt, unordentlich und unsauber, während in der 38 Stube der kranken Frau die größte Reinlichkeit ihre ganze Anmut ausgebreitet hatte, so ärmlich auch das Mobiliar war, das in der Stube stand. Der eichene Tisch und die Holzstühle waren blank gescheuert, die Stube sauber gefegt und schön mit Sägespänen ausgestreut. In der einen Ecke stand ein Schränk zur Aufbewahrung der mannigfaltigsten Sachen, welcher grün angestrichen und in den Feldern bunt mit Rosen bemalt war, während in der Ecke gegenüber das Bett stand, in dem die Kranke lag. Dasselbe war mit blau- und rotgestreiften Linnen überzogen. Vor dem Bette befand sich eine Lade, ebenfalls grün angestrichen, welche zugleich als Tisch diente, denn auf ihr stand für die Kranke alles, was sie brauchte, auch das Glas Wasser und der Krug, und die Brotrinde, die dem Wasser beigegeben wurde, um es genießbarer und „kräftiger" zu machen. Es wäre hier wohl nicht alles so in Ordnung gewesen, wenn sie nicht zwei dienstbare Geister gehabt hätte, die kranke Frau, welche unverdrossen und unaufgefordert das Stäbchen besorgten und ihr jede Hilfe angedeihen ließen, deren sie bedurfte. Diese waren Karline, die mit der Frau Geschwisterkind war, und Nachbars Dortchen, des Nachtwächters Demut Tochter. Letztere war der Kranken zugetan fast wie eine Mutter. Das war auf folgende Art gekommen. Dortchens Mutter war früh gestorben. Da hatte sich denn Frau Mehmel der Waise angenommen und hatte sie gelehrt, wie sie sich ihrem Vater, dem wunderlichen, aber braven, alten Nachtwächter Demut nützlich machen könne. Das kleine Mädchen war ein aufgewecktes Kind, das rasch begriff und bald verstand, zu Hause alles so zu ordnen, daß der Alte seine Freude daran hatte, die er denn auch überall aussprach. „Wissen sie, Frau Nachbarin, das hat sie von mir, 39 diese Adrettigkeit und diese Propertee; denn g'rade so bin ich immer gewesen. Und wie ich Soldat wurde, unter dem alten Fritz — wissen sie, damals, wo der Siebenjährige losging — und ich war ausexerziert, da sagte mein Hauptmann zu mir: Demut, sagte er, er ist der properste Soldat von meiner ganzen Kompagnie, sagte er. — Zu Befehl, Herr Hauptmann, sagte ich, und stand da, stramm, und keine Muskel rührte sich. Und das Putzen, Frau Nachbarin, das hat sie auch von mir geerbt. Im Putzen, sehen sie, da war ich Mater*). Mein Gewehr, da mußte alles daran blitzen, bis auf die Schnallen am Gewehrriemen. Sehen sie, Frau Nachbarin, das ist so 'ne Sache, da denken die meisten Kerls, darauf kommt es nicht an. Ah kongträhr **), wohl kommt es darauf an. Denn die Schnalle ist ein Teil des Gewehres. Wenn aber ein Teil des Gewehres nicht in Ordnung ist, nach § 13 der Instruktion, dann kann man sich auf das Gewehr nicht mehr verlassen, und steht man dann vor dem Feinde, ja, prosit die Mahlzeit, dann versagt's. Nun können sie sich wohl denken, warum die Schnallen geputzt sein müssen. Verstehen sie, Frau Nachbarin?"

  • ) lomtrs — Meister.
    • ) au eolltrsiro.

„Ach, was verstehe ich von ihrem Soldatenkram!" hatte sie dann geantwortet. „Freilich," erwiderte er dann so etwas von oben herab, „das ist nichts für Weiber." Dortchen wurde aber nicht nur ein tüchtiges Mädchen, die ihres Vaters Wirtschaft zusammenhielt, sie war auch ein hübsches Mädchen geworden, ein echtes Harzerkind mit den wasserblauen Augen, der kleinen, geraden Cheruskernase, den flachsblonden Zöpfen und 40 dem roten, etwas aufgeworfenen Munde, hinter dessen Lippen sich zwei Reihen Zähne, wie Elfenbein so weiß, zeigten. Das Schicksal hatte die kranke Frau Mehmel schwer heimgesucht. Sie war mit einem Tuchmacher verheiratet gewesen. Damals war das Tuchmacherhandwerk noch im Flor, und in dem Orte blühte es besonders. Ueber- havnt bildete Ellrich damals die Handelsmetropole der umliegenden Dörfer und Städtchen vom Harze und unterm Harze, ein Abglanz aus der Zeit, wo es eine wirkliche Hauptstadt gewesen war, nämlich die Hauptstadt der Grasschaft Hohnstein. Seit dem Aufhören derselben war es erst sächsisch, dann preußisch geworden, während in den übrigen Teil der früheren Grafschaft nach dem Harze zu sich Hannover und Braunschweig geteilt hatten. Aus alter Gewohnheit kamen aber ungeachtet dieser verschiedenen „Staatsangehörigkeit" die Leute vom Harze immer noch nach Ellrich und kauften dort ihre Bedürfnisse ein und fragten viel danach, ob das alte Ellrich nun „Ausland" geworden war oder nicht, und den Neu- preußen schmeckte die hannöverische und braunschweigische Harzbutter noch ebenso gut, wie ihren Vorfahren, den Nichtpreußen, respektive Hohnsteinern, und sie kauften sie gern. Die Stadt stand sich nicht schlecht dabei, denn Handel und Gewerbe blühte, und es war ein eigenartiges Leben in der kleinen Stadt von ungefähr viertausend Einwohnern. Aber das sollte nicht immer so bleiben. Die unsichtbaren Grenzen der verschiedenen Herrschaftsgebiete waren durchaus nicht geeignet, in den „neu erworbenen" Landesteilen an den spezifisch braunschweigischen, hannöverischen und preußischen Patriotismus zu erinnern und ihn zu pflegen. Deshalb kamen erfinderische Köpfe in der Regierung auf den Gedanken, diese „Grenzen" 41 den jeweiligen Ausländern recht sichtbar und fühlbar zu machen. Und das gelang ihnen denn über die Maßen. Bald sah man auf allen Wegen, die vom Preußischen ins Ausland, das heißt in die nachbarlichen braun- schweigischen und hannoverischen Dörfer führten, da, wo die Grenze war, Schlagbäume aufgerichtet, schön bunt in den jeweiligen Landesfarben bemalt, daneben kleine Häuser, niedlich eingerichtet, aus denen von früh bis spät irgend ein alter Graubart schaute, der, wenn die vorbeigehenden Leute ihr „Guten Morgen!" oder dergleichen anbrachten, immer nur die eine Frage hatte: „Was Steuerbares?" Der alte Graubart war dazu sehr neugierig und untersuchte Körbe und Kiepen und sogar die Taschen. Die kleinen Zettel, die dann für das, was der Mann als „steuerbar" erklärte, den Leuten gegeben wurden, mußten sie mit Pfennigen und Groschen bezahlen; nachher hatten die Zettel aber keinen Wert mehr. Die Leute konnten den „höheren" politischen Zweck, den die Regierungen mit dieser Einrichtung erreichen wollten, nicht einsehen. „Was haben wir auch noch zu bezahlen, wenn wir für unser gutes Geld unsere Ware gekauft haben und sie nach Hause tragen wollen? Und jede Wurst und jedes Stück Fleisch soll man sich von diesen Leuten anfassen und beschnüffeln lassen? Wir brauchen ja nicht bei ihnen vorbei zu gehen." Und es fanden sich bald Leute genug, die auf „anderm Wege" die gekauften oder ungekauften Waren über die Grenze brachten. Aber die Grenzjäger, deren es eine Menge gab und die scharf aufpaßten, waren für solche Leute gefährlich. Denn wenn sie einen oder den andern erwischten, der etwas „Steuerbares" bei sich hatte, so führten sie ihn vor das Amt, und da gab es Prozesse 42 über Prozesse wegen „Steuerdefraudation," so nannte man das. Hatten die Gerichtsherren vordem gute Zeit gehabt, und der Landesgerichtsrat Weimar hatte zu Hause sein Steckenpferd, die Drechsele!, für welche er in seinem Hause sich eine Werkstatt eingerichtet hatte, reiten können, während der Herr Referendar Schmaling manchen Vormittag seine juristische Bildung durch das Studium eines Cramerschen Schauerromans vervollständigte, so war das jetzt anders geworden. Die Herren hatten „zu tun" bekommen. Der Landesgerichtsrat hatte zu „inquirieren," um den „Tatbestand", festzustellen, worauf das Urteil zu begründen war, und der Herr Referendar hatte den festgestellten Tatbestand zu „protokollieren." Aber sie befanden sich beide nicht wohl dabei. Denn der Herr Landesgerichtsrat Weimar war ein menschenfreundlicher Herr, der seit vielen Jahren in Ellrich war und Kind und Kegel kannte, den die Leute lieb hatten, weil sie wußten, er meinte es gut mit ihnen, obgleich er zuweilen rauh gegen sie war, ja dann vielleicht erst recht. Einst, als der Referendar beim Rat in der „Ratsstube" saß, trat der Gerichtsdiener Köhler herein und meldete: „Herr Landesgerichtsrat, der Grenzjäger Schnuff- lowsky ist draußen mit einem Arrestanten und bittet, vorgelassen zu werden." Da antwortete er grimmig: „Soll warten !" Dann sagte er vor sich hin: „Haben diese verfl.... Grünröcke wieder 'mal so'n armen Teufel erwischt !" Laut fügte er dann hinzu: „Herr Referendar, machen sie sich fertig zum Protokollieren !" Als dieser dann damit zu stände war, klingelte er und befahl dem eintretenden Diener: „Führt den K..., den Grenzjäger mit seinem Arrestanten vor!" Nun legte er sein Gesicht in so bitterböse Falten, als ob gar kein Mit43 leid in seinem Herzen wäre und inquirierte scharf und fuhr den armen Teufel an, daß er ganz verwirrt wurde und keine Ausflüchte machen konnte. Der Grenzjäger aber dachte: „Der Herr Rat weiß die Kerle zu kuranzen*), daß es nur so eine Art hat, der versteht es."

  • ) zurecht zu setzen.

Dann sagte der Rat zum Referendar: „Schreiben sie, Herr Referendar, daß Inkulpat sein Vergehen gegen Paragraph soundsoviel des Steuergesetzes soundso reumütig bekennt." „Ach Gott, ja, Herr Landesgerichtsrat." „Reumütig bekennt," fuhr der Rat fort. „Ihr habt wohl nicht gewußt, daß ihr zu versteuern hattet?" „Ach, Gott, nein, Herr Landesgerichtsrat." „Und," fuhr der Rat wieder zu dem Referendar fort, „Mit Rücksicht auf seine i^noralltia in IsZ-ibus um die mildeste Strafe bittet." „Nicht wahr, ihr bittet doch darum?" „Ach Gott, ja, Herr Landesgerichtsrat." „So, Herr Referendar, nun: Vorgelesen, genehmigt, unterschrieben, dann scwm ur supra und," setzte er seufzend hinzu, „meinen Namen." Damit war dann die Verhandlung geschlossen. Diese Erziehung zum Spezial - Patriotismus brächte es richtig soweit, daß die Grenzen respektiert wurden. Die Hannoveraner hielten sich mehr zu sich, ebenso die Braunschweiger und Preußen. Die letzten, also die Bewohner von Ellrich, waren am schlimmsten daran, da der Ort mit einigen kleinen Dörfern eine Enklave war und rings von braunschweigischen und hannöverischen Gebietsteilen umschlossen. Handel und Wandel stockte, und die 44 Straßen, sonst, namentlich an Sonnabenden und Sonntagen, belebt von den Bewohnern der umliegenden Orte, verödeten mehr und mehr, und für den Graswuchs in den Straßen war das nicht unvorteilhaft. Dagegen wurde der nächtliche Verkehr über die Grenzen ein reger, und namentlich, wenn es recht schlechtes Wetter und der Himmel finster war, gingen oft schweigsame Männer mit großen Ballen auf einsamen Wegen durch die Buchen- und Eichenwälder und über die Berge, und was sie trugen, war leicht zu erraten. Die Grenzjäger paßten auf und suchten die nächtlichen Spaziergänger kennen zu lernen. Dann und wann gelang es ihnen auch, und dann war das Unglück fertig, denn die Strafen waren streng. Aber das Verbotene und Heimliche hat einen besondern Reiz, und da hier auch noch ein besonderer Vorteil dabei zu erlangen war, so gab es bald eine Menge Leute, die sich dies nächtliche „Rüder und Nüber" so angewöhnten, daß sie es nicht mehr lassen konnten. Das Volk, das nun einmal die Grenzjäger nicht leiden konnte, nahm Partei für die Pascher und sie wurden überall begünstigt. Da hatte denn einmal ein Grenzjäger die Aeußerung getan, sie würden, wenn die Pascherei *) überhand nähme, etwas mehr Gebrauch von ihren Büchsen machen. Diese Aeußerung kam wie ein Lauffeuer herum, und die Folge davon war, daß die Pascher sich „organisierten," sich mit Gewehren versahen, um sich ihrer Haut zu wehren oder Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Schmuggelei, Schmuggel. So war denn die Sache, die doch nur zum Besten der verschiedenen Vaterländchen eingerichtet war, auf einen recht netten Standpunkt gekommen. Um die Zeit, wo dies geschehen war, hatte der Tuch45 macher Wilhelm Mehmel sein einziges Sinnen darauf gerichtet, sein eigenes Heim, das er sich aus eigener Kraft geschaffen, so behaglich als möglich zu machen. Er war schon lange vorher mit seinem Iettchen einig gewesen, daß diese seine Hausfrau sein sollte. Nachdem er sich glaubte versichert zu haben, daß er sein Auskommen haben würde, und die wohlhabenden Tuchmachermeister ihm Arbeit versprochen hatten — denn er hatte ein ganz besonders gutes Meisterstück zur Ehre seiner Innung gemacht — da hatte er frisch und fröhlich geheiratet. In den ersten Jahren ging es auch prächtig. Es wurde hübsch verdient; sie lebten zufrieden miteinander, und der kleine Bube, der nach dem ersten Jahre angekommen war, hatte das Band zwischen den beiden einfachen Handwerkersleuten innig und fest geschnürt, und ihre Ehe glich dem Tuch, was Mehmel fabrizierte: von außen nicht sehr fein aussehend und grobfadig, aber dauerhaft und fest. Aber die Zollschranken brachten ihren Segen oder Unsegen, wie mans nimmt, bald in diese Familie. Eines Tages, als Mehmel eine Bestellung abgeliefert hatte, brächte er keine neue mit; und wenn auch wohl darauf wieder eine solche kam, so wurden doch nach und nach die Pausen der Arbeitslosigkeit immer größer. Da stellte sich denn bald neben die Zufriedenheit und den Frohsinn, die sich's bis dahin am häuslichen Herde recht bequem und behaglich gemacht hatten, die bleiche Sorge und verlangte auch einen Platz, und die andern beiden mußten zusammenrücken. Und dann wurde jene recht unverschämt und drückte diese, die doch ein älteres Recht hatten, so zusammen, daß sie zu wahren Schatten wurden. Wenn in den Vorjahren wohl hier und da ein Stück in die Wirtschaft, ein Stück Leinwand und dergleichen angeschafft worden war, so konnte daran von jetzt ab nicht mehr gedacht werden. Ja, eines Abends ging sogar 46 Frau Mehmel mit rotgeweinten Augen zu einer alten Frau in der Rabengasse, die allerhand Geschäfte vermittelte, und bat sie, sie möge doch die Stiege Leinwand, die sie mitbrächte, zu dem Pfandleiher Markuse tragen, damit er ihr einen oder zwei Taler darauf leihe; aber er möchte sie ja recht in acht nehmen, daß keine Rostflecken oder wohl gar die Motten hinein kämen und sie sie ohne Schaden wiederbekommen könnte. Ja, ja, wieder holen! Das ist für solche Leute schwerer als hingeben. Das erste Stück, das diesen Weg geht, zieht in der Regel andere nach, und sie kommen alle nicht wieder; und woran das Herz gehangen und woran man seine Freude gehabt hat, geht dann unter Lachen und Scherzen für einen Spottpreis in andere Hände. Auch Frau Mehmel mußte diesen sauren Gang noch öfter wiederholen, bis sie nichts mehr hin zu tragen hatte. — Aber der Mann? — Der hatte seinen Handwerkerstolz bald aufgeben müssen und hatte anderwärts nach Arbeit gesucht, um Frau und Kinder zu ernähren, aber es war ihm nicht geglückt. Es gab ja auch so viele, die in gleicher Lage waren, und da war die Anfrage nach Arbeit größer als das Angebot. Da saß er denn zu Hause und sah seinen Webstuhl so recht ingrimmig an, als ob der Schuld daran wäre. Die Not aber wurde von Tag zu Tag größer. Was tun? Was anfangen, um den nötigen Lebensunterhalt zu gewinnen? Da kam der Versucher. Geht's durchaus nicht auf redliche Weise, dann wird es anders gemacht. Sollen Frau und Kind hungern, bloß um ein ehrlicher Mann zu bleiben? — Wer ist daran schuld, daß die Arbeit nicht mehr geht und auch beim redlichsten Willen nichts zu verdienen ist? „Die Grünröcke da draußen!" beantwortete er sich die Frage. „Die hemmen den Verkehr und kein Mensch kommt ehrlicher Weise mehr und kauft 47 oder verkauft." Ja, die Leute, die die „Geschäfte" machen, wie zum Beispiel der August Lüder! die arbeiten auch nicht, aber sie leben trotzdem nicht schlecht. Manchmal sind sie auf einen oder mehrere Tage verschwunden, und niemand weiß, wo sie sind, aber wenn sie wieder kommen, haben sie die Taschen voll Geld. Freilich ist es ein gefährliches Geschäft I Gefährlich? Ihre Kinder haben Brot und brauchen nicht zu hungern. Man muß es auch so machen! Das war Mehmels Gedankengang. Am Abend war Tuchmacher Mehmel bei August Lüder. Lange saßen sie beisammen und sprachen leise. Mehmel schüttete sein ganzes Herz aus und klagte seine verzweiflungsvolle Not dem ehemaligen Schulkameraden. Dieser versprach ihm zu helfen, wenn er Kourage habe. — Die hätte er wohl, hatte Mehmel gesagt, und jetzt sei ihm alles gleich, denn Weib und Kind könne er nicht verhungern lassen. — Wenn er so denke, hatte darauf Lüder geantwortet, dann würde sich alles machen, dann möchte er nur nächsten Dienstag auf den Teichdamm kommen. Aber er solle seiner Frau nichts sagen und solle sich auf die Nacht einrichten. Der Teichdamm war ein Wirtshaus außerhalb der Stadt, an einem großen Teiche, dem Frauenbergsteiche, gelegen. Mehmel ging nach Hause und legte sich zu Bett. Aber der Schlaf wollte heute nicht kommen. Er hatte einen Schritt getan, der ihn auf eine Bahn schleuderte, ihn an Genossen kettete, die beide ihm nicht sympathisch waren. Doch was konnte es helfen? Hatte er einen andern Ausweg? Dort ruhte Weib und Kind, sein schmucker Junge, und wenn sie aufwachten, wollten sie essen; jeder fernere Tag forderte sein Recht, und er hatte nichts, gar nichts, die geringen Bedürfnisse der kleinen Familie zu befriedigen. Ja, es mußte sein! — Aber die folgenden 48 Tage konnte er doch die Unruhe nicht verbergen, die in seinem Innern war. — So ist es ja immer. Ehe der erste Schritt auf eine verhängnisvolle Bahn getan wird, ist die Aufregung immer groß, dann aber geht es in ruhigerem Tempo. Seinem Weibe fiel es auf, wie er bald hier, bald dorthin ging, daß sich in seinem ganzen Wesen eine Ge- zwungenheit kundgab, die ihr deutlich zeigte, der Mann habe etwas zu verbergen. Aber sie fragte nicht. Der Dienstag Abend kam. Heimlich ging er an den Schränk, schnitt sich ein Stück Brot ab und steckte es zu sich; auch die Schnapsflasche, obgleich leer, nahm er mit. Er glaubte, sie merke es nicht, aber wie sollte ihr verborgen bleiben, was er tat, die ihn seit ein paar Tagen nicht aus den Augen ließ? Als es dunkel geworden war, sagte er zu ihr: „Iettchen, ich gehe nach dem Teichdamme. August Lüder hat mich dahin bestellt, er will mir Arbeit verschaffen, daß ich doch wieder etwas verdiene." Da war sie an ihn herangetreten, hatte die Arme um seinen Hals geschlungen und hatte so recht schmerzlich und eindringlich gesagt: „Wilhelm, die Arbeit, die dir August Lüder verschaffen will, kenne ich wohl. Ach Gott, sage mir doch, geht es denn gar nicht anders? Denkst du denn nicht an Frau und Kind?" „Ja, Iettchen, du hast doch gesehen, daß ich überall nach Arbeit gesucht habe, und ich hätte mich keiner Arbeit geschämt, aber ich habe nirgends welche bekommen. Und weil ich eben an euch denke, deshalb geht es nicht anders, und ich muß annehmen, was August Lüder mir angeboten hat." Da ließ sie die Arme heruntersinken, ihre Augen verschleierten sich und sie wandle sich ab. Er aber ging nochmals auf sie zu und sagte: „Iettchen, 49 ängstige dich nicht. Sieh, morgen Mittag bin ich wieder da." Sie antwortete nicht, und als er Adieu sagte und ihr die Hand bot, reichte sie ihm die ihre, ohne ihn dabei anzusehen und drückte sie ihm so recht innig; aber gesprochen hat sie dabei kein Wort. Nachdem er gegangen war, saß sie in einer Ecke der kleinen Stube, wo es am dunkelsten war und schaute immer vor sich hin, und Träne um Träne rann über die einst so blühenden, jetzt bleichen und abgezehrten Wangen. Wilhelm Mehmel kam auf dem Teichdamme an. In einer niedrigen Stube, von einer Oellampe, die in der Mitte des Zimmers von der Decke herabhing, mit mattrotem Scheine erleuchtet, saßen verschiedene Gestalten, von denen ihm die meisten bekannt waren, an den Tischen in Gruppen zu zweien und dreien zusammen. Die einen spielten Karten, die anderen sprachen in halblauten Tönen hin und her. Eine dritte Gruppe saß wieder stumm da und sprach nur dem Schnapsglase zu, das herumging. Als Mehmel eintrat, suchte er Lüder. Dieser saß gesondert mit einem anderen Manne, den Mehmel nicht kannte, an einem Tische. Er ging an den Tisch heran, und auf einen Wink von Lüder setzte er sich. Nachdem dies geschehen, sagte Lüder zu dem Fremden: „Sehen sie, das ist auch so ein armes Tier," dabei auf Mehmel zeigend, „der hat seine Profession gelernt, wie nur einer. Aber was hilft's ihm denn? Wenn man arbeiten kann, muß man auch was zu arbeiten haben." Der Fremde blickte Mehmel an, erhob sich darauf gleich und sagte: „Ja, es sind schlimme Zeiten alleweile." Damit nahm er seine Mütze und einen derben Knotenstock in die Hand und ging. „Wer war das?" fragte Mehmel leise Lüder. „Das war der Oekonom Schreiber von Sülzhayn drüben, erwiderte Lüder, „das ist ein guter Mann, und 4 50 die Frau vom Teichdammwirt, die Frau Wieseler, ist mit ihm verwandt. Da kommt er denn manchmal zum Besuche hierher." Dabei blinzelte er Mehmet zu, aber dieser verstand nicht recht, was damit gemeint war. Nach und nach leerte sich die Stube und auch Lüder trank sein Bier aus, gab dem Mehmel einen Wink, beide sagten gute Nacht und gingen hinaus. Draußen war es ziemlich sinster. Lüder schlug den Weg nach der Stadt zu ein, den sogenannten Frauenbergsweg. Als sie an dem altertümlichen Tore ankamen, von welchem sich zu beiden Seiten die damals noch ziemlich gut erhaltene Stadtmauer hinzieht, die links den großen Garten der Wirtschaft zum Teichdamme von den Gärten der in der Stadt am Salzmarkte stehenden Häuser trennte, faßte Lüder den Genossen plötzlich am Arme fest und führte ihn vom Wege ab links in den Graben, dann durch eine Lücke des Zaunes in den Teichdammgarten, hier aber dicht an der Mauer in dem ehemaligen Wallgraben der früher festen Stadt entlang. Sie kamen bald an ein kleines Gartenhäuschen, das im Sommer, wenn irgend ein Fest war, von Gesellschaften benutzt wurde, die dort ungestört Kaffee oder dergleichen genießen wollten. Der Wirt hatte es für damalige Zeit recht hübsch eingerichtet, und es waren sogar Scheiben von buntem Glas darin. Als sie an dem Häuschen angekommen waren, traten plötzlich hinter den dicken Obstbäumen, die dort dicht bei einander standen, verschiedene Gestalten hervor. „Alles zurecht?" fragte Lüder leise. „Ja," war die Antwort, eben so leise gegeben und gleich darauf die Gegenfrage: „Wie stehts?" „Schreiber," flüsterte Lüder, „hat mir erzählt, die Grünen haben einen Wink bekommen, daß bei Sachswersen ein großer Transport Tuch hinübergebracht werden soll. Da ist dorthin eine große Streifpartie angesagt, und seit heute abend ist einer nach dem 5l andern nach Sachswerfen zu auf verschiedenen Wegen verschwunden, damit niemand erfahren soll, wo sie hingehen. „Hai Hai" lachte Lüder leise. „Nur der alte Rauchfuß steht bei Sülzhayn, und den kennen wir schon. Nun aber vorwärts I Je länger hier, je später dort !" Er trat mit einigen anderen in das Gartenhäuschen. Die Dielen, die scheinbar fest auf dem Boden lagen, wurden, nachdem die kleinen bunten Fenster sorgsam verhängt waren, mit einigem Hin- und Herschieben leicht beseitigt, und beim Scheine der Laterne zeigte sich darunter ein weiter Raum, eine Art Keller, in den einige der Männer sogleich hinab- sprangen. Andere ließen bereitgehaltene Stricke hinab, an denen Ballen für Ballen, zum Tragen zurechtgemacht, heraufgeholt wurden. — Nachdem alles oben war, schwangen sich die Männer mit Hilfe der Stricke von unten empor, die Dielen wurden wieder befestigt und dann traten alle hinaus zu den übrigen. Jeder bekam seinen Packen und lud ihn mit Hilfe der Tragbänder aus den Rücken. Auch Mehmel erhielt einen solchen und Lüder half ihm aufladen, wobei er ihm zuflüsterte: „Du gehst dicht hinter mir, ich gehe voran!" Und dahin gingen sie, einer hinter dem andern, voran Lüder, dann Mehmel und so fort alle die Männer. Sie gingen den Garten hinauf bis an die entgegengesetzte Ecke desselben, schweigend und so leise als möglich. Durch eine Lücke des Zaunes traten sie auf den Teichdamm, schritten quer über denselben hinweg einem schmalen Damme zu, der den Frauenbergsteich von einem anderen großen Teiche trennte und an dessen Rande zu beiden Seiten dichte Weiden standen. Von da ging es über einen Wiesen- pfad am Rande eines aus der Gegend von Sülzhayn kommenden rauschenden Baches aufwärts dem nahen Walde zu. Bald waren sie in diesem verschwunden, und das dichte Laub der hohen Buchen erzählte sich flüsternd L* 62 von den unter ihm dahinschreitenden Männern, von ihrer Not und der Gefahr, der sie entgegengingen. Daheim aber auf ihrem Lager lag schlummerlos ein unglückliches Weib und sann und sann, wo ihr Wilhelm jetzt sei, und ob er wohl durchkäme, oder ob die Grenz- jäger ihn fangen würden: O, das Unglück! Und die Schande! — Sie konnte nicht anders, sie mußte sich das ausdenken, und die Farben waren schwarz, mit denen ihre Phantasie das Bild malte. Zuletzt sah sie sogar Streit und Kampf, und da legte gerade einer der Grenz- jäger auf ihren Mann an. Sie wandte sich im Bette und stieß dabei an den davorstehenden Stuhl, der mit lautem Krach umfiel. Erschrocken fuhr sie in die Höhe, da sie im Augenblicke nicht wußte, was das war und was sie denken sollte. Ihr Knabe war von dem lautem Schlage halb munter geworden und rief: „Vater!" Dann murmelte er noch einige unverständliche Worte und schlief wieder ein. Die Mutter aber blieb im Bette sitzen; mit weit offenen Augen starrte sie in die Dunkelheit hinein. Endlich legte sie sich und gegen Morgen schlief sie ein. Unter den dunkeln Buchen gedachte ihrer ein Herz, das beim Antritt des nächtlichen Ganges stürmisch geschlagen hatte, nach und nach aber ruhiger geworden war. Hier in der Stille des Waldes, den sie lautlos durchwanderten, verglich Wilhelm Mehmel sein früheres ruhiges Leben mit dem, was er jetzt wagte, und es kam über ihn wie das Gefühl tiefen Herabgekommenseins. Dann dachte er wieder an das Geld, welches er heim bringen würde und wie er dadurch einige recht dringende Bedürfnisse befriedigen, vor allem Brot schaffen könne. Ach, und sein Junge! Vielleicht wurde doch mit der Zeit Rat wieder zu einem Paar Schuhe; er hatte nun schon immer, sogar Sonntags, barfuß laufen müssen; er, der Sohn eines Handwerkers! — Handwerkers? Was war er? 53 Pascher war er; und der ganze Ingrimm über seine Lage kam wieder über ihn. Hatte er es verschuldet? „Halt! Wer da? Steht!" tönte es kurz und scharf hinter einander in sein Ohr. Er blickte auf. Wo war denn Lüder? Er wandle sich um. Die eben noch hinter ihm gegangen waren, auch fort! Ins Holz! war sein nächster Gedanke, und er bog seitwärts in die Bäume. Aber bereits hatte es zum zweiten und zum dritten Male: Halt I gerufen, und als er eben den Weg verlassen wollte, da krachte ein Schuß unweit von ihm, und mit dem Aufschrei! „Ach, du lieber Gott!" stürzte Mehmel beim zweiten Schritte zusammen. Die Pascher waren wie auf Kommando beim ersten „Halt" links vom Wege in den Schutz der Bäume gesprungen und da von Deckung zu Deckung den Berg hinan; und als der Schuß krachte, dachte keiner daran, daß einer von ihnen getroffen sein könnte; dazu standen die Bäume zu dicht bei einander, auch waren sie, an solche Wege gewöhnt, rasch vorwärts gekommen; jeder war mit sich beschäftigt, und so war auch der leise Aufschrei Mehmels nicht gehört worden. Erst als der Tag graute und die Pascher auf weiten, ihnen aber bekannten Umwegen sich wieder zusammengefunden hatten, vermißte man Mehmel, und Lüder wurde unheimlich zu Mute. Er dachte zumeist daran, daß der Vermißte, gefangen genommen und eingeschüchtert, die andern verraten könnte. — Mehmel aber verriet niemanden mehr. — Die aufgehende Sonne beschien sein bleiches Gesicht mit den starren, halboffenen Augen und spiegelte sich in dem betauten Moose, das rings um den Toten mit dessen Herzblute gefärbt war. Die Nachtigall war schon vor der Sonne neugierig herbeigekommen; von Zweig zu Zweig hüpfend, hatte sie ihre schmelzendsten Lieder von Liebe und Sehnsucht gesungen, um den Schläfer zu wecken, 54 aber er wachte nicht auf. Da kamen Fink und Drossel. Als die den Mann da liegen sahen, schimpften sie ärgerlich über den Störenfried, und es war ein Heidenlärm dort am Wege; aber der Mann kümmerte sich nicht mehr darum. Nachher kamen Hase und Neh, die schnupperten in die Lust, als sie ihn von weitem liegen sahen; die Hasen machten Männchen dazu und die Rehe schüttelten verwundert die Köpfchen, aber heran trauten sich die Tiere nicht. Bald kam ein alter Rehbock, der witterte eine Weile, dann brummte er, das klang wie: „Blut!" wandte sich und floh in mächtigen Sprüngen über den Berg, alle anderen Tiere hinterdrein. Da war es wieder recht einsam auf dem Flecke und bei dem Manne geworden. — Am anderen Morgen war seine Frau aufgestanden, hatte den Kaffee gekocht und dann ihren Buben geweckt zum Waschen und Anziehen. Darauf hatten sich beide hingesetzt zum Kaffeetrinken, der Knabe hatte verwundert gefragt, als er nur zwei Tassen auf dem Tische stehen sah: „Mutter, wo ist denn der Vater?" „Er ist ausgegangen, kommt aber bald wieder," beschwichtigte sie das Kind. Aber ihr wollte der Kaffee nicht schmecken, und das Stück Schwarzbrot, was sie sich abgeschnitten hatte, blieb unberührt vor ihr liegen. Dabei sah sie gedankenvoll vor sich hin. Es gingen Leute vorbei auf die nahen Felder zum Tagewerke; sie blieb abseits vom Fenster sitzen. Ihr Knabe war hinausgegangen zu spielen, sie kümmerte sich nicht darum. Was sollte sie "uch tun? Mittagbrot anrichten? Sie hatte nicht viel anzurichten; und dann war er ja auch nicht da. Endlich erhob sie sich und ging hinauf auf den Boden. Von der obersten Luke aus konnte sie weit das Feld nach Sülzhayn übersehen. Hier setzte sie sich, stützte den Kopf in die Hand und schaute unverwandt nach den Wegen, 55 die von dorther kamen. Sie hatte nicht lange gesessen, da löste sich dort vom Waldessäume eine Gruppe. Menschen waren es, die etwas trugen. Ihr scharfes Auge erkannte eine Tragbahre, an der hinten und vorn ein Mann ging; was darauf war, konnte sie nicht erkennen, aber sie schien es zu fühlen. Krampfhaft faßte sie nach der Brust. Geisterhaft bleich, mit trockenen brennenden Augen erhob sie sich und stieg die Treppe hinunter. Sie ging in die Stube und von da in die Kammer. Lange stand sie hier wie abwesend. Dann trat sie an das unberührte Bett ihres Mannes und deckte es auf. Das Betttuch strich sie glatt, daß kein Fältchen darin war, und die Kopfkissen legte sie, nachdem sie sie von frischem aufgeschüttelt hatte, so, wie sie wußte, daß er es gern hatte, nicht zu hoch und nicht zu tief. Dann stellte sie sich an das Fußende des Bettes, erfaßte die beiden nach oben hervorstehenden Eicheln der Bettpfosten und schien zu lauschen. Endlich Geräusch auf den Straßen, Hin- und Herlaufen, Ausrufe des Schreckens, des Bedauerns, des Mitleids, auch wohl ein Fluch. Sie stand und klammerte sich fest an das Bett, ohne den Blick von diesem wegzuwenden. Da wurde die Stube geöffnet, und die Männer trugen ihn hinein, bedeckt mit einem Tuche. Als sie aber die Kammertüre offen sahen und das zurechtgemachte Bett, vermuteten sie, man sei hier schon von allem unterrichtet und vorbereitet, und sie trugen den Toten in die Kammer und legten ihn auf das Bett. Wie sie das Tuch abnahmen, und sie sah das Totenantlitz und die blutigen Kleider, da schloß sie wohl für Augenblicke die Augen, und es schien, als wolle sie zusammenbrechen, so daß einer der Männer herzu- sprang, sie zu stützen; aber dies war nicht nötig; sie hatte es überwunden. Darauf winkte sie den Männern hinaus- 56 zugehen, und mit diesen auch den zur vorderen Türe neugierig Hereinschauenden. Dann schloß sie die Stuben- türe, nahm einen Stuhl, setzte sich an das Bett, faßte die Hand des Toten in ihre beiden Hände und schaute ihm unverwandt in das Gesicht, das für sie immer so freundlich gewesen war, nun aber kalt und starr.------------------- Der Herr Landesgerichtsrat war an demselben Morgen wie gewöhnlich früh aufgestanden, hatte im Morgenschlafrock seinen Spaziergang durch den Garten gemacht und war dann in seine Drechslerwerkstatt gegangen, ein kleines Stübchen vorn nach der Straße hinaus, das eine Drehbank und die verschiedensten Arten von Instrumenten, wie sie die Drechsler gebrauchen, enthielt. Dort arbeitete er früh gewöhnlich eine Stunde, ehe er den Kaffee und das Frühstück mit seiner Frau nahm, die immer etwas später als er aufstand. Nach dem Frühstück las er die eingegangenen Sachen, zog sich dabei langsam an, um auf das Gericht zu gehen, wo er dann zwischen neun und zehn Uhr eintraf. Als er heute in seine Werkstatt eingetreten war und kaum angefangen hatte eine niedliche Kugel für sein Enkelchen zu drehen, bemerkte er, wie der Polizeidiener Pfeifer drüben an der anderen Seite der Straße vorbeiging und immer nach seinem Hause herüber- sah. Der Rat tat, als bemerke er es nicht. Bald darauf kehrte der Mann um und promenierte zum zweiten Male in derselben Weise vorbei. — „Wenn du denkst, ich soll aufsehen und mir partout deinen .Schön go'n Mor'n' ins Gesicht werfen lassen, dann irrst du dich!" sagte der Rat vor sich hin. — „Nein, da hört doch die Weltgeschichte auf; kommt der Mann zum dritten Male vorbei! Was hat denn der? Hat den der Bürgermeister vielleicht geschickt, um mein Haus zu beobachten oder abzumalen?" — Als aber Pfeifer seine Promenade nicht einstellte, da war das dem alten Herrn doch außer dem 57 Spaße. „Wahrscheinlich so ein nichtssagender Auftrag, den der Kerl nicht früh genug los werden kann, sonst vergißt er, was er hat sagen sollen." Damit warf er ärgerlich den Meißel aus der Hand, ging hinaus, rief Friederike, die Köchin, und sagte zu ihr: „Ricke, geh doch mal hinaus vor die Türe, da geht der Polizeidiener Pfeifer immer auf und ab, frage ihn doch mal, ob er hier vor meinem Hause was verloren hätte !" Friederike ging, kam aber gleich zurück und berichtete: „Der Polizeidiener bittet gehorsamst, einen Auftrag des Herrn Bürgermeisters ausrichten zu dürfen." — „So früh schon? — Dachte mir's doch. Na, dann laß den närrschen Kerl hereinkommen, dann muß ich doch seinen .schön' go'n Mor'n' jetzt schon hören." Pfeifer trat ein. „Wünsche gehorsamst schön' go'n Mor'n, Herr Landesgerichtsrat I Der Herr Bürgermeister läßt anfragen, ob der Herr Landesgerichtsrat nicht mit dem Herrn Referendar in das Mehmelsche Haus vor dem Wernaer Tore kommen wollten, und um welche Zeit. Diesen Morgen ist der Tuchmacher Mehmel von zwei Einwohnern von Slllzhayn hereingebracht worden, aber tot, weil ihn die Grenzjäger erschossen haben. Und dann soll ich auch den Herrn Kreisfiskus *) Doktor Kleekamm bestellen zur Untersuchung, wenn der Herr Rat genehmigen."

  • ) Statt PhylikuS.

„Was sagt ihr? — Mehmel? — Erschossen? — Pascher?" „Ja wohl, Herr Landesgerichtsrat," entgegnete Pfeifer, „und die Frau hat nicht einmal geweint, als sie ihn gebracht haben." „Mehmel", sagte der Rat vor sich hin, „also auch der! Auf den hätte ich Häuser gebaut. — Sagen Sie dem Herrn Bürgermeister," fuhr er im Amtstöne fort, „in einer 58 Stunde wäre ich an Ort und Stelle ; ich ließe ihn bitten, mit beizuwohnen, und bestellen sie auch den Herrn Kreis» physikus !" „Ich werde den Herrn Fiskus sogleich bestellen. Schön' go'n Mor'n, Herr Landesgerichtsrat! Untertänigster Diener." Und der kleine Pfeifer ging. Der Rat aber promenierte nun trotz Pfeifern auf und ab, aber in seiner Stube, bis die Frau Rat hereintrat, ihn zum Kaffee zu bitten. „Guten Morgen, lieber Weimar!" „Guten Morgen, Manschen !" — „Hast du gut geschlafen?" — „I ja, es geht so." — „Der Polizeidiener Pfeifer hat dich so früh gestört, der hätte doch auch aufs Gericht später kommen können." — „Das hätte er wohl tun können, es wäre immer noch früh genug gewesen." — „Er hat dir wohl recht was Unangenehmes gemeldet?" — „Ach Gott, Manschen, viele angenehme Dinge gibt es in meinem Amte nicht zu verrichten, und manche Dinge werden einem recht schwer." Weiter sagte er nichts. Wozu, dachte er, soll ich ihr auch den Morgenkaffee verderben? Sie erfährt es früh genug durch andere Leute. — „Schmeckt dir der Kaffee heute nicht, Weimar?" — „Nein, Manschen, aber sorge dich nicht. Friederike hat ihn gewiß ebenso gut gemacht, wie andere Male, aber heute will er mir nicht schmecken, weil ich aus meiner Gewohnheit durch Pfeifern gekommen bin. — Ich habe heute früh eine Amtshandlung und muß etwas früher fort. — Leb wohl, Manschen!" Und er gab ihr den üblichen Abschiedskuß und ging. In dem Hause der Frau Konrektor Schmaling aber — denn die lebte natürlich damals noch — hatte die Nachricht von dem traurigen Ende des Tuchmachers Mehmel alles in Verwirrung und Unordnung gebracht. 59 Karline fiel aus einer Ohnmacht in die andere. Wenn sie aber wieder zu sich kam, da jammerte sie um ihre arme Mutterschwestertochter, und daß die nun auch gerade den Mehmel hatte heiraten müssen, der sie nun in solch Unglück und solche Schande gebracht hätte. Und die Schande träfe sie, die Karline, doch nun auch mit, und auch das Haus, worin sie diente. Nun könne sie gar nicht mehr hier bleiben, sie werde wohl Martini kündigen müssen und Gott wisse, was die Frau Konrektor nachher für eine bekäme. Sie aber ginge von Ellrich fort, hier könnte sie nicht mehr bleiben. Und die Frau Konrektor hatte zu trösten und zu begütigen, daß das einmal geschehen und nun nicht zu ändern wäre. Der Mann wäre doch sonst brav und ordentlich gewesen. Die Not möchte wohl groß gewesen sein, sonst hätte er's gewiß nicht getan. Wenn er aber Unrecht getan hätte, so wäre er hart genug dafür gestraft, so daß er nicht härter gestraft werden könnte, denn mehr als sein Leben könnte der Mensch doch nicht lassen. — Ja, das wäre schon ganz richtig, antworte sie dann, und die Frau Konrektor hätte ganz recht, aber sie könne nicht darüber fertig werden, daß das nun gerade in ihrer Familie hätte passieren müssen. Darüber ließ sich allerdings nichts sagen, und sie hatte recht, das hätte damals wohl auch einer anderen Familie passieren können. Während dessen hatte der Herr Referendar sich angezogen und stand vor dem Spiegel, hatte das Chemisette umgebunden und die Vatermörder. Dann nahm er die Binde und rief die Mutter, damit sie ihm dieselbe umlege. Sie kam auch sogleich, die kleine dicke Frau — denn das Lange und Dürre hatte der Herr Referendar von seinem Vater, dem weiland Konrektor Schmaling. Sie holte die Fußbank, stellte sie hinter ihren Herm Sohn 60 und war eben hinaufgestiegen, um die Binde in die Hand zu nehmen. Da hörte sie, wie in der Küche ein Geschirr auf den Boden fiel und zugleich einen Aufschrei Karo- linens. Sie hüpfte von der Fußbank herunter, ließ ihren Sohn mit der Binde stehen und eilte in die Küche. „Ach Gott, sehen sie, Frau Konrektor, ich kann heute nichts festhalten — da liegt der Milchtopf — mich treten die Ohnmachten an." So rief Karline, während sie am Herde auf den Holzkasten niedersank. Und die Frau Konrektor hatte genug zu tun mit Liquor und Zucker, um sie wieder zu sich zu bringen und vergaß darüber ihren Herrn Sohn. Dieser sah schließlich ein, daß, wenn er noch vor dem Herrn Rat auf das Gericht kommen wollte, er sich dieses Mal die Binde selbst umlegen müsse. Mit einiger Mühe brächte er es denn auch fertig, nicht aber ohne die steifen Vatermörder etwas zur Seite verbogen zu haben, was er durch Andrücken derselben an seine hohlen Wangen wieder gut zu machen suchte. Als seine Mutter wieder herein kam, war er eben fertig zum Fortgehen. „Ach," rief die Frau Konrektor erschrocken, „nun hast du dir die Binde allein umlegen müssen I Das Mädchen kann sich gar nicht fassen. — Du gehst wohl heute früh in das Haus mit dem Herrn Rat?" „Ganz gewiß, Mutter !" „Ach, mich dauert nur das arme Wurm, das Kind. So ein hübscher Junge und muß seinen Vater auf so schreckliche Weise verlieren! — Wenn man nur wüßte..." Sie besann sich. — „Weißt du, wenn du hingehst, nimm dem Kinde ein paar Aepfel mit. Wenn Kinder etwas zu essen kriegen, namentlich Obst, dann vergessen sie auch den größten Schmerz." Die Frau Konrektor ging, die Aepfel zu holen, und der Referendar wartete geduldig bis sie wiederkam, ob61 gleich es heute schon fast neun Uhr geworden war, weit über seine gewöhnliche Zeit. Als die Frau wiederkam, hatte sie die Schürze voll Aepfel, die schönsten und rotbäckigsten, die sie in der Eile hatte finden können. Sie steckte sie ihrem Herrn Sohn in die beiden Taschen der Frackzipfel, bis oben voll, und in die Taschen gingen viel hinein, denn sie waren von großem Kaliber. Als dann später der Referendar mit dem Landesgerichtsrat durch die Straßen nach dem Mehmelschen Hause ging, da schlugen die beiden schweren dickgeschwollenen Frackschlippen die Kreuz und Quer um die dürren Beine und zeigten bald die Tuch^, bald die Futterseite; und er mußte recht kleine Schritte machen, was er gar nicht gewöhnt war, um die Aepfel nicht zu verlieren. — Das wäre alles recht spaßhaft gewesen, wenn die Veranlassung dazu nur nicht eine so traurige gewesen wäre. So liegt meist das Tragische und Komische in derselben Schublade durcheinander, und es kommt nur auf den Griff an, den man hinein tut, ob das eine oder das andere zum Vorschein kommt. Unterwegs gesellte sich den beiden Gerichtsherren der Kreisphysikus zu, und als sie an das Mehmelsche Haus kamen, war auch der Bürgermeister soeben eingetroffen. Sie traten in das Haus ein, in die Stube und von dieser in die Kammer. Da sahen sie die Frau sitzen, mit dem Rücken nach der Türe zu, in ihren lebenden Händen die tote ihres Mannes. Sie wandte sich auch nicht um, als sie die Herren hereinkommen hörte, sondem blieb unbeweglich sitzen. Da fielen dem Landesgerichtsrat beim Anblick der Frau die Worte Pfeifers ein: „Und die Frau hat nicht einmal geweint !" Er legte die Hand auf ihre Schulter und sagte mild: — 62 — „Frau, gehen sie jetzt hinaus, sie müssen uns hier einmal allein lassen!" Die Frau richtete sich auf und sah ihn an, als ob sie nicht verstanden hätte, was der Herr zu ihr sagte. „Gehen sie jetzt hinaus, Frau, es ist besser für sie!" wiederholte er. Als er ihr aber dabei in die starren glänz- losen Augen sah, begriff er, daß es einen Schmerz gibt, der an dem Menschen alles starr macht, auch die Tränen, daß sie nicht fließen mögen; und er nahm sie am Arme, führte sie in die Stube und setzte sie auf einen Stuhl. Der Referendar hatte indessen den Knaben ausgesucht, der hinterm Ofen auf der Steinbank saß, verschüchtert wegen der Herren, die eingetreten waren, und weil er wohl begriffen hatte, daß mit dem Vater etwas Trauriges vorgegangen sein müsse. Schmaling leerte die Fracktaschen in den Schoß des Knaben und auf die Bank, ohne ein Wort dabei zu sagen, weil er auch nicht wußte, was er mit solchem Kinde reden sollte. Dann besorgte er mit dem Gerichtsdiener Köhler den Tisch in die Kammer, an welchem der Rat und er Platz nahmen, während der Physikus seine Instrumententasche ausbreitete und der Bürgermeister abseits stehen blieb. Bald hatte der Arzt seine Untersuchung betreffs Ursache und Verlauf der Verwundung festgestellt. Seine Aussage lautete, daß die Kugel von der rechten Seite eingedrungen, durch den rechten Lungenflügel und das Herz gegangen sei, auf der entgegengesetzten Seite mit Verletzung des linken Lungenflügels wieder heraus, und daß infolge dieser Verwundung der Tod augenblicklich habe eintreten müssen. Darauf diktierte der Landesgerichtsrat das Protokoll und der Referendar schrieb: „Verhandelt, Ellrich am............ Heute begab sich das hiesige Landesgericht, vertreten durch den Landesgerichtsrat Weimar und den Referendar 63 Schmaling, auf Ansuchen des mitanwesenden Bürgermeisters Buse in die Wohnung des Tuchmacher Mehmel u. s. w. u. s. w. —" Und als das Protokoll fertig war, da wurde nicht, wie sonst darunter gesetzt, vorgelesen, genehmigt, unterschrieben ; denn der, über welchen verhandelt worden war, genehmigte nicht und unterschrieb nicht mehr; sondern es kam darunter <->. u. s. *) und dann die Namen der beiden Gerichtsherren.

  • ) svtum ut, supra (geschehen wie oben).

Damit war die Sache amtlich abgetan. Es kam aber noch etwas Außerordentliches. Als die Herren hinausgehen wollten, machten sie dem Landesgerichtsrat, als dem Vornehmsten, Platz, daß er voranginge. Dieser sagte jedoch, die Herren möchten ihn nur vor dem Hause erwarten, er käme gleich nach; dabei sah er das Protokoll durch, ob auch kein Fehler darin war. Alle gingen, nur der Referendar blieb, weil er doch zum Landesgerichtsrat gehörte und ihn nicht allein lassen konnte; auch war vielleicht wegen des Protokolls noch etwas zu erinnern. Als sie nun so allein waren, ging der Rat zu der Frau, die sich hinter den Ofen zu ihrem Kinde gesetzt hatte, richtete sie auf, führte sie mitten in die Stube, legte die Hand auf ihre Schulter und sagte: „Frau, fassen sie sich; es ist nun einmal geschehen, und geschehene Dinge sind nicht zu ändern. Der liebe Gott verläßt sie nicht, und wenn sie Rat und Hilfe brauchen, dann kommen sie zu mir und meiner Frau; was wir für sie tun können, das tun wir gewiß." — Das sprach er so herzlich und eindringlich. Als die Frau ihn aber immer noch so anblickte, wie geistesabwesend, sagte er noch manches andere schöne Wort und drückte der Frau die Hände, die so kalt waren wie Eis, und ein über das — 64 andere Mal mahnte er: „Frau, besinnen sie sich, sie müssen sich fassen!" Doch alle seine Worte schienen vergeblich. Da wollte er sie denn wieder auf ihren Platz führen. Sie aber wandte sich, ging in die Kammer zu ihrem toten Manne und schloß die Türe hinter sich zu. Der Referendar hatte inzwischen neben dem Kinde gesessen, hatte ihm einen Apfel nach dem anderen vorgehalten und dabei mit den Augen gezwinkt und geblinzelt ; und als der Kleine ihn unverwandt ansah, ohne sich zu rühren, hatte er ihm auch einen Apfel an den Mund gehalten und dabei genickt. Das hätte er denn doch nun verstehen müssen; aber der Junge schien auch gar zu dumm zu sein. Da nahm der Referendar einen Apfel, führte ihn sich zu Munde, riß diesen weit auf, als ob er hineinbeißen wollte, wobei sich denn eine Reihe schöner, schwarzgelber Zähne zeigte, und dabei schnitt er solche Grimassen, daß der Bube das doch zu spaßig fand und laut zu lachen anfing. So war es dem Referendar mit dem Kinde besser gelungen, als dem Landesgerichtsrat mit der Frau. Als der letztere nach Hause kam, trat ihm seine Frau entgegen. „Ach Gott, Weimar, das ist ja schrecklich mit Mehmel! Solch ein Ende!" „Na, laß man, Manschen," fiel der Rat ein, „das sind nun geschehene Dinge, und das Reden darüber hilft nicht mehr. Aber, weißt du, Mariechen, behalte die Frau im Auge. Sie muß nach Verdienst suchen, um sich und ihren Jungen durchzubringen. Bekümmere dich darum, daß die armen Leute nicht Not leiden müssen. Du hast ja viele Bekannte unter den Frauen. Nehmt euch der Familie an!" „Ja, Weimar, das wollen wir gewiß tun." Der Referendar kam auch nach Hause. Seine Mutter, die Frau Konrektor, kam ihm entgegen mit hochgerötetem Ellrich >m Jahre 1630. Wernaertor. 65 Gesicht. „Heute ist nichts fertig geworden, lieber Sohn, du mußt dich noch gedulden. Mit Karline war nichts anzufangen, die habe ich zu der Mehmel geschickt. Da mußte ich denn alles selbst besorgen." Es war so. Mit Karline war wirklich nichts anzufangen gewesen, wenigstens nicht in der Wirtschaft. Nachdem die Frau Konrektor durch Trostworte und mit Hilfe von Liquor und Zucker es soweit gebracht hatte, daß sie nicht mehr in Ohnmacht siel, hatte sie ihr zugeredet, doch die Sache nun von der richtigen Seite anzusehen und anzufassen. Was geschehen sei, sei geschehen und ihr Seliger, der Herr Konrektor, hätte immer so ein lateinisches Sprichwort gehabt, das hätte soviel besagt, wenn jemand tot wäre, dann solle man von ihm nichts weiter als Gutes reden. Die Hauptsache wäre aber, daß man der armen Witwe und der Waise — und sie betonte so recht diese beiden Worte — helfe, soviel man nur könne. Diese letzten Worte der Frau Konrektor hatten denn auch auf Karline mehr Eindruck gemacht, als alle andern. Sie hatte sich gefaßt und nach einer Weile sagte sie: „Ach Gott, ja, Frau Konrektor, nun sitzt das arme Wurm, meiner Mutter Schwestertochter, so ganz verlassen da und hat niemanden, der sie tröstet und der ihr beisteht." — „Ja," hatte die Frau Konrektor geantwortet, „Leute werden wohl zu ihr kommen, namentlich Frauensleute, mehr als ihr lieb sein wird. Aber die treibt die Neu- gierde dahin, und was von denen gesagt wird, das verfängt nicht bei einem Herzen, das tief traurig ist. Wenn eine Verwandte zu ihr kommt, die sie lieb hat, das ist freilich etwas anderes, da verfängt ein Trostwort eher." — „Ach, Frau Konrektor, sie hat doch keine Verwandte, die ihr näher steht, als ich, und ich habe sie ja auch immer so gern gehabt." — „Dann gehe du doch hin, wenn du willst!" — „Ach, Frau Konrektor, aber das Mittagessen, 66 und .— „Das will ich alles besorgen, kümmere dich darum nicht! Du kannst auch bleiben, so lange du willst." — „Na, Frau Konrektor, dann will ich mit ihrer gütigen Erlaubnis man hingehen zu dem armen Wurme, und ich bringe es ihnen ein andermal wieder ein, was ich versäume." — „Es ist schon gut, gehe nur!" Da hatte denn Karline eiligst den runden Mantel umgehangen und war hingeeilt zu ihrer Mutter Schwestertochter, um ihr in ihrer Weise in dem tiefen Leide beizu- stehen und sie zu trösten. Der Herr Referendar aber atz heute zu Mittag Pellkartoffeln und Wurst, nachdem er noch eine Weile gewartet hatte. Zu einer Suppe und Fleisch, meinte die Frau Konrektor, wäre es zu spät gewesen, und geschmalzte Kartoffelsuppe gehöre sich für den Sonnabend, aber nicht für heute. Leid und Freud gehen vorüber, und eine Stunde vom ersten ist ebenso lang, als eine Stunde der letzten. Dem Menschen freilich scheint das nicht so zu sein. Jubelt es in seinem Herzen, und der Puls geht rasch und voll, dann ist es ihm, als ob der Zeiger an der Uhr es dem wallenden Blute gleich tun und rascher über das Zifferblatt Kreisen wolle; und Stunde um Stunde verschwindet, ehe man es recht gemerkt hat. Wenn aber das Herz schwer ist, und der Jammer hält das Blut zurück im Herzen und läßt es nur langsam und zögernd in die Kanäle fließen, dann schleicht auch nach unserer Meinung der Stundenzeiger langsam und zögernd dahin und will gar nicht vorrücken, und jede Minute wird zur Ewigkeit. — Aehnlich geht es uns mit der Witterung. Wenn das Thermometer auf einen oder zwei Grad unter Null steht, und der Himmel ist klar, und die Sonne scheint hell über die beschneite Fläche, dann dünkt es es uns für die Jahreszeit recht schön, und 67 man ist gern draußen im Freien und fühlt sich lustig auf dem Eise. Wenn aber bei demselben Stande des Thermometers der Himmel mit grauen Wolken bedeckt ist, und feuchte Nebel durchziehen die Straßen und machen, daß man oft die nächsten Häuser nicht sieht, dann friert es einen so recht bis ins Herz hinein und man mag draußen nicht weilen; man sucht die warme Stube und die Nähe des Ofens. Und es sind doch dieselben Wärmegrade. Dasselbe ist eben nicht immer dasselbe. Wie es mit Frau Mehmel stand, als sie so neben ihrem erschossenen Manne saß, in bezug auf das Kurz- oder Langwerden der Stunden, weiß ich nicht, denn sie hat sich nie darüber ausgesprochen. Vielleicht hatte sie gar keinen Begriff von der Zeit, obgleich ein gewisser Philosoph behauptet hat, derselbe liege a priori im Menschen. Als Karline kam und unter einem reichlichen Tränen- ströme alle die Redensarten vorbrachte, die bei solcher Gelegenheit wohl gesprochen werden, hatte sie kein Wort erwidert. Karline war allmählich still geworden und hatte sich dann an das untere Ende des Bettes gesetzt, angstvoll in das Gesicht der Frau blickend, auf das die Blässe und Starrheit des Totenantlitzes übergegangen zu sein schien. Alle Versuche, sie vom Bette wegzubringen, waren erfolglos. Karline versorgte den Knaben mit Essen und Trinken und ging ab und zu. Der Nachmittag war herangekommen und vorbeigegangen. Karline wußte nicht mehr, was sie anfangen sollte. Gegen Abend, als der Knabe müde wurde, wollte sie ihn ins Bett bringen, und sie fragte, ob Karl, so hieß er, mit in der Kammer schlafen solle. Da war die Mutter aufgestanden, hatte den Kleinen zu sich genommen auf den Schoß und dann zu Karline gesagt, ohne sie anzublicken: „Laß uns allein, Karline!" Die Art und Weise aber, wie sie das sprach, 68 war so bestimmt, daß Karline dann auch nach einer Welle den runden Mantel nahm und still nach Hause ging. Als die Frau Konrektor nach der armen Frau fragte, sagte sie: „Ach, Frau Konrektor, wenn sie doch nur weinen könnte !" Die Frau saß dann mit ihrem schlafenden Knaben auf dem Schoße vor dem Bette des Toten, und als ob die wenigen zu Karline gesprochenen Worte das Band der Zunge entfesselt hätte, bewegte sie öfter die Lippen zu kurzen, leise gesprochenen Sätzen: „Du hast es ja um unsertwillen getan! — Weil ich an euch denke, geht es nicht anders, hast du gesagt. — Unsertwillen hast du so schmählich sterben müssen. — Für Frau und Kind sterben ist keine Schande." — Den Knaben fest an sich drückend, sagte sie zu ihm: „Du brauchst dich deines Vaters nicht zu schämen."------------------ Am dritten Tage wurde ein schlichter Sarg aus dem Hause getragen. Hinter ihm ging zunächst die Frau mit dem Knaben an der Hand. Kein Trauerkleid umschloß ihre Gestalt, keine schwarze Haube mit schwarzen Bändern umflatterte ihr Haupt. Nur ein kleines schwarzes Tuch trug sie auf dem hellgewürfelten Kleide; der Knabe hatte um den linken Arm über die graue Jacke ein dünnes schwarzes Florband gewunden. Wenige folgten, Nachbarn, arme Leute. Kein Geistlicher ging mit. Es war keiner verlangt worden, und von selbst kam keiner. Aber eine preußische Uniform wurde hinter dem Sarge hergetragen. Zwar war sie fadenscheinig, und der sie trug, war nur ein alter Soldat und Nachtwächter. Aber bei Militärkleidern ist das ja eine andere Sache, als bei Zivilkleidern. Dort ehrt der R o ck den Mann und den, zu dessen Ehren er getragen wird, und auf die Person, welche den Rock trägt, kommt es so genau nicht an. 69 So ging denn vielleicht gar auf den erschossenen Mann da im Sarge etwas von der Uniformehre über. Der Nachtwächter Demut aber sagte nachher zu dem Winkeladvokaten Engelmann, mit dem er zuweilen philosophische Gespräche hielt: „Sehen sie, Herr Engelmann, ich habe heute meinen alten Soldatenrock angezogen, als ich bei Mehmel zu Grabe ging. Erst hatte ich einige Schrupel, ob ich die Uniform anziehen sollte." „Skrupel !" schaltete Engelmann ein. „Aber," fuhr Demut fort, ohne sich stören zu lassen, „ich dachte so: der Mann ist nicht aus Frevel unter die Pascher gegangen. Er mußte, denn Frau und Kind wollten leben. Und was Hunger ist, Herr Engelmann, das habe ich Anno 1789, wie wir gegen die Franzosen im Felde lagen, es war mein letzter Feldzug, und ich war Korporal, selber erfahren. Wir wußten damals, weiß Gott nicht, warum wir denn partoutemang*) über die Grenze marschieren sollten. Aber Mehmel wußte, warum er über die Grenze ging. Und was ihm passiert ist, das hätte mir damals auch passieren können. Und, Herr Engelmann, wer durch eine Kugel stirbt, der stirbt den Soldatentod, und da muß auch Uniform sein. Mehmel hat allerdings keine Uniform gehabt, und das war ein großer Fehler. Aber Fehler kamen damals auch vor, unter uns gesagt, Herr Engelmann. Aber das kam daher, weil der alte Fritz nicht mehr lebte, der den Demut gekannt hat, und wo man noch wußte, was man zu tun hatte, wenn man in der Bratullje**) war."--------

  • ) xnrtout.
    • ) Klemme, von brstslls (franz.).

Bald nach diesem hörte man, ein Grenzjäger sei erschossen gefunden worden, aber diese Nachricht ging fast teilnahmlos an der Bevölkerung vorüber. Und doch saß 70 auch in jenem hannöverschen Dorfe ein armes unglückliches Weib mit ihrer kleinen Tochter und rang die Hände. Wenn sie auch auf solch ein Ende ihres Mannes gefaßt sein mußte, so kam es doch unerwartet, und das schreckliche davon wurde nicht gemildert. Sie wußte, sie mußte nun weg von dem Orte, wo sie mit ihrem Manne ihr häusliches Glück aufgebaut hatte und anderwärts suchen, sich und ihr Kind durchzubringen. Aber eins drückte sie noch schwerer, als die Frau im Nachbarorte, die gleiches Schicksal gehabt, das war die Teilnahmlosigkeit der Leute, in der sich der Haß gegen die Grenzjäger aussprach, und das Gefühl davon konnte auch nicht zugedeckt werden durch die stattliche Anzahl von Uniformen, die hinter ihres Mannes Sarge Hergingen. Und an allen diesem war die Erziehung des Volkes zum Separat-Patriotismus schuld. — Die Frau Landesgerichtsrat hielt ihr Wort und empfahl die Witwe überall und unterstützte sie, und hätte man für die Familie vorher die Hälfte nur getan von dem, was man jetzt tat, so wäre der Mann wohl kein Pascher geworden. Nachtwächter Demut zeigte sich als treuer Nachbar. Er kam öfter, um ihr kleine Dienste zu verrichten. Er versorgte sie mit Holz für den Winter, das er von seinem „Depentat"*) nahm oder aus dem Stadtwalde für sie holte und dann spaltete; und wenn sie für seine Mühe dankte, entgegnete er ablehnend: „Das Holzspalten ist für mich eine Munition**), Frau Nachbarin." ') Deputat.

    • ) Motion.

Dafür nahm sich die Frau des kleinen Dortchens an, als bald darauf ihre Mutter — Demut hatte spät geheiratet — gestorben war, und sie hegte und pflegte das 71 Kind wie ihr eigenes. Was aber die Alten in der Hilfsbereitschaft einander waren, trug sich auf die Kinder über, und zwischen Karl Mehmel und Dortchen Demut wob sich ein geschwisterliches Band, wie es nicht schöner sein konnte. Bald wären sie wirkliche Geschwister geworden. Doch davon im nächsten Kapitel.

3. Kapitel

Wie in früherer Zeit für die nächtliche Sicherheit der Stadt gsforgt wurde. — Ein Nachtwächter trägt zur Bildung der Einwohner nicht unwesentlich bei. — Ein alter Mann denkt noch ans Beiräten, wegen des dritten Punktes mup er es aber lassen. Noch jetzt finden wir wohl hier und da in kleinen Orten die Einrichtung, daß zur Unterstützung der Nachtwächter die männlichen Einwohner der Reihe nach zur Nachtwache beordert werden. In früherer Zeit war das allgemein so, selbst in größeren Städten. Aber es ist, wo diese Einrichtung noch besteht, ein Unterschied zwischen damals und jetzt. Heutzutage machen einige Individuen, die zu nichts anderem zu gebrauchen sind, ein Geschäft daraus, statt der Einwohner für einige Groschen mit dem Nachtwächter zu patrouillieren — oder auch nicht. In früherer Zeit, wenigstens war es damals in Ellrich so, gingen die Einwohner selbst. Die Wachtstube, die auf dem Rathause dafür eingerichtet war, bildete einen Ort, wo man gern zusammenkam, ich will nicht gerade sagen, der Nachtwache wegen, sondern um zusammen zu sein, zu plaudern, auch wohl Allotria zu treiben, ja, manchmal ging es da recht lustig zu, und die Spitzbuben, wenn solche es hätten ausnützen wollen, hätten nach Herzenslust ,,arbeiten" können. Auf der Ellricher Wachtstube spielte der Nachtwächter Demut keine geringe Rolle. Nicht allein, daß er für die Sicherheit der Stadt als einziger wachender Beamter derselben sorgte, er gab auch aus dem reichen Schatze seiner Erfahrung soviel zum Besten, daß die Anwesenden nicht 73 ohne Nutzen für ihre Geistesbildung hier verweilten. Doch der Leser, dem dies vielleicht nicht recht glaublich erscheint, möge selbst urteilen, wenn ich ihn mit Demut in die Wachtstube einführe. Von dem Turme der alten Iohanniskirche hat es eben zehn Uhr geschlagen. Der letzte Schlag ist noch nicht verhallt, als aus dem kleinen Hause am altertümlichen Tore Demut Heraustritt. Stolz im Bewußtsein seiner beginnenden Amtspflichten schreitet er dahet. Um die Schulter trägt er einen alten, mannigfach ausgebesserten Mantel, über dem an einer dicken Schnur das Horn hängt, der Verkllnder der dahinschwindenden Stunden der Nacht. In der Rechten trägt er den Spieß, ein altes Möbel aus Gott weiß, welcher Zeit, dem es ergangen war, wie so mancher Reliquie. Infolge der Abnutzung war der Stiel öfter erneuert worden, während die eiserne Spitze wohl dieselbe geblieben sein mochte. An dem ledernen Gürtel, der den Mantel zusammenhielt, war noch eine Leine befestigt, deren zweites Ende in das Halsband von „Spitz" gehakt wurde, der mit gesenktem Schwänze hinter dem Alten drein schritt. Das geschah der Vorsicht halber, damit er nicht etwa irgend einem daherschleichenden Kater nachsetze und ihn in der löblichen Absicht des Mäusefangens störe, oder ihn wohl gar von dem Besuche irgend eines nächtlichen Konzertes abhalte. Denn Spitz war ein geschworener Feind des Katzen- geschlechtes. Gemessenen Schrittes schreitet Demut bis zur Salzstraßenecke, wo er zuerst abzurufen hat. An den kleinen Häusern mit den vorgebauten Stockwerken sind die hölzernen Läden bereits fest geschlossen. Nur hier und da sieht aus einer in den Läden angebrachten Luke, gerade so groß, um den Kopf hindurchzustecken, ein Mondscheinbedllrftiger und erwidert den Gruß des vorbeigehenden Wächters. 74 An der Ecke angekommen, löst er das Horn, setzt es bedächtig an den Mund, und ein langgezogener schauriger Ton hallt durch die stillen Straßen. Spitz schüttelt sich, vielleicht daß er, so oft er ihn auch gehört hat, sich doch nicht daran hat gewöhnen können und es ihn immer wieder überrieselt. Sobald der Ton verklungen ist, hebt der Wächter mit tremulierender Stimme sein: „Hört, ihr Herrn, und laßt euch sagen," an. Wenn er damit zu Ende ist, ruft er: „Komm, Spitz!" und marschiert weiter. Dies wiederholt sich so oft, als es Rusplätze in der Stadt gibt, und es waren ihrer nicht sehr viele. Dann geht es nach dem Markte auf das Rathaus. Hier beginnt seine vornehmste Tätigkeit. Im Hausflur trifft er den Ratskellerwirt, der daselbst seinen Schränk mit den verschiedenen Getränken, Gläsern usw. aufgestellt hatte. Nachdem er den verlangten Bittern, sein Lieblingsgetränk, hinter die Binde gegossen, greift er, wie alle Abende, in die Tasche, um den Dreier zur Bezahlung hervorzuholen. Aber ohne Dreier kommt sie wieder heraus, als der Wirt, ebenfalls wie alle Abende, sagt: „Laßt man, Demut!" und fährt militärisch grüßend an die Mütze mit einem: „Danke gehorsamst!" Er weiß auch ganz gut, der Wirt kommt doch nicht zu Schaden und rechnet den Bittern in der Wachtstube mit an. Darauf steigt Demut die Treppe zur letzteren hinauf. „Guten Abend, meine Herren!" begrüßt er die Anwesenden. „Guten Abend, Demut!" schallt es ihm entgegen, denn man hatte den Alten gern. Demut löst den Spitz von der Leine, der sogleich unter den Ofen eilt, wo er sich, wie jede Nacht, behaglich aus- streckt, um zu schlafen. Sein Herr aber setzt sich auf die vor dem Ofen befindliche steinerne Bank und lehnt den 75 Rücken an die breite Kachelseite. Von diesem Platze weicht er selten. Die andere Gesellschaft dagegen sitzt gegenüber an einem großen massiv eichenen Tische auf ebensolchen Holzstühlen, jeder vor sich ein Glas braunen Bieres der städtischen Brauerei, oder auch wohl einen „Nordhäuser". Aus den langen tönernen Pfeifen qualmt der rote oder schwarze Reuter, verzollt oder unverzollt, denn es gab damals in Ellrich keinen andern Tabak, es waren die beiden einzigen Sorten, was insofern sein Gutes hatte, als die Wahl nicht so schwer war, wie heutzutage. Danach zerfiel denn auch die ganze rauchende Einwohnerschaft in zwei Parteien, diejenige, welche es mit dem schwarzen und die, welche es mit dem roten hielten, oder kurzweg, die Schwarzen und die Roten. Jede Partei teilte sich dann wieder in solche, die es mit dem Verzollten und solche, die es mit dem Unverzollten hielten. Die Schwarzen und Noten waren streng geschieden, und man hörte selten, daß jemand von der einen zur andern Partei überging. Dagegen war innerhalb dieser Parteien ein fortwährendes auf und nieder. Bald hatten die Verzollten, bald die Unverzollten die Mehrheit, je nachdem, und dürfte dies als Beweis dienen, daß damals schon, innerhalb einer bestimmten Grenze, die Meinungen nicht so fest sind, als daß sie nicht wechseln könnten, namentlich wenn die Geldfrage dabei ins Spiel kommt. Nach den üblichen Unterhaltungen über das Wetter, die Ernteaussichten usw., ging man zu den Stadtneuigkeiten über, mit denen man aber bald fertig wurde. Demut sagte zu dem allen gar nichts oder doch wenig, er ließ die Leute reden, wußte er doch nur zu gut, das seine Stunde zum Reden schon kommen würde. — Und sie kam. „Demut," begann an dem Abende, den wir schildern, 76 nach eingetretener Pause einer der Anwesenden, „erzählt etwas, damit die Zeit vergeht !" „Was soll ich ihnen denn erzählen!" rief Demut aus, als ob ihm nichts daran liege. „Na, irgend so etwas aus eurem Kriegsleben, oder aus eurem Verkehr mit der Geisterwelt." „Ja," erwiderte Demut zögernd, „die Welt ist heute zu aufgeklärt. Wozu soll man denn erzählen, wenn's doch nicht geglaubt wird!" „Das kann euch doch eigentlich gleich sein, ob wir's glauben oder nicht," warf der Bäcker Michelmann ein, „wenn's uns nur gefällt!" „Und erzählen kann Demut, das muß man ihm lassen! Allen Respekt!" sagte Kaufmann Buse. „Ich glaube, wenn Demut 'mal abgeht, bekommt solchen Nachtwächter Ellnch im Leben nicht wieder," schmeichelte ein anderer. „Na, na, Herr Kellner," erwiderte Demut hierauf, „nur keine Schmeicheleien! Ich tue ja allerdings, das ist wahr, meine Schuldigkeit, denn das tut jeder gebildete Mann, und ich glaube auch, der Herr Bürgermeister, mein hoher Vorgesetzter, ist mit mir zufrieden." „Natürlich!" riefen mehrere. „Aber ihr müßt auch immer richtig tuten !" warf einer dazwischen, „neulich habt ihr bloß eure Stunden abgerufen und nicht getutet." „Ja, der Herr Bürgermeister!" sagte Demut. „Allen Respekt! Aber in manchen Sachen, da weiß er doch nicht Bescheid. Und was einem die Nacht alles passieren kann, das glaubt kein Mensch, auch nicht der Herr Bürgermeister." „Na, raus mit der Sprache! Erzählt, was euch passiert ist." „Meinetwegen. Ich will es ihnen erzählen, aber — unter uns." 77 „Freilich !" wurde ihm geantwortet. Und Demut begann eine seiner wunderbaren Geistergeschichten, die allemal das Ergötzen der Zuhörer bildeten. „Sehen sie, meine Herren," - so begann er regelmäßig jede Geschichte — „es war Mitternacht. Die Geisterstunde hatte geschlagen. Furchtlos, wie ich bin, rufe ich an der ersten Ecke ab und gehe dann weiter bis zum Mühlgraben. Bis dahin war merkwürdigerweise nichts passiert, nicht einmal beim Spritzenhause, wo es, wie sie wissen, doch nicht ganz so so ist. Ich denke bei mir selber: Heute ist alles in Ordnung. Als ich nun an die Brücke komme, die über den Mühlgraben führt, da, wo der Färber Barthel wohnt, nehme ich mein Horn und will dreimal tuten. Aber es kommt kein Ton heraus. Mit einem Male, schwabb! sitzt mir etwas auf der Schulter, ganz naß, und schwer war es auch. Aber ich lasse mich nicht irre machen und rufe ruhig die Stunde ab. Dann sage ich: Alle guten Geister! und, schwapp! springt das Ding wieder herunter und ins Wasser hinein. Und da kommt der Färber Barthel und der Bürgermeister, die waren bei Riekchen Bocke, die den neuen Rektor heiratete, zur Hochzeit gewesen. Da ruft der Herr Bürgermeister mich an und sagt: „Demut," sagt er, „warum tutet ihr nicht? Habt ihr das Regalemang*) vergessen? Dreimal tuten vorher und dreimal nachher!" „Herr Bürgermeister," sage ich, „Demut ist Soldat gewesen und Korporal, und da sollte er das Regalemang vergessen? Nein, Herr Bürgermeister, sage ich. Aber was hilft Regalemang und alles, wenn so'n Ding da kommt, so'n Geist, Herr Bürgermeister, sage ich, der sich in 'nen Karpfen verpuppt hat! Da, Herr Bürgermeister, sage ich, da mag der Deubel, — nein, sage ich — dann können ') Reglement. 78 Sie auch nicht tuten, Herr Bürgermeister, sage ich. Da lachte der Herr Bürgermeister, denn er ist gern lächerlich *) und sagte: Demut, sagte er, ihr habt heute wieder mal zu viel Bittern getrunken und da . .

  • ) Lacht gern.

„Und da," fiel dem Nachtwächter der eben eintretende Bäcker Rieländer ins Wort, „hält er ein nasses Tuch, was ihm Barthel auf die Schultern wirft, weil er am Brückengeländer einschlafen wollte, für einen Karpfen, und hat wieder Stoff zu einer neuen Geistergeschichte." „Herr Rieländer!" sagte Demut gekränkt, „sie sind ein Aufgeklärter, weil sie so lange in Hamburg gewesen sind als Bäckergeselle. Wer einmal da gewesen ist, der glaubt nichts mehr." „Na, eure Geistergeschichten glaubt ihr doch selbst nicht!" „Herr Rieländer!" rief Demut vorwurfsvoll, ohne bestimmte Antwort zu geben. „Doch," fügte er hinzu, indem er nach der alten Wanduhr sah, „es wird gleich elf schlagen, da will ich mich auf den Weg der Pflicht machen." Und er tat, als wolle er sich erheben. „Wißt ihr was, Demut, jetzt schläft alles, da hört euch niemand. Ihr ruft doch aber nur für die, welche euch hören. Wir sind nun hier die einzigen, die noch wach find. Ich meine, ihr könnt eure Stunden ebenso gut hier abrufen." Die Logik leuchtete Demut ein, wie schon öfter, aber dennoch erwiderte er: „Nein, meine Herren, das ist gegen die Ordnung und gegen das Regalemang. Der Herr Bürgermeister schläft und der ganze Magistrat schläft, da muß doch ein Beamter da sein, der für die Stadt wacht. . ." Weiter kam er nicht, der Wirt, welcher schon einen 79 Wink bekommen hatte, hielt ihm einen neuen Bittern entgegen, der ihn denn auch zum Bleiben veranlaßte. Aber seine Stunden tutete er doch und zwar genau nach seinem Regalemang ab. Kaum hatte der Kuckuck der alten Wanduhr seinen letzten heiseren Schrei getan, als Demut sich erhob. „Komm Spitz!" Damit befestigte er den Hund, der nur widerwillig hervorkam, an der Leine, nahm den antiken Spieß — das Horn legte er nie ab — und schickte sich an zu gehen. „Ich glaube, er ist kapabel und geht," sagte Buse. Demut ging, aber nur bis in die nächste Stubenecke. Dort ergriff er mit derselben Umständlichkeit, wie sonst draußen, das Horn, setzte an, tutete zweimal hintereinander, während Spitz, wahrscheinlich wegen des ungewohnten Ortes, zu heulen begann, und rief zum höchsten Ergötzen des Publikums die elfte Stunde ab. Dasselbe wiederholte er in den übrigen drei Ecken. „Nun," meinte er, „habe er nach allen Himmelsrichtungen hin seine Pflicht erfüllt und der Herr Bürgermeister könne nichts sagen." Dann entließ er Spitz, setzte sich wieder auf die Ofenbank und tat, als ob nun alles in Nichtigkeit wäre. Die heitere Stimmung, in welche er die Gesellschaft versetzt hatte, trug ihm ein Glas Vier ein, das er mit Dank an- nahm. „Ihr Wohlsein, meine Herren! — Aber," setzte er bedeutsam hinzu, „alles bleibt unter uns." „Das versteht sich," wurde ihm geantwortet. „Nun müßt ihr noch etwas erzählen, Demut!" „Aber keine Geistergeschichte mehr," bemerkte ein anderer, „lieber etwas von euren Kriegstaten." „Ja, im Kriege," sagte Buse, „ist Demut eine bedeutende Person gewesen." „Man sieht ihm das gar nicht an," ergänzte Michelmann. 80 „Und nicht war, Demut, mit dem alten Fritz habt ihr doch immer gut gestanden?" fragte ein Dritter. „Der alte Fritz?" entgegnete Demut strahlend, und mit diesem Namen war er auf die richtige Fährte gebracht worden. „Der alte Fritz? Das war ein König I Der wußte das Verdienst auch bei dem gemeinen Manne herauszufinden. Mit dem habe ich geredet, meine Herren, wie ich mit ihnen rede. Und wie wir aus dem Siebenjährigen in die Quartiere gerückt waren, und die Geschichte mit Schlesien war nun aus, da kam er zum letzten Male zu mir und sagte: Demut, sagte er, ich werde ihm nie vergessen, was er mir gewesen ist. Bitte er sich eine Gnade aus I — Majestät, sage ich, der Ruhm, unter Ewige Majestät zu dienen, ist die größte Belohnung für mich. Leben sie wohl, Majestät, sage ich, und wenn sie 'mal in der Bratullje *) sind, und sie rufen: Demut! sage ich — dann werde ich sagen: Hier, Majestät! Und auf Demut können sie sich verlassen, sage ich." „Namentlich bei Leuthen," warf Michelmann hin, „wäre es dem alten Fritz schlecht gegangen, wenn Demut nicht gewesen wäre." „Ja, meine Herren!" begann Demut, „ohne mir zu schmeicheln; aber ich glaube, ich habe dabei mein Verdienst. Denn, sehen sie, schlecht stand der ganze Kram, das hat der alte Fritz selbst gesagt. Ich will es ihnen zeigen." Damit erhob sich Demut und stellte sich mitten in die Stube. „Hier standen die Oesterreichs," — und er zeigte in die eine Ecke der Stube, — „und hier," — er zeigte in die entgegensetzte, — „standen wir Preußen und davor der alte Fritz und die Generäle. Nun ging der Katzentanz los. Musketiere vor! kommandierte der

  • ) Klemme.

81 König. Da rückten wir denn vor und biff, baff! ging's drauf, und die Oesterreichs fielen wie die Fliegen. Aber es kamen immer neue Regimenter gegen uns angerückt und wir wurden auch dünne. Das wird nichts! sage ich zu meinem Hauptmann, da verschieben wir u sere ganze Munitizion I *) Lassen sie mich 'mal zum Alten! sage ich. Aber der Hauptmann wollte nicht, denn er konnte mich nicht leiden, seitdem ich so gut beim Könige stand. Und, hatte der König 'mal zu ihm gesagt, Herr Hauptmann I Demut ist mir mehr, als sie und die ganze Kompanie! hatte er gesagt. Das war denn nun dem Hauptmann sehr in die Nase gefahren. Ich sagte nun zum Hauptmann, und dabei stand ich stramm und sah ihm fest in die Augen: Herr Hauptmann, sage ich, die Sache ist von Wichtigkeit, und ich mache sie verantwortlich. Wollen sie mir Urlaub geben? Na, dann gehe er zum Deubel I sagte er. Nein, sage ich, Herr Hauptmann, ich gehe zu meinem allergnädigsten Könige. Als ich nun zum Könige kam. Guten Morgen, sage ich, Majestät! — Guten Morgen, Demut! sagte er verdrießlich. Das ist 'mal wieder so 'ne verdammte Geschichte. Die ganze Monarchie und meine Krone steht auf dem Spiele, sagte er. — Lassen sie nur, Majestät! sage ich. Wir haben uns doch schon manchmal herausgehauen aus der Bratullje! — Ja, sagte er, aber seht doch dort, immer neue Regimenter, die werden ja gar nicht alle! sagte er. — Schad't nicht, Majestät! sage ich. Denken sie an Roßbach und was ich ihnen da vorher gesagt habe. — Ja, sagte er, das waren auch man Franzosen, solche Pomadenhengste **) sagte er. — Ew'ge Majestät! sage ich, geben sie mir 'mal den Oberbefehl nur für eine

  • ) Munition.
    • ) Spottname der Franzosen wegen der Toilettengegenstände, die man bet ihnen fand.

6 82 Viertelstunde, sage ich. Da zog er seine goldne Uhr heraus und sagte: Ihr habt ihn, aber nicht eine Minute länger. — Ist auch nicht länger nötig, Majestät, sage ich. Und nun ging ich zu Winterfelden *) und sagte: Exzellenz, sage ich. schwenken sie 'mal mit ihrem Korps hier rechts hinterm Berge herum, daß die da drüben nichts merken, und dann in die Flanke! Erst einige Salven, dann Bajonettangriff! Sie wissen ja schon, sage ich. Soll besorgt werden! sagt Winterfeld und geht mit seinem Korps ab. Dann gehe ich zum alten Ziethen. Exzellenz, sage ich, machen sie 'mal mit ihren Husaren links schwenkt! Und dann hier durch den Wald! Und wenn sie nahe genug heran sind, dann, sie wissen ja schon, und blinkte ihm zu, wie Ziethen aus dem Busch! Da lachte er und sagte: Er alter Schwerenöter I und dann kommandierte er: Links schwenkt! und. heidi! fort ging's. Dann ging ich zu Majestät und sage: Majestät, sage ich, es ist alles besorgt, und hiermit melde ich mich vom Oberbefehl ab! sage ich. Da nickte der Alte und meinte zu den anderen Generälen: Ich glaube, Demut hat die Sache in Gang gebracht. Ich aber zog mich zurück und trat wieder in meine Kompanie ein.

  • ) General von Winterfeld fiel am 7. September 17b7, während die Schlacht bei Leuthen am b. Dezember desselben Jahres stattfand.
    • ) total.

Aber es dauerte nicht lange, da hieß es: Viktoria! Die Schlacht ist gewonnen! Und die Oesterreichs sind totalemang **) geschlagen worden. Am Abend aber hat der König zu den Generälen gesagt: Meine Herren, hat er gesagt, ich danke ihnen, sie haben ihre Schuldigkeit getan. Aber, hat er gesagt, ohne Demut wären wir nicht aus der Bratullje herausgekommen, und Demut haben wir den Sieg in dieser Bataille zu verdanken. Nachher aber, meine Herren, da kam er zu mir und hat zu mir 83 gesagt: Demut, hat er gesagt, dem Verdienste seine Krone! Und da nahm er sich den Purlämeritter *) von der Brust und sagte: Hier, Demut, sagte er, den sollt ihr tragen von jetzt ab, weil ihr das Vaterland gerettet habt und meine Krone, sagte er. Da sage ich: Nein, Majestät, alle Achtung! Aber, sage ich, den kann ich zu meinem Bedauern nicht annehmen! — Warum? sagte er, und dabei guckte er mich so an — so! — Na, wen der alte Fritz 'mal s o angeguckt hat, der vergißt das sein Lebtag nicht.

  • ) koor Iv mSrito - Orden.

Groll. Ich aber sagte zu ihm: „Majestät, sage ich, das will ich ihnen sagen. Sehen sie, da ist mein Hauptmann, der hat noch keinen Orden. — Kriegt auch keinen, sagte der König, der ... . Na, ich will's nicht sagen, wie ihn der König nannte. Ja, Magistät, sage ich, das hängt ja von ihnen ab, aber sehen sie, wenn der Hauptmann so Pike**) auf einen hat, dann hat das den Deubel, und man wird geschurigelt an allen Ecken und Kanten und kann gar nichts machen. Wenn er nun sähe, daß ich den Purlämeritter hätte, und er hat ihn nicht, dann könnte ich mich gefaßt machen, sage ich. So! so! sagte der König, das ist dann allerdings eine eigne Sache, und mit dem Hauptmann müßt ihr es nicht verderben! sagte er. Und da nahm er den Orden wieder zurück. Aber sagte er. gedenken will ich's ihm. Demut! Und so, meine Herren, habe ich den Orden nicht gekriegt." „Aber," bemerkte einer der Zuhörer, „ich an eurer Stelle hätte ihn doch genommen." „Mein Name ist Demut," entgegnete der Nachtwächter mit Würde, „und da ich weiß, was ich meinem Vorgesetzten schuldig bin." 6» 84 ..Ja. das ist wahr !" sagte Buse, „Bildung besitzt Demut, wie kein anderer Nachtwächter in der ganzen Graf- schaft und noch darüber hinaus." „Bildung," erläuterte Demut dozierend, „Bildung, meine Henen, muß jeder Mensch besitzen. Bildung ist, so zu sagen. wie die Griefen*) in den Kartoffelklößen, wie die Schweinerippchen im Sauerkraut**), und wer keine Bildung besitzt, meine Herren, mit dem ist es alle. Sagen sie, Demut hat's gesagt."

  • ) Fettbrockrn oder geröstete Semmelbrocken.
    • ) Ein beliebtes Gericht am Harze, wie auch wohl sonst noch.

„Aber Demut, nun erzähl' mal die Geschichte mit der Bombe." Ohne sich viel nötigen zu lassen, denn er war einmal im Zuge, wollte er denn beginnen, aber erst: „Einen Bittern, Herr Wirt!" „Demut," warnte Rieländer, „trinkt nicht zuviel Schnaps! Ihr wißt doch . . ." „Ach was," entgegneten mehrere, „so'n Schnaps wirst den Demut nicht um." „Umwerfen?" entgegnete Demut. „Meine Herren, wen eine Bombe nicht umwirft, der kann garnicht umgewor- fen werden. Und so ein Bitterer?" Mit verächtlicher Ge- berde setzte er das Glas an den Mund und ließ den Bittem stürzen, wie schon so manchen andern. „Na, und nun die Geschichte mit der Bombe!" wurde er gedrängt. »Ja, sehen sie, meine Herren, da lagen wir im Biwak. Mit einem Male gings los: Bumm — bumm! — und, hast du nicht gesehen, kamen die Bomben geflogen, wie die Kindsköpfe so groß. — Na, sagten da meine Kameraden, man kann doch nicht 'mal sein bißchen Essen in Ruhe kochen, da geht der Deubel schon wieder los. Wir 85 kochten nämlich g'rade Erbsen. — Ruhig, Kameraden, sage ich, paßt auf eure Erbsen auf I Denn angebrannte Erbsen? - Brrr Ich halte euch die Dinger da vom Leibe. Nun nehme ich meine Muskete," — hier ergriff Demut den Spieß, — „aber mit dem Kolben nach unten in die rechte Hand und passe auf." Er stellte sich mitten in die Stube, den Spieß wie zum Schlagen bereit. „Kommt richtig so'n Ding angeflogen." Dabei drehte er den Kopf nach links und blickte nach der alten Wanduhr aufwärts. „Ich aber fasse die Muskete fest . . ." „Halt, Demut !" rief der eben eintretende Wirt, „das mit dem Spieße wird gefährlich. Ihr habt mir schon einmal die Wanduhr heruntergesegeltl" und dabei nahm er ihm den Spieß aus der Hand und gab ihm einen kurzen Stock, der ihm von einem der Anwesenden unter Gelächter dargereicht wurde, was Demut ruhig geschehen ließ, ohne eine Miene zu verziehen oder seine Stellung zu ändern. „Muskete fest," fuhr er fort, „und schwapp!" dabei machte er einen Lufthieb, gebe ich der Bombe einen Schlag sie fliegt zurück, und draußen im Felde fällt sie nieder und krepiert." Damit stellte er den Stock hin und setzte sich, als ob das gar nichts weiter wäre. „Aber, daß das Gewehr nicht kaputt gegangen ist I " sagte Michelmann. „Gewehr? Kaputt gehen?" fragte Demut überlegen. „Herr Michelmann, da sind sie sehr unkenntlich!*) Ein preußisches Gewehr kann überhaupt nicht kaputt gehen!"

  • ) kenntnisloS.

„Wie die Zeit hingeht, wenn Demut erzählt bemerkte einer der Anwesenden, „'s ist wirklich gleich Zwölfe." „Da muß ich mich zurecht machen zum Abrufen," sagte Demut, nach der Wanduhr sehend. 86 „!", warf Michelmann leicht hin, „wenn's auch etwas später wird, das schad't nichts !" „Herr Michelmann," entgegnete Demut, „Pünktlichkeit ist s halbe Leben I Pünktlich muß der Mensch sein. Und wenn es hier Zwölf schlägt," setzte er mit Pathos hinzu, „dann muß Demut hinaus, und seines Amtes pflegen, wie der Herr Bürgermeister sagt." „Wenn's nur aufs Schlagen ankommt," sagte Buse, „dann halten wir die Uhr ein bißchen an." Dabei griff er nach dem Perpendikel der Uhr und brächte ihn zum Stehen. „Auf ihre Gefahr, Herr Buse! Auf ihre Gefahr !" rief Demut. „Ich richte mich nach der Uhr. Denn der Herr Bürgermeister hat gesagt: Demut, hat er gesagt, wenn die Uhr zum Schlagen aushebt, dann verlaßt ihr das Lokal und ruft die Stunden ab. Und was der Herr Bürgermeister sagt, danach richte ich mich, denn er ist mein Vorgesetzter, mit Respekt zu melden." Die Uhr stand. Demuts Gewissen war beruhigt. Er blieb und erzählte seine dritte Geschichte aus der Zeit seiner Kriegstaten unter dem alten Fritz. Zwar wollten einige Rechner bezweifeln, daß er zu der Zeit überhaupt schon gedient haben könnte, aber es ist wohl möglich gewesen, denn er starb erst in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts im einundneunzigsten Lebensjahre. „Sehen sie, meine Herren, wir standen auf Vorposten, und es war des Abends. Wir waren unsrer vier. Da sagte mein Kamerad Müller: Demut, sagte er, da drüben ist alles ruhig; wenn wir nur einen Schafskopp spielen könnten! — Alte Spielratte I sage ich, muß denn immer gespielt sein? Wir sind hier auf Posten, da wird nicht gespielt, das ist gegen das Regalemang. Warte, bis wir ins Quartier kommen! — Aber Müller fing immer wieder davon an, und die andern sagten auch, sie spielten 87 gerne mit, und ich konnte das Gerede nicht mehr mit anhören. Na, meinetwegen, sage ich endlich. Nicht weit davon war ein Garten, da stand so'ne Art Babilon*) drin. Kommt mit, sage ich. Wie wir nun in dem Babilon den Tisch zurecht gemacht haben zum Schafskopp, da sage ich: Vorsicht ist zu allen Dingen nutze I und gehe hinaus. Auf dem Felde lagen noch von dem letzten Gefecht Kanonen, die unbrauchbar gemacht waren. Ich gehe also hin zu einer solchen Kanone, wo die Laffjette**) abgeschossen war, schraube das Rohr ab, trage es in den Babilon, und lege es unter den Tisch, dann hole ich aus einem Protzkasten Kartätschen, und nun: geladen! Dann die Mündung nach der Türe zu. Nachher zünde ich die Lunte an und stelle sie neben mich an den Stuhl. — So, sage ich, nun kann's losgehen I Wer gibt? Ich, sagt Müller. Er mischt, läßt abheben, und wir spielen. Ich gewinne ein Spiel, ich gewinne zwei Spiele. Müller spielte nämlich einen ganz miserabeln Schafskopp, und die andern konnten es nicht viel besser, darum spielte ich auch nicht gerne mit ihnen.

  • ) Pavillon. **) Lafette.

Mit einem Male sagt Müller, wir waren, glaub ich, beim sechsten oder siebenten Spiele: Du, Demut, sagt er, da draußen ist es nicht ganz richtig I — Weiß schon, sage ich, nur weiter! Trumpf 'raus, König sticht! — Da wird die Türe aufgerissen, und der ganze Babilon da draußen steht voll Oesterreichs. Ergebt's euch! ruft der Offizier. — Ja, wart ein bischen, sage ich, greife nach meiner Lunte, — hier nahm Demut den Spieß wieder in die Hand, — und wie sie herein wollen, bumm — ging's, und da lagen sie. — Geladen, Müller! kommandiere ich. Müller ladet, und beim zweiten Schub, der herein wollte, bumm — ging's 88 wieder, und weg waren auch die. Und so ging's noch viele Male hintereinander. Wie sich nun keiner mehr blicken lies;, rückten wir aus, um das Schlachtfeld zu übersetzen, und sehen sie, meine Herren, da lag eine ganze Kompanie, die wir besiegt und niedergemacht hatten. „Ich meinte, es wäre ein Regiment gewesen," sagte Michelmann. „Nein, Herr Michelmann, nur eine Kompanie. Wozu sollte ich denn lügen? Ich bin meintage kein Freund von der Lügerei gewesen. Wahrheit, meine Herren, Wahrheit geht über alles I Und darum kann ich auch nicht anders sagen, als: es war nur eine Kompanie." „Aber," fuhr er dann ruhig fort, „das Schießen hatte die Wache natürlich gehört, und mit einem Male kam mein Hauptmann angerückt. Was ging hier vor? sagte er, die ganze Armee ist allarmeriert I *) Da trat ich vor, zog die Muskete an und sagte: Herr Hauptmann, sagte ich, wir haben eine Kompanie Österreicher besiegt. Dort ist das Schlachtfeld vor dem Babilon. — Wie war die Sache? sagte er zu mir. Apportierti **) Da sagte ich: Wir waren in dem Babilon und haben — hier puffte mich Müller in die Seite, ich sollte nichts sagen, aber —. Nein, sage ich, Müller, die Wahrheit muß der Herr Hauptmann wissen, und wenn's das Leben kost't. Wir haben, sage ich, im Babilon Karte gespielt, Schafskopp, Herr Hauptmann; da kamen die Oesterreichs und wollten uns gefangen nehmen, aber ich hatte mich vorgesehen, und wir haben sie, wie man so zu sagen pflegt, in den Orpheus ***) spekuliert -s-), sage ich. So! sagte der Hauptmann, Karten gespielt im Babilon! Ich werde euch bekartenspielen! Ihr geht auf die Wache und meldet

  • ) Alarmiert.

") Rapportiert- ***) Orkus. 7) Spediert. 89 euch als Arrestanten! Kriegsgericht! Kugel! Stillgestanden I Rechtsumkehrt I Marsch! — Sehen sie, meine Herren, das war der Dank für unsere Heldentat. Und wenn der König nicht gewesen wäre, der Hauptmann hätte uns richtig vor das Kriegsgericht gebracht. Aber der legte sich ins Mittel, und da wurde die Sache vertuscht." Mittlerweile war es weit über Mitternacht geworden, aber die Uhr stand immer noch einige Minuten vor Zwölf. „Ich dächte, wir ließen nun die Uhr wieder gehen und es würde 'mal patrouilliert!" bemerkte Rieländer. Die Uhr hob zum Schlagen aus, Demut und einige andere erhoben sich, Spitz, der fest unter dem Ofen schlief, wurde von Demut hervorgezogen und, während er sich streckte und laut gähnte, an der Leine befestigt. Dann ging's hinaus, Demut voran, die andern, welche sich zu- blinkten, hinterdrein. Nur Nieländer blieb und stopfte eine neue Pfeife von dem Roten, denn er war ein treuer Anhänger der Partei, ob nun deshalb, weil, wie Demut sagte, er in Hamburg gewesen war und zu den Aufgeklärten gehörte, oder aus einem andern Grunde, weiß ich nicht zu sagen. Vor dem Rathause trennte sich die Patrouille von Demut und dieser ging — es war wohl bald ein Uhr — die zwölfte Stunde abzurufen, von der Salzstraßenecke an. So kam er denn auch in die Nähe des Kirchhofs, auf einen freien Platz, wo das Spritzenhaus stand, ein kleines wackeliges, hölzernes Gebäude mit einem ebenfalls wackeligen, großen Tore verschlossen. Vor demselben standen zwei große Wasserbottiche, auf Kufen befestigt, in denen bei ausbrechendem Feuer das Wasser mit alt- väterischer Gemütlichkeit herbeigeschleppt wurde. Von diesem Spritzenhaus hatte Demut schon oft erzählt, daß er darin ein Seufzen, Aechzen und Stöhnen gehört habe, und das mochte wohl auch seine Richtigkeit haben, denn 90 das Alter bringt dergleichen mit sich. Er behauptete natürlich, daß irgend welche Geister, die Feuergeister nannte er sie, hier ihr Wesen trieben, und schon oft hatte er Feuersbrünste aus diesem Getöne vorhergesagt, die denn auch regelmäßig nach kürzerer oder längerer Zeit eintraten, wenn nicht in Ellrich selbst, doch in der Umgegend. Als er nun heute Abend an dem Spritzenhause an- kam, stellte er sich, wie gewöhnlich davor, dasselbe im Auge behaltend. Er tutete drei Mal, dann begann er: „Hört, ihr Herrn und lasst euch jagen. Die Glocke hat Zwölf geschlagen l" Weiter kam er nicht, denn aus dem einen Fasse erhob sich eine weiße Gestalt, immer höher und höher, und mit hohler, schrecklicher Stimme tönte es ihm entgegen: „Das ist nicht wahr, Demut, denn es ist gleich ein Uhr, und die Geister lassen sich nicht belügen!" Starr blickte Demut die Gestalt an, während Spitz laut zu knurren begann. Dann rief er: „Spitz, komm!" wandle sich und ging dem Rathause zu. Was sollte er auch weiter abrufen, wenn selbst die Geister sagten, es wäre nicht wahr, was er rufe! Hinter und aus den Fässern aber erhoben sich lachend die Attentäter, die, statt zu patrouillieren, mit dem Nachtwächter ihren Ulk trieben, nahmen das Betttuch und die Stange, mittels welcher sie dasselbe zu der für eine menschliche Gestalt riesigen Höhe emporgestreckt hatten, mit sich und lieferten es dem Ratskellerwirt, von dem sie die Sachen geliehen hatten, wieder ab. Michelmann aber sagte: „Ich bin nur neugierig, was er aus dieser Geschichte wieder machen wird!" — In einer kleinen Stadt wird auch das Kleinste von dem, was geschieht, kolportiert, dafür ist es ja eben eine Kleinstadt. So kam es denn auch, daß das regierende 91 Haupt dieser Kleinstadt durch seine befehlsvollziehende Macht, wie Demut ihn nannte, den Polizeidiener Pfeifer, Kenntnis von den Vorfällen der eben erzählten Nacht erhielt. Pfeifer erzählte von dem Nachtwächter gern etwas, was ihn in Angelegenheiten bringen konnte, denn er stand sich mit ihm buchstäblich wie Tag und Nacht. Das war daher gekommen, weil Demut ihm einmal gesagt hatte, in der Nacht, da hätte Pfeifer nichts zu sagen, da kommandiere er, Demut, und das wäre eine viel andere Sache und viel wichtiger. Bei Tage könne ein jeder kommandieren, das wäre gar nichts. „Schön'n go'n Mor'n, Herr Bürgermeister!" trat am drittfolgenden Morgen Pfeifer in die Privatwohnung des Angeredeten, um ihm seine Pfeifen zu stopfen, denn das war eine kleine Nebenbeschäftigung, die ihm der Bürgermeister gegeben hatte, und wobei er sich dann alles aus der Stadt erzählen ließ, was Pfeifer Tags vorher hier und da erhorcht und gesammelt hatte. „Wissen denn der Herr Bürgermeister schon, was wieder mit Demut passiert ist?" „Nun, das wäre?" fragte der Vorgesetzte. „Vorgestern Nacht," berichtete Pfeifer, „sind wieder allerhand Allotria auf der Wachtstube getrieben worden, und Demut hat wieder seine Lügengeschichten erzählt und hat um elf Uhr in der Wachtstube getutet, wie verrückt, und dann hat er gegen ein Uhr erst die zwölfte Stunde abgerufen. Da sind ihm am Spritzenhaus wieder Geister erschienen, und er hat aufgehört zu tuten und ist ausgerissen." „Wer ist denn auf der Wache gewesen?" fragte der Bürgermeister. „Der Bäcker Rieländer, Michelmann, Kaufmann Buse," und so nannte sie Pfeifer der Reihe nach her. 92 „Ich werde die Sache untersuchen," gab der Bürgermeister zur Antwort. Pseifer aber freute sich, seinem Antipoden etwas eingebrockt zu haben. Der Bürgermeister, der den alten Nachtwächter, wie jedermann außer Pfeifer, gern hatte und mit Rieländer Gevatter war, ging zu letzterem und fragte, was sie denn wieder einmal für Ulk mit dem alten Demut gemacht hätten. Rieländer erzählte es ihm, und der gestrenge Herr Bürgermeister lachte herzlich darüber. Es war eben die alte Zeit, in der man es nicht so genau nahm, wenn nur kein Schaden angerichtet wurde, und Nachtwächteruhren gab es damals nicht. — Aber eine Rüge mußte Demut doch von amtswegen haben, schon Pfeifers wegen. Der Bürgermeister ließ den Nachtwächter kommen und hielt ihm vor, daß er den Dienst nicht reglement- mäßig verrichtet habe, und fragte, warum er denn in der Wachtstube getutet habe, das sei doch gar nicht in der Ordnung. „Ja, Herr Bürgermeister," entschuldigte sich Demut, „wenn ich in den Straßen abrufe, hört's ja niemand, denn um elf Uhr, da liegt schon alles im festen Schlafe. Und die Herren wollten es auch gerne hören. Und was ich ihnen erzähle, Herr Bürgermeister, das trägt doch zur Unterhaltung und so zu sagen zur Bildung mit bei." Das wollte nun der Herr Bürgermeister nichr so ganz zugeben, namentlich betreffs der Bildung, und meinte zuletzt, Demut hätte zu Hause nichts zu tun, deshalb spänne er immer solche Geschichten aus, um sich traktieren zu lassen. Das komme daher, daß er keine Frau habe, die ihm den Kopf zurechtsetze. Für ihn, setzte er scherzhaft hinzu, wäre es gut gewesen, wenn er wieder geheiratet hätte. 93 „Hm," dachte Demut, als er wieder nach Hause kam, „für ihn wäre es gut gewesen, wenn er wieder geheiratet hätte, hatte der Bürgermeister gesagt. Vielleicht hatte der Herr Bürgermeister recht. Aber — könnte man nicht seinen Wunsch erfüllen?" Und da kamen dem alten wunderlichen Manne allerhand Gedanken, die zuletzt hinllbergingen zu seiner Nachbarin. Am andern Tage ging Demut zu Besuch bei Herrn Engelmann. Herr Engelmann hatte Theologie studiert, war aber nicht fertig geworden. Warum? wußte kein Mensch, hat's auch niemand erfahren können. Da hat er denn das Schreibfach ergriffen, wahrscheinlich weil er dachte: da ihm versagt sei, seine Gedanken mündlich von sich zu geben, wolle er dies schriftlich tun, und wurde Winkeladvokat. Demut ging gern zu dem Herrn, der in den drückendsten Verhältnissen lebte, und sie führten da allerhand theologische und philosophische Gespräche miteinander, und von ihm hatte auch Demut die Fremdwörter aufgeschnappt. Daß er sie dann beim Gebrauche in der Regel verdrehte oder falsch anwandte, das war nicht Herrn Engelmanns Schuld. „Sagen sie 'mal, Herr Engelmann," hub Demut nach der gewöhnlichen Begrüßung an, „sie, als studierter Mann, und namentlich da sie auf den Pfarrer studiert haben, die doch in Heiratsgeschichten bewandert sein müssen, sie müssen das ja noch wissen, wenn's auch lange her ist: Wie alt muß der Mensch sein, wenn er noch heiraten soll — ich meine, wo er nicht mehr heiraten kann?" Engelmann sah ihn von der Seite an und fragte: „Wollt ihr etwa heiraten, Demut?" „Je nun, Herr Engelmann, das kommt auf die Um94 stände an. Erst müssen die Vorfragen erledigt werden, wie der Herr Referendar Schmaling sagt, und da möchte ich bitten, mir erst meine gestellte Frage zu beantworten." „Zum Heiraten ist kein bestimmtes Alter festgesetzt und wenn ihr durchaus heiraten wollt, dann kann niemand etwas dagegen haben." „So l" entgegnete Demut, „das wäre also Punkt Eins: Niemand kann etwas dagegen haben I Der vorläufige Punkt, so zu sagen." „Und dann muh man eine Frau ernähren können!" fügte Engelmann hinzu, „das ist wohl der wichtigste Punkt!" „Richtig, Herr Engelmann, da haben sie recht. Ja, das wäre Punkt Zwei. Stimmt bei mir, Herr Engelmann, denn ich bin besolder Wächter der Nacht, und habe noch dazu meine Pangzion*), zwei Taler jeden Monat, als einziger Sicherheitsbeamter, wenn der ganze Magistrat schläft und die kleine Kratzbürste, der Pfeifer, auch, denn der hat mir die ganze Geschichte eingebrockt. — Also, Punkt Zwei stimmt, der wichtigste Punkt." „Dann müht ihr eine Frau wissen, die euch heiraten will, das gehört auch dazu," sagte Engelmann lächelnd weiter. „Da gebe ich ihnen wieder recht, Herr Engelmann, denn zum Heiraten gehören absolutemang Zwei, das heißt Eine, die uns heiraten will. Das ist Punkt Drei, und, wie mir scheint, der notwendige Punkt. Meinen sie nicht, Herr Engelmann?" „Das meine ich allerdings," entgegnete dieser, lächelnd über den komischen Alten. „Na," fuhr derselbe fort, „da Eins und Zwei in ) Prufion. 95 Ordnung sind, so kommt es bloß noch auf den dritten Punkt an." „Ja, wenn sie nun aber nein sagt?" fragte Engel- mann. „Baff!" machte Demut. „Gehört das zum dritten Punkte oder ist es ein Punkt für sich?" „Das gehört wohl mit dazu," meinte Engelmann. „Und wenn sie nein sagt?" fragte Demut. „Was dann?" „Ja, dann läßt man das Heiraten!" sagte Engelmann. „Nein, Herr Engelmann, das ist nicht ganz richtig, und darin weiß ich mehr Bescheid. Nein, dann ist man auf dem alten Flecke, und muß in der Wachtstube tuten und Geschichten erzählen." Daraus konnte Herr Engelmann nun nichts machen und schwieg. Demut aber erhob sich und sagte Herrn Engelmann Lebewohl. Bald darauf kam er in das Haus zurück, aber in voller Uniform und mit der Medaille auf der Brust, ging aber nicht links in die Stube, sondem rechts zu Frau Mehmel. Diese war nicht wenig erstaunt, ihn so in Wichs zu sehen, und fragte, ob er denn heute etwas Besonderes vorhätte. „Ja, sehen sie, Frau Mehmel, das kommt auf die Umstände an. Es gibt im menschlichen Leben drei Punkte, da muß man das beste Zeug anziehen, was man hat. Und für mich steht meine Uniform oben an. Das ist immer das Beste; notabene, wenn die Knöpfe gut geputzt werden, denn das Knöpfeputzen, Frau Mehmel, das muß man verstehen, das muß mit Aweckemang*) gemacht werden.

  • ) »vso.

S6 Demut fuhr fort: „Wer das Knöpfeputzen nicht kann, da bekommt die Uniform um die Knöpfe herum so'n weißen Schein, und es sieht aus, als wenn der Mond einen Hof hat und daraus in der Mitte hervorsieht; und da gibt's Regen, Frau Nachbarin, jedesmal Regen, darauf können sie sich verlassen." „Das weiß ich wohl," antwortete die Frau, „aber von ihren drei Punkten verstehe ich nichts." „Ist auch nicht ganz nötig, Frau Mehmel, denn, sehen sie, den ersten Punkt habe ich schon mit Herrn Engelmann besprochen, da brauchen sie keinen Anstoß zu nehmen, und der zweite Punkt stimmt auch, und vielleicht gibt der Magistrat noch ein Stückchen Kartoffelland dazu. Aber mit dem dritten Punkte, das weiß ich noch nicht; sehen sie, Frau Mehmel, da muß ich sie selber fragen." „Ich verstehe von dem allen kein Wort," bemerkte die Frau. „Glaube ich wohl, aber sie sind doch eine verheiratete Frau gewesen. Nun sagen sie 'mal, was halten sie vom Heiraten?" „Du lieber Gott," sagte die Frau bitter, „mir hat das Heiraten nicht viel Angenehmes gebracht, und an das Unangenehme werde ich denken, so lange mir die Augen offen stehen." „Weiß ich, Frau Mehmel, weiß ich," sagte der Alte herzlich, trat ihr näher, ergriff ihre Hand, und setzte ihr in seiner wunderlichen Weise weitläufig auseinander, wie er ihr viel Dank schuldig sei, daß sie sich nach seiner Frau Tode seines Dortchens angenommen habe und so viel getan, als nur eine Mutter hätte tun können. „Und," setzte er im Eifer hinzu, „wenn ich das vorher gewußt hätte, dann hätte ich meine Frau gar nicht zu heiraten brauchen, so gut haben sie es gemeint." 97 Dann kam er auf ihren Sohn zu sprechen, was der für einen guten Soldaten geben würde, und es sei nur schade, daß der alte Fritz nicht mehr lebe, denn dem alten Fritzen hätte er den Karl wohl gegönnt, und an dem könne sie noch ihre Freude erleben. Und die beiden wären so scharmantemang*) miteinander. „Und, Frau Mehmel, wie Geschwister sind sie, wahrhaftig. Wollen wir uns auch heiraten, weil ich doch die Uniform heute angezogen habe? Denn sehen sie, Frau Mehmel, vergeblich zieht man sie doch nicht gern an von wegen der Strapazion **), denn es ist meine letzte, und eine andere werde ich nun doch wohl nicht mehr kriegen."

  • ) oknroaaut, hier — freundlich, liebreich.
    • ) Strapaze — Abnutzung-

Die Frau sah ihn groß an und mußte, ungeachtet der bittern Erinnerungen, die er vorhin aufgesrischt hatte, doch lächeln über die komische Art, wie er seine Werbung anbrachte, dann sagte sie: „Herr Demut, wenn ich nicht wüßte, daß sie ein kreuzbraver Mann sind, wenn auch manchmal etwas wunderlich, dann dächte ich, sie wollten mich zum besten haben. Aber ich glaube wirklich, es ist ihr Ernst. Da kann ich ihnen weiter nichts sagen, als: ich habe an dem einem Male Heiraten genug und satt, und mich verlangt nicht zum zweiten Male danach. Wenn sie durchaus heiraten wollen, dann müssen sie schon wo anders anfragen. Bei mir sind sie an die Unrechte gekommen. Wenn ich ihnen aber einen guten Nat geben soll, und sie wollen es mir nicht übel nehmen, dann denken sie in ihrem Alter nicht mehr daran, 's ist schon um Dortchens willen; die besorgt ja auch alles so gut, daß sie keine Frau brauchen. Das ist meine Meinung, und nehmen sie es nicht übel!" „Also Punkt Drei ist nicht in Ordnung!" sagte der 7 98 Alte nach kurzem Stillschweigen. „Wie sagt Herr Engelmann? Ich will's ihnen sagen, Frau Mehmel: Dann läßt man das Heiraten! Und sie sind ja auch derselben Meinung. Und nun will ich hingehen und meine Uniform wieder ausziehen, sie wird sonst zu sehr strapziert l" — So wurden Karl und Dortchen nicht Geschwister, denn Demuts dritter Punkt traf nicht zu.

4. Kapitel

Ein Pfingstmorgsn im Himmelreiche. — Der Referendar und Nachtwächters Dortchen. — Die verdorbenen Nangßingenen. und wie der Landesgsrichtsrat den Doktor Klsekamm mit einer Waschfrau verwechselt. — Ein Simmermann, der sich zum ersten Male verliebt. zöge nicht bei dem Worte Pfingsten so etwas wie Maienduft und Lerchensang durch das Herz, etwas so Wonnegebendes und Sehnsuchterfüllendes! Und wenn er auch im engen Stübchen sitzt und etwas spätkommende Schneeflocken spotten der Hoffnung auf den erwarteten Frühling, oder wenn der Pfingsthimmel ein aschgrauer ist, und Regen vom Himmel herabströmt, wie mit Leinen gezogen, das Fest behält immer seinen Reiz, und nicht mit Unrecht nennt es Goethe das „liebliche," da es den Eingang bildet zu den Palästen der Herren des frischen Waldesgrüns und der bunten Wiesenteppiche. Am Pfingstheiligabend des Jahres 1811 ging es, wie jedes Jahr um diese Zeit, lebhaft in Ellrich zu. Nachbar ging zu Nachbar; über die Straße herüber und hinüber wurden Scherze gerufen, Fragen getan und Antworten gegeben. Alles aber, was gesprochen wurde, galt dem morgenden Feste, speziell dem „Frühmorgens." Karl Mehmel war an dem Tage schon nachmittags von der Arbeit nach Hause gekommen. Noch ehe er in sein Haus eintrat, sprach er bei Demuts vor. „Ist der Pfingststaat fertig, Dortchen?" fragte er. „Ja, Karl!" war die fröhliche Antwort. 7* — loo — „Na, dann wollen wir uns beide morgen früh im Himmelreiche die Maien holen," sagte er. „Ja, Karl! Willst du mich mitnehmen?" „Freilich, Dortchen, wen denn sonst? Morgen früh tanzen wir im Himmelreiche den Maientanz! Aber du mußt dich in acht nehmen, daß du mich nicht in die Hölle bringst!" „I, Karl, wie werde ich denn! Ich will schon aufpassen." „Gut! dann verschlaf' die Zeit nicht; ich hole dich ab!" Als Karl nach Hause kam, sagte er zu seiner Mutter, die seit kurzem durch einen Schlaganfall bettlägerig geworden war: „Mutter, morgen früh zieh' ich mit nach dem Himmelreiche, wenn du nichts dagegen hast!" „Nein, Karl, denn du bist ja nun Geselle geworden. Aber wen willst du denn als Maienjungfer mitnehmen?" „Demuts Dortchen!" erwiderte er unbefangen. Die alte Frau nickte befriedigt und sagte: „Ja, Karl, aber sieh dich vor, daß du nicht zu viel trinkst und nimm dich in acht und — das Mädchen auch. Denn du weißt wohl, wer den Pfingstmorgen betrunken aus dem Himmelreiche kommt, oder er hat seinem Mädchen 'was zu leide getan, der hat kein Glück mehr das ganze Jahr." „I, Mutter, sorge doch nicht! Ich will mich schon in acht nehmen und Dortchen auch." Vor der Stadt Ellrich im Süden zieht sich in weitem Bogen von Nordhausen her nach Walkenried, dem ehemaligen Kloster, dessen Ruinen noch heute wohl manchen Touristen in die Gegend führen, ein Kalkrücken, der bei Ellrich an einer Stelle — da, wo jetzt die Northeim- Nordhäuser Eisenbahn durch einen Tunnel führt — sehr schmal ist und auf beiden Seiten steil abfällt. Rechts 101 und links sind tiefe Seen, auf der Walkenrieder Seite der Itel, auf der Ellricher Seite der Pontel. Woher diese Namen stammen, vermag ich nicht zu sagen, und ob der letztere Name, wie gelehrte Ellricher zu meiner Zeit behaupten wollten, von Pontus oder Pont herkommt, darüber hat sich noch kein namhafter Gelehrter ausgesprochen, weil es ihm wohl zu unwichtig erschien. Dieser schmale Nucken da oben hecht auf dieser Stelle das Himmelreich, so lange man denken kann, und war zu meiner Zeit schön mit hohen Buchen bestanden, dazwischen tausendjährige Eichen. Wo nun ein Himmelreich ist, muß auch wohl notwendigerweise eine Hölle sein, anders geht es ja nicht, und so trug denn auch die enge und steil nach Ellrich zu abfallende Schlucht diesen Namen. Stieg man zum Himmelreiche hinauf, besonders aber an der Stelle über der Höllenschlucht, so klang es hohl unter den Füßen, denn der ganze Bergrücken ist hier voller Höhlen und Klüfte, und die Jungen krochen gern darin herum, obgleich, oder vielleicht eher, weil es verboten war; denn es war natürlich nicht ungefährlich, wie man beim Durchbrüche des Tunnels bei dem Baue der ermähnten Eisenbahn erfahren hat. Da kam man nach einigem Bohren in eine solche Höhle, die dann ausgemauert werden mußte und wobei mehrere Arbeiter von herunterbröckelnden Kalkstllcken erschlagen wurden. Wunderherrliche Sagen sind es, wenig bekannt, die diesen Bergrücken mit seiner originellen Formation, seinen großen und kleinen Höhlen und die Gewässer, von denen sie durchflossen werden, zum Schauplatze haben. Zwerge und Riesen, verwunschene Prinzessinnen und Schäfer, die sie erlösten, trieben in früherer Zeit dort ihr Wesen, und die tausendjährigen Eichen und schlanken Buchen flüsterten dem Abendwinde all die Geheimnisse zu, die sie in ihrem 102 Schatten belauschten. Der Wind, geschwätzig, wie er ist, nahm sie mit sich über die Felder und Höhen und plauderte sie überall aus, und so kamen sie unter die Leute. Heute hat die uralten Bewohner der schrille Pfiff der Dampfpfeife aus diesem stillen Erdenfleck verjagt, und die jetzt darauf stehenden Bäume jüngeren Geschlechtes, an- gerutzt von dem unter ihnen dahineilenden Ungetüm, wissen nichts mehr zu erzählen, der Wind hat nichts mehr auszuplaudern, und jene schönen Mären gehen nach und nach verloren. Das ist schade, aber nicht zu ändern. — Es war eine mondhelle Nacht. Nach der Mitter- nachtsstunde wurde es lebendig in den Häusern und auf den Straßen. Alte und junge Leute, Männer und Frauen, Burschen und Mädchen versammelten sich auf dem Markte. Das städtische Musikchor stand hoch oben auf der Rathaustreppe. Nach ein Uhr kommandierte ein Ordner, ein älterer Mann, Ruhe und forderte zur Aufstellung auf. Da kamen sie denn heran, paarweise, der Mann mit seiner Frau, der junge Bursche mit dem Mädchen, das er zur Maienjungfer erwählt hatte. Nachdem mit einiger Mühe alles geordnet war, gab man ein Zeichen, die Musik schmetterte los, und fröhlich erklang die uralte Weise: Mai ist kommen, freut Luch, Leutl Mai ist kommen, schön wie heut! Mai ahsi l Schöner Mai! Freut Luch, Mai ist kommen! — Kommen ist der Lisbesmai, Komm, mein Schatz, datz ich Dich frei'! Mai ahsil Schatz, ich frei'! Lisbesmai ist kommen! — Dann setzte sich die Musik an die Spitze des Zuges, der sich geordnet hatte; ein lustiger Marsch ertönte, und hinaus ging es in die Landschaft, dem frischen Pfingst- 103 morgen entgegen. Jubelnd stiegen die fröhlichen Menschen den Berg zum Himmelreiche hinan. Oben waren bereits Einzelne, die zuvor gekommen waren, beschäftigt noch Bänke aufzuschlagen und auf den Herden, roh aus zusammengetragenen Kalksteinen aufgebaut, Feuer anzuzünden, um den Morgenkaffee für die Herankommenden zu bereiten. Handwagen standen rings um einen kleinen freien Platz, der mit Birkenbüschen und Zweigen eingefaßt war. Auf den Wagen hatte man die verschiedenen Eßwaren und Getränke zum Verkauf heraufgebracht. Als der Zug oben angekommen war, löste er sich in kleine Gruppen auf, die sich um den Platz unter den Buchen auf Bänken oder im Moose niederließen, um zunächst den Morgenkaffee zu trinken und das verschiedenartige Pfingstgebäck zu versuchen. Fröhliches Geplauder, Scherz und Neckerei gingen herüber und hinüber. Dazu prasselten die Feuer — auf denen noch die verschiedenartigsten Dinge präpariert wurden, die durch ihren Geruch zum Versuchen einluden — und warfen ihren Schein auf die Gruppen und in die Wipfel der Bäume. Es war ein Bild, das dem Zuschauer wohl die Vorstellung jener heidnischen Waldfeste der alten Harzbewohner, der Cherusker, erwecken konnte, und vielleicht war auch dieser Frühgang nach den höhlenreichen Kalkbänken hinauf ein Ueberbleibsel eines derselben, das dann die christlichen Priester, vielleicht die Mönche von Walkenried, dadurch zu verdrängen gesucht hatten, daß sie den Ort zu einem Himmelreiche umtauften, davor die Hölle setzten, damit es einem christlichen Feste, dem Pfingstfeste, mehr entspräche. Doch ich will es nicht behaupten. Auch Karl und Dortchen hatten sich mit andern jungen Leuten in einer Gruppe zusammen unter einer dickstämmigen Buche gelagert. Dortchen öffnete den mitgebrachten 104 Korb, verschämt holte sie einen in runder Form ge- backenen Eierkuchen hervor und bot ihrem Begleiter davon an als selbsteigenes Gebäck. Denn so war es Sitte, jede Frau oder jedes Mädchen mußte selbst ein Gebäck für dieses Frühfest bereiten. Karl lobte den Kuchen gebührend und tat ihm die möglichste Ehre an, wobei Dortchen umständlich erzählte, wie sie ihn gebacken, was sie dazu genommen, wie viel von allem, bei welchem Kaufmann sie die Rosinen geholt, wie der Müller ihr das feinste Mehl habe mahlen müssen, und was der Bäcker gesagt, und dergleichen mehr. Bald wurde ein Zeichen durch die Musik gegeben, und jeder und jede rüsteten sich zum üblichen Spiele, dem „Maienbrautsuchen." Mit diesem Spiele hatte es eine eigene Bewandtnis. Den unverheirateten Männern wurden die Augen verbunden, und sie wurden mitten auf den Platz gestellt, während die Mädchen, jede mit einem Birkenzweige, einem sogenannten Maienbusch, in der Hand, einen Kreis um sie herum bildeten. Die Burschen gingen dann im Kreise herum, und welche Maie sie faßten und als in ihrem Besitze erklärten, deren Eigentümerin war für diesen Morgen seine Tänzerin, er setzte ihr die eroberte Maie nach der Rückkehr mit ihr vor ihre Tür, und während des ganzen Jahres bis zum nächsten Pfingstfest war er bei allen Festlichkeiten ihr Ritter. Karl und Dortchen hatten, wie dies natürlich meist bei jungen Leuten, die sich einander zugethan waren, vor- kam, ein Zeichen verabredet, um sich zusammenzufinden. Unter Scherz und Lachen hatte der eine oder der andere bereits seine Maienbraut aus dem Kreise geführt, um an den kleinen Wagen, die zu Verkaufsläden improvisiert waren, mit ihr dies oder jenes gemeinschaftlich 105 für seine Rechnung zu genießen und dem geschlossenen Bunde eine essende oder trinkende Weihe zu geben. Karl ging noch herum, und bei keiner Maie, die er bis jetzt in Händen gehabt, war das verabredete Zeichen gegeben worden. Endlich wurde ihm ein Maienbusch entgegengehalten mit dem verabredeten Zeichen. Rasch griff er zu und erklärte laut die Eigentümerin des Busches als seine Maienbraut, dabei den Seufzer llberhörend, der unweit von ihm erklang. Er riß die Binde von den Augen, um das vermeintliche Dortchen aus dem Kreise zu führen. Da blickten ihn ein Paar kohlschwarze Augen aus einem feingeschnittenen Gesichte an, das von der Aufregung gerötet war und daher um so mehr von dem kastanienbraunen, in der Dämmerung schwarz erscheinenden Haare abstach. Wie elektrisiert blieb er stehen, ohne eines Wortes mächtig zu sein, und blickte sie an, die ihm völlig unbekannt war, ohne sich zu rühren. Das verwirrte sie natürlich, und ihre Verlegenheit wuchs. — „Na, willst du denn ewig da stehen bleiben? Raus aus dem Kreise !" rief man ihm lachend zu, und nun erst faßte er zaghaft ihre Hand und führte sie aus dem Kreise hinaus. Bald darauf war das Spiel zu Ende. Es war, obgleich noch lange vor Sonnenaufgang, doch hell geworden, und man ging zum Rundtanz auf dem gerade nicht sehr glatten Boden, um eine in der Mitte aufgepflanzte riesige Maie. Auch Karl flog mit seiner Erkornen, die er nach Zimmermannsart angefaßt hatte, im Walzer und Hopser oder im Zweitritt dahin. Er hatte für nichts Auge, als für sie, und er schien ganz vergessen zu haben, daß er mit Dortchen Demut nach dem Himmelreiche gegangen war. Unter ihm dröhnte es hohl herauf, als ob die Geister in den Höhlen des Berges grollten ob der wilden Lust und ihre warnende Stimme heraufschickten, damit 106 die Menschen da oben es nicht zu arg trieben auf der Decke ihrer Behausung. Doch Sonnenaufgang nahte, und damit mußte geschlossen werden, um den Nachhauseweg anzutreten. Noch ein Walzer I Dann ein Marsch. Der Zug ordnete sich, um vom Platze weg aus dem Walde nach Hause zu ziehen. Karl trat mit seiner Begleiterin, mit welcher er noch nicht viel gesprochen, aber desto mehr getanzt hatte, in den Zug. Da erst traf sein Blick wieder auf Dortchen, und aus den blauen Augen derselben kam es wie angstvolle, stumme Klage, ohne daß er es jedoch wahrzunehmen schien. Sie hatte rechtes Leid an diesem Pfingstmorgen, und es war doch der erste, den sie mitmachte. Als sie, mißmutig über Karls Wahl, ihren Maienbusch achtlos hielt, war er von einem Burschen erfaßt worden, dem schon manche ausgewichen war. Als sie ihn erblickte und hörte, wie er sie johlend und schon etwas angetrunken als seine Maienbraut erklärte, hätte sie in die Erde sinken mögen vor Scham. Doch sie konnte ihn nicht zurückweisen und mußte mit ihm tanzen, so oft er es verlangte. Auf dem Wege erfuhr Karl erst eigentlich, wer seine Begleiterin sei, da sie, wie es schien, bei seiner Schweigsamkeit glaubte, in doppelter Weise für die Unterhaltung sorgen zu müssen. Sie erzählte ihm, daß sie Bertha Römisch heiße, auf dem Rittergute Werna diene, aber nicht als gewöhnliches Dienstmädchen, sondern für die feineren Arbeiten, die sie dann bei der Frau Amtmann selbst und mit ihr besorge. Denn ihre Mutter habe sie in allen feinen weiblichen Arbeiten selbst ausgebildet, weil sie gewollt habe, daß sie sich einst besser stehe, als sonst wohl, weil ihr Vater von gutem Herkommen und auch Beamter gewesen, aber früh gestorben sei. Und die Frau Amtmann 107 habe sie gern, und deshalb hätte sie auch gestern die Erlaubnis bekommen, mit einer Frau aus Ellrich, die öfter aufs Gut käme, nach Ellrich zu gehen und heute mit derselben und deren Manne das Fest im Himmelreiche mit- zumachen. Auch sei es das erste Mal, daß sie getanzt habe, und sie hätte sich das immer gewünscht, aber ihre Mutter hätte sie nie auf einen Tanzboden gelassen, und in Werna, da hätte sie nur mit den Mädchen, auch wohl mit der ältesten Tochter von Amtmanns getanzt. Das alles erzählte sie so natürlich lebendig, daß Karl gern noch wer weiß wie lange zugehört hätte. Als er sie nun fragte, ob sie wohl wisse, daß er nun ein ganzes Jahr das Vorrecht beim Tanze mit ihr habe, da antwortete sie errötend, das wisse sie wohl, und wenn er eben so gern tanze, wie sie, und die Frau Amtmann erlaube es, dann könnte es schon ein tanzlustiges Jahr für sie beide werden. Dabei lachte sie und zeigte ein Paar Reihen Elfenbeinzähne, um die sie jede Fürstin hätte beneiden können. Die Unterhaltung zwischen Dortchen und ihrem Begleiter war, wenigstens was sie anbetraf, nicht so unterhaltend, und je weiter sie mit ihm ging, desto fester faßte sie den Entschluß, sich los zu machen und davon zu laufen, mochte daraus werden, was da wollte, und dann nie wieder ins Himmelreich zu gehen, denn es schien ihr, als habe sie darin die Hölle gefunden. Als sie mit dem Zuge fast aus dem Walde herausgekommen waren, kam gerade der Referendar dem Zuge entgegen. Er hatte heute den letzten Rest der wollenen Unterjacke vom letzten Weihnachten abgelegt und fühlte sich so recht frisch und leicht an diesem Morgen; auch hatte Karline die Festtags-Nankingenen so sauber gewaschen und geplättet, daß es eine wahre Lust war, ihn anzusehen. Er war natürlich nicht so früh aufgestanden, als diejenigen, welche ihm entgegenkameu, aber doch früh 108 genug, um vom Berge den Sonnenaufgang sehen zu können. Vorsichtig war er den steinichten Weg in Anbetracht seiner reinen Nankingenen und des vom Taue zu beiden Seiten des Weges feuchten Grases heraufgeschritten. Als der Zug herangekommen war, mußte er jedoch ausweichen und sprang auf einen hervorstehenden Felsblock, um die Leute vorbeigehen zu lassen. Dortchen erblickte ihn, und mit Blitzesschnelle schössen ihr die verschiedensten Gedanken durch den Kopf. Das war wohl ein vornehmer Herr, und sah immer so sonderbar ernst aus; aber Karline, die bei ihm diente, hatte einmal gesagt, er wäre von Herzen gut, und wenn der etwas für einen Menschen tun könne, dann täte er es ganz gewiß. Wo sie den Mut herbekam, sagte sie später zu Karline, wußte sie nicht; aber sie riß sich plötzlich von ihrem Begleiter los, faßte den langen Arm des Referendars, der dem Wege zunächst baumelte, und sagte bittend: „Herr Referendar, kommen sie und gehn sie mit mir bis vor die Stadt !" „Bravo !" riefen die Nächstgehenden, „das ist recht! Der Herr Referendar muß den Zug mitmachen!" Und ehe dieser es sich versah, war er im Zuge an Dortchens Seite und marschierte der Stadt zu, woher er eben gekommen war. Der abgedankte Bursche drückte sich murrend zur Seite, und wenn es nicht der Referendar gewesen wäre, hätte die eben aufgegangene Pfingstsonne am Ende Streit und Kampf gesehen. Wenn dem Referendar anfangs die ihm zuerteilte Rolle nicht ganz gefallen hatte, so schien er, seinem Gesichtsausdrucke nach zu urteilen, nach und nach Geschmack daran zu finden, so unbequem es auch für ihm war, seine gewohnten langen Schritte um ein gut Teil verkürzen zu müssen. Er sah von oben herab zur Seite auf seine kleine niedliche Begleiterin, und wenn sie ihre blauen Augen zu ihm auf- 109 schlug, dann öffnete er die schmalen Lippen, aber im Zweifel darüber, was er reden sollte, kam kein Wort heraus. Diese Situation mochte ihm, je länger, je mehr, peinlich werden, und er wurde verlegen, der trockene Aktenmensch. Aber wovon sollte er auch wohl mit Dortchen reden? Von der Juristerei verstand sie nichts, speziell vom Bagatellwesen, das er zu bearbeiten hatte. Wie er noch über ein passendes Gesprächsthema nach- sann, half ihm Dortchen aus der Verlegenheit. Denn auch die einfachste Frau findet etwas zu reden, wo der überlegene Gelehrte stumm bleibt. „Sehen sie, Herr Referendar, wie schön da die Sonne aufgeht!" Mit diesen Worten wies sie ihn auf das jeden Menschen fesselnde Schauspiel des in den Wolken aufsteigenden Sonnenballs. „Ja," antwortete er, „das ist schön I Hast du das schon öfter gesehen?" „Ach, Herr Referendar, im Sommer, da stehe ich gern vor Sonnenaufgang auf, und wenn dann die Sonne über die Harzer Berge herüberkommt, dann freue ich mich immer, daß sie mich zuerst trifft, und ich denke, sie meint es dann noch einmal so gut mit mir. Dann nehme ich immer den Tau, der auf dem Grase in unserem Garten ist, und wasche mir die Stirn damit. Denn, sagt mein Vater, der Sonnentau giebt gute Gedanken, wenn man sich damit wäscht, sobald die Sonne ihre ersten Strahlen darauf wirft. Ach, und es sieht, so schön aus l Sehen sie nur, Herr Referendar, die Tautropfen glänzen wie die Perlen und in allen Farben! Daran kann man sich nicht satt sehen." Wie das Mädchen sprach! Das kam dem Referendar so ganz merkwürdig vor. Es war so einfach, und ganz anders, wie er es bei Cramer gelesen hatte, und fast wollte es ihn bedünken, es sei hübscher. Und das war Nachtwächters Dortchen, die Tochter des Mannes, der 110 immer Kriegs- und Geistergeschichten erzählte! Plötzlich fragte er: „Glauben sie auch an Geister, Jungfer Dortchen!" — Erst hatte er sie „du" genannt, weil sie ihm doch gar zu klein vorkam, jetzt nannte er sie mit einem Male „sie." „Ach, gehn sie doch, Herr Referendar! Sie glauben doch gewiß auch nicht daran. Mein Vater erzählt zwar viel davon, daß er dies und jenes gesehen hat, aber" setzte sie schelmisch lächelnd hinzu, „ich denke, er erfindet die Geschichten, um die Leute damit zu unterhalten und weil sie so etwas gerne hören, wenn sie auch nicht recht daran glauben." „Potz der Tausend!" dachte er, „was das Mädchen für Kourage hat, die wäre imstande und sagte, der ganze Cramer wäre erfunden!" Und er bekam Respekt vor der kleinen Nachtwächterstochter. Als sie nun vollends vor der Stadt mil ihm aus dem Zuge heraustrat und mit freundlichen und herzlichen Worten ihn bat, er möge es ja nicht übel nehmen, daß sie ihn inkommodiert habe, aber sie hätte das Vertrauen zu ihm gehabt, daß er ihr den Gefallen tun würde, und nun danke sie ihm für die große Ehre, die er ihr durch seine Begleitung erwiesen; und wie sie dann nach einem Knicks, der ihr so gut stand, davonhüpfte auf dem Wege, der um die Stadt herum nach ihrem Hause führte — da war der alte Knabe ganz weg vor Bewunderung, stand noch eine Weile und sah ihr nach. Dann wandte er sich, maß mit seinen langen Spazierhölzern den Weg zurück, ohne jetzt auf den Weg zu achten oder an die Nankingenen zu denken, marschierte in das Himmelreich hinein und wieder heraus, und wußte es garnicht, bis er mit einem Male vor den Ruinen des Klosters Walkenried stand. Da sah er sich verwundert um, wie er doch dahin gekommen war, und konnte es schier nicht begreifen. lll Nachdem er auf einer dort stehenden Bank einige Zeit in Gedanken gesessen, dirigierte er seine Beine auf einen anderen, nach Ellrich zurückführenden Weg und kam im Laufe des Vormittags wieder im rosafarbenen Hause mit den schokoladefarbenen Fensterladen an. Karline kam ihm entgegen. „Ach, Herrjemine! Herr Referendar, wie sehen sie denn aus?" Dabei blickte sie so ganz wie trostlos nach dem unteren Teile der gelben Nankingenen. Verblüfft besah sich der Heer Referendar, und was er da sah, war allerdings auch für ihn nicht erfreulich. Das von dem Morgentaue feuchte Gras, durch welches er nach der Begegnung mit der Nachtwächterstochter achtlos gegangen war, hatte die innere Seite der Nankingenen recht hübsch eingeweicht und ihnen die Steifheit und den Glanz benommen. Die Stiefel aber, die Karline am Abend vorher mit Aufwand der doppelten Portion Wichse so recht festtäglich blank geputzt hatte, hatten sich während des Gehens redlich bemüht, das erhaltene Zuviel an Schwärze in größter Uneigennlltzigkeit an die Gelben ab- zugeben, und es war da unten so'ne recht nette österreichische Kouleur geworden, in der das Schwarze jedoch den Vorrang behauptete über das Gelbe. „Ach, und ich hatte mir soviel Mühe gegeben mit Waschen und Plätten!" rief Karline schmerzlich aus, „die kriege ich gar nicht wieder rein! Wenn ich nur wüßte, was sie nun heute anziehen wollten, denn die anderen sind doch zu schmutzig, ich habe sie auch schon eingeweicht, und ich kann doch heute zum lieben Feste nicht waschen!" Ja, wenn Karline keinen Rat wußte, der Herr Referendar wußte erst recht keinen. „Ausziehen müssen sie sie, Herr Referendar!" sagte Karline bestimmt, „und dann," fuhr sie seufzend fort, „will ich sie einweichen und sehen, ob ich sie ihnen für nach- U2 mittag wieder instandsetzen kann. Bis abends werden sie sie ja dann wieder anziehen können, damit sie wieder reinlich auf die Straße gehen können." „Ja, Karline, aber was fange ich denn derweile an?" „Na, dann bleiben sie bis heute nachmittag in Morgentoilette," erwiderte Karline resolviert, „und wenn jemand kommt, dann sage ich, sie waren krank, und lasse niemanden vor." Der Referendar ging betrübt in seine Kammer und kam nach einer Weile, umhüllt von dem Geblümten, wieder heraus, die verdorbenen Pfingstunaussprechlichen der Karline zu überreichen. Dann setzte er sich in den Lehnstuhl, und in Ermangelung anderer Beschäftigung nahm er einen Band seines Lieblingsschriftstellers Cramer. Doch auch mit diesem ging es ihm heute wunderbar. Während er sich sonst an der fesselnden Lektüre ergötzt und den schwungvollen Stil bewundert hatte, tanzten jetzt auf der Seite, die er anfing zu lesen, vor seinen Augen allerhand Figuren umher, und es passierte ihm, daß er nicht weiterkam. Wenn er eine der viel vorkommenden langen Perioden durchlesen wollte, so wußte er beim Schlußsätze nicht mehr, was in den Vordersätzen gesagt war, und er mußte den Satz von vorn beginnen. Bald hüpfte über das Blatt ein weibliches Wesen mit blonden Zöpfen und in hellfarbigem Kattunkleid, bald tanzte ihm der rote Sonnenball von heute früh vor den Augen, bald sah er nichts als Tautropfen, die regenbogenfarbig glitzerten. Sogar die stiefelwichsgeschwärzten Gelben in Karlinens Hand und Karline selbst mit dem vorwurfsvollen Blicke erschienen auf der Blattfläche. Schließlich versank er so in Gedanken, während Cramer auf den Knieen unbeachtet lag, daß er sogar den Klopfer an der Haustür überhörte. „Herr Referendar, um des Himmels willen, da kommt jemand !" rief Karline, die vorsichtig erst in die Stube ge- — 113 — schaut hatte, ehe sie öffnete. „Gehen sie hinein in die Kammer!" Der Angeredete erhob sich aus seinen Träumen, und mit einem einzigen langen Schritt verschwand er hinter der Kammertür. Draußen aber sagte ihm eine nur zu bekannte Stimme: „Guten Morgen, Karline! Ist der Herr Referendar zu Hause?" „Ach! der Herr Landesgerichtsrat I — Du meine Güte I — Nein! — Ja I — Ja, zu Hause ist er wohl, aber — Herr Landesgerichtsrat, ach — ich kann's ihnen nicht sagen!" Dabei öffnete sie die Tür des Zimmers und ließ, indem sie fortwährend knixte, den alten Herrn eintreten, der im Vorbeigehen seinem Referendar irgend eine Mitteilung hatte machen wollen. Dieser Empfang machte den alten Herrn stutzig, und er fragte die höchst verlegene Karline: „Was ist denn passiert?" „Ach, Herr Rat, es ist gar zu fatal!" und dabei drehte sie immer an ihrem Schürzenbande, dann und wann einen scheuen Blick nach der Kammer werfend. „Ist er krank?" „Ja, Herr Rat, — wenigstens so gut wie krank. Es kann niemand zu ihm." „I, das wäre! Wo ist er denn? „Dort in der Kammer, Herr Rat. Aber — " als er eine Bewegung nach der Kammer zu machte, „gehen sie nicht hinein I Ach — es ist wirklich — zu unangenehm." „Was fehlt ihm denn?" „Ach er hat — er hat — ich kann's ihnen nicht sagen, es scheniriert*) mich zu sehr."

  • ) gklllrrt.

Der Rat, dem bei der Verlegenheit und dem sichtlichen 8 114 Bestreben Karolinens, ihm vom Eintritte in die Kammer fern zu halten, ein naheliegender Gedanke durch den Kopf fuhr, fragte: „Er hat's wohl im Unterleibe? Ist unterleibskrank?" »Ja, Herr Rat!" rief Karline wie erlöst, daß der Herr nun selbst auf eine Krankheit verfiel, die ihn vielleicht vom Eintritt in die Kammer abhielt. „Unterleibskrank ist er. Ach, es ist zu schrecklich!" „Na, es wird nicht so schlimm sein! Will selbst 'mal nachsehen!" sagte der gute, alte Herr. Und was sie glaubte, abgewehrt zu haben, geschah nun erst recht. Der Rat trat ohne weiteres in die Kammer ein, um den kranken Referendar zu besuchen. Dieser hatte indessen inmitten seines unfreiwilligen Gefängnisses gestanden wie auf Kohlen, und je näher er den Augenblick des Eintritts seines Chefs herankommen sah, umso unangenehmer wurde ihm die Situation. Zuletzt als er bereits den Drücker der Kammerthür berühren hörte, faßte er krampfhaft den Geblümten vorn zusammen, wobei er seinen langen Oberkörper dann etwas nach vorn beugte, damit auch der untere Teil seiner langen Beine vollständig umhüllt sei und man beim Gehen den Mangel der Unaussprechlichen nicht merke. So sah er denn, namentlich wenn man sein vor Verlegenheit in so wehleidige Falten gezogenes Gesicht dazu nahm, wirklich aus, als wenn er unterleibskrank wäre und rechte Schmerzen hätte. „Mein lieber Referendar! Ich bedaure sehr, daß sie krank sind, man sieht es ihnen an. Haben sie Schmerzen, arge Schmerzen?" „Ach ja," sagte Schmaling in seiner peinlichen Verlegenheit. „Aber warum legen sie sich denn nicht ins Bett? — Aha, ich verstehe," sagte er, als Schmaling nicht antwortete und nur eine verneinende Bewegung machte. „Aber 115 besser ist es doch. Ich würde ihnen raten, das sogleich zu tun. „Ach, Herr Rat! Ich glaubte — ich dachte —" „Nichts da l Legen sie sich hinein !" sagte der alte Herr bestimmt. Und als der Referendar immer noch so krumm vor ihm stehen blieb, erfaßte ihn das Mitleid, weil er meinte, er könne sich vielleicht vor Schmerzen nicht recht bewegen, und er sagte: „Sie können sich wohl nicht richtig aufrichten? Das ist gewiß so ein Kolikanfall, wie ich ihn 'mal gehabt habe, daran werde ich denkenl Na, kommen sie, ich helfe ihnen." Damit nahm der gutmütige Rat in der Erinnerung an seine eigene damalige Hilflosigkeit den Referendar unterm Arm, drehte ihn vorsichtig nach dem Bett zu, deckte dasselbe eigenhändig auf und sagte: „So, legen sie sich nur, die Bettwärme ist doch besser !" Da er aber beim Auseinanderfahren des Geblümten des Referendars Beschaffenheit bemerkte, schalt er ihn, daß er bei solchem Krankheitsfälle nicht wärmer angekleidet wäre. Als der Referendar gut zugedeckt war, ging der Rat in die Küche und beauftragte Karline, sofort Thee zu kochen, halb Kamille und halb Pfefferminze, aber etwas stark denn, der Referendar scheine einen starken Kolikanfall zu haben. Er selbst wolle nach.Hause gehen, um die Tropfen zu holen, die er bei gleicher Veranlassung gebraucht habe, und dann wiederkommen, um zu sehen, ob man doch nicht vielleicht den Doktor holen solle. Dann ging der menschenfreundliche Herr. Karline stand wie versteinert da und vergaß ganz, daß sie doch den Herrn Rat hätte bis zur Tür begleiten müssen. Dann, als sie wieder allein war, schüttelte sie den Kopf und meinte: „Das kommt davon I Kamillentee ? Pfefferminz? Die Hosen muß ich doch auch waschen, da hilft alles nicht!" Aber weil der Herr Rat nun einmal befohlen hatte, wurde der Tee gekocht, und da sie heißes Wasser im 8* — 116 — Vorrat hatte, war er gerade fertig, als der alte Herr wiederkam. „Bringe eine Tasse voll herein, Karline!" sagte er und ging zu dem Kolikkranken Referendar. — „So, mein lieber Referendar, nehmen sie zunächst von diesen Tropfen! Fünfundzwanzig auf Zucker. Meine Frau hat mir gleich welchen mitgegeben, läßt übrigens von Herzen gute Besserung wünschen." „Danke verbindlichst, Herr Rat!" erwiderte Schmaling so recht kleinlaut, ob in Anbetracht der Tropfen, oder des Tees, den Karline eben hereinbrachte, vermag ich nicht zu sagen. Beides mußte hinuntergewürgt werden, eher ging der Rat nicht. Dann drückte er dem Referendar die Hand und sagte: „Nun bleiben sie nur ruhig liegen, es wird bald besser werden. Adieu! Ich komme wahrscheinlich noch einmal vor oder werde ansragen lassen, wie es geht." — Draußen aber sagte er zu Karline: „Wenn es in einer halben Stunde nicht besser ist, dann gehen sie zu dem Doktor Kleekamm und bitten ihn in meinem Namen, sogleich zu dem Herrn Referendar zu kommen, denn dann kann nur der Doktor helfen!" — Als ob Kleekamm eine Waschfrau gewesen wäre! — Der Herr Referendar aber spielte die Rolle des Kranken wider Willen fort, bis Karline die Unaussprechlichen wieder in anziehbaren Stand gesetzt hatte.-------- Karl hatte seine gewonnene Maienbraut nicht nur nach der Stadt gebracht, sondern er war noch weiter mit ihr bis nach Werna gegangen. Was da gesprochen wurde unterwegs, will ich nicht weitläufig erzählen. Denn alle die Gespräche zwischen zwei jungen Leuten, die sich gefunden haben, laufen immer auf eines hinaus, und wenn im Salon gesagt wird: Mein teuerstes Fräulein, ihre zartbesaitete Seele wird ihnen schon längst gesagt haben, — 117 — daß alle meine Pulse für sie schlagen usw. usw., so sagt ein Zimmermann einfacher: du, ich bin dir gut, sei mein Schatz I und damit ist denn die Sache in der Regel abgemacht. Ob Karl schon an diesem Morgen so zu Bertha Römisch gesprochen hat, kann ich nicht sagen, aber jedenfalls bei einer der nächsten Zusammenkünfte, und solche kamen seit der Zeit recht viele.

5. Kapitel

Ein Abend in der Döllmerei. — Der Gbsrprsdiger Winkler und der Landesgerichtsrat Weimar als magnetische Pole. — Was Biedermann aus der Jahreszahl 1812 alles nachträglich erklärt. — Ein blutiger Schatten trennt zwei Leute die sich lieb haben. MHs war im Oktober des Jahres 1812. In der Gastube der Döllmerei saßen die Herren der vornehmen Welt von Ellrich um den runden Tisch beisammen und tranken ihr Braunbier. Den lederbeschlagenen Lehn- stuhl in der Nähe des Ofens nahm der alte Landesgerichtsrat ein, das war sein unbestrittener Ehrenplatz. Das Gespräch drehte sich natürlich um die Ereignisse des Jahres, die auch in diesen Erdenwinkel ihre Schatten warfen und ihre Opfer forderten. „Die Hauptstadt des großen Nussenreiches, Moskau, soll also doch in die Hände der Franzosen gefallen sein, und zwar ohne Schwertstreich !" berichtete einer aus der Gesellschaft. „Ein Herr, der gestern aus Nordhausen bei mir war, hat es für ganz bestimmt versichert," setzte er hinzu, um zugleich die Quelle anzugeben, aus welcher er diese wichtige Nachricht geschöpft hatte. Denn Zeitungen, außer den gelieferten amtlichen Blättern, wurden auch in diesem Kreise in damaliger Zeit noch nicht gelesen, und in jenen stand nichts weiter, als die erlassenen Verordnungen und Gesetze der Regierung. „Ja, das habe ich auch nicht anders erwartet," sagte der Oberprediger Winkler, „denn wenn einer das große Rußland bezwingen konnte, dann war es der mächtige Kaiser." 119 Der Prediger war ein großer Verehrer Napoleons, wie damals so viele Deutsche, die über ihre Unterdrückung noch dem Urheber derselben zujubelten und die Schmach nicht empfanden, die an ihrem Vaterlands haftete. „Ein gewagtes Unternehmen blieb es immer," bemerkte ein anderer, „denn es ist doch schon einmal ein großer Kriegsheld dort in die Patsche gekommen und hernach froh sein müssen, als die Türken ihn aufnahmen." „Ach, sie meinen Karl den Zwölften?" erwiderte der Oberprediger. „Ja, lieber Freund, das war eine ganz andere Sache. Erstlich war das vor hundert Jahren, wo ein Peter der Große die Geschicke Rußlands leitete und es durch sein Genie und seine großartigen Einrichtungen aus der Barbarei Herausriß. Gegen Karl konnte er nichts ausrichten, so lange er ihn außer Rußland bekämpfte. Darum ließ er ihn in das Land kommen, ihn da sicher zu vernichten. Das war ein Meisterstreich Peters, denn Karl — das muß man ihn lassen — war der größte Kriegsheld seiner Zeit, Peter aber war schlauer als er.*) Karl ließ sich denn auch verleiten, von dem direkten Wege nach Moskau abzuweichen, um sich mit einem so nichtssagenden Kosakenhäuptling, wie dieser Mazeppa war, zu verbinden. Das hat ihm den Hals gebrochen, und Peter der Große hatte ihn dann bei Pultawa in der Falle. Die ganze Geschichte ist zwischen Peter und Mazeppa abgekartet gewesen. Mazeppa mußte den Treulosen gegen den Zar spielen, um Karl XII. in die Falle zu locken. — Jetzt ist das ganz anders. Napoleon weiß was er zu tun hat, er allein macht alles, er braucht keine kleinen Verbündeten. . ."

  • ) Ich weiß nicht, ob der Oberprediger Voltaires Charles Xll. kannte, vielleicht war das nicht der Fall, denn Voltaire war ungeachtet seines Franzosentums wohl nicht des Oberpredigers Freund.

120 „Ich meinte, er hätte an den deutschen Fürsten gerade genug !" warf der Landgerichtsrat ein. »Ja, Herr Rat, das ist ja ganz etwas anderes. Sie folgen diesem großen Sterne, und von dem Ruhme, den er erwirbt, fällt ja natürlich auch unseren Fürsten ihr Teil zu, aber überall ist Plan, ist Einheit. Haben sie nicht gehört, wie die Russen es gar nicht wagen, dem Siegesläufe des großen Kaisers entgegen zu treten? Keine Schlacht I Die Generäle der großen Armee sind ganz mißmutig darüber, und man kann es ihnen natürlich nicht verdenken; sie sind zu sehr gewöhnt Lorbeeren zu pflücken. Nun geht es direkt nach Moskau zu. Dort wird dem Kaiser von Rußland der Friede diktiert, der sein Reich in die Reihe der von Frankreich abhänigen Staaten einreiht." „Oder die verfl.... Franzosen finden vielleicht ein zweites Pultawa," sagte der alte Rat leise zu seinem Nachbar. Der Prediger hatte es aber doch gehört. „Wo denken sie hin, Herr Rat?" sagte er. „Ist der Kaiser einmal in dieser Stadt, die so unendlich viele Vorräte birgt, und er soll wie die neueste Nachricht lautet, ja bereits darin sein, dann ist die Armee gesichert. Sie kann in den Winterquartieren sich von den Strapazen erholen und wer weiß, welches neue Land Napoleon ausersehen hat, es in die große von ihm gegründete Dölkerfamilie aufzunehmen, damit der Spruch wahr werde: Es soll ein Hirt und eine Herde werden." „Von einem Hirten habe ich bis jetzt nichts wahrnehmen können," sagte der Rat trocken. „Mir tut es aber leid," fuhr er wärmer fort, „wenn ich sehe, daß dem Kriegsgotte immer neue Opfer gebracht werden, und um seinen Altar herum sitzen kinderlose Eltern und verlassene Bräute und Weiber als stumme Ankläger der Schmerzen, die ihnen verursacht worden sind von dem, der diese Verluste herbeigeführt hat L 8on plaisir." 121 „Ja, das ist wahr," sagte der Rentier Reinecke, „in manche arme Familie schneidet es ganz gewaltig ein. Da ist z. B. die alte kranke Mehmel. Das arme Wurm liegt da und kann sich schon seit Jahren nicht rühren. Ihre einzige Hoffnung war ihr Sohn, der Karl, der Zimmermann. Er hatte einen hübschen Verdienst, und er ist ja auch ein ordentlicher Mensch und hält auf seine Mutter, spielt nicht, trinkt nicht, wie dieser Art Leute es so oft tun. Da haben sie ihn denn dies Frühjahr auch weggeholt, und Gott weih, wenn er wieder kommt. Die arme Frau ist wirklich schlimm dran." „Ja, lieber Herr Denecke," erwiderte der geistliche Herr salbungsvoll, „Leiden schickt der Herr zu unserer Prüfung und Besserung. Aber wenn Trübsal kommt, dann ist es gut, wenn man sich auf ihn verläßt und ffille hält Das wird ja wohl die Frau auch tun. Sie hat nie nach mir verlangt, auch damals nicht, als ihr Mann auf seinem Sündengange den Tod fand. Das war ihr eine ernste Mahnung zur Buße. Ich will hoffen, daß sie dieselbe verstanden hat. Uebrigens führt Gott in die Trübsal hinein und auch wieder hinaus, und er hilft immer, wenn es nötig ist." „Besser ist es wohl noch," erwiderte etwas scharf der alte Rat, „wenn sich die Menschen der alten Frau annehmen und sie aufsuchen und unterstützen, soviel sie können, als wenn sie ihr Gottes Hilfe nur wünschen." „Ja natürlich," sagte der Prediger etwas betreten, „das bleibt ja nicht ausgeschlossen. Wer es hat und von seinem Ueberflusse den Armen giebt, tut sicher ein gutes Werk, das dem Herrn wohlgefällt." „Na, dann tun sie es man," bemerkte der Rat etwas grob. Der Oberprediger tat, als höre er es nicht, während die andern aneinander stießen, daß der „alte" Herr dem „geistlichen" Herrn, dessen Genauigkeit und Zähigkeit be- 122 bannt war, eins abgegeben hatte. Die beiden Herren waren in ihren Lebensanschauungen wie zwei Pole, die aber, so oft sie in der Völlmerei zusammenkamen, aufein- anderplatzten, zuweilen in ziemlich derber Weise. So hatte sich der alte Rat nie für den Korsikanischen Welteroberer und seine Großthaten begeistern können, während der Prediger sein ausgesprochener Verehrer war, wie wir eben gesehen haben. Der alte Herr, obgleich hier und da derb, war beliebt bei Alt und Jung, und wenn er mal bei den Gerichtsverhandlungen jemand anschnauzte, die Leute wußten doch, daß es nicht böse gemeint war, und daß er ohne Geräusch, und ohne zu dulden, daß irgendwie davon in seiner Gegenwart gesprochen wurde, viel Gutes tat, das er dann durch rauhes Wesen zu maskieren suchte. Er war eben ein absonderlicher Herr. Der „geistliche" Herr war es auch, aber auf eine andere Weise. Er hatte gegen niemanden ein böses Wort, war im Gegenteil stets freundlich, aber er trat niemandem näher, und seine Freundlichkeit und sein liebreiches Wesen war wie ein Kleid, das er übergeworfen hatte, reinlich und von tadellosem Schnitt; aber mit solchem Kleide geht man nicht in jedwede Gesellschaft, denn es kommen garleicht Flecken daran, und geringe Leute haben vor solchen Kleidern eine gewisse Scheu. Es war bekannt, daß der Oberprediger nicht gern gab, und das ist in einem kleinem Orte bei einem Geistlichen ein großer Fehler; in einer großen Stadt wird es wohl weniger bemerkt. Dem Oberprediger aber nahm man es um so mehr übel, als er keine Kinder hatte und ziemlich wohlhabend war. Beim alten Rat war dagegen eine große Familie, namentlich viel Töchter, und ein kleines Vermögen. Die Töchter waren zu der Zeit schon meist und gut verheiratet an einflußreiche Männer. „Alles scheint darauf hinzudeuten," mischte sich der Wirt Völlmer ein, der das stockende Gespräch wieder in 123 Gang bringen wollte, „daß es eine schlimme Zeit wird, denn der Komet, den man gesehen hat............" „Ach, gehn sie doch mit ihrem Kometen!" sagte der Rat ärgerlich, „der kümmert sich viel darum, was hier auf diesem Weltkörper die Knirpse machen, und gegen solchen Kometen ist Napoleon doch auch nur ein Knirps." „Nun," erwiderte der Oberprediger ein wenig von oben herab, „es läßt sich wohl nicht leugnen, daß himmlische Zeichen andeuten können, was auf Erden geschieht, und solche Zeichen sollen dann die Menschen mahnen zum Nachdenken und zur Buße." Der alte Herr schwieg, wie immer, wenn der Oberprediger auf dies Thema kam, und dieser wußte das aus Erfahrung recht gut und benutzte sie, um dem alten Herm einen Trumpf auszuspielen, auf den er nicht herausgeben konnte oder mochte. „Daß es ein ereignisreiches Jahr werden würde, ließ sich voraussehen," begann der alte Ratmann Biedermann, ein großer Verehrer der alten Griechen und besonders des Pythagoras, weshalb er sich auch gern mit Mathematik beschäftigt hatte. In seinen alten Tagen aber machte er allerhand mathematische Kunststückchen, und sein Lieblingsphilosoph hatte ihn zu ganz besonderen Manipulationen veranlaßt. „Mit Sicherheit ist darauf zu rechnen," fuhr er fort, „daß ein mächtiger Fürst von seiner Höhe herabgestllrzt werden wird." „Woher wollen sie das wissen?" riefen mehrere eifrig. „Aus der Zahl 1812!" war die ruhige Antwort. „Erklären sie sich näher!" wurde Biedermann aufgefordert. „Das ist sehr einfach," sagte Biedermann. „Es hat, wie sie wissen, einen großen Philosophen bei den alten Griechen gegeben, der sich Pythagoras nannte. Er behauptete, daß die Zahl das Regierende sei in der Welt. 124 Und, meiner Ansicht nach, hat er Recht gehabt. Denn alle Dinge, die es in der Welt gibt, werden durch die Zahl bestimmt, und darum lassen sich auch aus der Zahl wieder die Dinge und Begebenheiten bestimmen. Sie stehen mit der Zahl in Verbindung. Ein ganz schlagendes Beispiel hierfür ist die Zahl 1812. Nehmen wir zunächst mit Hilfe der Addition, die die Grundlage für die anderen drei Spezies bildet, die Quersumme der Zahl, so erhalten wir zwölf, dieselbe Zahl wie die Jahreszahl des Jahrhunderts, ein Beweis, daß das Jahr eine ganz besondere Bedeutung haben wird. Dies haben wir ja nun schon erfahren, indem ein großer Krieg begonnen hat, in dem es zur Niederlage des einen oder anderen kommen kann. Aber dies wird noch in diesem Jahre geschehen und zwar die vollständige Vernichtung des einen. — Teilen sie die Zahl von einer Seite nach der anderen in zwei gleiche Hälften, so erhalten sie achtzehn und zwölf. Ziehen sie die kleinere von der größeren ab, so erhalten sie die Zahl sechs. Diese ist zugleich in der ersten und zweiten enthalten und überdies in der Quersumme. Multiplizieren sie die zweite und die korrespondierende vierte Zahl, also zweimal acht und zählen die beiden eins dazu, so erhalten sie wieder achtzehn. Ziehen sie hiervon die Jahreszahl zwölf ab, so bleibt zum zweiten Male sechs. Teilen sie mit der Quersumme der zweiten Hälfte der Jahreszahl in die erste Hälfte, also drei in achtzehn, so erhalten sie zum dritten Male sechs. Ebenso erhalten wir sechs, wenn wir die Quersumme der zweiten Hälfte der Zahl von der Quersumme der ersten Hälfte abziehen, denn drei von neun bleibt sechs. Wir erhalten also durch Addition, Multiplikation und Division jedesmal sechs oder vielmehr, wir erhalten auf eine dreifache Weise sechs, und die Subtraktion unterstützt die drei anderen Rechnungsarten." 125 »Ja, ja, das trifft alles zu, aber was kommt denn dabei heraus?" riefen einige. „Werden sie gleich erfahren, meine Herren," sagte Biedermann ruhig. „Stellen sie diese dreimal sechs hinter- einander, so entsteht die Zahl 666. Und diese Zahl, meine Herren," fuhr er mit feierlicher Stimme fort, „ist verzeichnet in der Offenbarung Iohannis, Kapitel dreizehn, als die Zahl des großen Tieres, das heruntergeworfen wird von seinem Stuhl in den Abgrund." Biedermann schwieg. Völlmer dagegen holte eine Bibel herbei, schlug die bezeichnete Stelle auf, und jeder konnte sich überzeugen, wie da stand: Und die Zahl des großen Tieres ist 666. „Merkwürdig ist es doch!" sagte der eine. „Daß es mit der Bibel übereinstimmt, ist eine sonderbare Sache, da möchte man doch glauben, was Biedermann sagt," bemerkte ein anderer. „Der Mensch soll nicht wahrsagen und Zeichen deuten !" sagte der Oberprediger, „und es ist nicht christlich, wenn man einen heidnischen Philosophen in Verbindung mit dem Worte Gottes bringt; aber alle biblische Weisagung wird in Erfüllung gehen und so auch diese. Wollten wir es auf unsere Zeit anwenden, so könnte damit vielleicht das große Zarenreich selbst gemeint sein, obgleich ich darüber keine Meinung aussprechen will." „Lies doch mal einer das Kapitel vor." Und dem Referendar wurde das Buch in die Hand gegeben und er las es. Als er fertig geworden war, sprachen mehrere ihre Meinung dahin aus, daß auf Rußland das Kapitel und was darin gesagt sei, nicht passe. „Ja, das ist auch meine Meinung," fuhr der alte Rat, der bis dahin still zugehört hatte, dazwischen. „Aber das Zeichen von dem großen Tiere, wie es da heißt, das 126 tragen wir seit ein paar Jahren an der rechten Hand*) und deshalb können wir sie auch nicht so gebrauchen, wie wir möchten, und wer das Tier nicht angebetet hat, der ist totgeschlagen worden*) und wird heute noch totgeschlagen, wie wir das in Rußland sahen. Das Traurige dabei ist nur, daß es so viele Leute gibt, welche das Tier nur zu gern anbeten und die Schmach nicht fühlen, die sie sich selber damit antun I — Hier, Völlmer, ist meine Pfeife, ich gehe nach Hause." Damit wollte er seine irdene Pfeife dem Wirte übergeben, damit er sie in den Pfeifenschrank stelle. Doch das geschah dieses Mal etwas hastig, er stieß an, und die Pfeife zerbrach. Bedauernd wollte Völlmer die Stücke aufheben, der Rat aber, nach seiner Mütze und dem Stock greifend, sagte: „Lassen sie den Dr. . . . liegen I Wenn soviel Menschen kaput gehen, dann ist es um alle Pfeifen der Welt nicht schade I Gute Nacht, meine Herren!" Wie auf ein gegebenes Zeichen erhoben sich die meisten anderen Herren und folgten dem alten Rat. Nur der Oberprediger blieb noch mit Denecke sitzen, um das Bier auszutrinken und die Pfeife auszurauchen; aber gesprochen wurde zwischen den beiden wenig mehr, und namentlich der Oberprediger saß etwas gedrückt da. Er verspürte den Sturm vielleicht, der da bald kommen sollte, um sein großes Tier, das er verehrte, wegzufegen. Im Frühjahre desselben Jahres hatte, wie Denecke erzählte, wirklich auch Karl Mehmel aus seinem kleinen Hause fortgemußt, um dem großen Eroberer in der Ausführung seiner ehrgeizigen Pläne zu dienen. Seine Mutter, die beim schrecklichen Tode ihres Mannes keine Träne gehabt, hatte still vor sich hingeweint, als er die ') Worte aus dem betreffenden Kapitel. 127 Nachricht mit nach Hause brächte. Wußte sie doch nicht, ob sie ihn Wiedersehen würde; nicht daß sie seinen Tod gefürchtet hätte, vielmehr dachte sie an ihren Abschied von ihrem einzigen Troste, ihrer einzigen Freude und ihrer bisherigen Stütze. Denn wie lange würde sie noch in diesem elenden Zustande dahin leben? Lange nicht mehr, das wußte sie gewiß. Zwar hätte sie gewünscht, noch recht lange zu leben, denn das Verhältnis ihres Sohnes zu Bertha Römisch machte ihr ernstlich Sorge. Sie glaubte nach alledem, was Karl ihr von dem Mädchen erzählt hatte, sie sei zu zart für ihren Sohn und würde sich in die bescheidenen Verhältnisse eines Zimmermanns, wo auch die Frau tüchtig körperlich in Haus und Feld schaffen muß, während der Mann oft wochenlang weit vom Hause auf Arbeit ist, nicht schicken können, sie, die auf dem Gute hauptsächlich für feine Handarbeit gebraucht wurde und so weiße feine Hände hatte. Mit Dortchen, ach, es war immer ihr Herzenswunsch gewesen, wäre Karl gewiß recht glücklich geworden, und die war so anspruchslos und — auch das wußte sie — hatte ihren Sohn so sehr gern. — Doch sie war gewöhnt, sich in die Verhältnisse zu schicken, und wie könnten Eltern dem Zuge des Herzens ihrer Kinder Einhalt tun? Darum fügte sie sich auch hierein, wie sie sich in viel, viel Schwereres hatte fügen müssen. Am Tage vor seiner Einberufung trat Karl an ihr Bett und bat sie, seine Braut nun als ihre Tochter zu betrachten, denn er sei fest entschlossen, nicht von ihr zu lassen, und wenn er glücklich wiederkomme, dann solle sie seine Frau werden. Die Mutter erwiderte, daß sie nichts dagegen habe, und er sei nun alt genug, um zu wissen, was er zu tun habe. Er möge, wenn er heute abend zu ihr gehe, ihr auch sagen, daß sie so oft komme, als es ihr möglich sei, 128 denn eine Mutter könne der künftigen Schwiegertochter doch manches sagen. Ja, das würde ihn recht freuen, hatte er da geantwortet, und die Bertha würde gern kommen, er wolle es ihr sagen. Dortchen wird dann wohl nicht so oft mehr kommen, sie ist schon in der letzten Zeit mit ihren Besuchen seltener geworden, meinte die kranke Frau seufzend. Karl antwortete nicht, aber er stand sinnend da und gedachte des letzten Pfingstfestes, an dem er mit der Nachbarstochter zum erstenmale im Himmelreiche gewesen war, wie er sie zur Maienbraut hatte erwählen wollen, wie durch einen unerklärlichen Zufall eine ihm bis dahin völlig Fremde ihm zugekommen, und wie dann aus der Maienbraut eine wirkliche Braut geworden war. Es hatte wohl so sein sollen, und gewiß, es war ein Wink des Himmels gewesen. Nicht so leicht, wie sonst, ging er heute abend dem Rittergute Werna zu. War es doch das letzte Mal für lange Zeit, denn morgen um diese Zeit war er längst auf dem Marsche. Wer weiß, vielleicht war es überhaupt das letzte Mal. Denn in dieser kriegerischen Zeit — die Leute sagten ja, es werde bald mit Rußland losgehen — war niemand sicher, daß er wieder käme. Als er auf dem Gute ankam, hatte ihn Bertha schon erwartet. Hand in Hand gingen sie die Dorfstraße hinauf bis zu einer alten Linde, unter welcher eine Bank stand. Hier ließen sie sich nieder. Das Gespräch wollte nicht recht fließen heute abend, ihre Herzen waren zu voll von dem Gedanken an die Trennung, und das mochte keins dem andern verraten. Endlich ging Karl direkt auf das Gespräch über ihre Trennung los. „Morgen geht's fort, Bertha," sagte er einfach. 129 »Ich weiß, Karl, und die ganzen Tage habe ich es nicht aus den Gedanken bringen können, daß du nun Soldat werden sollst." »Ja, Bertha, das geht vielen so, und dahinein muß man sich fügen." „Wenn's nur nicht wieder Krieg giebt, aber der Herr Amtmann sagte, es wird wohl mit Rußland losgehen." „Das muß man sich als Soldat gefallen lassen, und dafür wird man's ja, damit man im Kriege gebraucht wird." „Ja, aber es kommen viele nicht wieder !" sagte Bertha. „Und wenn ich mir das denken sollte, daß ..." Sie hielt die Hand vor die Augen. „Sieh, Bertha, darüber denke ich gar nicht nach, und du mußt auch nicht daran denken. Denn wenn ich als Zimmermann an ein Unglück denken wollte, dann dürfte ich gar nicht auf ein Gerüst steigen, wenn wir ein Haus richten. Es ist schon mancher Zimmermannsgeselle dabei verunglückt. So ist es bei den Soldaten auch. Nicht jede Kugel trifft, und," fügte er fröhlicher hinzu, „ein junger Zimmermann haut sich auch durch das härteste Holz." „Ja, Karl, ich glaube du wirst auch heil und ganz wiederkommen. Ach, es wäre doch zu schrecklich für mich, wenn zum zweiten Mal eine Kugel so fürchterlich in mein Lebensschicksal eingreifen sollte! Ich habe doch schwer genug zu büßen gehabt für das erste Mal!" „Was ist denn damit !" fragte Karl etwas verwundert über diesen Ausruf. „Kannst du es mir erzählen?" „Ja," sagte sie nach einer Weile, „ich muß es dir sagen, und zwar ehe du fortgehst. Ich weiß ja, daß das an unseren Verhältnissen nichts ändert." „Nein, Bertha, mag es sein, was es will, ich bleibe dir treu, und wenn ich gesund wieder komme, dann heiraten wir uns." s 130 „Du hast bis jetzt noch nicht nach meinen Eltern gefragt," begann Bertha, „und weißt nur, daß meine Mutter in Tanne auf dem Harze wohnt. Von meinem Vater habe ich dir nicht gesprochen, denn ich weiß nicht viel von ihm, und was ich weiß, das ist so schrecklich, daß ich es gern aus meinen Gedanken verwischen möchte, wenn ich nur könnte !" „Dann brauchst du es mir ju nicht zu erzählen, wenn du nicht gern davon sprichst. Ich bin nicht neugierig." „Nein, Karl, du mußt es wissen I Du mußt alles wissen, denn ich will kein Geheimnis vor dir haben. Zwischen uns soll immer reine Bahn sein," sagte sie erregt. „Na, wie du willst. Du hast am Ende recht, und wenn du mir alles erzählt hast, will ich dir auch etwas erzählen — von meinem Vater." „Siehst du, Karl," begann sie, „wenn andere Menschen an ihre Kindheit zurückdenken, dann sehen sie nichts weiter, als einen blauen Himmel voll Hellem Sonnenschein und darunter grüne Wiesen mit bunten Blumen, von denen sie eine nach der anderen pflücken zu einem hübschen Kranze, den hängen sie dann in ihrer Herzenskammer auf. Wenn sie nun im späteren Leben Aerger und Verdruß haben, dann suchen sie diesen Kranz hervor, der nicht vertrocknet und verdorrt, sondern mit den Jahren schöner wird, und jede Blume ist ihnen dann wie ein Augentrost, und sie vergessen wohl Not und Leid darüber und alles, was sie drückt und werden ruhiger. Ich denke mir wenigstens, das muß so sein, denn wenn ich einmal Kummer hatte, dann kam mir immer das Gefühl, als müßte ich zurückschauen in mein vergangenes Leben nach einem guten Tage, damit ich denken könnte, du hast es damals so gut gehabt, nun kannst du es auch einmal schlecht haben, und ich wollte mich damit trösten und mich Hinwegsetzen über das, was mich drückte. Aber wenn ich keinen 131 sonnenhellen Tag fand, dann machte mich das nur noch unglücklicher. Denn mein Kranz der Erinnerung ist mit Blut befleckt und zwar mit dem Blute meines Vaters, und meine erste deutliche Vorstellung von ihm knüpft sich an das Wort: Mord !" Hier bedeckte Bertha ihr Gesicht mit der Schürze, dann erzählte sie leise weiter: „Sieh, mein Vater ist Grenzjäger gewesen. Da erinnere ich mich denn seiner, ich war vielleicht vier Jahre alt — aber es steht mir unauslöschlich im Gedächtnis — wie ich früh aufwachte. Mein Vater kam hereingestllrmt in die Kammer. Das Gewehr riß er von der Schulter und warf es weit von sich in eine Ecke, fluchte dabei ganz gräßlich, riß den Uniformrock herunter und lief in der Stube umher wie ein Wahnsinniger. Meine Mutter sprang auf, wollte ihn am Arme fassen und fragte, was er hätte. Er aber stieß sie von sich und rief: „Rühr mich nicht anl Siehst du nicht, daß ich ein Mörder bin? —Da draußen liegt er. — Dafür bin ich Grenzjäger, und wir sollten scharf schießen, ist gestern befohlen worden !" Meine Mutter fing an zu weinen und bat, er möge sich doch beruhigen und ihr erzählen, was geschehen sei. Aber dazu kam er nicht, verwünschte vielmehr immer wieder seinen Stand, an dem er nie Freude gehabt hätte. Ich aber saß im Bette aufrecht und ich weiß noch, wie ich ganz entsetzt über meinen Vater war, denn ich hatte ihn vorher nie heftig gesehen; er muß wohl immer recht gut gegen mich gewesen sein. Meine Mutter aber saß und weinte und schluchzte. Und seit der Zeit habe ich sie auch nicht anders gesehen. Bald darauf erinnere ich mich wieder, wie Männer in unsere Stube kamen, Grenzjäger, und wie man eine Bahre hereintrug, die war mit einem großen Laken zugedeckt voll blutiger Flecken. Meine Mutter aber schrie laut auf und fiel in Ohnmacht. Die Grenzjäger nahmen das Laken ab, und da lag mein Vater, bleich und tot. Die Pascher hat132 ten ihn erschossen, aus Rache. Dann weitz ich noch, wie ich hinter dem Sarge herging und weinte, weil ich meine Mutter weinen sah." Die Erinnerung an die heraufbeschworenen Szenen ihrer Kindheit waren so überwältigend, daß Bertha auch jetzt sich der Tränen nicht enthalten konnte. Da fragte Karl leise: „Wo ist denn das geschehen?" Sie antwortete in derselben Weise schluchzend: „Nicht weit von hier in dem Walde bei der Belleoue ist mein Vater erschossen; er war Grenzjäger in Slllzhayn." Nach und nach beruhigte sie sich, auch mochte sie sich wohl wundern, daß der neben ihr sitzende Karl so gar kein Wort der Teilnahme hatte. Sie richtete sich auf und nahm die Schürze von den Augen. Da — war es denn möglich? Niemand da? Er war fort? Sie blickte um sich her. Wachte oder träumte sie? Ihre Gedanken verwirrten sich. Da kam ihr ein Gedanke, der ihr das Blut siedend heiß machte. Sie hatte ihm erzählt, daß ihr Vater sich selbst einen Mörder genannt hatte; und sie war seine Tochter. Wollte er nicht die Tochter eines — Mörders? — Ihr armer Vater hatte doch in seinem Amte tun müssen, was ihm befohlen worden war! — Wenn er nun in den Krieg zog, mußte er nicht dasselbe tun, was ihr Vater hatte tun müssen? — — Es kam über sie wie ein tiefes Weh. So hatte sie sich den Abschied nicht gedacht. O, hätte sie doch geschwiegen, dachte sie, dann wäre es anders. - Aber nein, sagte sie sich wieder, es ist besser so, und er mußte es wissen. Aber schön ist es nicht von ihm, daß er so fortgegangen ist. Darauf ging sie langsam nach dem Gute zurück, und in ihrer einsamen Kammer lag sie noch lange und quälte sich mit den traurigsten Vermutungen. Spät war es, als Karl nach Hause kam, viel später, als sonst wohl. Er wollte unbemerkt in seine Kammer 133 hinaufgehen, da rief ihn die Stimme der kranken Mutter nochmals in die Stube. Drinnen war es dunkel. „Brauchst du noch etwas, Mutter?" fragte er. „Nein, Karl," entgegnete sie, „aber es ist doch vielleicht zum letzten Male, daß ich dir gute Nacht sagen kann, und deshalb habe ich gewartet, bis du kamst. Es ist heute recht spät geworden !" sagte sie mit leisem Vor- wurfe. Dabei suchte sie seine Hand, die sie in ihre beiden nahm. „Ich konnte nicht früher kommen, Mutter!" sagte er gepreßt. Die Mutter hörte aus diesen Worten etwas heraus, was ihr fremd war; denn welches Mutterherz sollte nicht jeden Ton ihres Kindes kennen und daraus die Bewegung in seinem Innern vernehmen? „Karl," sagte sie nach einer Weile, „dir ist etwas passiert heute Abend." „Ja, Mutter," erwiderte er. „Ist es dir so schwer geworden, Abschied zu nehmen, und was ist vorgefallen?" „Der Abschied ist mir wohl schwer geworden, Mutter, aber es mußte sein, — für immer!" „I, Karl, wer wird denn an so etwas denken. Dein Mädchen bleibt dir, und du wirst auch wiederkommen. Die Zimmerleute müssen nicht so weich sein; du bist für deinen Stand und für einen Mann viel zu weich, vielleicht, weil dir der Vater gefehlt hat. Bei den Soldaten wird das anders werden, und da mußt du alles leicht ertragen lernen. Wenn du dann wieder kommst und ihr heiratet euch, dann habt ihr ein langes Leben vor euch und, wie ich hoffe, ein glückliches, glücklicher jedenfalls als das meinige," setzte sie seufzend hinzu. „Mutter, das ist vorbei; ich sehe sie nicht wieder und heirate auch nicht." 134 Die Frau richtete sich empor. — „Sag mir, Karl, rund heraus, was hast du?" „Mutter !" und jedes folgende Wort kam recht schwer heraus, „sie ist die Tochter von dem Grenzjäger, der den Vater erschossen hat!" „Allmächtiger Gott!" rief die Frau entsetzt und sank zurück auf die Kissen. Bei ihm aber löste sich der Schmerz, nun er die Ursache seiner Qual der Mutter gesagt hatte, und der Zimmermann mit der schwieligen Hand streichelte die Mutter und sagte weich: „Mutter, denke nicht mehr daran, ich hab's vorhin überwunden auf dem Wege, wo ich lange umhergegangen bin, drum bin ich auch so spät gekommen." Die Mutter aber fuhr ihm wiederholt mit der abge- magerten Hand über Stirn und Wangen, und vor ihrem geistigen Auge zogen noch einmal jene Bilder vergangener Tage vorbei, wo sie zuerst so glücklich, dann aber so namenlos unglücklich gewesen war. Und sie mußte nun erleben, wie dies Unglück seine Schatten in den Liebes- srühling ihres Sohnes warf und zwei Herzen trennte ohne Erbarmen, ohne Hoffnung, die für einander bestimmt gewesen zu sein schienen. Lange blieben Mutter und Sohn bei einander, ohne weiter über die Sache zu reden, bis die Mutter ihn mahnte, zu Bett zu gehen, damit er ausschlafen könne für den morgenden Marsch. Zum letzten Male für lange Zeit, vielleicht für immer, sagte er ihr gute Nacht und ging hinauf in sein Schlafgemach. Nicht lange nach seinem Eintritte in das Heer hieß es: Vorwärts! und langsam ging es der Grenze von Rußland zu. Frau Mehmel aber begleitete ihren Sohn mit ihren 135 Gedanken; und Dortchen kam wieder regelmäßig alle Tage und pflegte die alte Frau, als ob es ihre eigene Mutter wäre, so daß Karline schmollend meinte, sie wäre nun überflüssig geworden und brauche am Ende gar nicht mehr zu kommen. Aber sie tat nur so, denn sie hatte Dortchen gern. -t- *

„Du bist heute aber sehr zerstreut, Berthai" sagte am Tage nach dem stummen Abschieds die Frau Rittergutsbesitzer Schneidewind, als sie mit ihrer Familie beim Mittagessen saß, wobei Bertha bediente, zu der Angeredeten. „Du kannst wohl den gestrigen Abend nicht vergessen, wo du von deinem Schatze Abschied genommen hast? — Du lieber Gott," fuhr sie zu ihrem Manne gewendet fort, „für die arme Frau ist es recht schlimm; nun hat sie niemanden, der für sie verdient. Ich werde ihr manchmal ein wenig Milch und dergleichen mit hineinschicken, wenn Bertha in die Stadt geht. Du wirst doch öfter zu deiner künftigen Schwiegermutter gehen?" fragte sie Bertha, die, anstatt zu antworten, tief errötete. „Hat's denn die Frau so nötig?" fragte der Amtmann gleichgültig. „Ach Gott, ja, was die alles schon durchgemacht hatl" antwortete die Frau, eine Tochter des Apotheker Schlicht- wegers in Ellrich und daher mit allen Verhältnissen vertraut. „Erst hat sie den Mann auf so schreckliche Weise verloren, dann ist sie lahm geworden und konnte sich nicht mehr ernähren. Da nun ihr Sohn soweit ist, um für sie sorgen zu können in ihren letzten Tagen, nimmt man ihr auch den, und wer weiß, ob sie ihn wieder sieht !" „Was war denn mit ihrem Manne?" fragte der Rittergutsbesitzer ebenso gleichmütig. „Ist er verunglückt?" „Ach, weißt du das nicht? Freilich, du hast erst nach der Zeit das Gut übernommen. Der Mann war zurück136 gekommen, weil die Tuchmacherei nicht mehr ging, und aus Not ging er unter die Pascher. Oft mag er wohl nicht mitgegangen sein, aber sie haben ihn erwischt und an der Sülzhayner Grenze hat ihn ein Grenzjäger erschossen." Klirr . . . ging es in dem Augenblicke und der Präsentierteller mit dem Glasgeschirr, den Bertha eben hinaustragen wollte, lag am Boden. „Aber Bertha !" rief die Frau erschrocken und ärgerlich zugleich. „Gerade die guten Gläser !" „Ja, warum soll sie denn die schlechteren zerbrechen!" bemerkte der Amtmann ironisch. „Es müssen immer die guten sein." „Nein, Mädchen," fuhr die Amtmännin fort, „das ist wirklich heute nicht zum Aushalten mit dir, du bist zu . . ." ungeschickt, wollte sie sagen, aber da blickte sie das Mädchen an und vollendete nicht. „Was ist dir?" und sie stand auf. „Gott, wie das Mädchen aussieht! Du bist gewiß unwohl? Freilich, so etwas muß es ja auch sein, denn du bist doch sonst nicht so! Na, nun laß man gut sein," fuhr sie fort, als Bertha unbeweglich stand und die Scherben stier anblickte. „Es ist schade um die Gläser, aber so groß ist das Unglück denn doch nicht. — Wie sie zittert! Bist du denn gar so erschrocken? Geh hinaus und trinke ein Glas Wasser und schicke die Magd herein, daß sie die Scherben zusammenfegt!" So redete die Frau hintereinander, zuletzt immer milder. Nach den letzten Worten wankte Bertha hinaus. Draußen im Hausflur aber lehnte sie sich zuerst an die Wand, um Fassung zu gewinnen. Der Schlag war zu plötzlich gekommen. Nun wußte sie, warum er gestern ohne Abschied gegangen war, und ihr erschien jetzt seine Handlungsweise in ganz anderem Lichte. Hätte er ihr nicht fluchen müssen, der Tochter des Mannes, der ihm 137 den Vater geraubt? Und er war still fortgegangen, ohne ein böses Wort, als die Tat wie eine unübersteigliche Wand zwischen sie trat und sie trennte. Diese Tat war der Schatten gewesen, der die Frühlingssonne ihrer Kindheit verdunkelt hatte und sie nie so recht von Herzen froh werden lieh. Durch sie hatte sie die Mutter nicht anders kennen gelernt, als eine bleiche, leidende Frau, zu der sie immer mit einer gewissen Scheu aufblickte. Dieselbe Tat hatte nun auch ihren Liebesfrllhling mit all den schönen Blumen, die sie auf ihrem Herzensbeete gehegt und gepflegt hatte, vernichtet, und es sah darin aus, als wenn ein Orkan über einen Garten gezogen ist, der alle seine Blütenpracht soeben entfaltet gehabt hatte. Doch, wer fragt nach einem armen Dienstmädchen, und wie es in ihrem Herzen aussieht? Das muß wirken und schaffen von früh bis spät, dafür bekommt es seinen Lohn, und das übrige geht die Herrschaft nichts an. Und Bertha hatte gerade zu der Zeit recht viel zu schaffen, denn die älteste Tochter der Herrschaft war im stillen verlobt, und die Verlobung sollte zu der nächsten Kirmse, die bald nach Pfingsten fiel, öffentlich bekannt gemacht und gefeiert werden. Wenn nun schon das letzte Fest in damaliger Zeit mehr noch wie heute den Mittelpunkt des ganzen Jahres bildete — so daß zum Beispiel Geburten und Todesfälle nach der Zeit der Kirmse, vorher oder nachher bestimmt wurden —, so war auf dem Gute in diesem Jahre doppelt zu reden und auch doppelt zu tun. Es mußten neue Kleider angefertigt, Toilettengegenstände besichtigt und gekauft werden, und die Kutschpferde waren so oft auf dem Wege zwischen Ellrich und Werna, wie vorher noch nie um diese Zeit. Daß auch Bertha tüchtig in Anspruch genommen war, läßt sich wohl denken, und sie hätte dadurch schon abgelenkt werden können von den traurigen Gedanken an all die unglückseligen Ereignisse, 138 die ihr Leben verdüstert hatten. Aber mochten auch durch die Geschäfte des Tages die düsteren Bilder ihrer Seele zurückgedrängt werden, am Abend spät, wenn sie in ihre stille Kammer eingetreten war, forderten sie um so mehr ihr Recht, und wenn dem leiblichen Auge kein Gegenstand der Bettachtung in der Finsternis geboten war, traten jene Bilder so lebhaft hervor, daß sie den wohltuenden Schlaf verscheuchten, der, wenn er überhaupt ein- kat, erst mit dem Morgengrauen kam. Sie war nicht im stände, die Gedanken zurllckzudrängen, die sie immer tiefer in ein Wirrsal hineinfllhrten, in dem nur ein Punkt dunkelrot sich abhob, das war der Doppelmord der beiden Väter. Und dieser Punkt machte ihr Blut gefrieren. Was konnte sie dafür, was konnten beide dafür, daß ihre Väter vom Geschick einander entgcgengetrieben wurden und einer den andern töten mußte? Sollte es aber sein, warum mußten die Kinder sich finden? Warum mußte vom ersten Begegnen an die Liebe gewaltsam einziehen in die jungen Herzen und in ihnen den Glauben erwecken, sie seien für einander geschaffen? War das Geschick nicht furchtbar grausam gegen sie gewesen? Hatten die Kinder verdient, für das Unglück ihrer Väter nun ihr ganzes Lebensglück zum Opfer zu bringen? .... Auch der einfachste Mensch wird auf den Weg philosophischer Erwägungen getrieben, wenn er vor dem Problem steht, das die Weisen aller Zeiten beschäftigte und das dennoch keiner gelöst hat; das Problem, welches in allen Religionssystemen die Klippe bildet für den, der mit der Qual über ein namenloses Unglück im Herzen, das plötzlich und ohne seine Verschuldung über ihn hereingebrochen ist, nun dasteht und nicht weiß, wie er dies mit den gelemten religiösen Anschauungen in Einklang bringen soll. — Ursache und Wirkung sind die beiden Dinge, die beiden Dinge, die konsequent ineinandergreifen und unerbitt139 lich auch im menschlichen Leben ihre Rolle spielen. Nur ist es tief traurig für den Menschenfreund, wenn er eine verhängnisvolle Wirkung an dem einen Lebewesen sieht, deren Ursache in einem anderen liegt oder, wenn die unheilvollen Verhältnisse einer Generation ihre düstern Schatten auf die Nachkommen werfen und an diesen verderbenbringend weiter wirken. Warum ist es so? Der tiefer angelegte Mensch, wenn er zu dieser Frage gekommen ist, die er nicht beantworten kann, weil sie überhaupt nicht zu beantworten ist, schwebt in doppelter Gefahr. Entweder er klammert sich an diese Frage fest, und alle anderen Vorstellungen haben keinen Raum mehr bei ihm. — Der Wahnsinn in seiner schrecklichen Gestalt steht vor ihm. — Oder er findet, nachdem er die Ueberzeugung erlangt hat, daß sie nicht zu lösen ist, das Leben nicht mehr lebenswert, das nur Qual und immer nur Qual bietet: der Selbstmord tritt verlockend vor ihn hin als Erlöser. — Nur ein Moment giebt es, was diese beiden Gestalten verscheuchen kann, das ist eine in das Menschenleben eingreifende, sein ganzes Innere erfassende Liebe, gleichviel, in welcher Gestalt sie auftritt. Wo aber diese fehlt, oder plötzlich hinweggenommen wird, da wird es Nacht, dunkle Nacht, die kein leuchtender Stern erhellt. Bertha Römisch hatte von dem Tode ihres Vaters an nur ihre Mutter gehabt, die sich stets gleichbleibende, trost- bleiche Gestalt, die ihr Kind von dem Umgänge mit anderen Menschen zurückhielt in egoistischer Liebe. Es war ihr Kind, der einzige Trost, der ihr geblieben war, und daher mußte es auch immer um sie sein, und sie bedachte nicht, daß ein Kind einer jungen Pflanze gleicht, die heiteren Himmel und Sonnenschein braucht zu ihrer Entwickelung. Der heitere Himmel und Sonnenschein liegen für ein Kind aber in dem Gesichte und in den Augen 140 der Mutter. Wie dies letztere aus der Mutter heraus- schaut; so schaut des Kindes Auge wieder hinein. Als nun Bertha von ihrer Mutter scheiden mußte, da war es in dem neuen und größtenteils fröhlichen Gutsleben über sie gekommen wie Erlösung. Der Kreis lachender und scherzender Menschen, in dem sie eingetreten war, erweckte in ihr die unwiderstehliche Lust, auch an diesem heiteren Lebensgenuß ihren Anteil zu haben. So war es auch gekommen, daß die Liebe mit einer Macht bei ihr einzog, die ihr ganzes Wesen bis in die innersten Fasern ergriff und, je nachdem, umgestalten oder zerstören mußte. — Als sie daher begriffen hatte, daß ihre Liebe von jetzt ab hoffnungslos sei, war ihr ganzes Dasein in seiner Existenz bedroht. Still ging sie von diesem Tage ab einher, und mechanisch verrichtete sie ihre Arbeit. Das fröhliche Getriebe, die ganze erwartungsvolle Festeslust um sie her, glitt wirkungslos von ihr ab; damit hatte sie nichts mehr zu schaffen.

6. Kapitel

Eine lustige Kirmse und zweimal Mittagessen. — Warum der Pastor von Werna seine Predigten so oft wiederholen must. — Wovon der dürre Deferendar nicht dicker wird. — Wie ein Deferendar und ein Nachtwächter die Wölfe verscheuchen. — Ein trauriges Ende und die Philosophie eines Nachtwächters. Referendar Schmaling kam eines Mittags schmun- zelnd nach Hause und Karline merkte wohl, daß irgend etivas besonders Freudiges ihm begegnet sein müsse. Bei Tische sollte sie es denn auch erfahren. „Heute bin ich zur Kirmse nach Werna geladen, Karline." „So !" erwiderte sie, „da ist der Schulze Böttcher also hier gewesen?" Der Erwähnte hatte nämlich bis jetzt alle Jahre den Referendar als Gast gehabt, während der Landesgerichts-- rat vom Amtmann eingeladen wurde. „Nein, der Schulze war nicht hier; der Herr Amtmann Schneidewind ist ihm zuvorgekommen und hat mich invitiert." „Der Herr Amtmann?" fragte Karline freudig erstaunt. „Ja, das ist allerdings etwas anderes. Wissen sie, Herr Referendar, ich habe mich auch schon immer gewundert, daß er sie nicht mit dem Herrn Rat einladet, denn sie und der Herr Rat, die gehören doch zusammen, und sie können doch auch noch mal Rat werden." „O ja, Karline, wenn mal eine besondere Mortalität unter die Räte kommt, und man wird alt genug, dann kann es schon werden." 142 „Ja, und dann, Herr Referendar, dann können sie auch, wie der Herr Rat, jeden Abend Schokolade trinken, ehe sie zu Bette gehen. Aber mir wird's recht schwer werden, wenn ich „Herr Rat" sagen soll, wenn man nun so lange Jahre „Herr Referendar" gesagt hat, und das müssen sie mir schon vorher versprechen, wenn ich mich einmal versehen sollte und sollte aus alter Gewohnheit „Herr Referendar" sagen, statt „Herr Rat", dann müssen sie es mir nicht übel nehmen !" „Das werde ich wohl nicht tun," erwiderte er. „Na, sehen sie, Herr Referendar, sonst wäre mir das auch gar zu beängsterlich*), wenn ich wüßte, sie nehmen es mir übel. — Aber daß der Herr Amtmann sie schon vorher eingeladen hat, ehe sie Rat geworden sind, das freut mich doch recht sehr." „Ja, das hat er vielleicht getan, weil mit der Kirmse noch das Familienfest der Verlobung seiner Tochter statt- finden soll. Da wird die Gesellschaft recht groß werden, und es soll ja auch ein Ball stattfinden, wie er dem Landesgerichtsrat erzählte." „Sehen sie, Herr Referendar, das ist es, nun hab ich's, warum er sie mit eingeladen hat, da braucht er junge unverheiratete Leute." Der Referendar antwortete nicht, und ich kann daher nicht sagen, ob er sich zu der Sorte Leute zählte, von denen Karline sprach. In Wahrheit hatte der Amtmann gar nicht die Absicht gehabt, den Referendar einzuladen. Es traf sich nun aber gerade, daß letzterer gegenwärtig war, als er den Rat zur Kirmse lud, und als er nachher den langen dürren Referendar mit einem Seitenblicke musterte, da kam es wahrscheinlich wie eine Art Mitleid über ihn, ') ängstlich. 143 das sonst seine schwache Seite nicht war, und er hatte gesagt, wenn der Herr Referendar ihn auch besuchen wolle, dann solle er nur kommen, es würde ihm angenehm sein. Der Herr Referendar in seiner Unschuld hatte denn nun das für eine ernste und vorher beabsichtigte Einladung genommen und mit vielen Bücklingen von „hoher Ehre* und „würde so frei sein" und dergleichen, dieselbe angenommen, was den Amtmann nicht wenig belustigt hatte. Als den Tag darauf der Schulze Böttcher aus Werna zu dem Referendar kam, um ihn in feierlicher Weise, wie jedes Jahr, zur Kirmse einzuladen, erhielt er die Antwort: Es tue ihm sehr leid, aber für dieses Mal könne er des Schulzen Invitation nicht annehmen, denn der Herr Amtmann sei bereits da geivesen und habe ihn invitirt. „I, das wäre doch das erste Mal, daß sie uns nicht die Ehre schenkten, Herr Referendar I Sie sind nun alle Jahre bei uns gewesen, und wenn dies Jahr der Herr Referendar fehlt, dann ist das gar keine ordentliche Kirmse, wie sonst." „Ja, mein lieber Herr Schulze, ich bin ja auch immer gern bei euch gewesen, und es tut mir eigentlich leid, daß ich diesmal nicht eure Klöße und Sauerkraut versuchen kann, und den Schweinebraten. Denn das muß man der Frau Schulze lassen, den habe ich noch nirgends so knusperig gebraten gefunden, wie bei euch" — dabei leckte er im Andenken daran die schmalen Lippen. „Aber sie wissen wohl, daß man gegen den Herrn Amtmann Rücksichten zu nehmen hat, und da nun seine Invitation in optimL lorwL erfolgte, so kann ich nicht anders, als sie annehmen." „Ich will ihnen etwas sagen, Herr Referendar," sagte nach einer Weile der Schulze, „unser Sauerkraut und Schweinebraten müssen sie versuchen, sonst könnte sich meine Frau nicht zufrieden geben, denn sie hat schon ge144 sagt, am meisten freute sie sich auf den Herrn Referendar, da sähe man doch, daß es ihm schmeckte, und der hätte ihrer Kocherei und Braterei immer am meisten Ehre angetan. Und sie wissen ja, Herr Referendar, wenn man bei den Weibern nicht frißt wie ein Scheffeldrescher, dann sind sie nicht zufrieden und denken, man hat an ihrer Kocherei was auszusetzen. Ja, was ich sagen wollte: Also, bei Amtmanns, da wird vornehm gespeist, nachmittags drei Uhr; bei uns aber, wie's sich für Bauern gehört, schlecht und recht und nicht zu wenig, nach der Kirche zwischen elf und zwölf. Da können sie immer erst zu uns kommen und können bei uns essen. Nachher vertreten*) sie sich das Essen ein bißchen, und wenn es Zeit ist, gehen sie zu Amtmanns, es wird ihnen dann schon wieder schmecken."

  • ) Nach dem Essen spazieren gehen.
    • ) Kirschbranntwein.
      • ) Kaufmann Pelz In Nordhausen, eine damals bekannte Firma.

s) Nehmen sie nichts übel. „Das wäre allerdings in Confideration zu nehmen, mein lieber Herr Schulze, und ich werde es mir merken. Ja, ja, da werde ich kommen." „Na, kommen sie man, wenn's auch nur wegen meiner Frau ist, denn sonst denkt sie, wir haben uns erzürnt. Also nächsten Sonntag zur Kirmse, Herr Referendar. Nun adieu!" — Er hatte die Türe schon fast geschlossen, als er nochmals umdrehte und sagte: „Herr Referendar, dies Jahr habe ich auch einen recht feinen Kirsch **), das ist was delikates, der ist von Pelzen***) in Nordhausen, und so'n Kirsch, hat der gesagt, den kriegt man in der ganzen Grafschaft nicht, weit und breit. Da habe ich denn gleich ein Fäßchen genommen und zur Kirmse, da wollen wir es anzapfen. Na, adieu, Herr Referendar, und nichts für ungut.-ß) 145 Am nächsten Sonntag früh war der Referendar schon lange vor der Kirche auf den Beinen, denn er hatte die Gewohnheit, an dem Orte, wo er zur Kirmse eingeladen war, den Frühgottesdienst zu besuchen. Das hatten die Bauern gern und sahen es als eine besondere Ehre an, und sie sprachen es öfter aus, der Herr Referendar sei nicht, wie die anderen Stadtherren, der mache sich so „gemein" *), daß man ihn gern haben müsse.

  • ) populär.

Karline hatte auf die gelben Nankingenen besonderen Fleiß verwendet und da sie seit jenem Pfingstmorgen immer, wenn er eine Landpartie machte, die Mahnung hinzusügte, sich vor dem nassen Grase in acht zu nehmen, hatte sie das auch heute getan und zwar mit besonderem Nachdruck, denn er ging ja zu Amtmanns; auch hatte sie an seinem Frack herumgebllrstet, und daran herumgezupft, und konnte kein Ende finden. Als sie ihn an die Türe begleitete, und er eben das erste lange Bein über die Schwelle setzen wollte, da rief sie hastig: „Warten sie noch mal, Herr Referendar!" lief in die Stube zurück, holte die Bürste und entfernte mit ihr das Stäubchen an seinem Arme, das ihr vorhin trotz der genauesten Besichtigung entgangen war. Nun erst entließ sie ihn, nicht, ohne ihm vor der Türe nachzublicken, die Bürste in der Hand, bis er um die Salzmarktecke verschwunden war. Stolz schritt er durch die Straßen und dann durch die Fluren, als wollte er jedem sagen: Wißt ihr denn auch, daß ich zu Amtmanns heute geladen bin? Das ist die erste Stufe zum Rat! Den blau und rot gestreiften leinenen Regenschirm, den er sonst immer gleich einem Akten- bündel fest unter den linken Arm geklemmt hatte, schwenkte er sogar heute in der rechten Hand, was wohl ein Zeichen besonderer Fröhlichkeit war. 10 146 Aber es war auch genug Anlaß dazu. Eine besondere, unerwartete, für ihn ehrenvolle Einladung, der Genuß des knusperigen Schweinebratens in ^xe, ein feines Diner am Nachmittage bei Amtmanns, und das alles bei einem Wetter, wie es nicht schöner sein konnte. Prachtvoller Sonnenschein lag auf den Fluren, die Vögel jubilierten, und dazu kam nun noch ein gutes Omen: gleich bei seinem Eintritt in das Wernaische Feld war ihm ein Hase über den Weg gesprungen.*) Das mußte ein guter Tag für ihn werden! So erschien ihm denn auch die ganze Welt schöner als je, denn Freude im Herzen läßt die Welt in doppelt heiterem Lichte erscheinen. ') Wird auch wohl heute noch hier und da als glückverheißend angesehen. Als er in das Dorf eintrat, wurde gerade zur Kirche geläutet. Die Hauptgasse einher bewegte sich der Zug der jungen Burschen und Mädchen, die paarweise, jeder Kirm- senbursch mit seiner Kirmsenjungfer, in die Kirche zogen. Voran die Musikanten, die heute eine besonders schwierige Aufgabe zu erfüllen hatten, denn ihre Lungen waren von früh bis spät in anstrengender Tätigkeit. In aller Frühe hatten sie den angesehenen Einwohnern, voran dem Schulzen, Ständchen bringen müssen, dann kam der Marsch in die Kirche, dort Kichenmusik, nachmittags Tanzmusik unter der Dorflinde und dann auf den Tanzboden bis zum anderen Morgen. Die Musik war zusammengesetzt aus einer Klarinette, die alle Kraft anwandte, sich in den höchsten Tönen Gehör zu verschaffen und ihre Stimme voran zur Geltung zu bringen, eine Trompete, die ihr diesen Vorrang streitig zu machen suchte und mit ihr haderte, und eine Posaune, welche in tiefen brummigen Tönen ihr Mißfallen über diesen Streit kundgab und Frieden zu stiften suchte, was sie manchmal in ganz desperat falschen Tönen tat, woran sich die anderen aber nicht kehrten. Hinter diesem 147 Trifolium schritten die Kirmsenpaare einher, die Bursche, jeder geschmückt mit buntem, rot, blau, grün gestreiftem oder gewürfeltem Tuche, ein Geschenk der jeweiligen Kirm- senjungfer, das aber heute nicht um den Hals geschlungen war, sondern, an der linken Seite der Jacke befestigt, an dieser lang flatternd herunterhing. Die Mädchen waren mit einem mächtigen Strauße versehen, in dem die auf dem Fensterbrett vor dem Hause gezogene Nelke den Vorrang behauptete. Auf dem Kopfe dagegen prangte ein Kranz von Immergrün. Der ganze Zug war umschwärmt von den Alten und Jungen des Dorfes, die in das oft wiederholte, langgezogene „Iuch" I *) der Bursche einstimm- ten. Vor der Kirche verstummte die Musik, und man drängte hinein, die Kirmsenpaare voran, die sich heute ausnahmsweise vor der Kanzel aufstellten, dem Prediger zunächst. ") Abkürzung von „Juche t Wie groß die Andacht an solchem Tage bei den Beteiligten ist, läßt sich schwer sagen. Wenn man den amtlichen Auslassungen des damaligen Pastors Frobenius Glauben schenken will, so war dieselbe nicht groß, denn es war eine bekannte Sache, daß er nun seit einer Reihe von Jahren dasselbe Thema mit derselben Einteilung und derselben Ausführung, Wort für Wort, wiedergab, und doch hatte er es nicht dahin gebracht, daß seine Bauern ihm Rechenschaft über die Predigt hätten geben können. Einige von den Bauern waren mit ihm einst in Zwist geraten wegen einer Kornabgabe, bei welcher der Pastor behauptete, das Korn wäre zu schlecht, das brauche er nicht zu nehmen und nehme es auch nicht, die Bauern dagegen, es wäre gut, und sie hätten kein anderes. Sie hatten den Pastor beim Konsistorium verklagt. Als Grund, warum das Korn gut genug für den Pastor wäre, hatten sie denn auch unter anderen den angegeben, daß der Pastor seine 10 l48 Predigten so oft wiederhole, und namentlich zur Kirmse predige er immer von den Zachäus, und die Städter kämen heraus und spotteten über die immer wieder aufgewärmte Kirmsenpredigt vom vorigen Jahre, und das brauchten sie sich doch nicht gefallen zu lassen; er könnte doch auch einmal von einem anderen sprechen, als von dem Zachäus. Darüber hatte denn das Konsistorium sich veranlaßt gesehen, eine Untersuchung anzustellen, und die Bauern und der Pastor waren auf einen bestimmten Tag vorgeladen worden. Der Pastor war in seiner Kalesche nach Nordhausen gefahren, wohin der Konsistorialrat, der die Unter- tersuchung führen sollte, gekommen war, die Bauern dagegen waren zu Fuß hingegangen. Als nun in der Wohnung des Superintendenten, wo der Konsistorialrat abgestiegen war, das Verhör begann, da wurde der Pastor zunächst gefragt, ob die Behauptung der Bauern, daß er seine Predigten so oft wiederhole, wahr sei. „Jawohl, Herr Konsistorialrat!" erwiderte der Pastor. „Namentlich die Kirmsenpredigt, Herr Konsistorialrat," siel der Schöppe*) Kunze giftig ein.

  • ) Beisitzer des Schulzen.

„Auch die Kirmsenpredigt," bestätigte ruhig der Pastor. „Was war das für eine Predigt, Herr Pastor?" fragte der Rat. „Herr Konsistorialrat," erwiderte der Pastor, „ich habe mir zu diesem Tage ein sehr einfaches Thema zurechtgelegt, und zwar aus verschiedenen Gründen. Erstlich einmal, wenn die Bauern am Kirmsensonntage früh neun Uhr in die Kirche kommen, dann haben sie schon so viel Schnaps getrunken, daß sie halb des.......sind. Und das wissen sie wohl, Herr Rat, wenn man den Kopf voll hat, dann muß es einem leicht eingehen, sonst faßt man es nicht. 149 Das ging uns in Göttingen als Studiosi so, und vollends diese Bauern, Herr Rat, denken sie doch! .... Die Weiber aber, sitzen da und denken an den Tanzboden, und wer sie wohl von den Männern herumschwenken wird. Oder bringen den Aerger mit hinein in die liebe Kirche, weil die Nachbar Hansen oder Kunzen bessern Kirmsenkuchen gebacken hat als sie, und da gucken sie denn umher, um sie zu suchen und zu sehen, ob sie auch für diese Kirmse wohl eine bessere Haube oder ein besseres Tuch hat, worüber man reden könnte nachher; oder sie sitzen da und denken an das Sauerkraut und Schweinefleisch, was zu Hause einstweilen unter der Obhut der Großmutter oder einer Magd im Topfe kocht, und ob die auch wohl aufpassen, daß sie vor ihren Kirmsengästen keine Schande hat. Und die Kirmsenburschen und Kirm- senjungfern, Herr Rat, die fingen gern in der lieben Kirche schon an zu hopsen und machten des Herrn Haus zum Narrenhaus, und wenn der Musikant Dünnebier .mit seiner Klarinette vom Chöre herunter das: .Lobet den Herrn!' so recht eindringlich in die Gemeinde hineinerschallen läßt, dann hört diese Gesellschaft daraus schon das Kridewidewitsch vom Tanzboden heraus. — Das, Herr Konsistorialrat, sind die schwerwiegenden Gründe, warum ich ein leichtes Thema nehme. Es ist entlehnt aus dem Evangelium von Zachäus, dem Zöllner, der den Herrn Jesus gern sehen mochte. Mein Thema heißt: Zachäus auf dem Maulbeerbaume; die drei Teile sind: Erstens, wie kam er hinauf? — Zweitens, was tat er oben? — Drittens, wie kam er wieder herunter? — Nun, Herr Rat, die Ausführung dieser Teile wird von mir so klar gemacht, daß man meinen sollte, auch ein halbbesoffener Bauer müßte es verstehen. Aber mit Nichten! Sehen sie, und das ist der Grund, Herr Rat warum ich die Predigt nun seit meinem Amtsantritte in 150 dieser Gemeinde diesen dummen Bauern jeden Kirmsen- sonntag habe predigen müssen." „Sie wären gar nicht so dumm, wie der Herr Pastor sagte," bemerkte da der Schöppe Kunze, der Sprecher, „und sie wüßten wohl, was er gepredigt hätte." „So !" wandle sich der Pastor an die Bauern. „Also ihr wißt, was ich gepredigt Habei Sollte mich sehr freuen, und ich könnte dann doch endlich einmal an eine andere Predigt denken I — Nun, sagt doch einmal, Schöppe Kunze, was habe ich denn im ersten Teile gesagt? Redet, wenn ihr etwas davon wißt!" Das war aber dem Schöppen doch außer dem Spaße, und darauf war er nicht gefaßt gewesen. Er wurde verlegen und immer verlegener, drehte seine Mütze in den Händen und öffnete öfter den Mund, um zu reden, aber er brächte keinen Ton heraus. Ja, wenn er den Anfang gewußt hätte, dann wäre es vielleicht gegangen. Er stieß mit dem Ellenbogen den neben ihm stehenden Schulzen an, der war ja der Erste im Dorfe, und was sollte er ihm denn vorgreifen; eigentlich mußte ja der Schulze reden, und er als Schöppe brauchte auf solche Frage gar nicht zu antworten. Dieser aber tat, als ob ihn die Sache gar nichts anginge. Kunze war der Anstifter gewesen, der hatte sich die Suppe eingebrockt, nun konnte er sie auch ausessen. Der Pastor betrachtete der Reihe nach die Bauern, seines Sieges gewiß, während der Rat und der Superintendent sich an der ganzen Verhandlung zu ergötzen schienen, denn sie blickten sich ein über das andere Mal an und lächelten dabei. Als die Bauern keine Antwort gaben, wandte sich der Pastor wieder an den Rat und sagte: „Sie sehen selbst, hochwürdiger Herr Konsistorialrat, quLQru. Ltultirin rusticL*) ist. O, Herr," rief er dann

  • ) wie groß die bäurrliche Dunnnhrit.

151 mit einem Blicke zur Decke seufzend aus, „wie oft werde ich die Predigt wiederholen müssen, ehe sie diese Menschen begriffen und gefaßt haben! — Aber damit ihr seht," hiermit wandte er sich wieder zu den Bauem, „daß ich euch euren Unverstand, der sich auch auf das Korn erstreckt hat, dieweil ihr mir ganz miserables schlechtes Kom geliefert habt, und das beste, das behaltet ihr selber, — daß ich euch euren Unverstand in christlicher Liebe zu Gute halte, will ich euer Korn für diesmal so annehmen in der Hoffnung, daß ihr euch bessert und euer Korn auch, wenn ihr erklärt, hier vor dem hohen geistlichen Konsistorium, daß ihr meine Predigten besser merken und behalten wollt, damit ich endlich einmal euch auch etwas anderes eintrichtern kann." „Na, das wollten sie ja wohl tun, und sie hätten ja auch gar nichts gesagt," sagte Schöppe Kunze, „aber der Herr Pastor wäre gleich so obenaus gewesen. Und er möchte es nicht übel nehmen, und wenn er wollte, dann wäre die Sache damit ja zu Ende, wenn der Herr „Kon- storijalrat" es gnädigst erlaube." Der war denn damit zufrieden, und es wurde ausgeschrieben, daß die Klage der Bauern von diesen zurückgenommen würde, daß sie mit ihrem Pastor ganz zufrieden wären, wie der Pastor mit dem Korne, und auch künftig nicht wieder unnütze Queruleien vorbringen wollten. Das unterschrieben alle, und die streitenden Teile fuhren nachher zusammen in Pastors Kalesche wieder nach Werna. Es ging ein bißchen eng im Wagen zu, aber sie fügten sich in Liebe und Eintracht.------- Zum Schluß des Gottesdienstes erwartete der Schulze den Referendar und nahm ihn mit nach Hause, und der letztere ging gern mit, denn der Morgenspaziergang hatte seinen Appetit angeregt. In der Stube, in welche sie 152 bald darauf eintraten, empfing sie die Frau des Schulzen, festtäglich aufgeputzt. „Na, Herr Referendar, das hätte ich ihnen auch übel genommen, wenn sie nicht gekommen wären! Bei Amtmanns ist das freilich feiner, als bei uns, denn wir sind nur Bauern, aber ich meinte, dem Herrn Referendar hätte es immer bei uns geschmeckt, und da freut es mich doch, daß sie gekommen sind, denn bei uns, da gibt es zwar nicht so Vielerlei, wie da drüben, aber einfach und gut und viel. Es ist noch immer jeder mit uns zufrieden gewesen. Sie doch auch, Herr Referendar?" „Ei freilich, Frau Schulze, und wenn es mir nicht immer so gut geschmeckt hätte bei ihnen, dann wäre ich heute nicht gekommen." „Das freut mich," sagte die Frau vergnügt, „aber dann müssen sie meinem Schweinebraten auch Ehre antun. Wissen sie," und dabei stieß sie ihn in die Seite, „die Leckerbissen da drüben bei Amtmanns, die gehn nachher immer noch hinein in die langen Seiten." Und sie lachte herzlich über ihren Scherz. Mittlerweile hatte der Schulze höchst eigenhändig einen Kirsch in ein großes Schnapsglas geschenkt und präsentierte es dem Gaste, nicht ohne etwas von dem bis zum Rande gefüllten Glase verschüttet zu haben, was er dann von der Hand ableckte, damit nichts verloren gehe. „Auf ihr Wohl! Herr Schulze !" sagte der Referendar. „Oblischirt !" *) entgegnete dieser, nahm das Glas zurück und trank den gebliebenen Nest aus. „Der Kirsch ist gut, nicht wahr, Herr Referendar?"

  • ) obligiert — verpflichtet.

„Ausgezeichnet!" erwiderte dieser, indem er ein Stück des dargebotenen dicken Kirmsenkuchens annahm und als Vorspeise zum Sauerkraute verzehrte. 153 Nach und nach füllte sich die Stube mit den Angehörigen des Schulzen und den Gästen, meistens Bauern aus den benachbarten Dörfern. Als alle sich auf die Einladung des Schulzen um die lange Tafel gesetzt, welche mit einem blauleinenen Tuche überdeckt war, worauf große Schüsseln mit dem dicken Kirmsenkuchen standen und auch neben dem Sauerkraute stehen blieben, kam dann das ersehnte Kirmsengericht herein, eine große Schüssel mit Sauerkraut und eine dito mit Mehlklößen von nicht zu kleinem Kaliber. Aus der ersteren füllte sich jeder mit dem eigenen Löffel, so viel er vermochte, und der Herr Referendar, der dies zuerst tat, nahm sich keine kleine Portion, wahrscheinlich um nicht sogleich zum zweiten Male herausnehmen zu müssen, was ihm aus gewissen Gründen jedenfalls nicht ganz angenehm gewesen wäre. Zuletzt kam der Schweinebraten, eben aus der Röhre genommen und von der Frau Schulzen selbst, noch prutzelnd von der Hitze, hereingebracht. Sie stellte ihn vor ihren Ehrengast, den Referendar. „Sehen sie, Herr Referendar, da ist er am knusperigsten, da schneiden sie sich herunter, ich weiß, sie essen ihn gerne so." Und als er sich dann ein gehöriges Stück abgeschnitten, da meinte die Frau Schulzen, das sei ja gar nichts, da müsse sie nachhelfen und schnitt ihm eine gleiche Portion ab, die sie auf den Teller legte, und der Herr Referendar protestierte nicht sehr dagegen. Bald kaute und schluckte Alles. Schüssel auf Schüssel wurde hereingetragen und geleert, und was ein Bauernmagen vertragen kann, das war hier zu sehen. Aber der Referendar heulte mit den Wölfen und verstand sich gut darauf. Nach dem Essen nahm der Schulze seinen Gast mit 154 in den Garten, um sich das Essen zu „vertreten." Er zeigte ihm die im Frühjahre gepslanzten Obstbäume, erzählte ihm, was er aus dem Obstgarten im vorigen Herbste herausgenommen hätte, welche Bäume durch frische ersetzt werden müßten und dergleichen mehr. Dann lud er ihn zum Kaffee und Kuchen ein. Aber der Referendar dankte und machte sich bereit, zum Mittagsmahl zu Amtmanns zu gehen. Da war er denn nicht mehr zu halten. Eine heitere Gesellschaft bei einem splendiden Essen zu beobachten, ist ein interessantes Ding, vorausgesetzt, daß man selbst satt ist; ein solches Essen mitzumachen, wenn man hungrig ist, ist ein angenehmes Ding; es aber mitzumachen, wenn man sich an Sauerkraut mit Klößen und Schweinebraten schon satt gegessen hat, ist ein Kunststück. Dieses brächte jedoch der Herr Referendar fertig. Wir wollen uns nicht befassen mit der Aufzählung der einzelnen Gänge, nicht mit den verschiedenen Weinen und ihrer Güte, noch mit den guten und schlechten Toasten, die auf die Familie des Gastgebers und auf diesen oder jenen Gast ausgebracht wurden. Alle bemühten sich, zur Heiterkeit des Festes durch Scherzwort das ihrige beizutragen. Nur einer saß still da und studierte die einzelnen Gänge, die herumgereicht wurden, aber gründlich. Das war unser Referendar. War es doch auch das erste Mal, daß er ein solch lukullisches Mahl mitmachte. Zuweilen glaubte er wohl aufhören zu müssen, allein ein neues Gericht stürzte seinen Entschluß um, das Oeffnen eines neuen Knopfes an der Nankingweste schaffte Raum, und die Aussicht auf Karlinens Pfeffermünze beruhigte hinsichtlich gewisser Zufälle. „Apropos, liebe Frau Amtmann, wo ist denn das niedliche Mädchen, das sie im vorigen Jahre zur Be155 dienung bei Tische hatten?" fragte der Landesgerichtsrat. „Haben sie sie wieder fortgeschickt?" „Ach nein, Herr Rat," erwiderte die Frau, „aber sie ist seit kurzem so leidend, und namentlich heute war sie so, daß ich sie auf ihre Kammer schicken mußte, um sich zu Bett zu legen. Denken sie sich, gerade heute, wo keine Hand entbehrlich ist. Ich werde sie morgen doch wohl zum Doktor schicken müssen." »Ich hoffe, es wird besser mit ihr werden," sagte der Rat. „Ich habe mich über ihr Wesen immer so gefreut. Sie hat etwas an sich, was einem gleich zeigt, daß sie nicht von gewöhnlichem Schlage ist, so etwas Feines bei einer artigen Munterkeit." „Noch ein Smck Rehbraten, Herr Rat?" fragte in diesem Augenblicke der Nachbar Amtmann. „Danke bestens! Er war ausgezeichnet, allein ich habe zur Genüge." Damit war das angefangene Gespräch über Bertha beendet, auch erhob sich eben ein Tischgast, um zum wer weiß wievielsten Male ein Toast auf Frau Amtmann aus- zubringen, diesmal aber gereimt: „Au diesem Nerlobungsfests, Da kamen viele Gäste. Weil wir so fröhlich beisammen sind: Es lobe Frau Amtmann Echneidewindl Hoch! und nochmals hoch! und abermals hoch!" Und die Gläser klangen zusammen, und der Reimschmied war nicht wenig stolz auf sein Produkt. Später erhob man sich und ging in den schönen Garten, der im Rokokostil angelegt war. Zwischen den wunderlichen Figuren der beschnittenen Taxushecken ergingen sich die Herren. Auch der Referendar war hinuntergegangen. Es war ihm zuletzt heiß, sehr heiß geworden im Saale. Das hatte 156 auch seinen guten Grund. Denn Sauerkraut und Schweinefleisch ist zwar ein schönes Gericht, und man kann auch viel davon essen, wenn man einen guten Magen hat. Aber noch ein zweites Essen und noch dazu verschiedene Süßigkeiten darauf, das kann auch das geduldigste Sauerkraut nicht vertragen ; es rebelliert. So war es denn auch bei dem Herrn Referendar. Es wurde ihm — unbequem. Das ist denn nun eine recht fadale Situation und kann einem wohl den Angstschweiß heraustreiben, denn der Schmerz, der sich da einstellt, ist ein solcher, daß man glaubt, man sei in Todesnöten. Dieses Gefühl stellte sich auch bei Schmaling ein, und er suchte die einsamsten Wege, wo er sein Kürbishaupt ungestört zur Ruhe legen könnte, wenn es denn durchaus sein müßte. Hier ging er mit dem blau und rot gewürfelten Taschentuchs in der Hand, um sich den Schweiß abzutrocknen, auf und ab. Doch die Angst wurde größer und größer, und es war wirklich kein Spaß. Er kam zu einer Stelle der Taxuswand, in welcher ein Rondel eingeschnitten war, und wo eine Steinbank stand, hinter welcher ein Satyr ihn an- grinste. Mit dem leisen Rufe: „Ach Gott, ich glaube, ich sterbe !" sank er vor der Bank nieder und zitierte alle Sprüche, deutsch und lateinisch, die ihm einfielen und Stoßseufzer in schweren Leiden waren. Dabei wand er sich ächzend unter dem Einflüsse der Schmerzen, die ihn quälten. Zuletzt fiel ihm auch ein Vers aus den uralten Gesangbuche ein, den er vielleicht in seiner Jugend gelernt hatte, aus einem Liede, bei anhaltender Dürre zu singen; und ohne zu bedenken, ob derselbe auf seine gegenwärtige Situation paßte, rentierte er: „Nch, Gott, nun schleust den Himmel auf und last es wieder regnen !" 157 Da klopfte ihn jemand auf die Schulter und als er erschrocken aufsprang, stand der alte Rat hinter ihn und sprach lächelnd: „Mein lieber Referendar, das hilft ihnen nicht mehr; davon werden sie nicht dicker!" Dann aber fügte er mitleidigt hinzu, als er das Iammergesicht der Jammergestalt sah: „Laufen sie spazieren, dann wird es schon besser werden!" Damit wandle er sich und ließ den Referendar stehen. Dieser aber eilte in Sturmesschritt fort, ob wegen der erhaltenen Weisung oder aus anderem Antriebe, weiß ich nicht. Bald kam er zu einer Pforte, die ins Feld auf den Ellricher Weg führte. Eben wollte er hinaustreten, als der Nachtwächter Demut ihm entgegen kam. Die Nachtwächter gingen nämlich zu den Kirmsen bei den Dorfbewohnern herum, um ein Anteil an dem Kirmsen- kuchen zu erheischen, und in der Regel hatten sie eine Frau mit, wenigstens war es bei Demut der Fall, die in einem großen Tragkorbe abends den Ertrag heimführte, während der Nachtwächter bei irgend einem Bauer noch zechte und es seinen Angehörigen zu Hause überließ, für seine Stellvertetung zu sorgen. Beide prallten zurück, als sie einander so plötzlch ent- gegentraten. Demut fand zuerst Worte. „Guten Abend, Herr Referendar !" rief er. „Schon so früh wieder nach Hause?" „Ach, lieber Demut! Ich bin — ich habe — hier — Kolikanfall." „Da sind sie g'rade an den rechten gekommen, Herr Referendar, denn gegen solche Leiden, hilft am besten mein Ungewährsalmittel*), und das führe ich immer bei mir, Herr Referendar."

  • ) Universalmittel.

„Was? Was habt ihr?" fragte der Referendar. 158 „Mein Ungewährsalmittel. Hier, Herr Refendar!" rief er dann triumphierend, und hielt ihm die Schnapsflasche hin, die er aus der Brusttafche gezogen hatte. „Hier, Herr Referendar, das ist Bitterer, echter Bitterer mit Kalmus und Bärwurz hineingeschnitten. Ich sage ihnen, jeder Tropfen ist Gold." Als der Referendar zögerte, fuhr Demut fort: „Sie können getrost daraus trinken, wenn sie auch der Herr Referendar sind. Da hat schon der alte Fritz d'raus getrunken, damals, bei Hochkirch, wo wir Schmisse gekriegt hatten, und es war ihm so wehleidig wie ihnen jetzt. Da sagte ich zu ihm: Ewige Majestät, sage ich, trinken sie 'nen Bittern, da schlucken sie die Pille hinunter, die die Oesterreichs ihnen eingebrockt haben, und da wird's besser werden, sage ich. Und da nahm er die Flasche und trank und wie er sie wiedergab, da sagte er: Demut, sagte er, der ist echt, das spürt man; ich werde mir solchen auch kommen lassen. — Ja, sage ich, Majestät, aber vergessen sie Bärwurz nicht." Der Referendar hatte indessen mit zitternder Hand nach der Flasche gegriffen und nahm dann einen derben Schluck. Demut nahm dann die Flasche zurück, hielt sie gegen das Licht und sagte: „Der Zug war gut, Herr Referendar, aber ich gönne es ihnen von Herzen. Denn sie sind ein guter Herr, und Pfingsten vorm Jahre haben sie sogar mein Dortchen nach Hause geführt aus dem Himmelreiche. Das vergißt ihnen Demut nicht. Denn Dortchen, das ist mein Stolz, Herr Referendar, und das ist ein Mädchen, die paßt überall hin, und wer die 'mal kriegt, der kann sagen, er hat das große Los gewonnen, und das sage ich, als ihr leiblicher Vater, und ich kenne sie. Herr Referendar, sie sind - ein studierter Mann, und ich bin ein gebildeter Mann, der mit dem alten Fritz gesprochen hat, und ich denke, Herr Referendar, 159 wir verstehen einander. Aber trinken sie nochmal, und wenn auch die Flasche leer wird, damit ihre Kolikschmerzen vergehn, ich geb's ihnen gerne." Und der Referendar trank noch einmal aus der Flasche des gebildeten Nachtwächters, aus der schon der alte Fritz getrunken hatte, und es schien wirklich etwas besser zu werden. Dann sagte er zu Demut: „Demut, wenn ich heute Abend nach Hause gehe, könntet ihr mich begleiten; es ist für alle Fälle." „Ei, warum denn das nicht, Herr Referendar. Sie haben Pfingsten mein Dortchen nach Hause gebracht, dafür bringe ich sie von der Kirmse nach Hause. Und wenn ich um zehn Uhr nicht zu Hause bin, dann bestellt Dortchen den Fritz Braun, das ist mein Stellvertreter, der muß abrufen. Ich werde unten im Gute in der Knechtestube warten, Herr Referendar, da rufen sie mich nur ab." Nach einiger Zeit erschien der Referendar wieder im Herrenhause. Ob nun der Spaziergang oder der Bittere Demuts dazu beigetragen hatte, das rebellische Sauerkraut in seine Schranken zurückzuweisen, kann ich nicht sagen. Er fand die übrige Gesellschaft in einigen Stuben neben dem Saale verteilt, während letzterer zum Ballsaale improvisiert war. Während in der Schenke des Dorfes die Klarinette, Trompete und die Posaune die Füße der Bauern in stampfende Bewegung setzten, traten hier zartere Instrumente in der feinern Gesellschaft auf. Die Flöte, die von dem langen Heinrich immer mit geschlossenen Augen geblasen wurde, die Geige, welche der lahme Gössel handhabte, wobei es ihm auf einen falschen Griff dann und wann nicht ankam — das war aber nicht seine Schuld, denn Arme und Beine waren bei ihm etwas- kurz geraten und der Oberkörper hatte einen verhältnismäßig großen Umfang —, dann zuletzt die Harfe, die von dem erblindeten Reinhardt mit meisterhafter Fertigkeit und, wie dies 160 bei Blinden in der Regel der Fall ist, mit Ausdruck gespielt wurde. Der Herr Referendar, obgleich ihn Karline zu den jungen unverheirateten Leuteu rechnete, die bei dem beabsichtigten Balle eine wichtige Rolle zu spielen hatten, ging nicht in den Saal, sondern gesellte sich nach einiger Umschau einer Gruppe von Herren zu, die an einem Tische saßen, vor sich die Gläser mit Punsch. Punsch war des Referendars Lieblingsgetränk. Drum ließ er die jungen, unverheirateten Leute im Saale tanzen und gesellte sich zu den älteren Herren. „Mit gütiger Erlaubnis?" damit führte er sich in den Kreis der Herren ein, die ihm bereitwillig Platz machten. Man unterhielt sich lebhaft. Der Gegenstand des Gesprächs war zunächst der Krieg mit Rußland gewesen. Dann war man auf die Beschaffenheit des Landes gekommen, von dem man damals in jenen Kreisen so wenig oder vielleicht weniger wußte, als heute von Inner-Afrika. Zwei Dinge waren es jedoch, deren Namen geläufig waren, das waren „Sibirien" und „Wölfe." In Sibirien, das stand fest, war es übermenschlich kalt; die Wölfe waren Tieren und Menschen gleich gefährlich. Manche Geschichte hierüber war bis hierher gedrungen und wurde nacheinander erzählt, und der eine und der andere gab von seiner Kenntnis in diesen Dingen Kunde. Nur der Referendar sagte, wie das seine Gewohnheit war, zu dem allen kein Wort. Er trank ruhig seinen Punsch. Plötzlich warf einer die Frage auf, wie es denn käme, daß die Wölfe in jenem Lande so zahlreich wären, während man bei uns nicht höre, daß es solche gäbe. „Da sind sie sehr im Irrtum," bemerkte Förster Knabe aus Sülzhayn, „auch in unserem Harz sind noch dann und wann Wölfe. Mich wundert, daß sie nicht gehört haben, Ravensturm, Wartturm der früheren Stndtbeseftigung. Frauenbergskirchs. Begräbnisstätte des Referendar Echmaling. 161 wie im vorigen Winter mein Kollege in Elbingerode zwei solcher Tiere erlegt hat."*)

  • ) In der Tat kamen damals dann und wann Wölfe nach dem Harze.

„I freilich," sagte ein anderer, „man hat ja überall davon gesprochen, und sie sollen sogar bis in unsere Gegend gekommen sein." „Das kann ich bestätigen!" fiel kräftig der Amtmann Wiedemann ein, der gerne Iagdgeschichten erzählte, und nachdem er seine Tonpfeife frisch gestopft und in Gang gebracht hatte, fuhr er fort: „Im Januar, es war, wenn ich nicht irre am sechzehnten, ging ich von meinem Gute aus gegen Abend nach dem Ellricher Holze zu." Die Anwesenden rückten zusammen, denn eine Jagd- geschichte von Wiedemann, mochte sie auch noch soviel Unwahrscheinliches enthalten, hatte ihren Reiz, und man hörte sie immer gern. „Mein Förster erzählte mir unterwegs, daß er an demselben Tage einen Brief aus Elbingerode erhalten habe, vom Förster Schröter. Der hätte ihm mitgeteilt, daß sich dort oben zwei Wölfe umhergetrieben, aber, der Spur nach, nach hier unten zu gewechselt hätten. Ich sage zu meinem Förster: Das wäre nicht schlecht, wenn uns die Bestien hier eine Visitte abstatteten wo gerade der Wildstand so gut ist. Denn bei dem hohen Schnee kommt ja das Wild immer nach hier herunter, weil's hier besser fortkommen kann. Möglich, daß sie uns dann das Wild dünne machen! — Herr Amtmann, sagte da mein Förster, ich wollte Ihnen schon heute den Borschlag machen, Leute aufzubieten uud das Holz abzusuchen, bis wir die Spuren finden. — Meinetwegen, sage ich zu ihm. Sie können morgen die nötigen Anordnungen treffen, und 162 wenn sie eine Spur finden, dann stellen wir das Holz ab*) und veranstalten Kesseltreiben.

  • ) Umstellen, daß das Wild nicht heraus kann.
    • ) Hündin.

Wir sprachen noch darüber, wer noch eingeladen werden sollte, da kamen wir an der Waldecke am Wernaer Wege an, wo das Wild gewöhnlich wechselt über den Ellricher Weg ins Braunschweigische hinein. Dort stellten wir uns auf. Es war Heller Mondschein und kein Lüftchen regte sich. Aber es war auch ziemlich kalt und die Sterne glitzerten so hell, wie selten. Plötzlich höre ich so etwas wie Hundegebell. Donnerwetter, denke ich, da ist die verfl .... Deele**) vom Doktor Kleekamm 'mal wieder ausgerissen und jagt. Weih Gott, ich schieße das Vieh nieder. Der Doktor sollte lieber sonst was tun, als sich einen Jagdhund halten, denn der geht mein Lebtag auf keine Jagd, und die Flinte die er sich 'mal gekauft hat, verrostet im Schranke. — Wie ich nun aber genauer hinhöre, da denke ich: Nee, das ist Kleekammen seine Deele nicht; das ist überhaupt kein Hund. In dem Augenblicke kommt auch schon ein Tier gejagt. Ich mache mich schußfertig. Da bricht ein Kapitalhirsch durchs Unterholz und setzt mit einem Sprunge quer über den Weg, gerade an der Ecke des Holzes. Dicht hinter ihm kommen dieselben beiden Bestien, die nachher der Förster in Elbingerode geschossen hat. Ich schoß und mein Förster auch, aber sie waren zu flüchtig. Getroffen habe ich aber, denn das eine Tier hat geschweißt." „Ich glaube, Herr Amtmann," fiel Förster Knabe ein, „das sind keine Wölfe gewesen, denn die bellen nicht, wenn sie verfolgen." „Ja, es wird doch am Ende Kleekamms Hund gewesen sein," bemerkte Rentier Denecke aus Ellrich, 163 „denn der ist damals angeschossen gewesen und hat lange gehinkt." „Wollen sie mich Wölfe kennen lehren?" fuhr der Amtmann scheinbar zornig auf. „Ich habe sie gesehen, und Wölfe von Hunden zu unterscheiden, ist doch wohl für Unsereinen keine große Kunst," setzte er geringschätzig hinzu, „und wenn es im Dunkeln ist." Förster Knabe und Denecke blinzelten einander zu zum Zeichen des Verständnisses und schwiegen. Der Referendar aber, der dem Amtmann gläubig zugehört hatte und seit einiger Zeit unruhig auf seinem Stuhle hin und her gerückt war, fragte: „Mit Erlaubnis, Herr Amtmann, sind die beiden Wölfe auch äs trwdo getötet worden, so daß man für unsere Gegend nichts zu fürchten braucht?" „Ja," entgegnete der Amtmann, „geschossen hat der Förster zwei Wölfe. Ob sich die Bestien aber nicht vorher vermehrt haben, oder ob es dieselben gewesen sind, die ich gesehen habe, das kann ich nicht sagen. Es gibt noch genug Fleckchen im Harze wo sich solch Vieh verkriechen kann. Sicher sind wir nicht." „Und wenn die große Armee nach Rußland kommt, dann werden die Wölfe verjagt und kommen in unsere Wälder" bemerkte ein anderer weise. „Gehen sie denn heute Abend nach Hause, Herr Referendar?" fragte Förster Knabe den ängstlich Gewordenen lauernd. „Ja freilich, ich muß ja l" war die Antwort. Daß Karline ihn sonst in der Nacht vielleicht holen würde, verschwieg er. Die anderen waren indes durch die Frage des Försters aufmerksam geworden und da sie des Referendars Aengstlichkeit kannten, mischte sich jeder in das Gespräch. ii» 164 „Ich würde ihnen doch nicht raten, allein zu gehen; man kann nicht wissen," sagte der eine. „Nehmen sie lieber ein Knecht mit, der ihnen beisteht, wenn so'ne Bestie ankommt!" riet ein anderer. „Ja, da geht heute keiner vom Tanzboden mit!" rief ein dritter. „Unten ist ja der Nachtwächter Demut aus Ellrich, gehen sie doch mit dem; das ist der rechte Mann, wenn sie in Gefahr sind." „Wenn der Referendar Feuer unterwegs machen kann," bemerkte wieder jemand, „dann tun sie ihm nichts." „Dann kann er ja nur eine Laterne mitnehmen." „Das nutzt nichts!" sagt Amtmann Wiedemann. „Es muß Flintenfeuer sein. Können sie denn mit einem Gewehr umgehen?" „Bis jetzt habe ich mich nicht damit befaßt, Herr Amtmann," erwiderte der Referendar. „Na, dann möchte ich ihnen auch keins in die Hand geben. Aber halt, da fällt mir etwas ein. Haben sie denn Stahlfeuerzeug bei sich?" „O ja, Herr Amtmann!" „Na, dann nehmen sie ihr Stahlfeuerzeug heraus und pinken auf dem Wege öfters, daß es rechte Funken gibt. Da können sie sicher sein, wenn die Bestien das sehen, kommen sie ihnen nicht zu nahe." Der Referendar schien beruhigter, und das Gespräch lenkte in andere Bahnen.-------- Es war über zehn Uhr abends geworden, als der Referendar an die Knechtstube klopfte, um Demut abzu- holen, der allein gesessen und über einem Glase Bier eingeschlafen war. Die Knechte waren alle zum Tanze. „Gleich, Herr Referendar!" rief Demut, als er das Klopfen hörte, nahm seinen Knotenstock — den Korb mit den Kirmsengaben hatte die Frau längst heimgetragen — 165 und gleich darauf stand er draußen, salutierte und sprach: „Zu Befehl, Herr Referendar !" Die Nacht war ziemlich hell, als die beiden aus Werna Hinausschritten, dem etwa eine reichliche Wegstunde entfernten Ellrich zu. Der Referendar ging schweigend dahin und suchte seine Schritte zu moderieren, um den Nachtwächter an der Seite zu behalten. Dieser aber glaubte einer Pflicht zu genügen, wenn er seinem Begleiter von seinen Kriegstaten und Geistergeschichten erzählte, und er legte dann auch bald los. Aber er war noch nicht weit gekommen, als der Referendar plötzlich stehen blieb und um sich schaute. Verwundert blickte der Nachtwächter ebenfalls umher. „Sehen sie 'was, Herr Referendar?" „Nein, bis jetzt noch nicht, aber die Möglichkeit liegt vor, daß wir sie sehen." „Wen denn, Herr Referendar?" fragte Demut neugierig. „Kennt ihr Wölfe, Demut?" „Wölfe, Herr Referendar? O, ja, ich bin einmal als Soldat in einer Gegend gewesen, die hieß Polonien. Sehen sie, da gab es Wölfe, wie Sand am Meere, wie bei uns im Sommer Fliegen im Pferdestalle." „Wir haben hier auch Wölfe," unterbrach der Referendar. „Was? Hier? Bei Ellrich?" fragte der Nachtwächter. „IaI Denn man hat es mir heute bei Amtmanns auf das Bestimmteste versichert und hat Fakta angeführt, die die Sache nicht in äubio lassen." „Das wäre der Deubel, Herr Referendar! — Was machen wir denn da? Einen Schießprügel habe ich nicht, nicht einmal meinen Spieß!" „Der Herr Amtmann Wiedemann hat mir ein Mittel 166 gesagt, wie wir sie uns vom Leibe halten können. Habt ihr Feuerzeug bei Euch?" „I, das wäre das erste Mal, daß ich es nicht bei mir hätte, Herr Referendar. So'n alter Schmocker*), wie ich . . . ."

  • ) Raucher.

„Holt es hervor. Wir müssen von hier ab bis nach Ellrich pincken, dann kommt uns kein Wolf zu nahe, hat mir der Herr Amtmann versichert." „Hm," erwiderte der Nachtwächter, „wenn's weiter nichts ist! Das wollen wir schon tun." Der Referendar hatte das Feuerzeug bereits in der Hand. „Vorwärts !" kommandierte er. Und da schritten sie denn hin, die beiden närrischen Menschen, und einer suchte es dem andern zuvorzutun, recht viele Funken aus dem Steine herauszuschlagen. Wer die beiden so gesehen hätte, würde wohl gelacht haben; lächelte doch selbst der volle Mond mitleidig auf sie hernieder. So waren sie herangekommen bis an die Stelle, wo auf der einen Seite die Waldesecke an den Weg heran- reichte. Auf der andern Seite des Weges zog sich ein Feldteich hin. Hier pinktcn sie wie auf Kommando mit doppelter Geschwindigkeit, denn hier war ja die gefährliche Stelle, wo die Wölfe im vorigen Winter herausgekommen waren. Das wußte zwar Demut nicht, aber er machte es dem Referendar getreulich nach. Sie sahen beide weder rechts, noch links. Plötzlich sprang von einem Grenzsteine am Waldessäume eine weiße Gestalt empor und war mit wenigen Schritten bei den beiden Männern, die erschrocken zurück- prallten. Sie ergriff mit der einen Hand des Referendars Arm, während sie die andere abwährend dem Nacht167 Wächter zuwcmdte. Zugleich flehte sie in herzergreifender Weise: „O, schieß nicht, Vater, es ist ja mein Karl, das tut weh — und dann kommt Blut, das gibt so häßliche Flecken auf dem Laken, die gehn nicht wieder heraus. — Nun wollen wir bald Hochzeit machen. — Er sieht es nicht gern, daß ich mit dir gehe." Dann wandle sie sich flüsternd zu dem Referendar I „Komm, Karl, wir gehn zu deiner Mutter!" Sie faßte den Arm des Referendars, hing sich fest an ihn und begann leise zu singen: „Mai ist kommen, freut Euch heut! Mai ahai! Dabei wiegte sie hin und her, als ob sie tanzen wolle. Beide Männer standen bis dahin sprachlos vor Schreck. Dem Referendar war Stein und Stahl entfallen, und der Nachtwächter hatte sein Feuerzeug unbewußt in die Tasche gleiten lassen. Er fand zuerst Worte. „Ach, Herr Referendar, das ist ja die Bertha vom Gute, die den Karl Mehmel heiraten will. Und nun ist sie verrückt geworden. Wenn Karl das wüßte!" „Karl!" wiederholte die Wahnsinnige lächelnd. Es war das einzige Wort, das freundlich Einlaß fand in ihr krankes Gehirn und beruhigend wirkte. — „Komm, Karl, wir gehen nach dem Himmelreiche. Weißt du noch, damals?" Und sie begann leise eine Tanzmelodie zu summen, machte sich von dem Arme des Referendars los und ging tänzelnd dem Teiche zu. „Herr Referendar helfen sie," rief Demut angstvoll, „daß sie nicht ins Wasser fällt. Wir wollen sie zurück nach dem Gute bringen. Das wird ein schöner Aufstand dort werden!" Indem er dies sagte, war er hinter dem Mädchen hergegangen, der Referendar mit ihm. Zu gleicher Zeit ergriffen sie sie; der eine am rechten, der andere am linken Arme. War es nun das Plötzliche des Anfassens oder kam eine jener quälenden Ideen; sie kreischte laut auf. 168 „Mörder !" rief sie, stieß die beiden Männer von sich, mit einem Sprunge war sie am Teiche, und „Karl, ich komme I In's Himmelreich !" rief sie, wandle noch einmal das bleiche Gesicht den beiden Männern zu, die ihr nach- zueilen suchten, und mit gewaltigem Sprunge, daß das Haar flatterte, stürzte sie sich in den Teich. Ein Plätschern, die Wellen schlugen über ihr zusammen, und das darauf scheinende Mondlicht tanzte in den wunderlichsten Sprüngen, als ob es sich freue über das Ende der Qual eines zu weichen Menschenherzens, das über den Zwiespalt in seinem Leben nicht hatte hinwegkommen können. Die beiden Männer, die sie hatten zurückhalten wollen, standen am Rande des Teiches. Demut hatte ihr noch nachgerufen: „Bertha!" Umsonst; dort war sie versunken. „Gehen sie nach dem Gute, Herr Referendar, und sagen sie es dem Amtmann." Der Referendar, gewöhnt, sich dirigieren zu lassen, ging. Währenddessen stand der alte Nachtwächter an einen Weidenbaum gelehnt und blickte über den Teich und immer wieder nach der Stelle hin, wo die Unglückliche verschwunden war. Vergessen hatte er seine Geschichten, vergessen den Wolf und den Referendar. Er sprach mit sich laut und in kurzen, abgerissenen Sätzen. „Das junge Blut!" sagte er, „und ich alter Mann muß es vor meinen Augen zu Grunde gehen sehen! — Wäre es umgekehrt nicht richtiger gewesen? Was bin ich denn auf der Welt? Den Leuten zum Narren, ich weiß es nur zu gut; aber ich darf es nicht merken lassen. — Ja, wenn mein Dortchen nicht wäre I Was habe ich sonst auf der Welt I — Warum ist das Mädchen wohl närrisch geworden? Um ihren Karl, der bei Napoleons großer Armee ist? — Ja, es gibt viele Arten von närrischen Leuten. Die einen sind zu bedauern, wie die Bertha, über die andern macht man sich lustig. — Das Bedauern hilft aber nichts, und 169 es ist am Ende besser, wenn solche Närrische es machen wie die da. Die andern dürfen es nicht so machen, denn sie können die Leute noch unterhalten, daß sie doch etwas zu lachen haben. - Armes Mädchen I — Nein, jetzt nicht mehr; vorher war sie recht arm! — Ich bin auch arm. — Nein, ich bin nicht arm. — Wer ein Kind hat, wie ich, der soll nicht sagen, daß er arm ist! — Dortchen, mein Kind, mein Reichtum! Mein Alles auf dieser Welt!" Und in des alten Mannes Brust, in dem ein wunderlich Herz voll Liebe zu seinem Kinde schlug, regte sich das Verlangen, fort von dem Orte zu kommen, nach Hause. Er kehrte den Blick vom Teiche weg nach Ellrich zu. So stand er noch lange still und in tiefen Gedanken. Der Mond beschien die weite Wasserfläche und spiegelte sich in den leichten Wellen, die der Nachtwind dahintrieb und die ein Menschenkind bargen, dessen Herz noch eben so qualvoll stürmisch geschlagen hatte, jetzt aber still und kalt war. Er schien auch in das Gesicht des alten Mannes, das nach dem im Mondlichte dunkel emporragenden Kirchtürme des nicht fernen Städtchens gerichtet war. In seinen Augen aber glänzte es wie Perlen, die in den eisgrauen Bart herunterfielen; und wenn das jemand gesehen hätte, der hätte am Ende denken können, Demut weine. Aber so etwas kann bei einem Nachtwächter nicht vorkommen, der unterm alten Fritz gedient hat. Der Referendar war inzwischen auf dem Gute eingetroffen und fand den Amtmann beim Boston*). Mit Mühe brächte er ihn vom Spieltische hinweg, um ihm mitzuteilen, daß Bertha sich ertränkt habe. Der Amtmann war erschrocken; daß so etwas nun auch gerade heute passieren mußte, am Verlobungstage seiner Tochter.

  • ) Beliebte- Kartenspiel.

170 Er bat den Referendar, niemandem etwas zu sagen, damit die Freude der Seinigen und der Gäste nicht gestört werde. Dann erst fragte er, in welchem Teiche sie sich erkänkt habe; denn es gab damals an dem Wege von Werna bis Clinch eine ganze Reihe kleinere und größere Teiche. Als er hörte, daß es der an der Waldecke war, rief er erleichtert aus: „Gott sei Dank! Das ist nicht mehr auf unserer Flur, da muß sie nach Ellrich geschafft werden. Ich will ihnen gleich einen Knecht mitgeben, der es dem Bürgermeister mitteilt, dann haben wir uns weiter nicht darum zu kümmern, 's ist schlimm, daß sie aus unserem Hause ist. Aber meine Familie erfährt wenigstens heute und morgen früh noch nichts davon." Dabei wollte er gehen, um einen Knecht zu holen, besann sich dann aber wieder und blieb stehen. Der Referendar aber sagte: „Lassen sie, Herr Amtmann, zur Hilfe ist es zu spät, und die Anzeige kann Demut besorgen, ich werde es ihm sagen." „Danke, Herr Referendar, ich werde mich obligieren." Dann ging er wieder an seinen Spieltisch, innerlich froh, die unangenehme Sache los zu sein, und wenn auch beim ersten Spiele noch etwas wie Unmut in seinen Augen lag, so schien doch nach einigen Spielen die ganze Sache bei ihm vergessen zu sein. Der Referendar aber ging langsam und gesenkten Hauptes aus dem Gute und den Weg zurück, und er schien seine eigenen Gedanken diesmal zu haben. Die Wölfe waren vergessen. Als er an den Teich kam, sagte er zu dem alten Demut, der ihn erwartete: „Kommt, Demut, wir können nichts mehr helfen. Morgen früh aber geht gleich zum Bürgermeister und meldet ihm die Sache, damit sie herausgeholt wird." »Ja, Herr Referendar." Dann gingen die beiden schweigend nebeneinander. 171 Der sonst so redselige Nachtwächter sprach nichts mehr, und der Referendar, wie seine Gewohnheit war, auch nichts. Am Tore sagten sie einander gute Nacht und gingen nach Hause. Drei Tage später wurde vom Leichenhause des Friedhofs aus ein einfacher Sarg nach der nahen Gruft getragen, die in einer Ecke des Kirchhofs gegraben war. Rings um den Sarg war eine Guirlande von Feldblumen und Nelken, hier und da eine dicke, blutrote Butennie, gelegt, von Dortchens Hand gewunden und von ihrem Vater befestigt. Der Totengräber und sein Sohn trugen den Sarg. Niemand war sonst dabei als der Nachtwächter, der hinterher ging. Als die Totengräber den Sarg hinunterließen, kam wie durch Zufall der Referendar gegangen, und blieb am Grabe stehen. Der Totengräber sagte dann geschäftsmäßig: „Noch ein stilles Gebell" — Da entblößten alle vier Männer die Häupter. Der frische Morgenwind, der von den Bergen kam, spielte mit den weißen Haaren des Nachtwächters, als dieser die Militär- mütze vor die Augen hielt. Der Referendar sah über seine Mütze hinweg in die Gruft und man weiß nicht, kam er der Aufforderung des Totengräbers nach oder hatte er seine eigenen Gedanken. Als aber jeder andere fertig war, bedeckte auch er sein kahles Haupt. Dann gingen die Vier, jeder seines Weges, zur Stadt zurück. Zu derselben Zeit erlöste in dem Harzflecken Tanne der Tod auch eine arme, schwergeprüfte Frau, die bei der Nachricht von dem schweren Schicksale ihrer Bertha zusammengebrochen war. War doch das Band der Liebe, das sie noch an dieses Leben gefesselt hatte, nun mit einem jähen Ruck zerrissen. Was sollte sie noch auf der Welt?

7. Kapitel

Ein aus Nupland Heimkshrender. — Demut erklärt, warum der Kaiser Napoleon nicht einmal König sein kann. — Wie die Leute im Mär; 1813 sich auf dem Markte versammeln, um eine bekannte Proklamation zu hören, und was dabei erzählt wird. — Des Landesgerichtsrats Ansichten über Krieg. — Biedermann prophezeit die Schlacht bei Leipzig schon im März 1813. — Wie in der Döll- msrsi Punsch getrunken wurde und niemand bezahlte. war im März des Jahres 1813. Ein strenger Winter hatte in die Wohnungen der Armen Not, wohl auch den Tod getragen, der dort auf den eisigen Fluren Rußlands ganze Scharen von Menschen mitleidslos vernichtete, die ausgezogen waren auf Befehl und zur Befriedigung des Ehrgeizes eines Mannes, der diesem seinen Götzen unentwegt Hunderttausende von Menschenleben opferte. Als die Kunde von der Vernichtung so vieler Menschenleben über die russische Grenze gedrungen war, da frohlockte man in Deutschland und sagte, das wäre Gottes Finger, der hätte nun den grausen Eroberer erreicht und ihn gestraft. — Ob die Leute wohl recht hatten? — Jener Mann saß in seinem Palaste in den Tuilerien — denn er hatte seine Person ja in Sicherheit bringen müssen, als es schief ging — hatte einen ganzen Troß von vornehmen und geringen Dienern um sich, die jedem Winke von ihm sklavisch gehorchten, und schmiedete neue Pläne, wie er noch mehr Menschen in den künftigen Kriegen zur Schlachtbank führen könnte, und er dachte, es müßte so sein. — War der Mann gestraft? — — 173 — In so und so viel Hütten und Palästen aber saßen Angehörige der so elend Umgekommenen, der Gefallenen und Erfrorenen. Die einen klagten und weinten um den verlorenen Sohn, die Stütze ihres Alters, die andem um den Gatten, den Ernährer ihrer Kinder. — Trugen diese die Strafe? - Es war schwer, Gottes Finger zu erkennen. Es war Abend. Kalt pfiff der Nordwind von den Harzer Bergen in das niedere Tal. Da klopfte es an das Fenster des Nachtwächters. Dortchen öffnete, um nachzusehen, wer da wäre. Eine ihr nur zu bekannte Stimme fragte: „Dortchen, lebt meine Mutter noch?" „Ach Gott, der Karl!" rief sie erschrocken. „Ja, Karl, aber sie hat viel ausgehalten diesen Winter, um deinetwegen hat sie sich recht abgesorgt. Sie ist sehr schwach." „Dann sage ihr nicht," bat der draußen Stehende matt, „daß ich da bin. Gehe mit mir hinüber, öffne die Tür und gehe in die Stube. Ich will dann leise hinauf- gehen und mich hinlegen. Ich bin sehr müde und krank dazu." „Willst du nicht hereinkommen und ausruhen?" „Nein, Dortchen, mir wird jeder Tritt sauer, und ich glaube, wenn ich mich setze, dann stehe ich nicht wieder auf." Dortchen schloß das Fenster, zündete rasch eine Laterne an und ging hinaus. Der alte Nachtwächter hatte nichts gemerkt, denn er schlief in der Kammer, um sich für die Nachtwache im Voraus zu entschädigen. Sie begleitete den Heimgekommenen, und als sie sah, daß er wankte, stützte sie ihn. Während sie in die Stube der Frau ein- trat, lehnte er einen Augenblick am Treppengeländer und lauschte. Dann, als er die Stimme seiner Mutter gehört hatte, kroch er mehr, als er ging, die Stiege hinauf. Seine Kraft ging rasch zu Ende, das fühlte er. 174 Frau Mehmel lag, von Schmerzen gefoltert, auf ihrem Lager. Es ging sichtlich mit ihr immer mehr zu Ende. Karline und Dortchen hatten für ihre geringen Bedürfnisse ausreichend und mit voller Hingabe gesorgt, und es hatte ihr an nichts gefehlt. Aber die Sorge um ihren Sohn und die Sehnsucht nach ihm hatten ihren Zustand verschlimmert und ihre Auflösung näher gerückt. Als die Nachbarstochter das Licht angezündet hatte, trat sie an das Bett der Kranken und fragte, wie es ginge, und ob sie etwas wünsche. „Ach, Dortchen, es geht nicht gut, und meinen einzigen Wunsch kannst du mir doch nicht erfüllen. Wenn doch nur Karl bald käme, ich möchte ihn so gern noch einmal sehen." „Ach, Frau Nachbarin, es kommen ja jetzt so viele zurück. Da kann Karl jede Stunde auch eintreffen," erwiderte das kluge Mädchen. „Aber ich will 'mal hinaufgehen und sehen, ob auch oben alles in Ordnung ist, falls er Kommt. Das Bett könnte ich zurecht machen, denn die Betten hat Karline herausgenommen und aufgehängt." „Ja, tue das, Dortchen !" sagte die Kranke. Dortchen eilte hinaus. Hatte sie doch der Kranken gegenüber einen Dorwand gefunden, nach oben gehen zu können, ohne daß diese es auffällig fand. Als sie oben ankam, fand sie den jungen Mann auf das Bett gesunken. In der Stube war es bitter kalt. Ohne sich zu besinnen, zündete sie rasch Feuer in dem Ofen an und wandle sich dann erst zu dem Daliegenden. Wie erschrak sie, als sie ihn im Scheine der Laterne betrachtete. Zerrissen und zerlumpt war alles an ihm. Mit geschlossenen Augen lag er da und schien zu schlafen. Zum Skelett abgemagert, waren seinem Gesichte deutlich die Spuren jener rötlichen Krankheit ausgeprägt, welcher nach 175 jenem unheilvollen Kriege eine große Anzahl derer erlagen, die der Frost und die Waffen der Feinde verschont hatten. Mit Mühe ermunterte sie ihn und brächte ihn soweit, daß er sich aufrichtete und versprach, sich ins Bett zu legen und zuzudecken. Dann eilte sie hinaus und zu ihrem Vater. „Vater," weckte sie den Alten, „Karl ist zurückgekommen. Willst du nicht 'mal zu ihm hinübergehen? Er ist sehr elend, und ich glaube, schwer krank." Der Alte stand sofort auf und eilte hinüber. Er kam zur rechten Zeit. Denn der Heimgekommene war vor dem Bette niedergesunken und war bewußlos. Demut hob ihn auf, entkleidete ihn und brächte ihn zu Bett. Dann ging er zu seiner Tochter, gab ihr den Auftrag, den Fritz Braun zur Stellvertretung zu bestellen und auch dem Doktor Kleekamm Nachricht zu geben. Hieraus eilte er wieder zu dem Kranken, der bereits in Fieberphantasien lag, mit dem Entschlüsse, bei ihm auszuhalten und ihn zu bewachen. „Ja, ja," sagte der alte Mann, als der Kranke laut kommandierte, „ich habe schon viele so liegen sehen, das ist das Militärsieber*). Wer das kriegt, der kann sich bereit machen zur großen Armee, aber nicht zu einer solchen, von wo der arme Karl herkommt." Darauf sah er nach dem Feuer, schürte, daß es tüchtig brenne, holte sich einen Stuhl und setzte sich an das Bett des Kranken. Dortchen hatte inzwischen besorgt, was der Vater ihr aufgetragen. Der Doktor Kleekamm war ein menschenfreundlicher Herr, und als ihm Dortchen alles erzählt hatte, ohne des kleinsten Umstandes zu vergessen, machte er sich denn auch ) Typhus. 176 gleich bereit, zu kommen. Bald darauf trat er in die Dachstube des Kranken ein. Nachdem er denselben betrachtet hatte, während Demut aufmerksam jede Bewegung des Doktors studierte, sprach er sich dahin aus, daß der Fall bedenklich sei. »Ja, ja, Herr Kreisfiskus *), Militärfieber! I ch kenne das!" ergänzte Demut.

  • ) Physikus. **) Konstitution.

„Ist nicht jemand da, der bei dem Kranken wachen kann? Denn allein darf er nicht bleiben." „Soll er auch nicht, Herr Doktor! Ich bleibe bei ihm, Demut. Und da die leibliche Mutter, so zu sagen, verhindert ist, bei ihm zu bleiben, wegen der Konstanzion **) ihrer Beine, so übernimmt Demut diese Pflichten, Mutterpflichten, Herr Doktor, und Dortchen kocht den Tee dazu, oder was sie sonst wollen," sprach der wunderliche Alte kurz hintereinander. „Ich weiß, Alter," sprach der Arzt lächelnd, „ihr seid ein braver Mann. Aber bedenkt," fuhr er ernster fort, „die Krankheit ist ansteckend, und wer mit einem solchen Kranken in Berührung kommt, läuft Gefahr, selber krank zu werden und vielleicht . . . ." „Ins Gras zu beißen, Herr Doktor," fiel der Alte ein. „Ja, das weiß ich. Aber, sehen sie, Herr Doktor," und dabei nahm er seine Hausmütze von blauem Tuche ab, „sehen sie 'mal diese weißen Haare. Die können auch reden, Herr Doktor. Die sagen, unser Leben währt siebenzig Jahr und, wenn es hoch kommt, achtzig. Na, und ich bin doch schon fünfundsiebenzig. Da kommt es auf ein paar Jahre mehr oder weniger nicht an. Sie verstehen mich doch, Herr Doktor I Und Dortchen? Nun ja, die ist noch jung. Aber das ist meine Tochter. Und was die tut, das tut sie mir zu Gefallen, ihrem leiblichen 177 Vater, und das sage ich, Herr Doktor, das geht niemanden was an." Der Doktor drückte dem Alten die Hand, gab Dortchen, die eben eintrat, ein Rezept zur Besorgung, und ging. Am andern Tage hatte sich das Gerücht verbreitet, daß der Sohn der Witwe heimgekommen wäre, aber schwer krank. Da kamen denn die Nachbarinnen und Freundinnen, um sich zu erkundigen, und Dortchen sah wohl, sie könne der Mutter die Rückkehr ihres Sohnes nicht mehr verbergen. Schonend brächte sie es ihr bei. Und die Gewißheit, daß sie ihn wieder im Hause habe, wenn sie ihn auch nicht sehen und sprechen konnte, wirkte beruhigend auf die Frau, die so lange sich gesorgt hatte, weil sie über sein Schicksal im Ungewissen war. — Der alte Demut erfüllte seinen Krankenwärterposten mit mehr Pflichttreue als sein Nachtwächteramt. Vielleicht, daß er glaubte, auf sein Tuten oder Nichttuten käme es nicht an, aber über ein Menschenleben zu wachen, sei eine andere Sache. Er hatte seine alte Wanduhr herübergenommen und gab mit militärischer Pünktlichkeit die Arznei. An einem der ersten Tage nahm er, wie zufällig, die verlumpte Uniform des Kranken in die Hände. Er betrachtete sie von allen Seiten, aber je länger er sie betrachtete, desto mehr schüttelte er mit dem Kopfe. Als bald darauf Dortchen hereintrat, um zu sehen, wie es gehe, sagte der Alte: „Gehe doch 'mal hinüber und rufe mir den Fritz Braun! Er soll aber gleich kommen!" Fritz Braun, sein Stellvertreter und Nachtwächter in 8p6 trat bald darauf ein, verwundert, was der Alte am Hellen Tage wolle. »Fritz !" begann Demut, und dabei stellte er sich dicht vor den Angeredeten mit militärischer Straffheit hin. „Du lu l78 weißt nicht, was es heißt, Soldat zu sein, du bist keiner gewesen und wirst nie nicht einer sein, denn du hast ein kurzes Bein, und zweierlei Beine bei einem und dem- selbigen Soldaten, das ist gegen die Subornazion *). Denn die verlangt, daß man gerade stehen soll, und das bringst du partutemang nicht fertig. Aber das kannst du dir in deinem Gehirn doch zusammenseparieren, daß ein Soldat proper sein muß. Hast du verstanden?"

  • ) Subordination.
    • ) Zivilverstand.

„Ja," meinte Fritz, „das habe ich immer gehört, und ihr habt es ja auch immer gesagt." „Gut, Fritz! Ich sehe du hast gesunden Menschenverstand, wenn auch nicht viel. Nun sag' mir 'mal, wie müßte eine Uniform eines solchen daliegenden Kriegers aussehen? Proper oder nicht?" „Natürlich müsse sie proper sein", war Fritzens Antwort. „Warum muß sie aber proper sein?" fragte der unermüdliche Alte. „Na, weil sich das wohl so gehört," antwortete Fritz. „Nein, Fritz, diesmal hast du nicht richtig geantwortet, und die Frage war auch für deinen Zuvielverstand **) zu schwer, denn der hat sich mit militärischen Dingen noch nicht befaßt. Drum will ich's dir sagen, Fritz. Die Uniform muß proper sein, weil sie des Königs Rock ist. Der König läßt sie bei den Regimentsschneidern machen — das sind andere Kerle, wie der buckelige Schneider Ziegenbein —. Der Regimentsschneider macht sie dann mit seinen Gesellen, den Kompanieschneidern, fertig, und dann kommen sie auf die Kammer. Das weißt du auch nicht, was das ist, Fritz, aber alles kann ich dir nicht erklären, denn du faßt es sonst doch nicht. Von der Kammer aber kriegen sie die Soldaten, das 179 heißt, wenn der Kappendarm *) will und der König damit zufrieden ist. Und von der Kammer kommt die Uniform ganz neu. Wenn sie aber eine Weile getragen ist, und sie fängt an, kaputt zu gehen, dann wird sie geflickt, und das muß sein! Und wer sie nicht flickt, der bekommt Arrest. Wenn es aber mit den Flicken partutemang nicht mehr gehen will, dann bekommt er eine neue auf Befehl. Hast du verstanden?"

  • ) esxitaiil ä'arwes.
    • ) poivt ä'kooosur.

„Jawohl," erwiderte Fritz, „und das ist ja auch ganz natürlich." „Natürlich ?" rief Demut und hielt des Kranken Uniform in die Höhe. „Ist das Natur? Diese Löcher, die nicht von der Kugel gemacht sind, sollen Natur sein? Nein, Fritz, da ist keine militärische Natur mehr drin. Das sind Lumpen, auf deutsch gesagt. Wer ist aber schuld, daß dieser daliegende Soldat in solchen Lumpen nach Hause gekommen ist? Ich will es dir sagen. Bei unserm alten Fritz haben wir auch alte und geflickte Uniform getragen. Aber Lumpen? Nein, das ging gegen unser Pudäng Donneröhr**). Und das litt der alte Fritz nicht, denn das war ein richtiger König. Für wen aber hat dieser jetzt kranke Soldat gefochten? Antworte, Fritz!" „Für Napoleon," erwiderte der Gefragte. „Recht so, Fritz. Ich sehe du weißt Bescheid, wenn ich 'mal abgehe zur großen Armee, dann kannst du meinetwegen mein Nachfolger werden. Aber du hättest richtiger sagen sollen für den Kaiser Napoleon. Denn Kaiser ist er damals schon geworden, anno 1804, wenn auch man so, so! Aber wenn er Kaiser sein will, muß er auch für gute Uniformen sorgen und muß noch mehr darauf sehen, als wenn er bloß König wäre. Hast du verstanden, Fritz?" 1S* 180 „O ja," erwiderte dieser und das glaube er auch. „Ist diese Uniform geflickt?" fuhr Demut inquirie- rend fort. Fritz lachte und meinte, das könne doch jeder sehen, daß sie nicht geflickt wäre, und die könnte doch kein Mensch mehr tragen, solche Lumpen könnten doch nicht mehr geflickt werden." „Du hast wieder recht, Fritz! Und darum sage ich dir, Fritz, ich, Demut: Weil diese Uniform schlechter ist, wie unsers Königs Rock, so ist dieser Napoleon auch kein Kaiser, das heißt, kein richtiger Kaiser, will ich sagen. Er hat den Titel Kaiser — den hat er! — na, wie sagt doch gleich Herr Engelmann — richtig — den hat er usturpiert*). Verstehst du das, Fritz? Usturpiert, das heißt, auf deutsch zu sagen, er ist nicht einmal König, denn er sorgt nicht für seine Soldaten, wie der alte Fritz es getan hat. Und paß auf, Fritz, denke an mich, was ich dir jetzt sage: Mit der Kaiserschaft geht's zu Ende, sage ich, und das bald." Damit warf er die Lumpenuniform verächtlich in einen Winkel der Stube, setzt sich wieder zu den Kranken, und und überließ es Fritz Braun, dem Nachtwächter in sps mit dem Zuvielverstand, ob er bleiben oder gehen wollte. Dieser zog das letztere vor. * * He Als die Proklamation des Königs von Preußen angekommen war, hatte der Polizeidiener Pfeifer einen Ausruf bekommen, den er in allen Straßen der Stadt verkündete, und durch welchen alle Bürger der Stadt mittags 12 Uhr vor dem Rathaus beschicken wurden, um die Proklamation Sr. Majestät des Königs von Preußen zu vemehmen. ') usurpiert. 181 Schon vor der festgesetzten Stunde war der kleine Markt voller Leute, und wenn sich Pfeifer mit seinem Ausrufe an die männlichenBewohner gerichtet hatte, so kamen die weiblichen unaufgefordert. Da aber nicht ausdrücklich gesagt war, daß nur die Erwachsenen kommen sollten, so hatten die Mütter, um jedem Alter Rechnung zu tragen, auch das kleine Volk mitgebracht, tragend oder führend. Da aber ferner der Rektor und die Lehrer heute etwas früher geschlossen hatten, als sonst, um doch auch mit dabei zu sein, so war auch die liebe Schuljugend vollzählig da, und demnach jeder Stand, jedes Geschlecht und jedes Alter gebührend und zahlreich vertreten. Kaum hatte die Uhr der nahen Iohanniskirche die festgesetzte Zeit verkündet, als der Bürgermeister aus der Tür des Rathauses auf die oberste breite Stufe der hohen Steintreppe trat; hinter ihm Pfeifer, die „bewaffnete Macht," mit einem Schriftstücke in der einen und einer Klingel in der andern Hand. Danach drängten sich aus der Tür noch einige andere Herren, es waren die Ratmänner der Stadt, und gruppierten sich, soweit es der enge Raum zulietz, um den Bürgermeister und Pfeifern. Der Bürgermeister musterte nach allen Seiten hin die Menge. Unten aber schwirrte es noch hin und her, dazwischen hörte man Stimmen, die zur Beschwichtigung des Lärms und zur Ruhe aufforderten. Der Oekonom Panse erzählte eben seinem Gevatter Drechsler, wie der Pferdehändler Frohnhausen ihn hätte mit einem Pferde anschmieren wollen, das den Ansatz zum Spat gehabt hätte. „Aber," sagte er, „Gevatter, da kam er schön an, denn von dessertwegen*) sind wir nicht auf den Kopf gefallen, und ich habe ihm gesagt: Frohnhausen, ich habe nochhin

  • ) in dieser Sache.

182 bereits *) so viele Pferde von euch gekauft, und ihr wollt mich mit Spat traktieren ? Da soll euch Himmelhund doch der. . .

  • ) Angewöhnt« Wort« des Erzählers

Lockeres Gebäck „Still, Gevatter, der Bürgermeister!" rief der Zuhörer, und Panse mußte seine Erzählung unterbrechen. Beide schauten von jetzt ab erwartungsvoll nach der Rathaustreppe. Nicht weit davon stand der Bäcker Rieländer, trotz der Kälte, mit aufgestreiften Hemdsärmeln und mit blauer Schürze, auf welcher eine Anzahl Teigflecken in verschiedener Größe und Form gruppiert waren, und erzählte seinem Nachbar Buse, wie er sich geärgert habe über des Stadtsekretärs Frau. Die sei ihm den letzten Monat wieder schuldig geblieben, wie nun schon so viele aber trotzdem —. „Herr Nachbar, trotzdem immer großartig, und als ob sie die ganze Stadt zu kommandieren hätte. Da kam sie denn vorgestern auch und holte wieder für zwei Groschen Zuckerkringel**). Natürlich kein Geld. Da sagte sie auch noch, wie ich sie ihr gab, die Zuckerkringel würden bei mir immer kleiner, und sie wären nicht mehr so süß, als früher. Ob denn der Zucker so teuer wäre? Und das, Herr Gevatter, das kam so recht spitz heraus. Aber da lief mir auch die Galle über, und ich sagte zu ihr: Frau Stadtsekretär, wenn ihnen meine Zuckerkringel nicht gut genug sind, dann holen sie sie beim Bäcker Michelmann. Ich habe ihnen nun lange genug geborgt, nun können sie mal sehen, ob sie bei dem auch so lange geborgt kriegen. Da sagte sie denn so ganz schnippisch, ja, das wolle sie auch tun, und sie wolle es ihrem Manne sagen, daß sie sich nun einen andern Bäcker anschaffen wollten. Denn sich auch noch grob behandeln zu lassen, wenn man die Leute in Nahrung setze, nein, das brauche sie 183 sich nicht gefallen zu lassen, und dazu wäre sie nicht auferzogen, und ihr Mann, der Stadtsekretär, litte das auch nicht. Und dann ging sie ganz protzig ab, Herr Nachbar. Ich überlegte mir nachher die Sache und dachte, es ist doch besser, wenn du mit den Leuten in Frieden bleibst, denn er ist Stadtsekretär, und man weiß doch nicht, wo er einem mal schaden kann. Da bin ich denn gestern nachmittag hingegangen zu den Leuten und habe gesagt, sie möchten es doch nicht übel nehmen, und in der Hitze sagte man doch auch manchmal ein Wort zuviel und mehr, als man verantworten könnte. Erst setzten sie sich aufs große Pferd und taten so ganz appartemang *); aber nachher meinte der Stadtsekretär zu seiner Frau: Na, Frau, dann wollen wir vergessen, was vorgefallen ist, und unsere Ware wieder bei Meister Rieländer holen. Und sie sagte dann zu ihm, wenn es ihm recht wäre, dann wäre es ihr auch recht; aber grob behandeln ließe sie sich nicht, das litte ihr Stand nicht. Und da haben sie denn heute wieder Fianzbrötchen bei mir geholt. Gestern haben sie bei Michelmann einen ganzen Korb voll Zuckerkringel geholt. Der kriegt," flüsterte er seinem Nachbar ins Ohr und lachte so recht vergnüglich dazu, „sein Lebtag keinen Pfennig dafür." „Still, Nachbar!" sagte in diesem Augenblick Buse, „da ist der Bürgermeister." „Ihr verd .... Jungen!" hatte inzwischen auf einer andern Stelle ein Bürger gescholten. „Könnt ihr denn nicht eine Minute zusammen sein, ohne euch rum zu reißen und zu balgen? Wart', ich werde es dem Konrektor sagen, der soll euch das Fell vollhauen!" Die beiden so apostrophierten Schlingel drückten sich auf die Seite und einer sagte zum andern: „Das geht ') appart — ä 184 keinem Menschen etwas an; und der Konrektor hat uns noch lange nichts zu sagen, wir gehn in die Rektorklasse." Im nächsten Augenblicke hatten sie sich denn auch wieder beim Kragen und rauften sich herum, als wenn sie im Kleinen unter sich darzustellen gezwungen wären, was sich im Großen seit einer Reihe von Jahren in der politischen Welt abspielte. Frau Scharfe war mit ihrem jüngsten Kinde gekommen, das sie warm eingehüllt hatte in den runden Flanellmantel. Bei ihr stand ihre Schwägerin, die Fleischermeister Bocke. Dieser erzählte sie, wie sie nun schon ein paar Nächte hindurch keine Ruhe gehabt habe, denn das Kind ginge mit den Zähnen um, und wenn sie denke, sie wolle mal ein bißchen schlafen, dann fange es wieder an zu schreien und sie müsse es zu sich nehmen um es zu beruhigen. Und ihr Mann, der brumme die Nacht und den ganzen Morgen, daß er keine Ruhe habe vor dem ewigen Kindergeplärre und — „Siehst du, Frau Bocke, so sind die Männer! Kinder wollen sie wohl haben, aber wenn so'n armes Wurm mal unruhig ist und schreit, da ist gleich der Kuckuck los." Und das arme Wurm, das sie auf dem Arme hatte, als ob es wüßte, daß hier kein knurriger Vater zugegen sei, bekräftigte diese Erzählung durch anhaltendes heftiges Schreien, was die Mutter veranlaßte, es zu wiegen und zu Klopfen und mit „wsch! wsch! wsch!" Herumzugehen, ohne daß sie aber den Zweck erreichte, das Kind zur Ruhe zu bringen. Als der Bürgermeister daher erschien und Ruhe geboten wurde, kehrte sich das Kind nicht daran und schrie heftig weiter. Da drehte sich Fleischer Kellner, das war auch so'n Grobsack, herum, und rief mit gedämpfter Stimme, aber eindringlich: „Kann denn der Würge! nicht einen Augenblick aufhören mit seinem Gekröhle?" 185 „Das geht sie garnichts an!" erwiderte Frau Scharfe erbost. „Und wenn sie Zahnschmerzen haben, dann sind sie auch nicht fülle. Das arme Kind hat Zahnschmerzen und hat schon die ganze Nacht und den ganzen Morgen zu Hause geschrieen. „Wsch! wsch! wsch!" „Na, dann hätten sie ja zu Hause bleiben können! Was kommen sie denn hierher, daß wir uns die Ohren von ihrem Würgel vollschreien lassen sollen!" „Das ist kein Würgel, das ist mein Kind !" verteidigte sich die Frau, „und ich kann hier eben so gut sein, wie sie, und was so'n Grobsack sagt. . . ." „Ruhe! Stille!" rief es von allen Seiten nach den Streitenden hin. „Der Bürgermeister!" Der Bürgermeister hatte eine Zeitlang um sich geschaut, und als Ruhe eingetreten war — nur der Würgel kehrte sich an nichts — gebot er laut: „Pfeifer, klingeln sie zur Ruhe!" Pfeifer erhob die Klingel, und ihre dünne Stimme ertönte über die Menge hinweg. Da hörten denn auch die Jungen auf, sich zu balgen, ja selbst das Kind mit seinen Zahnschmerzen gab eine Weile den Tönen Gehör und schwieg. Dann nahm der Bürgermeister dem Polizeidiener das Schriftstück aus der Hand, und mit lauter Stimme und entblößten Hauptes, während der kleine Pfeifer salutierte, las er die Proklamation des Königs vor Im ersten Stock des Rathauses aber, wo das Landesgericht seinen Platz hatte, waren die Fenster geöffnet. Aus dem einen schaute der Rat, und er sah heute so recht munter und fast jugendlich aus; aus einem anderen Fenster schaute der Referendar, über ihm guckten noch ein paar neugierige Schreibergesichter auf die Menge hernieder. Die Proklamation des Königs von Preußen war verlesen. Der Bürgermeister blickte um sich, um den Eindruck wahrzunehmen, den sie hervorgebracht hatte. Nicht ein 186 Laut wurde gehört! Da ergriff er das Wort und sagte: „Bürger! Ihr habt gehört, was Se. Majestät zu seinem Volke gesprochen hat. Der König braucht Soldaten, um die Franzosen mit ihrem Kaiser aus dem Lande zu jagen, damit wir wieder gut preußisch werden. Jeder muß Soldat werden! Wollt ihr Ellricher zurückbleiben und nicht mit auf die Franzosen hauen?" Hier hielt er inne, und: „Nein I Ja, wir gehen mit !" riefen eine große Anzahl, denn den Bürgermeister hatten sie ganz verstanden, die Proklamation nur zum Teil oder auch gar nicht. „Hol' der Deubel den Napoleon!" rief der Fleischer Kellner und streifte die Aermel auf wie zum Zugreifen. „Dem müssen wir eins auswischen, Gevatter Peter! Ich geh' mit, so gewiß als ich ein ehrlicher Kerl bin!" „Ich auch!" versetzte der Angeredete. „Meine Frau hat zu leben." „Dunnerwetter!" sagte Schneider Ziegenbein. „Wer da Regimentsschneider wäre, der könnte was verdienen und brauchte nicht einmal selbst mit zu arbeiten! Denn Uniformen werden gebraucht die schwere Menge." „Ja, Vetter," ergänzte Schuster Diener, „und Stiefeln und Schuhe! Na, vielleicht fällt für uns etwas ab. Das letzte Jahr ist es so schlecht gegangen!" „Was sagt ihr denn dazu, Alter?" fragte Ratmann Schlichtweger, der Apotheker, den Nachtwächter Demut, der im Hausflur des Rathauses bescheiden gestanden und zugehört hatte. »Ja, Herr Ratmann," erwiderte Demut kleinlaut, „sehen sie, das ist alles recht gut. Aber was mache ich? Der Fritz Braun mit seinem kurzen Beine kann nicht mitgehen, denn er kippt immer auf die linke Seite. Da könnte er nun recht gut meine Stelle als Nachtwächter in Ellrich ausfüllen. Er ist zwar noch ein bißchen dumm, und das Regalemang begreift er nur schwer. Aber wenn 187 er erst in Amt und Würden ist, dann wird sich das schon finden. Da könnte ich wohl meine Muskete wieder vornehmen und nochmal den verd . . . Franzosen zeigen, was Demut kann, gerade so, wie damals bei Roßbach. Aber da ist ja doch der Karl Mehmel, der braucht einen Krankenwärter, und es ist niemand da, der es übernehmen kann, und auch der Fritz Braun will nicht bei ihn bleiben, weil die Krankheit ansteckend ist. So'n Kerl mit zweierlei Beinen fürcht't sich, Herr Ratmann, denken sie nur! Als ob an dem viel dran wäre, der nicht einmal Soldat werden kann!" „Na, laßt man gut sein!" entgegnete Schlichtweger lachend. „Es ist auch besser, ihr bleibt zu Hause. In eurem Alter macht man keinen Feldzug mehr mit." „Was ? Herr Natmann, sprechen sie nicht von meinem Alter I Der General Blücher, Exzellenz, wird wohl ebenso alt sein, wie ich; und wenn der dabei ist, dann ist Demut auch nicht zu alt. Bloß der Karl! Wenn ich nur wüßte, wer bei dem Karl bliebe!" „Ihr bleibt da, Demut!" sagte Schlichtweger bestimmt. „Es wird wohl bald mehr Kranke und Blessierte in der Stadt geben. Die bringen wir dann gemeinschaftlich unter und errichten eine Art Lazarett; und da werdet ihr Lazarett-Inspektor!" „Herr Ratmann!" rief Demut freudig. „Ich habe es doch immer gesagt, der Herr Ratmann Schlichtweger ist der einzige, der weiß, wozu der Demut alles zu gebrauchen ist. Ich danke ihnen, Herr Ratmann, ich werde ihnen auch als Lazarett-Inspektor keine Schande machen." — Die Menge hatte sich verlaufen. Der Landesgerichtsrat Weimar hatte das Fenster geschlossen, war dann zum Referendar in die Stube gegangen und hatte in seiner freundlichsten Weise gesagt: „Mein lieber Referendar, heute wollen wir nach Hause gehen. Diesen Tag habe 188 ich lange erwartet. Nun er da ist, soll er für uns alle ein Festtag sein! Schicken sie die Schreiber fort und lassen sie die Bureaus schließen! Heute wird doch niemand kommen." Damit ging er, und die andern ließen es sich auch nicht zweimal sagen und eilten, daß sie fortkamen. Als der Rat nach Hause kam, seine Frau in seiner ruhigen herzlichen Weise begrüßt und sich mit ihr zu Tische gesetzt hatte, sagte er: „Manschen, heute ist ein Tag, an dem jeder ehrliche deutsche Mann freier aufatmet. Nun ist kein Aufhalten mehr. Jetzt heißt es, entweder frei werden von diesem verhaßten französischen Joche, oder mit uns ist es für immer vorbei!" „Ach Gott, Weimar," entgegnete sie, „was wird das wieder für Menschen kosten!" „Ja, Manschen, da hast du leider recht. Es wird wieder viel Unglück in die Familien kommen und viel Trauer, und das alles," fuhr er ergrimmt fort, „um solches Menschen willen, solchen Advokatensohn, der es verstanden hat, den dummen Franzen Sand in die Augen zu streuen mit seiner Gloire. Aber das ist nun nicht zu ändern, und wir haben die Borniertheit dieses eitlen Volkes schwer zu büßen gehabt. Wer aber jetzt eine Waffe führen kann, der muß sie in die Hand nehmen. Selbst die Alten sollen noch in den Landsturm eingereiht werden, und ich werde in meinen alten Tagen noch rechts- und linksum machen lernen müssen!" „Gott, Weimar, du ziehst doch nicht etwa mit in den Krieg?" rief die kleine Frau erschrocken aus. „Nein, Manschen," entgegnete der Rat lächelnd, „wir bleiben ruhig in Ellrich, und unsere Waffentaten werden sich auf den Schießhausplatz beschränken. Aber das schad't nicht, es ist des Beispiels wegen. Aber für euch Frauen gibt's auch Arbeit. Du tätest mir einen Gefallen, 189 wenn du die Sache in die Hand nehmen wolltest, und die Frauen veranlassen, alle Tage, so viel sie Zeit haben, zu dir zu kommen. Du räumst die große Stube oben ein, und da macht ihr Binden und zupft Charpie für die Verwundeten; denn es wird wohl viel davon gebraucht werden. Und den Kaffee und die Zuckerkringel, die ihr dabei gebraucht, bezahle ich extra. Dabei stellst du dann meine große Sparbüchse hin, und wer von euch was hineintun will, kann es ja tun. Denn es wird viel Geld gebraucht, und die Franzosen haben unsere Kassen leer gemacht. Ich gebe meinen Teil auch dazu. Bist du damit einverstanden, Mariechen?" „O ja, lieber Weimar, ganz wie du meinst. Ich werde gleich nach Tische zur Frau Doktor und zur Frau Apotheker gehen und mit ihnen alles verabreden." „Tue das, Mariechen. Und der Doktor kann euch sagen, wie ihr alles machen sollt." „Ach Gott," rief die Frau aus, „wenn doch dieser ewige Krieg nur mal aufhören wollte !" „Das ist schon lange mein Wunsch, Mariechen. Es ist für den Menschenfreund nicht erhebend, wenn er daran denkt, daß die Völker glauben, sie sind nur dazu da, einander abzuschlachten. Wenn man nun vollends sieht, wie sie sich von einem einzigen Menschen aufeinander hetzen lassen, und er hat seine Freude daran, dann möchte man vor Scham manchmal in die Erde sinken, daß man solcher Rasse angehört. Mir tut es leid, wenn ich eine Fliege totschlagen soll, und ich bringe es nicht fertig; ich jage sie fort, wenn sie auch noch so unverschämt gegen mich gewesen ist. Und dieser Mann läßt mit kaltem Blute Hunderttausende von Menschen hinschlachten, car tsl 68t 80Q plaisir. Und die das sehen, vergöttern ihn auch noch und küssen die Hand, die so schwer auf ihnen liegt." - 190 Am Abend saßen die Herren zahlreich versammelt in der Döllmerei. Die Ereignisse des Tages bildeten natürlich den Gegenstand des Gesprächs, besonders aber die Errichtung des Landsturms, wegen welcher der Bürgermeister den nächsten Tag eine Versammlung anberaumt hatte. „Die Hauptfrage," sagte Denecke, „ist, wer wird unser Major?" „Das ist doch gar keine Frage !" entgegnete Biedermann, „da ist der Herr Rat der erste. Sie müssen unser Major werden, Herr Rat!" »Ja, ja," riefen mehrere, „das versteht sich von selbst!" „Nein, meine Herren," entgegnete der Rat, das versteht sich nicht von selbst! Kommandieren und Kommandieren ist ein großer Unterschied. Ich habe wohl kommandieren gelemt, aber nur auf meiner Gerichtsstube. Da kommandiere ich immer nach einer Seite hin, nämlich nach der rechten Seite. Aber bei eurem Landstürme müßte ich bald rechts- und linksum kommandieren und Gott weiß, was sonst noch. Dazu bin ich aber nun zu alt geworden. Ihr Herren müßt also einen andern wählen. Aber ausschließen werde ich mich nicht. Ich nehme meine Flinte oder Pike und trete mit in Reih' und Glied, und da will ich meine Schuldigkeit tun mit Gewehr auf und ab und mit marschieren, so gut ich kann. Zum Stechen und Schießen wird's ja wohl nicht kommen. Denn ob ich einen Menschen, auch wenn ich im größten Zorn wäre, so mir nichts dir nichts totmachen könnte, das bezweifle ich, und was man jung nicht getan hat, lernt man im Alter auch nicht. Wir haben zwar als Studenten allerlei Dummheiten auf dem Fechtboden gemacht und uns kunstgerecht Schmisse beigebracht, aber das war doch alles nur jugendlicher Uebermut, weiter nichts, und ist auch schon sehr lange her." l91 Es wurde hin- und hergesprochen, wer denn wohl zu diesem wichtigen Posten passe, da der Herr Rat durchaus nicht wolle, aber man kam zu keinem Resultate und verschob die Sache auf morgen. „Wer hätte das im vorigen Jahre gedacht, als uns Biedermann hier seine Prophezeiung von 1812 zum Besten gab!" rief einer aus der Gesellschaft. „Es ist wirklich so geworden, wie er gesagt hat." „Zufall!" entgegnete der Rat. „Der Zufall spielt oft eine wunderliche Rolle, und mit vier Zahlen lassen sich schon manche Operationen machen." „Ja, aber sonderbar ist es doch," liest sich ein anderer vernehmen, „dast die Zahl 666 gerade aus der Zahl 1812 herauszubekommen ist, und daß die Prophezeiung im Johannis auf Napoleon pastt." „Es gibt viel Sonderbares, was wir nicht begreifen können," sagte der Ratmann geheimnisvoll, „und ich könnte ihnen, durch die Kunst und die Weisheit des Pythagoras geleitet/ noch manches erzählen." „Vielleicht wissen sie von der Jahreszahl 1813, die wir gegenwärtig schreiben, uns auch so'n Kunststückchen vorzumachen," forderte Denecke indirekt auf. »Jede Zahl birgt Geheimnisse in sich," erwiderte Biedermann, „die Kunst ist nur, sie herauszufindcn." „Haben sie denn in der jetzigen Jahreszahl ein solches Geheimnis gefunden," wurde gefragt. „Ja," erwiderte er nach einigem Zögern. „Na, dann legen sie los, sie Tausendkünstler!" rief der Rat gutmütig, „sie sehen ja, alle sind neugierig. Und ich höre ihre Kunststückchen auch gern, wenn ich auch weiter nichts darin finde." Und Biedermann begann: „Meine Herren, so, wie die Lage Europas jetzt ist, bedarf es gar keiner Zahl, um vorauszusehen, daß in diesem Jahre der Kampf der Der- 192 kündeten, denen auch jedenfalls noch mehr Staaten bei- treten werden, mit Napoleon hartnäckig und vielleicht entscheidend sein wird. Nun haben wir ja erlebt, daß in der neueren Zeit immer eine einzige Hauptschlacht entscheidend ist. So war es Austerlitz und Jena. Da habe ich mir denn gedacht, das wird in diesem Jahre wohl auch so kommen und dann habe ich mir die Gegenden angesehen, wo eine solche Schlacht, die viel großartiger sein wird, als alle früheren, wohl geschlagen werden könnte. Denn große Entscheidungsschlachten werden immer auf denselben Territorien geschlagen, und die werden dann von den Heerführern ausgesucht. Da habe ich mir denn die bekannten Orte angesehen, wo früher große Schlachten geschlagen worden sind und wo möglicher Weise auch die bevorstehende geschlagen werden könnte. Als ich so die Namen durchging, fand ich sofort einen, der eine geheime Beziehung zur Jahreszahl 13 hat." „Und der wäre?" fragte der Rat. „Leipzig, Herr Rat, oder wenn sie wollen, ist ganz gleich. Die Stadt Leipzig trägt in sich die Zahl 52, denn l- ist die römische Ziffer 50 und die beiden > bedeuten zwei mal eins. Da muß doch auf den ersten Blick die Beziehung zur Jahreszahl auffallen. Die Quersumme von dreizehn ist vier, die steckt in 52 dreizehn mal, denn vier mal 13 ist 52. Hier liegt das Geheimnis offenbar. In Leipzig wird in diesem Jahre das Wichtigste geschehen, vielleicht die Entscheidungsschlacht dort geschlagen werden. Die Beziehung der vier zu 52 deutet auch auf etwas Besonderes hin; wahrscheinlich bedeutet sie das vierte Quartal, in dem das geschehen wird. Das Resultat also ist: Im vierten Quartal des Jahres 13 wird in Leipzig ein großes Ereignis stattfinden." „Sie sind ein Pfiffikus im Prophezeien!" rief der Rat lachend. ,Zch würde an ihrer Stelle auch noch die - 193 - achtzehn mit hineinziehen. Und da sie ein Freund von Quersummen sind, so würde ich an ihrer Stelle sagen: acht und eins ist neun und eins ist zehn, das ist der zehnte Monat, und der stimmt mit dem vierten Quartal, und achtzehn selbst oder dreizehn ist das Datum, und dann hieße die Geschichte ganz bestimmt: Vom 13. bis 18. Oktober wird in Leipzig etwas Wichtiges stattfinden, meinetwegen eine Schlacht geschlagen werden." „Spotten sie nicht, Herr Rat!" sagte der Ratmann gekränkt, „wir werden uns wieder sprechen!" „Na, lassen sie man gut sein, ich pfusche ihnen nicht in das Handwerk, erwiderte der Rat. „Doch, Scherz bei Seite, ist es allerdings merkwürdig, und ein sonderbares Zusammentreffen der Zahlen. Aber es gibt ja viele sonderbare Sachen, über die wir und selbst die größten Gelehrten nicht klar werden und nur Vermutungen anstellen. Hat doch vor mehreren Jahren ein Bergmann entdeckt, daß man mit einer Weiden- oder Kreuzdornrute, die er Wünschelrute nennt, ausfindig machen kann, wo in der Erde Metall und Wasser steckt. Diese Geschichte hat die gelehrtesten Leute beschäftigt, und einer unserer bedeutendsten Philosophen, Schelling, hat darüber geschrieben und die Sache für wahr erklärt.*) Ich weiß nicht, ob er recht hat, denn ich bin Jurist und kein Philosoph. Aber es ist doch ein Beweis, daß die gelehrten Leute sich mit manchen Dingen beschäftigen, die unsereiner nicht begreifen

  • ) Ein wälschtyroler Landmann, Campetti, erfand die Wünschelrute und wurde auf Befehl der bayrischen Regierung nach München gebracht, wo der Philosoph Schelling und seine Anhänger Versuche anstellten und die vermeintliche Kraft, die sie außer Zweifel erklärten, durch die Rute Wasser uud Metalle in der Erde aufzusinden, als die wirkliche Magie des menschlichen Wesens deuteten, die von Schelling sibirischer Magnetismus genannt wurde. Der Siderisinus spielte bis in die neueste Zeit eine Rolle.

13 194 kann. Wer weiß, wenn Ratmann Biedermann vielleicht seine Beobachtungen an den Zahlen Herausgabe, ob er nicht das Aufsehen der Gelehrten erregte und Leute fände, die seine praktischen Versuche in ein wissenschaftliches System brächten! Was die Geschichte mit Leipzig auf sich hat, werden wir ja sehen. Im vorigen Jahre hat ihre Prophezeiung nicht ganz zugetroffen, lieber Ratmann, denn das große Tier macht uns in diesem Jahre noch recht zu schaffen, und es wird große Anstrengung kosten, um es von seinem Stuhle herunter zu stoßen. Na, es ist ein guter Anfang gemacht, wie wir heute gehört haben. Mag der Himmel geben, daß auch der Ausgang gut ist." „Ich möchte wohl wissen, was der Oberprediger jetzt sagt!" bemerkte Denecke. „Er geht jetzt gar nicht mehr aus, und heute war er auch nicht auf dem Markte." Der Rat, an den diese Bemerkung Deneckes wohl zumeist gerichtet war, schwieg, und die anderen machten es ihm taktvoll nach. „Aber, meine Herren," mischte sich der Wirt ein, „wie wäre es denn heute mit einer Bowle Punsch? An einem solchen Tage, und wenn wir die heillosen Franzosen los werden, da kann man schon was los lassen!" „Ja wohl, ja wohl!" riefen mehrere. „Ich gebe vier Groschen." „Ich auch." So rief es nacheinander. „Und ich gebe vier Taler!" rief der Rat ernst und stand auf, als das Geld der übrigen bereits auf den Tisch geworfen war. „Ah!" kam es voll Verwunderung aus allen Kehlen. „Aber nicht zu Punsch, meine Herren!" fuhr der Rat fort. „Ich bin kein Freund von Redensarten. Doch in den letzten Tagen habe ich so ein paar Worte gehört, die 195 haben mir ungemein gefallen, und ich will sie daher jetzt anwenden. Ich trinke keinen Punsch, meine Herren, sondern ich lege das Geld, was ich dazu anwenden könnte, auf den .Altar des Vaterlandes.' Wer tut mit?" „Hurra I Wir alle!" Und es wurde noch manches Viergroschenstück hinzugelegt von den Uebrigen, Denecke gab sogar zwei blanke Taler, und es kam eine für die Verhältnisse recht hübsche Summe zusammen. „Was wird's denn aber da mit mir? Das Wasser zum Punsch ist schon heiß und alles zurecht gemacht," sagte Völlmer, der Wirt. „Dann lassen sie nur das Wasser wieder kalt werden," erwiderte der Rat, „heute haben wir kein Geld zum Punsch!" „Ne, Herr Rat, das geht nicht, und wenn's denn nicht anders ist, dann gebe i ch den Punsch und lade die Herren dazu ein, womit ich bleibe ihr ganz gehorsamer Diener Heinrich Völlmer." Dabei verbeugte er sich. Lachend wurde der Vorschlag angenommen, und länger als sonst saßen dieHerren und trankengratisVöllmersPunsch. In der Giebelstube des Mehmelschen Hauses nahte die Entscheidung über Leben und Tod. Der Doktor Kleekamm war heute schon zweimal dagewesen, und das zweite Mal hatte er gesagt, heute Abend oder die Nacht, da wäre die Krisis, da würde es sich um Leben oder Sterben handeln. Dortchen hatte schon den ganzen Tag an dem Bette Karls gesessen und verließ es nur, um der Mutter unten, mit der es immer schwächer ging, beizustehen und tröstende Worte zu sagen. Der Nachtwächter hatte seinen Platz am Bette des Kranken von Anfang an nicht verlassen, und die Sorge für die nächtliche Sicherheit der Stadt lag in dieser Zeit ganz in den Händen von Fritz Braun. 13- 196 Als die Nachbarstochter heute am Bette saß, mußte sie aus den gräßlichen Fieberphantasien des Kranken anhören, was ihr ins Herz schnitt. Zwischen den Vorstellungen von Mord und Krieg und dem Elend, das er im vergangenen Winter auf seinem Marsche aus Rußland durchgemacht und angesehen hatte, kamen zuweilen liebliche Bilder, die ihn lächeln machten und in die sich der Name Bertha, den er über die Lippen hauchte, verwebte. Und wenn er diesen Namen aussprach, dann schnitt es Dortchen noch tiefer ins Herz, als wenn er von dem durchlebten Elend phantasierte. Nachdem sprach er wieder vom Vater und vom Grenzjäger und von Paschern, und es ging alles durcheinander. Ein einziges Mal hörte sie auch ihren eigenen Namen rufen. Sie sprang auf und fragte, was er wolle. Aber der Kranke antwortete nicht und sprach leise weiter. Ihr Vater aber sagte: „Laß man sein, Dortchen, jetzt spricht er im Unverstand, er wird schon wieder zu Verstand kommen!" Gegen Abend wuchs die Aufregung des Kranken, und der alte Mann mit seiner Tochter hatten genug zu tun, um ihn im Bette zu halten. Mitternacht war vorbei, als er endlich ruhiger wurde und bald darauf in einen tiefen Schlaf fiel. „Paß auf, Dortchen," sagte der Alte, „nun haben wir's überstanden. Dieser Schlaf ist ein gutes Zeichen. Nun geh, und leg dich schlafen, ich bleibe hier." Dortchen ging, und der Nachtwächter legte sich zurück in seinen Sorgenstuhl, den er von .drüben' sich nach hier geholt hatte, um, wenn es ginge, nun auch nach so verschiedenen schlaflosen Nächten einen .Nicker' zu machen, wie er leise vor sich hin sagte. — 197 Am anderen Tage, als der Landsturm errichtet und die Männer dazu eingeschrieben werden sollten, durchlief eine aufregende Kunde die Stadt. Der Oberprediger Winkler war am Tage der Verkündigung der Proklamation des Königs schon früh ausgegangen, um seinen Freund, den Amtmann Traut in Liebenroda, zu besuchen. Der war ein Gesinnungsgenosse von ihm in bezug aus die Verehrung Napoleons und alles französischen Wesens. Zum Amtmann Traut in Liebenroda war der Oberprediger in letzter Zeit öfter gegangen und sie hatten sich wohl mit einander besprechen wollen, wie sie sich zu dem unerwarteten Umschwung der Dinge stellen wollten. Der Tag war allerdings schlecht dazu gewählt. Denn wenn eine Stadt durch irgend ein Ereignis von Tragweite berührt wird, dann gehören die Prediger unters Volk, und der Diakonus Linke war auch an demselben Tage mit auf dem Markte gewesen und hatte hier und da einige Worte fallen lassen, die den Leuten die Bedeutung dessen, was vorging, nahe legten. Er war nämlich noch nicht lange erst von der Universität gekommen, und etwas vom neuen deutschen Geiste steckte in ihm. Von dem alten Herrn, dem Oberprediger, konnte man so etwas freilich nicht erwarten, und er konnte sich nicht in das Gegenteil von dem finden, was er bis daher gewöhnt war als richtig und gut anzusehen und zu verehren. Also er war nach Liebenroda gegangen zu seinem Freunde Traut. Am Abend, als es schon dunkel geworden war, hatte er darauf den Rückweg angetreten, war aber nicht heimgekommen. Ein Bote, der am anderen Morgen ausgesandt wurde, um sich nach ihm zu erkundigen, brächte die Nachricht, er sei gestern Abend von Liebenroda weggegangen. Man sandte überall hin, aber nirgends fand man ihn. Nun nahm man an, daß 198 er verunglückt sei und suchte. Dicht beim Himmelreiche, in dessen Nähe der Weg nach Liebenroda führt, fand man eine Spur, die auf dem beschneiten Wege zum Pontel führte, der mit schwachem Eis bedeckt war. Auf dem Eise führte die Spur weiter bis zu einer offenen Stelle, und hier fand man den alten Herrn ertrunken. Das war denn nun für die ganze Stadt eine neue Ursache der Erregung, größer als die Tags vorher. Wenn man den Prediger auch, so lange er lebte, nicht besonders gern gehabt hatte, jetzt bedauerte jedermann, daß er solch ein Ende hatte nehmen müssen, und man suchte alles mögliche Gute, was er gehabt haben konnte, hervor, um es zu rühmen und in Kontrast mit seinem Unglück zu setzen. Als er aber begraben wurde, da war ein Gefolge von Geistlichen in schwarzem Talar und Beamten in Uniform aus der ganzen Umgegend, wie Ellrich das bis dahin nicht gesehen hatte, und die Weiber sagten: Das ist eine schöne Leiche I*) Der ganze Kirchhof wimmelte von Menschen. Der Superintendent aus Nordhausen hielt die Grabrede über das Thema: „Rasch tritt der Tod den Menschen an!" und es blieb fast kein Auge trocken. — Die Leute hatten sich verlaufen, nur hier und da suchte noch eik einzelner ein ihn angehendes Grab auf. Auch der Nachtwächter Demut hatte sich bei seinem Kranken beurlaubt, um mit zur Leiche gehen zu können. Nach Beendigung der Feier ging auch er noch zwischen den Gräbern umher, blieb zuletzt in einer Ecke des Kirchhofs vor einem niedrigen Hügel stehen, auf dem nur ein Holzstab mit einer Nummer stand, und blickte lange sinnend auf das Grab hinab. Dann schüttelte er das weiße Haupt, wandte sich und murmelte: „Närrisch! Närrisch!" Was er damit meinte, hat er nicht weiter expliziert und es läßt sich daher auch nicht sagen. ') Schöner Leichenzug.

8. Kapitel

Gsnejung und Tod. — Der Ellricher Landsturm. — Der Äürgor- meistsr lernt das Kommando. — Demut als selbständiger Kommandeur. — Der Seiltänzer Eisfeld als Aufwiegler. „DAHr hat's glücklich überstanden, die Gefahr ist vor- bei," sagte am Morgen nach der Krisis der Doktor Kleekamm zu dem Nachtwächter und seiner Tochter. „Gott sei Dank!" rief die letztere erleichtert. Der Alte aber sprach zum Doktor: „Sehen sie, Herr Doktor, das habe ich gleich gewußt, das mußte so kommen. Ich mache meine Obsalvationen *), wie sie die ihrigen."

  • ) Observationen.

„Ihr seid ein wunderlicher Kauz!" sagte der Arzt lächelnd. „Woher konntet ihr das wissen? Das können wir Aerzte nicht einmal vorhersagen!" „Glaube ich ihnen aufs Wort, Herr Doktor. Aber, sehen sie, es gibt doch viele Dinge, die nicht in den Büchern stehen, und die studierten Leute wissen nichts davon und bekümmern sich nicht darum. Aber unsereiner, der in der Nacht sehen gelernt hat, der beobachtet alles und erfährt doch manchmal mehr, als die gelehrten Herren. Und da habe ich längst gewußt, dieser da liegende gewesene Krieger und Zimmermannsgeselle kommt wieder zu sich, und wenn's ihn auch noch so sehr herumreißt; seine Natur überwindet alles, und dafür hat seine Mutter gesorgt." Der gutmütige Arzt hörte geduldig zu und fragte dann: „Nun sagt mir doch, was ihr für Beobachtungen gemacht habt!" 200 „Sehen sie, Herr Doktor, als im vorigen Jahre die Geschichte passierte mit der Bertha vom Gute, und ich habe sie mit meinen leiblichen Augen vor mir ertrinken sehen, weil sie närrisch geworden war, und ich alter Mann konnte ihr nicht helfen, und der Herr Referendar auch nicht, denn sie hatte sich das wohl in den Kopf gesetzt, daß sie mit ihrem Karl nun nicht mehr zusammenkommen könnte von wegen . . . Na, sie wissen ja, Herr Doktor. Da hat sie wohl recht gehabt, aber ob sie nun ins Wasser zu gehen brauchte, das will ich nicht sagen. Aber das Leben wäre für sie auch so nichts gewesen. Der Karl aber, der ging unter die Soldaten und mußte nach Rußland. Wie nun die Frau Mehmel erfahren hatte, was mit dem Mädchen passiert war, da hat sie mir alles vertraut, wie die Bertha dem Karl selbst erzählt hat, daß ihr Vater, der Grenzjäger gewesen ist, der den Mehmel bewußtlos*) erschossen hat.

  • ) unbewußt.

Sehen sie, Herr Doktor, da hat die Frau geweint um das junge Blut, und sie hat doch durch ihren Vater so elend sein müssen, dann hat sie zu mir gesagt: .Demut, hat sie gesagt, ich habe keinen Groll mehr im Herzen, auch nicht gegen den Grenzjäger, ihren Vater. Denn mein Karl hat ja seine Tochter lieb gehabt und hat sie noch lieb. Und sie hat wohl meinen Karl sehr gern gehabt, denn sonst wäre sie nicht närrisch darüber geworden. Sagt doch Dortchen/ sagte sie nachher zu mir, ,daß sie Blumen holt und um den Sarg einen Kranz windet; aber ich will mit helfen/ Und, sehen sie, Herr Doktor, da hat denn mein Dortchen Blumen geholt und hat vor dem Bette der kranken Frau den Kranz gewunden und hat ihr gesagt, wo sie eine Nelke oder eine rote Butennie einflechten soll. Wie der Kranz nun fertig gewesen ist, da 201 hat ihn die kranke Frau genommen, hat ihn vor sich hin gelegt aufs Bett und hat noch einmal lange darauf geweint und ihre Tränen sind alle auf den Kranz gefallen. Dortchen hat sie trösten wollen, aber es hat lange gedauert, bis sie aufgehört hat. Dann hat sie zu Dortchen gesagt: „So Dortchen, nun nimm die Guirlande weg, das sollen die letzten Tränen sein, über all das Unglück von jener Zeit an, und die sollen mit ins Grab kommen, und damit soll alles begraben sein.' Sehen sie, Herr Doktor, das hat die Frau gesagt, und seit der Zeit ist nichts mehr darüber gesagt und nicht mehr geweint. Und das ist mir ein Zeichen gewesen, daß die Frau nicht auch noch ihren Sohn verlieren kann, der mußte leben bleiben." Der Doktor schwieg. Was sollte er auch antworten? Alte Leute gehen von ihren Anschauungen, die ihnen zu Fleisch und Blut geworden sind, doch nicht ab, selbst wenn man ihnen haarscharf beweist wie töricht sie sind. Er lenkte daher die Aufmerksamkeit Demuts auf den Zustand der kranken Frau, bei welcher von einem Tage zum andern der Tod eintreten könne. Er rechne, sagte er ihm, dabei auf die Vorsicht des Nachtwächters, der dafür zu sorgen habe, daß der Sohn den Tod der Mutter nicht erfahre, bis er hinlänglich kräftig sei, um die Nachricht ertragen zu können. Der Nachtwächter versprach dem Doktor fest, sein Möglichstes zu tun. Einige Tage darauf saß Demut in der oberen Stube bei dem Kranken, den er auch seit dem Auftrage des Doktors nicht verlassen hatte. Dortchen war seitdem nicht wieder herauf gekommen aus doppelten Gründen. Erstlich war an die Stelle der Angst um den Nachbarssohn, die sie an sein Bett getrieben hatte, bei ihr die weibliche Scheu getreten, nach alledem, was er in seinen Fieberphantasien gesagt und was sie 202 vernommen hatte, zu ihm in das Zimmer zu gehen. Dann aber hatte sie die Frau unten zurückgehalten, welche am Tage nach überstandener Krisis ihres Sohnes die müden Augen für immer geschlossen hatte. Dortchen beweinte sie, als ob sie ihre Mutter verloren hätte, und mit rotgeweinten Augen konnte sie erst recht nicht vor den Sohn treten. Ein schlichter Sarg stand in der Hausflur, offen, daß jedermann die Tote noch einmal sehen konnte. Die Nachbarn und Freunde derselben kamen und selbstverständlich auch Karline, die einzige Verwandte, die sich übrigens in der letzten Zeit immer mehr zurückgezogen hatte und nur ihrem Herrn Referendar lebte, für den sie nicht fertig wurde. Die Leidtragenden umstanden den Sarg und besprachen die Lebensschicksale der Toten. Dann machte Karline den Anfang, ging von der linken Seite des Sarges zur rechten und steckte, als sie an das Kopfende kam, unter das Kopfkissen der Toten ein Geldstück, was alle Uebrigen dann nachmachten.*) Dann wurde der Deckel geschlossen, die Träger faßten an, und man trug die Frau hinaus nach dem Friedhose auf dem Frauenberge. Voran ging der Diakonus Linke, der ungerufen gekommen war, und der dicke Kantor, der zugleich Küsterdienste versah, nebst den Knaben, der das Kreuz trug; hinterher ein zahlreiches Gefolge von Nachbarn und Freunden. Der Diakonus hielt eine einfache aber warme Ansprache, in welcher er berührte, daß der Tod den Sohn verschont, dafür aber die Mutter genommen, die, wenn sie damit den Sohn hätte retten können, auch wohl freiwillig das Leben gern gelassen hätte, denn Mutterliebe sei so groß und so hoch

  • ) Ein alter heidnischer Brauch, der auch heute noch sinnlos ausgeübt wird Bei den alten Germanen hatte er seine religiöse Bedeutung.

203 und hehr, daß ihr alles möglich wäre. Die Mutterliebe sei der Stern gewesen, der dieser Frau, in den dunklen Nächten ihres Lebens geleuchtet, der sie aufrecht erhalten habe, als schweres Schicksal sie getroffen. Die Mutterliebe habe auch den Sohn geführt, daß er ein braver und guter Mensch geworden wäre. — Noch manches andere Schöne sagte der Diakonus, obgleich er die Rede nicht bezahlt bekam, sie auch nicht bezahlt genommen hätte, denn in ihm waren die schönen und freien Ideen der damaligen Burschenschaft lebendig, des jungen Hoffnungreichen Deutschlands, die alle engherzigen Schranken zu verdrängen suchten. Während da unten der Sarg der Mutter stand und dann hinausgetragen wurde, saß der alte Demut oben am Bette des Sohnes und erzählte mit lauter Stimme von seinen wunderbaren und heroischen Kriegstaten und flocht sogar Schnurren mit hinein, z. B. wie er mal in Frankreich Sauerkraut vorgesetzt bekommen hätte und einen großen Waschlappen statt des Fleisches darin entdeckt hätte, und wie seine Kameraden, die schon davon gegessen, nachher Gesichter geschnitten hätten. Dabei schnitt der alte Mann selbst so komische Gesichter , und lachte so gewaltsam, daß ihm sogar die Tränen aus den Augen liefen. Karl aber dachte: Der Nachbar ist in dem Jahre, in dem ich ihn nicht gesehen habe, noch wunderlicher geworden, als er zuvor war. Aber er mußte doch mit dem Alten lachen, so komisch war der heute. Und zwischen den beiden war es fast ebenso wie damals, als der Referendar dem Knaben die Aepfel gab und ihm Vormächte, wie er hineinbeißen sollte, und der kleine Junge hatte gelacht, obgleich sein Vater nebenan tot in der Kammer lag. — Plötzlich fragte Karl, wie lange es wohl noch dauem könnte bis er im Stande wäre, die Treppe hinunter zu gehen, um seine Mutter zu sehen. Diese Frage kam dem 204 Alten doch zu unerwartet und paßte gar nicht in sein ein- studiertes Spiel. „Hm, ja, Karl," begann er in seiner Verlegenheit, „da wirst du dich wohl noch gedulden müssen; denn da müssen wir erst den Doktor Kleekamm fragen. Siehst du, mit den Doktors ist das nun einmal so, um alles wollen sie gefragt sein. Und als ich ihn gestern fragte, nun könntest du wohl bald wieder hinunter in die Stube, da hat er mich angeschnauzt wie einen Geißbuben und hat gesagt: Nichts wird daraus! Kaum habe ich ihn aus dem Gröbsten, da will er schon zu seiner Mutter laufen. Andere Leute, die das Militärfieber haben, können auch nicht zu ihrer Mutter, und wie müßte er denn tun, wenn er keine Mutter mehr hätte! So'n Grobsack, dieser Kreisfiskus! Freilich, wer keine Mutter mehr hat, kann auch nicht zu ihr gehen, der muß es bleiben lassen! Na, dann denke mal jetzt gar nicht nach unten, und wenn der Doktor mal bessere Laune hat, dann sprechen wir uns wieder." Damit erhob sich Demut und ging hinaus und die Treppe hinunter, zu seinem Freunde Engelmann. Dieser war nicht mit zur Leiche gegangen, weil er sich genierte, in seinem fadenscheinigen schwarzen Rocke, und weil er keinen Hut hatte, denn ohne Hut ging es doch nicht. Der alte Mann trat ein und sank, sichtlich erschöpft, auf einen Stuhl, ohne zunächst etwas zu reden. Nach einer Weile begann er: „Herr Engelmann, sie haben doch meine selige Frau gekannt?" „Ja, Demut, freilich!" erwiderte der Angeredete. „Und sie wissen auch noch, wie sie gestorben und begraben ist?" „Das weiß ich auch noch, ganz genau." „Haben sie gesehen, Herr Engelmann, daß ich mit diesen meinen leiblichen Augen geweint habe, als sie hinausgetragen wurde auf den Friedhof am Frauenberge?" 205 „Ich kann mich nicht mehr so recht erinnern. Aber ich glaube, ihr wäret standhaft, wie sich daß für einen alten Soldaten gehört. Der darf auch beim größten Schmerze keine Tränen zeigen." „Sehen sie, Herr Engelmann, da haben sie recht, ganz recht. Und ich weiß auch ganz genau, bei meiner Frau ihrem Tode habe ich keine Tränen vergossen, wie so die Weiber tun. Aber die Frau Mehmel, die ist nicht wie andere Weiber gewesen; wie sie ihren Mann erschossen haben, da hat sie auch nicht geweint, sehen sie, und ich weiß doch, es hat ihr grausam weh getan." „Ja das weiß ich noch," sagte Engelmann, „und der Pfeifer hat damals die Frau schlecht gemacht und hat gesagt, sie märe ein rohes Weib, die nicht einmal beim Tode ihres Mannes geweint habe." „Pfeifer!" rief Demut gereizt aus und sprang auf. „Diese Kratzbürste, dieser Pfeifenstopfer! Denn das ist das einzige, was er gut kann, und der Herr Bürgermeister sagt, Pfeifer stopfte seine Pfeifen immer so, daß sie ordentlich Lust hätten, und er brauchte sich nicht zu quälen mit Ziehen. Aber dieser Pfeifer, der macht die Leute schlecht, und mich hat er schlecht gemacht, und die Frau Mehmel hat er schlecht gemacht. Und nun wird er auch den Karl schlecht machen. Aber nun sagen sie mal, Herr Engelmann," und der Alte stellte sich vor den Winkeladvokaten, „wenn ich heute dem Karl dumme Geschichten erzählt habe, daß er hat lachen müssen, und seine Mutter wurde doch begraben, habe ich da Unrecht getan, und hat der Karl Unrecht getan, daß uns Pfeifer wieder schlecht machen kann?" „Nein, das glaube ich nicht," sagte darauf Engelmann. „Die Umstände waren danach, daß man den Kranken auf- heitern mußte, das trägt zur Genesung bei. Wenn er aber heute etwas gemerkt hätte von dem Tode oder gar von 206 dem Begräbnisse seiner Mutter, so hätte das schlimme Folgen haben können." „Recht so, Herr Engelmann, man sieht, sie haben studiert. — Hätte das schlimme Folgen haben können. — Das will ich mir merken, und wenn der Pfeifer etwas sagt, dann werde ich zu ihm sagen: Hätte das schlimme Folgen haben können I Und dann wird er wohl den Mund halten. Aber, unter uns gesagt, Herr Engelmann, mir ist das Wasser dabei aus den Augen gekommen, daß ich's oben nicht mehr aushalten konnte, von dem vielen Erzählen. Adje, Herr Engelmenn, ich will nach Hause gehen, mir ist schläfrig zu Mute, und Karl braucht nun niemanden mehr, wenn aber jemand Fremdes zu ihm will, dann wissen sie Bescheid. Sie lassen keinen Menschen hinauf !" Mit diesen Worten ging er hinaus. -I- *

Es war wieder Pfingsten geworden. Wie vor zwei Jahren waren trotz der aufregenden Zeit doch am ersten Feiertage die Leute hinausgegangen in das Himmelreich nach alter Gewohnheit. Aber mancher der jüngeren Leute fehlte, der im vorigen Jahre noch frisch und fröhlich hier getanzt hatte, und die damals gewonnenen Maienbräute waren vor Ablauf des Jahres verlafscn worden, denn ihre Verehrer standen im Felde gegen die Franzosen. Nur solche Leute, wie Fritz Braun, spielten in diesem Jahre im Himmelreiche eine Rolle; aus welchen Gründen, wird der Leser aus Demuts Schilderung von seinem Nachfolger in sp6 leicht erraten. Zwei junge Leute hätten wohl mitgehen können, wenn sie gewollt hätten. Aber an das Himmelreich knüpfte sich für sie eine Kette von Erinnerungen, die sie gern aus ihrem Leben ausgelöscht haben würden, wenn sie gekonnt hätten. Karl hatte nach und nach alles erfahren. Den Tod seiner Mutter hatte 207 ihm der Arzt selbst in schonender Weise beigebracht. Berthas Ende hatte er durch das Geschwätz der Nachbarn erfahren, die da kamen lind glaubten, nachträglich ihr Beileid bezeugen zu müssen. Still und in sich gekehrt war Karl, als er wieder gehen konnte, durch die Räume des Hauses gewandert, und von der Zeit an sprach er noch weniger als sonst. Oft kam er zu Demuts, sah dort eine Zeitlang still da und ging dann wieder in seine Stube, oder setzte sich bei zunehmender warmer Witterung in das kleine Gärtchen hinter dem Hause. Nachbars Dortchen vermied es sichtlich, sich ihm zu nähern und mit ihm allein zu sein, so oft er auch die Gelegenheit gesucht hatte. Am ersten Pfingstmorgen kam der Genesene zu Nachtwächters. Der alte Demut begrüßte ihn, und nachdem er ihn eine Weile betrachtet hatte, sagte er: „Siehste, Karl, jetzt sieht man es dir an, daß du wieder auf dem Damme bist. Es war doch eine niederträchtige Krankheit, die du in Rußland aufgelesen hast. Aber nun sag' mal, du bist allerdings bloß ein Jahr Soldat gewesen, und du hast einen Feldzug mitgemacht, wenn man auch nicht gern davon spricht von wegen der Retirade. Aber erzählen wirst du doch was können davon. Ich dachte immer, du würdest von selbst anfangen, aber das war dir vielleicht zu schenierlich.*) Nun will ich dir sagen, mir kannst du alles erzählen und ich werde dir deine Retirade auch nicht übel nehmen."

  • ) Bon genieren — genannt.

„Da ist nicht viel zu erzählen, Nachbar," sagte Karl. „Glaub's Karl, es war ja nur eine Retirade." „Wir sind," erzählte nun Karl, „in Rußland immer weiter marschiert ohne ein Gefecht. Einmal war ich aber 208 zu einer Streispartie mit komandiert. Da verirrte sich unser Führer, oder er hat uns absichtlich irre geführt, denn er war mit einem Male verschwunden, und da umzingelten uns plötzlich die Russen. Es gab ein kurzes Gefecht, bei dem von uns viele blieben, bis uns ein russischer Offizier auf deutsch zurief: Wir wären doch Deutsche, wir sollten uns doch nicht für Napoleon totschießen lassen. Rußland wäre den Deutschen Freund und sie hätten im Geheimen schon ein Bündnis abgeschlossen. Da gaben wir uns denn gefangen, weil wir gegen die Ueberzahl doch nichts ausrichten konnten, die paar Leute. Nun marschierten wir mit den Russen bald hierhin, bald dorthin, aber wir litten keine Not. Endlich schickten sie uns Deutsche fort, und es wurde uns gesagt, wir sollten nur in die Heimat gehen, Preußen erklärte an Frankreich den Krieg. Wir marschierten nun bei der großen Kälte fort und kamen bald auf die große Heerstraße. Da haben wir viel Elend gesehen, und es ist uns sehr elend gegangen. Einige von meinen nächsten Kameraden wurden unterwegs krank und blieben liegen, und wer weiß, was aus ihnen geworden ist. Ich habe mich so hingeschleppt, bis ich nach Hause kam, und von Nordhausen rauf hat mich ein Zorger Fuhrmann mitgenommen, sonst wäre ich wohl nicht bis hierher gekommen, denn ich konnte mich schon in Nordhausen nicht mehr aufrecht halten." „Ja, Karl, das glaube ich dir wohl, denn du konntest noch nicht einmal allein ins Bett, und ich habe dich hineingebracht." „Ich weiß, Nachbar ihr habt viel an mir getan, und wenn ihr nicht gewesen wäret, läge ich vielleicht jetzt auch unterm Rasen. Vorher wäre mir das gleichgültig gewesen; aber jetzt bin ich doch froh, daß ich wieder gesund bin." „Was willst du denn nun tun? Willst du wieder Arbeit suchen?" 209 „Nein, Nachbar, noch nicht, denn wer denkt jetzt wohl an Häuserbauen. Ich will noch vierzehn Tage hier bleiben, und dann melde ich mich wieder zum Eintritt ins Heer." „Ich hätte mein Tage nicht gedacht, daß du ein solch straffer Soldat werden würdest. Aber nun ich sehe, daß du Liebe zum Militär hast, bin ich stolz auf dich, und was ich für dich getan habe, das freut mich um so mehr. Und später, da kannst du den Leuten deine Kriegstaten erzählen, wenn ich zur großen Armee gegangen bin." Und der Alte trat herzu und drückte dem Jungen die Hand. Dortchen war ab- und zugegangen und hatte die letzten Worte Karls gehört. Sie konnte einen Seufzer nicht unterdrücken. Karl wandle sich zu ihr und fragte, ob sie wohl heute nachmittag mit ihm nach dem Friedhof gehen wollte, er wolle einige Blumen auf seiner Mutter Grab tragen und sie dort einpflanzen. Dortchen sagte zu, und damit war die Sache abgemacht. Nachmittags trugen sie gemeinschaftlich die Blumen zum Grabe. Sie sprachen unterwegs über die gleichgültigsten Dinge. Als sie an dem Grabe ankamen, schwiegen sie auf Verabredung. Karl pflanzte still einen Blumenstock nach dem andern ein, und Dortchen half ihm dabei und reichte ihm zu. Als er fertig war, sah er das Mädchen an und sagte: „Dortchen, ich weiß, du hast meine Mutter so sehr lieb gehabt, da wollte ich dir denn auch an ihrem Grabe danken für alles, was du ihr liebes und gutes erwiesen hast. Und mir hast du auch viel Gutes getan, und ich habe es vielleicht nicht um dich verdient, denn ich glaube, ich habe dir sehr wehe getan. Da möchte ich dich denn um Verzeihung bitten, ehe ich wieder fortgehe. Wir wissen ja nicht, ob wir uns wiedersehen." Dabei reichte er ihr die Hand hin. Das Mädchen hatte gleich nach den ersten Worten 14 210 angefangen zu weinen. Als er ihr die Hand hinhielt, legte sie die ihrige hinein und ließ sie ihm auch, als er sie festhielt. So gingen sie zum Kirchhofe hinaus, ohne weiter ein Wort zu einander zu sagen. Sie gingen aber nicht nach Hause, sondern schlugen einen Feldweg ein. Das überall im kräftigen Wachstum stehende Korn, die kleinen Kartoffelfelder, die Wiesen boten Anlaß zu Gesprächen zwischen den beiden Dahinschreitenden. Und das Mädchen hatte überall bei den einfachsten Dingen eine sinnige Bemerkung. Die Neigung zum Erdichten und zur Umwandlung des Gegebenen in's Abenteuerliche und Wunderbare, wie diese bei ihrem Vater heroortrat, gab sich bei ihr als ungekünsteltes Vermögen kund, jedem Dinge, besonders aber der sie umgebenden Natur, eine poetische Färbung zu geben, was, eben weil es ungekünstelt war und in einfachen Worten sich äußerte, das Mädchen anziehend machte. Karl war anfangs mehr Zuhörer als Redner. Nach und nach löste sich aber der Bann, der auf seinem Herzen lag, und entfesselte auch die Zunge, und es wurde manches ernste und zuweilen auch ein scherzhaftes Wort zwischen beiden gewechselt. Als sie dann am Spätnachmittage nach Hause gingen, war die alte Vertraulichkeit wieder bei ihnen eingekehrt, und in beider Augen lag es wie Zufriedenheit und beginnendes Glück. Die nächsten Tage jedoch war Dortchen wieder zurückhaltender denn je, und sie hatte so viel zu schaffen und wurde nicht fertig, daß Karl nicht einmal mit ihr reden konnte, so oft er auch in der Absicht expreß in das Nachbarhaus kam. — Die Abschiedsstunde hatte geschlagen. Kein Wort weiter, als ein einfaches Lebewohl, hatte er an die Jugendgefährtin gerichtet. Der Nachtwächter ließ es sich nicht nehmen, ihn zu begleiten. Als sie ein Stück Weges ge211 gangen waren, forderte Karl den alten Mann auf, um» zukehren und reichte ihm die Hand zum Abschiede. Da hielt ihn jener fest bei der Hand und sagte: „Karl, was ich dir noch sagen wollte: Siehst du bei den Soldaten ist es so, und du wirst es ja auch wohl gemerkt haben, wenn du auch meistens auf der Retirade gewesen bist. Da hat jeder seinen Schatz von wegen der Futterage*), die jeder Soldat haben muß, namentlich wenn er im Felde ist. Denn siehste, Kommißbrot ist wohl ein ganz gutes Essen, aber wenn man Wurst dazu hat, oder auch nur Butter, dann ist es doch noch viel besser. Wenn nun aber der König jedem immer Wurst zum Kommißbrote geben wollte, herjeel wo sollten denn da die Schweine Herkommen. Nein, Karl, das geht nicht, und das braucht der König auch nicht, absolutemang nicht! Dafür müssen die Schätze sorgen, das ist ihre Soldatenpflicht, und dafür werden sie estimiert. Bei dir ist es etwas anderes. — Sei stille, Karl, ich weiß, was du sagen willst — und da du nun von Hause auch keine Wurst mehr kriegen kannst, siehste, Karl, da mache ich mir das zur Bedingung, daß du öfter schreibst, wo du bist, damit ich dir die nötige Wurst besorgen kann, die einem richtigen Soldaten gehört. Und daß du ein richtiger Soldat bist, das weiß ich nun ganz gewiß, und ich schicke dir auch manchmal Butter dazu. Denn siehste, Karl, du bist mir wie ein leiblicher Sohn, was eigentlich mein Dortchen ist, und da denke ich, da hätte ich ja auch Wurst schicken müssen, wenn die ins Feld müßte, und das Schweinchen, was ich jedes Jahr zu Weihnachten oder Neujahr schlachte, das wirst schon soviel ab, und dann kommen ja die Kirmsen, die bringen auch was ein. Und wenn ich Lazarett-Inspektor werde, wie Ratmann Schlicht«

  • ) Fourag,.

14' — 2l2 — weger sagt, dann geht es erst recht, denn so'n Posten bringt was ein, ich kenne das. Und Dortchen packt die Wurst ein und schreibt die Adresse drauf." „Ja, Nachbar," sagt Karl, der wohl wußte, daß der Alte nicht gern Widerspruch hatte, „wenn ihr es durchaus haben wollt, dann will ich das wohl annehmen, und ich danke euch schon im Voraus dafür." „Nicht nötig, Karl, keine Ursache. Und, Karl, Kopf oben und feste drauf, wie damals bei Roßbach, und ein gesundes Wiedersehen!" „Das wollen wir hoffen. Und lebt wohl Nachbar!" „Leb' wohl, Karl!" Und beide wandten sich und gingen jeder seinen Weg. — * O-

Auf dem Schießplätze vor dem Tore ging es in diesem Jahre lebhaft zu. Gegen Abend jeden Tag kam die waffenfähige Mannschaft, das heißt soweit sie noch nicht hatte in das Heer eintreten müssen oder freiwillig eingetreten war, dort zusammen, um exerzieren und den Waffendienst zu üben. Es waren meist alte Leute und solche junge Männer, die, wie Demut sagte, absolutemang nicht ins Feld rücken konnten, resp, ins Heer eintreten. Der Bürgermeister war zum Major erwählt worden, da der Rat es nicht hatte werden wollen. Nun war das aber eine eigene Sache, daß der Bürgermeister vom Kommando, das heißt vom militärischen Kommando rein gar nichts verstand. Das genierte ihn aber nicht, auf allgemeinen Wunsch den Posten des Majors doch zu übernehmen. Auch dachte er wohl, was man nicht weiß, das läßt sich erlernen. Und da hatte er denn auch ganz gewiß recht. Eine so leichte Sache, wie Kommandieren, läßt sich schon lernen, namentlich wenn man einen solchen in dieser Beziehung kenntnisvollen Mann, wie Pfeifer, zur Verfügung 213 hat. Denn der war Soldat gewesen und verstand sich auf alle Schwenkungen und Wendungen aus dem ff. Der Bürgermeister beschloß daher, sich bei Pfeifern in die Lehre zu geben, selbstverständlich unter Wahrung der gegenseitigen Stellung. Jeden Morgen nun, wenn der Polizeidiener in des Bürgermeisters Wohnung kam und mit den Pfeifen- stopfen fertig war, dann nahm der Bürgermeister Privatstunde bei ihm im Kommando. Nachdem er sich die Pfeife angezündet hatte, wozu ihm Pfeifer pflichtschuldigst den Fidibus reichte, stellte sich der alte Herr im Schlafrocke und die Pfeife im Munde in die Stube und machte auf Kommando Pfeifers Rechtsum und Linksum, Kehrt und Front, Marsch und Halt. Als er aber am dritten oder vierten Morgen noch nicht so recht im Schusse war und Pfeifer ihm untertänigst bemerkte, es würde am Ende besser gehen, wenn der Herr Bürgermeister die Pfeife weglegten, da fuhr ihm das gewaltig in die Nase, und er wurde ärgerlich. Sollte er sich auch wegen Pfeifers Kommando die Morgenpfeife entziehen? „Ich will ihm etwas sagen, Pfeifer. Ich werde mich hier aufs Sofa setzen, und er macht mir die Geschichte vor, dann ist es eben so gut; denn ich brauche ja die Uebungen als Major nicht mitzumachen. Wenn ich nur komandieren kann!" — Pfeifer gab dem Herrn natürlich recht. Don der Zeit an komandierte er dem Bürgermeister vor und machte dazu Exerzitien, während der Bürgermeister in der Sofaecke saß, seine Pfeife rauchte und „lernte." Manchmal kam auch die Frau Bürgermeister dazu und setzte sich zu ihrem Manne — obgleich sie in bezug auf das Kommandieren eigentlich nichts mehr zu lernen hatte — und sie freuten sich dann beide darüber, wenn Pfeifer seine kurzen, dünnen Beine so herumwarf beim Rechtsum und Linksum oder gar bei Kehrt und Front. Da er nun 214 sehr laut kommandierte, blieben regelmäßig vor der Tür einige Leute stehen, meistens Frauen, und hörten zu. Denn so etwas war in Ellrich doch noch nicht dagewesen, und es war auch so gruselig schön. — Unter dem Landsturm befinden sich natürlich auch unsere Bekannten, der Rat Weimar und der Referendar Schmaling. Der erstere war Flügelmann, da er ziemlich der größte war von allen und sich wegen seiner Leibesfülle auch stattlich ausnahm. Neben ihm stand der Referendar, der ihm an Größe gleichkam aber leider, wie wir wissen, bezüglich der Leibesfülle viel zu wünschen übrig ließ. Das war denn hier auf diesem Platze sehr unangenehm. Der Major-Bürgermeister hielt nämlich vor allem auf die Richtung, wenn angetreten war, und Pfeifer hatte ihm gesagt, das wäre besonders ins Auge zu fassen. Und er faßte es ins Auge. Kam er nämlich auf den Schießplatz geritten — denn anders tat er es nicht, als mit dem Schimmel — und er hatte antreten lassen, so zog er den Degen, ritt dann an den linken Flügel — wenn nämlich der Schimmel wollte — streckte die Klinge von sich und kommandierte: Richtung! Dann entstand ein Trippeln und Sehen nach rechts und links, bis sich dann die Linie vom rechten Flügelmann an, dem alten Rat, schnurgerade gebildet hatte. Aber wenn nun von vorn alles so schnurgerade war, dann wollte der Major auch die Kehrseite der Medaille sehen. Hatte er nun seinen Schimmel glücklich dahin gebracht, daß er die Mannschaft von hinten mustern konnte, da sah er denn, wie der Referendar viel zu weit Vorstand, denn er richtete sich immer nach dem Bauche des Herrn Rat. Der Bürgermeister rief dann: Herr Referendar, etwas zurllcktreten! Das tat dieser denn auch, und das Getrippele ging von neuem los. Kam nun der Major wieder vor die Front geritten, dann sah er den Referendar wieder zu weit zurück215 stehen, ärgerte er sich darüber, aber sagte weiter nichts. Unten am linken Flügel stand der buckelige Schneider Ziegenbein, und als linker Flügelmann Fritz Braun mit den zweierlei Beinen. Da nun das linke Bein das kürzere war, patzte er ganz gut an seine Stelle, da er bei dem Marschieren immer etwas zur Seite kippte. Der dadurch heroorgebrachte Stoß ging jedesmal in die Luft, während er sonst wohl dem Nebenmanne unbequem geworden wäre. Dagegen war es für ihn unangenehm, daß, wenn er hinter Ziegenbein zu stehen kam, er immer zurllcktreten mußte, da jener hinten etwas viel aufgehockt hatte. Als Unteroffizier fungierten Pfeifer und Demut, als Feldwebel der Ratskellerwirt Diener. Wenn es nun wahr ist, daß der Feldwebel einer Kompagnie die Mutter derselben sein soll, die vor allen Dingen für das leibliche Wohl derselben zu sorgen hat, so hätte man sich keine bessere Mutter denken können, als den Ratskellerwirt. Denn er sandte regelmäßig zu den Uebungen seinen Lehr- jungen, er war nämlich nebenbei Schuster, mit einem Handkorbe voll Bouteillen und Schnapsgläsern nach dem Schießplätze und verkaufte Bittern, Nordhäuser, Kümmel und dergleichen, damit die Mannschaft bei der unerhörten Anstrengung sich noch stärken könne. Der größte Teil der Mannschaft war mit Flinten bewaffnet. Nur eine kleine Abteilung auf dem linken Flügel hatte Piken, die waren vom Schlosser Henze verfertigt worden. Ueber diese Pikenmänner war Demut als Unteroffizier gesetzt und hatte sie einzuüben. „Denn," hatte der Bürgermeister gesagt, „Demut, da ihr dieselbe Waffe als städtischer Beamter führt und mit ihr nun seit Jahren vertraut seid, so übergebe ich euch das Einexerzieren dieser Mannschaft. Pfeifern werde ich als Unteroffizier bei den Flinten gebrauchen." Wenn nun der Herr Bürgermeister für die Richtung gesorgt hatte, dann überließ er anfangs 216 das Einexerzieren Pfeifern und Demut und tumelte seinen Schimmel auf den Nasen herum, wie sich das für einen Major gehört, damit jener sich an den Kriegslärm gewöhne. Nachher kam er dann und inspizierte und übernahm das Kommando selbst. Dem alten Rat wollten die verschiedenen Wendungen auch nicht so recht eingehen, und es passierte ihm öfter, wie er das vorher prophezeit hatte, daß er statt links rechts machte. Der Referendar aber, der weniger auf Pfeifers Kommando hörte, als daß er sich nach seinem Chef richtete, machte dann die falsche Wendung mit und kam dann öfter mit seinem anderen Nebenmanne äos-^- äo8. Dann ging Pfeifer zum Rat hin und sagte höflich: „Um Vergebung, Herr Rat, wollen sie sich nicht nach der anderen Seite wenden?" Der gutmütige Rat lachte und folgte Pfeifern, und der Referendar machte die Wendung dann unaufgefordert mit. Zwischen Pfeifer und Demut herrschte auch hier Rivalität. Anfangs hatte der erstere immer mit Geringschätzung auf Demut und seine Pikenmänner herabgesehen, oder, besser gesagt hinauf, denn er war sehr klein davongekom- men. Demut hatte das großmütig ignoriert. Einmal war nun der Herr Bürgermeister vor das Piken- korps geritten und hatte Demut aufgefordert, seine Exerzitien machen zu lassen, er wolle inspizieren. Das geschah, und es ging alles sehr präzis, und selbst Schneider Ziegenbein und Fritz Braun machten ihre Sache gut. Als aber Demut auch kommandierte „Fällt's Gewehr!" und die Piken sich mit einem Ruck so vorwärts streckten bis dicht vor den Schimmel, da war diesem das außer dem Spaße, er drehte sich kurz um und riß aus, ließ sich auch an dem Tage nicht wieder auf dem Platze blicken. Der Bürgermeister hatte dann später gesagt, er hätte genug zu tun gehabt, um sich im Sattel zu halten, und das Vieh hätte nicht wieder auf den Platz gewollt. Seit der Zeit spitzte 217 das Pferd immer die Ohren und wurde unruhig, wenn es das Pikenkorps sah. Da hatte denn der Bürgermeister den Demut zu sich beschicken und ihm gesagt: „Demut, von heute ab übergebe ich euch das selbständige Kommando über die Piken, denn ich will auf dem Schützenplatze nichts mehr damit zu tun haben, mein Schimmel verträgt das nicht, und solche Vorkommnisse wie neulich möchte ich vermeiden. Ihr könnt daher auf eure Verantwortung mit dem Korps auf dem Wolfsgraben exerzieren und es ausbilden." Der Wolfsgraben war ein Anger auf dem entgegengesetzten Ende der Stadt. Das war nun ein Triumph für Demut, dem Polizeidiener Pfeifer gegenüber, wie er nicht größer gedacht werden konnte, und Pfeifer hatte, als er davon Kenntnis bekam, eine recht sauere Miene gemacht. Am Sonntage darauf, als beide sich im Schützenhausc trafen, wohin die Mannschaft bestellt war, um ein gespendetes Faß Einfach-Bier zu vertilgen, fragte ein Bürger den Demut in Gegenwart Pfeifers, was sein Kommando mache „Ja, sehen sie," hatte er darauf geantwortet, „ich bin ja so ziemlich mit meinen Leuten zufrieden. Aber es macht einem doch Sorge, wenn man so alles auf eigene Verantwortung unternehmen muß. Wer bloß auszuführen braucht, was befohlen wird, wie die Unteroffiziere, und braucht nicht selbst zu simulieren*), der hat es viel bequemer, aber freilich, er hat auch nicht die Ehre." Und dann hatte er dem Pfeifer sein Schnapsglas hingehalten — denn zwischen Einfach-Bier gehört ein Schnaps — und hatte gutmütig herablassend gesagt: „Trinken sie mal Herr Unteroffizier!" Der Angeredete aber hatte sich giftig herumgedreht und geantwortet: er tränke nicht mit jedem, und

  • ) »nchdenle».

218 er könne sich seinen Schnaps selber kaufen. Darauf hatte denn Demut bedauernd die Achsel gezuckt und den Rest des Schnapses, den er Pfeifern zugedacht hatte, selbst getrunken. Derselbe Sonntag, von welchem wir eben gesprochen haben, sollte die Tätigkeit des Landsturms zur Wiederherstellung der gestörten Ordnung, oder, wie der Referendar sich ausdrückte, das Status yun nnle in Anspruch nehmen, zwar nicht der durch Napoleon gestörten, sondern durch den Seiltänzer und Schnellläufer Eisfeld. Dieser hatte nämlich die Absicht gehabt, am Nachmittage auf dem Markte eine Vorstellung zu geben. Die Pfähle zur Bühne waren schon eingerammt, auch das Seil von Kellners Dachluke aus nach dem einen Giebelfenster des Rathauses gezogen. Da erfuhr er denn, daß an demselben Nachmittage Frei-Bier gegeben wurde. Er gehörte selbst zum Landstürme und hätte von Rechtswegen auch dabei sein müssen. Aber die Aussicht auf den verdienstlosen Nachmittag machte ihn rabbiat. Denn die Vorstellung konnte nun unmöglich stattfinden, und alle Vorbereitungen waren umsonst gewesen. Fehlte doch das Publikum, vor allen Dingen die Schuljugend, die sich natürlich nach dem Schützenhause zog in der Hoffnung, durch ihre diversen Väter von dem Frei- Bier auch hier und da einen Schluck abzubekommen. Eisfeld ging in einen Schnapsladen, zur Frau Weschke. Dort machte er seinem Aerger Lust und trank einen Schnaps nach dem anderen. Je mehr er trank, desto öfter schlug er mit der Faust auf den Ladentisch und räsonnierte und schimpfte, daß man ihn um sein Brot bringe. Da sollte er auch noch den Landsturm mitmachen? Nichts da, das täte er nun erst recht nicht, und gegen den Kaiser Napoleon ginge er auch nicht mit. Wenn der hier in Ellrich zu befehlen hätte, dann könnte er heute seine Vorstellung geben und hätte dabei gewiß seine sechzehn bis achtzehn Groschen 219 verdient, vielleicht auch einen Taler. Aber was hätte er denn nun? Das Seil müßte er wieder abmachen, denn nächsten Sonntag hätte er schon eine Vorstellung in Benneckenstein versprochen. Das wären andere Leute, die wären viel kunstverständiger als die Ellricher. „Denn, Frau Weschke, ich bin Künstler, und suchen sie mal einen Künstler, der macht, was ich mache. Ich nehme einen von Henzen seinen schwersten Amboßen auf meine Brust und lasse darauf schmieden." Dabei schlug er sich mit der Faust vor die Brust. „Aber meine Kunst wird nicht bezahlt, und daran ist bloß der Landsturm schuld. — Noch einen Schnaps, Frau Weschke, und den trinke ich für Napoleon!" „Ums Himmelswillen, seid stille!" sagte die Frau, „laßt das keinen Menschen hören, sonst flicken sie euch was am Zeuge." „Was?" schrie der erboste Seiltänzer, durch die Warnung nur noch mehr gereizt, „nun erst recht!" Und er riß die Ladentür auf und schrie aus Leibeskräften hinaus: „Fife lamberöhr!" Das gab dann einen gewaltigen Aufstand. Aus den Häusern kamen die Leute, meist Frauen und Kinder, und sammelten sich vor Weschkes Hause. Je mehr Leute sich ansammelten, desto lauter wiederholte Eisfeld seinen Nuf, und die Frau Weschke mußte ihm Schnaps dazu geben, sie mochte wollen oder nicht, und sie war in tausend Aengsten. Da schickte sie denn heimlich ihre Tochter nach dem Schützenhause, sie solle es dem Vater sagen, was Eisfeld für einen Aufstand bewerkstellige. Das Mädchen lief eiligst hin und erzählte es. Weschke meldete sogleich dem Bürgermeister, daß Eisfeld mit seinem „Fife lamberöhr" die Stadt rebellisch mache. Der Bürgermeister beorderte Pfeifer zu sich und trug ihm auf, den Eisfeld gefangen zu nehmen und in Prison 220 zu bringen. Da es sich dabei aber um vaterlandsfeindliche Aeußerungen handle, könne er zu seiner Unterstützung ein Kommando vom Landstürme mitnehmen. Pfeifer hatte nichts eiligeres zu tun, als Freiwillige herauszufordern. Keiner hatte rechte Lust. Als aber einige an das Bierfaß gegangen waren und dieses gekippt hatten, um zu sehen, was noch darin war, da waren sie zu der Ueberzeugung gekommen, daß für sie wohl kaum noch etwas abfallen würde. So erklärten sie denn, mitgehen zu wollen, und eine Anzahl anderer, die dieselbe Einsicht bekamen, schlössen sich an. Nachdem die Bierreste ausgetrunken waren, marschierte Pfeifer in der Stärke von mehr als zwanzig Mann ab, die ganze Schar der Jungen hinterdrein, begierig auf den Skandal, der sich nun entwickeln würde. Als Eisfeld die Truppe ankommen sah, drückte er die Mütze fest auf das rechte Ohr, stellte sich breit auf die oberste Stufe vor der Haustür und schrie aus Leibeskräften: „Hierher I Fife lamberöhr! Hierher!" Der Zug kam rasch anmarschiert. Vor der Türe kommandierte Pfeifer: „Halt! Rechtsum! Zum Kreise schwenkt!" Und als der rechte und der linke Flügel bis an das Haus vorgerückt war, da hatten sie den Eisfeld fest, und er konnte nicht mehr entwischen. Pfeifer ergriff ihn nun beim Arme und erklärte ihn als Arrestanten. Dann wurde er in die Mitte genommen und es ging dem Wernaer Tore zu, in dessen Turme das Gefängnis war. Eisfeld war ganz füll geworden. Als man auf dem Salzmarkte in der Nähe des Tores angekommen war, richtete er sich, der bis dahin, wie es schien, zerknirscht ob seiner Freveltat und gebeugt gegangen war, plötzlich aus, fuhr mit den Armen um sich herum, daß die Nächst221 gehenden zur Seite fuhren, rief: „Fife lamberöhr!" und indem er sich auf zwei der ihn Begleitenden stützte, sprang er mit einem gewaltigen Luftsprunge über die Köpfe weg und wäre dem neben dem Zuge marschierenden Pfeifer beinahe auf den Rücken gesprungen, wenn dieser sich nicht schnell auf die Seite geworfen hätte. Einmal außer dem Kreise, rief er: „Wer den Eisfeld fangen will, muß früher aufstehen!" „Vorwärts! Ihm nach!" kommandierte Pfeifer, und nun ging die Hetzjagd hinter Eisfeld her, allen voran der Polizeidiener, wie sich das für den Kommandanten schickt. Aber Eisfeld war ein Schnellläufer, und die Verfolger meist ältere Leute, die nicht viel Lunge zuzusetzen hatten. Sie blieben denn auch bald zurück und ließen ihren Kommandanten allein rennen. Der Verfolgte ließ diesen immer ganz nahe herankommen, wobei er rückwärts lief, das Gesicht dem Feinde zugekehrt, und dann machte er zum Höhne: „Hi, Hä!" streckte den Arm aus, schnippte mit den Fingern und schnalzte mit der Zunge, als ob er einen Hund locke, worauf er dann wieder ein Stllk vorauslief. Dies Manöver erbitterte den Polizeidiener immer mehr, er wurde immer eifriger in seiner Verfolgung, so daß er gar nicht merkte, wie gar bald die anderen zurückgeblieben waren und er nur allein hinter dem Missetäter herlief. An den Fenstern und Türen standen die Leute und lachten ob des kuriosen Wettlaufs. Endlich beim Umbiegen um eine Straßenecke merkte Pfeifer, daß er der alleinige Verfolger war, und nun blieb er stehen, wandte sich dann und ging langsam zurück, indem er sich mit seinem blaugewürfelten Taschentuchs den Schweiß von der Stirn trocknete. Als er wieder auf dem Schützenhause ankam, hatten die vor ihm Zurllckgekehrten bereits alles erzählt und namentlich die Jagd und Eisfelds und Pfeifers Wett- — 222 — lauf in komischer Weise dargestellt, so daß der Bürgermeister schließlich herzlich gelacht hatte. Als der zurückgekehrte Pfeifer nun dienstlich dem gestrengen Herrn rapportieren wollte, sagte dieser: „Laßt man sein, Pfeifer! Ich weiß schon! Wollen den Kerl laufen lassen! Wozu noch weiter die Schererei! Heute kriegen wir ihn doch nicht, und morgen ist er wieder nüchtern." So war der Friede allerseits hergestellt, und der Landsturm hatte seine Schuldigkeit getan.

9. Kapitel

Die Nachricht von der Schlacht bei Leipzig, über die sich der Landesgerichtsrat nicht freuen kann. — Ein Swisbelßuchen, von dem das beste Wejchkes Hühner kriegen. — Eine Auslösung. — Dluts- tröpfchsn. — Demut hält eine Dsde und Siegendem hat eine ^ldee. — Warum Karline nicht geheiratet hat. — Ein dichtender Fleischer. — Wie der Schnsidersfrau die Parade verdorben wird. Schlacht bei Leipzig war geschlagen und die Kunde davon auch nach Ellrich gekommen. Als der Bürgermeister sie durch einen „Expressen" von Nordhausen her empfangen hatte, eilte er sogleich zum Rate, um ihm die Nachricht von dem glänzenden Siege und der kompletten Niederlage der Franzosen, wie es in dem Berichte hieß, mitzuteilen. Der Rat ging erregt in seiner Amtsstube auf und ab, während der Bürgermeister laut seine Freude über den Sieg der Verbündeten äußerte. Pötzlich stand der alte Herr vor dem Bürgermeister still, legte diesem die Hand auf die Schulter und sagte: „Lieber Bürgermeister I Ich danke ihnen für die Mitteilung, und ich kann ihnen nicht sagen, wie froh ich bin, daß diesem — Menschenwürger vielleicht doch nun das Handwerk gelegt wird, wenn die verbündeten Völker klug sind und das französische Volk zur Einsicht kommt. Aber freuen? Nein, Herr Bürgermeister, freuen kann ich mich nicht. Denn mir steht immer so ein Schlachtfeld vor Augen, und ich sehe die Toten liegen und die Verwundeten, und das ist kein Anblick, der einem Freude 224 machen kann, in keinem Falle. Da liegen die armen Kerle und winden sich in ihren Schmerzen, und es ist keine Hilfe und keine Linderung. Und so ein armes, junges Blut, das zu Hause von seiner Mutter mit Angst und Sorge groß gezogen ist, und sie hat ihn behütet wie ihren Augapfel, der hat sich hier zerschmettern lassen müssen und kommt nach langer Qual vielleicht erst elend um, und keine liebe Hand von Vater oder Mutter oder Geschwister drückt ihm die Augen zu. Sehen sie, lieber Bürgermeister, wenn ich daran denke und dann an den Urheber so vieler Menschenqual, dann — dann — Der Rat hielt inne, zog die Hand von der Schulter des Bürgermeisters heftig zurück und setzte seine Wanderung durch die Stube fort. Nach einer Weile fuhr er fort, als ob er mit sich selber spräche: „Kommt da so ein Mensch von einer Insel, wo die Leute noch tief in der Barbarei stecken, von frühester Kindheit an hat er nichts weiter gesehen, als Streit und Mord, Blmrache nennen sie's dort, um jede Kleinigkeit ziehen sie das Messer, und einer sticht den andern tot, und kräht weder Huhn noch Hahn danach. Kommt da solch ein Mensch, durch und durch Barbar, ans Totschlagen gewöhnt ; die Umstände weiß er geschickt zu benutzen, setzt sich an die Spitze eines Volkes, das einen Voltaire und einen Rousseau gehabt hat und als das gebildetste gelten will, und fängt an, im Großen zu treiben, was er in der Jugend im Kleinen gesehen hat. Er führt Hunderttausende zur Schlachtbank, und das „gebildete" französische Volk jauchzt ihm zu und vergöttert ihn, den Menschenschlächter en §ro§. — Und wir Deutsche? Lieber Gott, wenn ich daran denke, wie die Deutschen vor ihn gebuckelt*) haben, dann steigt mir die Schamröte ins Gesicht, und ich möchte dann lieber - ein Eskimo

  • ) Verbeugungen machen-

225 sein, als Deutscher Heiken. — Nun endlich, nachdem er Millionen Menschen geopfert, Tausende und aber Tausende von Familien unglücklich gemacht hat, müssen sich die Völker von fast ganz Europa vereinigen, um ihn unschädlich zu machen! — Wo bleibt da der Glaube an eine gerechte Weltordnung? — Sollte man nicht meinen, ein Feldherr, der ein einziges Mal in die brechenden Augen der Verstümmelten und Sterbenden gesehen hat, könnte keine ruhige Stunde mehr haben und könnte es nicht wieder über sich bringen, gesunde frische junge Leute in den Tod zu schicken oder zu Krüppeln schießen zu lassen! Aber es scheint, daß in dem Menschen mehr vom Tiger steckt, als man sich nur einbilden kann. Wenn der einmal Blut geleckt hat, dann ist er unersättlich, und so scheint es bei diesem sogenannten Helden des Krieges auch der Fall zu sein. Der Bürgermeister hatte inzwischen schweigend gestanden und den Rat nicht unterbrochen. Jetzt blieb letzterer stehen, sah den Bürgermeister an und: „Nehmen Sie es nicht übel," sagte er, „ich habe ganz vergessen, ihnen einen Stuhl anzubieten. Kommen sie, setzen sie sich!" Der Angeredete kam der Aufforderung nach und nahm Platz, indes auch der Rat in seinen ledergepolsterten Sessel am Arbeitstische sich niederlieb. „Herr Rat," begann nach einer Weile der Bürgermeister, „was meinen sie denn, wenn wir nächsten Sonntag zur Feier des Sieges mit dem Landsturm große Parade hielten, gut einexerziert sind wir ja, und abends geben wir dann auf städtische Unkosten einige Tonnen Bier und — dann halten sie eine Rede, Herr Rat." „Ja, lieber Bürgermeister," entgegnete der Rat lächelnd, „was die Parade und das Bier anbetrifft, das haben sie zu bestimmen als Major und Bürgermeister, und da habe ich für meinen Teil garnichts zu sagen. Mit der Rede, das will ich mir überlegen. Ich bin kein großer Freund lö 226 vom Reden. Bei solchen Gelegenheiten kommt dabei nicht viel heraus; man mag sagen, was man will, ob gut oder schlecht, zum Schlüsse ruft die Gesellschaft Bravol und dann denkt kein Mensch mehr an das, was man gesagt hat." „Was der Herr Rat sagt," erwiderte der Bürgermeister, „das trifft immer den Nagel auf den Kopf, das wissen wir, und darum möchte ich gern, wenn sie etwas sprächen, wenn es auch nur einige Worte sind, und unverloren sind sie auch nicht, das werden sie wohl wissen, Herr Rat. Die Ellricher merken sich gern, was der Herr Rat sagt." „Ich werde es mir überlegen," sagte der Rat kurz, und der Bürgermeister erhob sich und ging. Lange noch saß der Rat gedankenvoll da, bis er endlich durch die zunehmende Unruhe in der angrenzenden Schreiberstube gestört wurde. Dort hatte man das Gespräch in der Ratsstube Wort für Wort belauscht und nun war an kein Arbeiten mehr zu denken. Der Rat stand auf, rief den Referendar zu sich, teilte ihm kurz die empfangene Nachricht mit und erklärte schließlich den Tag für einen Feiertag, an dem die Leute nach Hause gehen könnten und die Büreaus zu schließen seien. Bald waren die letzteren leer. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht in der Stadt. Die Nachbarn gingen zu einander und besprachen das Gehörte. — Kaufmann Buse verließ seinen Ladentisch und rief seiner Frau zu, sie möchte die Kunden bedienen, er gehe zum Nachbar Rieländer. Dieser stand vor seinem Backofen, in dem einige Brote buken und ein Zwiebelkuchen für den Ratmann Biedermann. Der Kuchen erforderte die größte Aufmerksamkeit, denn der Ratmann, der sich fast jede Woche einmal einen solchen zum Früstück backen ließ, hatte den Bäcker genau instruiert, wie er ihn haben möchte. Der Rand mußte knusperig gebacken, die Zwiebeln, die in dicker Sahne 227 obenauf lagen, in den oberen Spitzen etwas braun angehaucht sein, aber bei Leibe nicht mehr, nicht etwa an- gebrannt. Da hieß es denn für den Bäcker, aufpassen, denn Biedermann, so sehr er auch Philosoph war, verstand in diesem Punkte, das heißt, in Ausführung seiner Bestimmungen bezüglich der Zubereitung der Speisen, keinen Spaß und konnte dann recht unphilosophisch grob werden. Rieländer wußte dies und stand daher jetzt, wie sonst immer, vor dem Backofen, um den richtigen Moment des Heraus- holens abzupassen. Da kam Nachbar Buse hereingestürmt. „Was sagen sie denn nun aber dazu, Nachbar Rieländer? Solche Schlacht! Herr du meines Lebens! Da sind ja wohl eine Million Menschen gegen einander gewesen!" Rieländer bückte sich und sah zuerst nach seinem Kuchen. Es war noch Zeit, deshalb drehte er sich um und erwiderte: „Ja, Nachbar, ich hab's schon gehört. Der Schreiber Lehmann ging eben vorbei und nahm sich vier Dreierbrötchen mit, er will heute nachmittag mit seiner Frau nach dem Neuenhause*) spazieren. Der Rat hat heute frei gegeben. Die Sorte Leute haben's gut, unsereiner muß früh vor dem heißen Backofen stehen, und nachmittags heißt's, Holzspalten zum trocknen. Aber, was ich sagen wollte, Lehmann hat erzählt, der Bürgermeister ist gleich um neun Uhr heute früh zum Rat gekommen und wäre voller Freude gewesen. Aber der Rat hätte so ganz eigentümlich gesprochen und hätte gesagt, er wäre wohl froh, aber so recht freuen könnte er sich nicht, 's ist doch ein wunderlicher Herr!"

  • ) Ein Wirtshaus, eine Wegstunde von Clinch.

„Nun möchte ich wissen, warum man sich nicht freuen sollte," erwiderte Buse, „denn die Franzosen sollen doch gefallen sein, nur so. Blücher hat dreinhauen lassen, daß es man nur so geflutscht hat." 15* 228 „Ja, das ist ein General I Vor dem muß man Respekt habenI Der geht drauf!" „Wissen sie, Nachbar," sagte Buse, „den wurmt es, daß er dazumal, anno sechs, den Franzosen hat weichen müssen. Jetzt hat er nun die Scharte ausgewetzt, und nun gibt er auch nicht nach, bis kein Franzose mehr in Deutschland ist. Dann werden sie wohl das Wiederkommen vergessen. Was mich am meisten von ihnen ärgert, ist, daß sie den Kaffee und Zucker so teuer gemacht haben. Damit kann man gar keine Geschäfte mehr machen. Denn wer kauft bei den schlechten Zeiten die teure Ware? Früher kochten die ärmeren Leute ihre Mehlsuppe, und die besseren Leute tranken ihren Kaffee. Nun denken sie sich, jetzt läßt sogar die Frau Bürgermeister sich die Cichorienpäckchen aus der Nordhäuser Fabrik mitbringen, und dann mischt sie gebranntes Korn dazu, das wäre gesünder wie Kaffee, sagt sie. Ja, gesünder! Wir wissen schon, warum sie keinen Kaffee mehr bei mir holt. Hier handelt sich's drum!" Dabei machte er die entsprechende Fingerbewegung des Geldgebens. „Sparen wollen sie; der Kaffee ist ihnen jetzt zu teuer. Sehen sie, Nachbar, und deshalb gönne ich's den Franzosen, daß sie Schmisse gekriegt haben. Wenn sie aus dem Lande raus sind, dann wird auch der Kaffee wieder billiger, und die Frau Bürgermeistern kommt dann von selbst wieder. Denn mit dem .Gesundsein/ das sagt sie man, daß man's nicht merken soll. Aber so klug, wie die Frau Bürgermeistern sind wir auch. — Wissen sie aber, Nachbar, merkwürdig ist es doch, daß die Prophezeiung von Biedermann. . . ." „Donnerwetter, mein Zwiebelkuchen!" rief Rieländer, der erst bei der Nennung dieses Namens wieder an das zarte Gebäck in seinem Ofen und an die Verantwortlichkeit, die er dabei hatte, dachte. Rasch drehte er sich dem Ofen zu, warf einen Blick hinein, ergriff mit Hast den Kuchen229 schieber, fuhr damit hinein, wobei der lange Stiel des Instrumentes dem Nachbar, der stehen geblieben war, etwas unsanft in die Seite fuhr und ihn retirieren ließ. Mit einem Rucke war der Kuchen draußen vor dem Ofen. Aber, o weh! es war zu spät gewesen. Die obere Schicht der Zwiebeln war nicht braun, sondern total schwarz gebrannt und auch die Ränder des Kuchens waren zum Teil verbrannt. Rieländer stand da, sah sein Werk an und kratzte sich hinter den Ohren. Endlich sagte er: „Na, der wird schön fudern! *) Ich kann's nun nicht ändern."

  • ) kouärsr - donnerwettern.
    • ) Kompliment.

In dem Augenblicke erschien das Dienstmädchen Biedermanns. „Ein Komplement**) vom Herrn Ratmann, und ob der Zwiebelkuchen noch nicht fertig wäre. Ich soll ihn holen, der Herr Rat wartet drauf." „Ja freilich," entgegnete Rieländer, „sie kann ihn gleich mitnehmen." Damit trug er den Kuchen vor ans Licht. Als das Mädchen den Kuchen sah, rief sie entsetzt: „Ach, mein Himmel, der ist ja ganz verbrannt!" „Was? entgegnete der Bäcker grob, „verbrannt? Sie ist wohl nicht gescheit? Er ist nur ein bißchen brauner geworden. Viele Leute essen ihn so gerade gerne." Damit überreichte er ihn dem Mädchen. „Ein Kompelment an den Herrn Ratmann, und er wäre ein ganz klein bißchen brauner geworden, aber man hätte das nicht immer so an der Schnur, denn dabei käme es auf die Sekunde an; er ist höchstens eine Sekunde länger im Ofen geblieben. Und ich wünsche dem Herrn Ratmann recht guten Appetit." Das Mädchen schüttelte den Kopf, sagte aber weiter nichts, sondern nahm den Kuchen und ging. Nachbar Buse hatte schon vorher stillschweigend seinen Abschied genommen, als er sah was geschehen war. Vielleicht daß er sich schuldbewußt fühlte, denn er hatte durch 230 seine Erzählung von der Schlacht bei Leipzig und dem Cichorienkaffee der Frau Bürgermeister doch eigentlich den Bäcker abgehalten, auf den Kuchen zu achten. Und Rie- länder maß ihm auch richtig die Schuld bei. Denn als das Mädchen fort war, sagte Rieländer ärgerlich zu seiner Frau: „Daran ist nur der Tütchendreher schuld mit seinem albernen Beklatsch von Cichorienkaffee und gebranntem Kom bei Bürgermeisters. Der soll mir wieder kommenl" Bei Biedermanns jedoch war der Aufruhr groß. Der Tisch war gedeckt mit dem blauen Tischtuch mit weißem Rande. Die Teller standen da für den Ratmann und seine Frau — Kinder hatten sie nicht — und auch die Korbflasche mit Nordhäuser nebst zwei Gläsern mit blauem Rande fehlten nicht; denn zum Zwiebelkuchen gehört allemal ein Schnaps, und zwar „Reiner," wie Biedermann sagte, nur nicht solches Zeug wie Kümmel oder Pfefferminze. Der Ratmann ging in der Stube auf und ab, in Ungeduld die Ankunft des Kuchens erwartend; die Frau saß am Ofen, denn es war ihr „frosterig" zu Mute. Da öffnete sich die Tür nnd herein trat das Mädchen mit dem Kuchen. Biedermanns Blick erheiterte sich beim Oeffnen der Tür, um im nächsten Augenblicke um so finsterer zu werden. Als das Mädchen den Kuchen auf den Tisch gesetzt hatte, fuhr er auf sie los. „Was ist das?" rief er drohend, als ob das Mädchen schuldig wäre. „Das soll mein Zwiebelkuchen sein?" „Ja," erwiderte das Mädchen, „ich soll ein Kompelment sagen, und er wäre nur ein bißchen brauner geworden, eine Sekunde brauner, sagte er." „So!" rief der Ratmann voller Zorn. „Nun nimm einmal den Zwiebelkuchen und gehe wieder hin, und sage dem Meister Rieländer, er könnte das verbrannte Zeug selber essen." 231 „Aber, lieber Wann," mischte sich die Frau ein, „das hilft doch nichts, einen andern Kuchen bekommst du auch nicht. Und wozu willst du dich denn mit Rieländer herumzanken? Was sollen auch die Leute dazu sagen, wenn sie den Kuchen wieder hinträgt l Laß es nur gut sein! — Bleib' hier!'" gebot sie dem Mädchen. „Wir wollen sehen, was davon zu genießen ist. Hole einen blechernen Löffel herein!" Biedermann lief wütend in der Stube auf und ab und warf zornige Seitenblicke auf den Kuchen. Als das Mädchen mit dem verlangten Löffel herein kam, riß er ihr denselben aus der Hand und, während seine Frau dabei stand und den Kopf schüttelte, kratzte er die verbrannte Schicht Zwiebeln ab, mit jedem Löffel voll öffnete er das Fenster und warf das Verbrannte mit einer Verwünschung auf die Straße. Er war sonst ein ruhiger Mann, der verbrannte Zwiebelkuchen hatte ihn aus der Fassung gebracht. Verbrannte Zwiebeln aber, die der eine wegwirft, sind oft andern willkommener Fund. Als die Nachbarin Weschke sah, was geschah, lief sie schnell auf den Hof, rief und lockte die Hühner vor die Tür, und diese fanden in dem Hinausgeworfenen eine Delikatesse, daß sie nichts auf der Straße liegen ließen. Der Kuchen wurde vom Ratmann und seiner Frau gegessen, aber im Aerger. Wenn dann später in Gesellschaft die Rede auf die Leipziger Schlacht kam, und Biedermann war dabei, dann konnte er nie unterlassen, hinzuzufügen: „Ja, daran will ich gedenken, da hat mir Rieländer einen Zwiebelkuchen total verbrannt, und gerade das schönste davon, die Zwiebeln und die Sahne, haben Weschkes Hühner gekriegt." Auch in andere Häuser brächte die Nachricht von der gewonnenen Schlacht manche Unruhe und Verdrießlichkeit. Der Lehrjunge vom Schuster Roth war von der 232 Meisterin ausgeschickt morden, Salz bei Prempers zu holen — die hatten nämlich damals das Salzmonopol —. Der Junge hatte das Salz bekommen und war im Begriff, es in dem hölzernen Salzfasse nach Hause zu tragen. Da kam just der Lehrjunge vom Schneider Ziegenbein mit einem Eimer Wasser, den er am Marktbrunnen geholt und nach Hause tragen wollte. „Du, Ziegenbein," rief der Schuster dem Schneider zu — denn die Lehrjungen riefen sich mit ihrer Meister Namen —, „weißt du es schon, wir haben die Schlacht bei Leipzig gewonnen." Dem Schneider erweckte der Name Leipzig unangenehme Erinnerungen, denn er hatte heute früh eine Ohrfeige bekommen, als er mit offenem Munde zugehört hatte, wie ein Nachbar seinem Meister in der Werkstatt die Neuigkeit berichtete. Nun fing der Schuster wieder von der Schlacht bei Leipzig an. „Das geht dich gar nichts an!" fuhr er den Schuster mürrisch an. „Du dummer Schneider willst wohl grob sein?" Der Schuster setzte sein Salzfaß auf die Straße und ging auf den Schneider zu. Dieser, der die stärkeren Fäuste des Schusterjungen schon öfter empfunden hatte, nahm den Wassereimer und rief: „Bleibst du da, oder ich gieße dir das Wasser über den Kopf!" „Gieß nur zu!" rief der Schuster und kam näher. Der Schneiderjunge goß, traf aber den Schuster nicht, der geschickt zur Seite sprang, um so sicherer aber das Salzfaß, das sich mit Wasser füllte. „Mein Salz!" schrie der Schuster und sprang nach dem Fasse, während der Schneider schleunigst das Hasenpanier ergriff. Der Schuster suchte zu retten, was zu retten 233 war, und goß das oberste Wasser ab, aber das Salz war in voller Auflösung begriffen, wie Napoleons Heer bei Leipzig. Wohl oder übel mußte er nach Hause, und da das Faß nicht wasserdicht war, tropfte das Salzwasser durch den Boden, und als er nach Hause kam, war das Faß beinahe leer. Mit Iammermiene trat er in die Stube. Die Meisterin sah sogleich, was geschehen war, sprang auf ihn zu, riß ihm das Faß aus der Hand und rief nach einem Blicke hinein: „Nein, das ist doch zu arg, hat der Bengel Wasser in das Salz geschüttet!" „Ne, Frau Meistern, ich bin's nicht gewesen, Ziegen- beins Lehrjunge hat mir einen Eimer voll hineingeschüttet, und ich habe ihm gar nichts getan." „Was hast du zu dem Schneiderjungen zu gehen?" rief der Meister und machte den Spannriemen los. „Er kam unterwegs, und da habe ich bloß gesagt, ob er's schon wüßte, daß wir die Schlacht bei Leipzig gewonnen hätten." „Ich will dich beleipzigen, du Tagedieb!" zürnte der Meister und setzte den Niemen in für den Jungen höchst unliebsame Bewegung. „Setzen sie das Faß in die Ofenröhre auf die heiße Platte, Frau Meisterin, da verdunstet das Wasser rasch und es bleibt doch noch etwas Salz übrig!" sagte der kluge Altgeselle. Die Frau tat, wie ihr geraten wurde und stellte das Faß in die Röhre. Dann gab sie dem heulenden Jungen Geld mit dem Befehl, schleunigst anderes Salz zu holen, aber in einer Tüte. Der Junge kam blitzschnell zurück und setzte sich dann wieder auf den Schemel. Da krachte es plötzlich in der Stube, als ob eine Kanone losgegangen wäre. 234 Alle fuhren auf; der Meister aber riß die Tür der Ofenröhre auf, von woher der Krach gekommen war, und da lag denn das schöne Salzfaß in zwei Hälften, die sich unter dem Einfluß der Hitze bogen. „Da hast du ein Salzfaß gehabt!" sagte der Meister zu der erschrocken eintretenden Frau. Diese nahm mit der Schürze die heißen Stücken heraus, besah sie eine Weile, dann ging sie hin, gab mit der einen Hälfte dem Jungen noch eins in den Nacken, indem sie sagte: „Verflixter Bengel! Nichts als Schaden hat man von ihm, und dabei lernt er bloß vier Jahre." Dann ging sie hinaus und warf die Stücke auf den Holzhaufen. — Nachmittags desselben Tages ging der Landesgerichtsrat mit seiner Frau spazieren. Sie gingen auf den Burgs- berg, ein von Ellricher Seite aus steil ansteigender Hügel, der in das Zorgetal sich lang streckt. Hier hat der Sage nach vor Zeiten eine Burg gestanden, auch fand man damals noch Ueberreste von Mauern. Von der südlichen Seite des Berges aus hat man eine prächtige Aussicht auf das Tal, das von der einen Seite von den schroffen Kalkfelsen begrenzt wird, während die andere Seite sanft aufsteigt zu den mit Eichen und Buchen bestandenen Harzbergen. Als die beiden alten Leute oben angekommen waren, setzten sie sich auf die dort befindliche Bank und hielten Umschau. „Siehe da, Mariechen, wie das Laub der Eichen und Buchen sich schon gefärbt hat und in der Mittagssonne schön aussieht!" „Ja Weimar," erwiderte die Frau, „es ist ein schöner Aufenthalt hier. Sieh nur die Menge Blutströpfchen*), die hier noch blühen, so recht üppig rot, bevor der Winter

  • ) Rote Nelke.

235 mit seiner weißen Decke kommt und sie alle zudeckt." Dabei bückte sie sich und pflückte einige der Blumen. „Es ist doch merkwürdig, daß man diese Blumen so häufig auf den Bergen da findet, wo Burgen gestanden haben, und fast möchte ich glauben, daß ein Zusammenhang zwischen dem Ort und der Blume besteht, wie ihn die Sage angibt." „Welche Sage, Manschen, meinst du?" „Nun, die man sich von der Burg erzählt, die hier gestanden hat, wie ähnliche Sagen ja auch an anderen Orten erzählt werden. Ich meine die Sage von dem bösen Ritter, der hier hauste. Er ist so blutdürstig gewesen, daß er jeden Gefangenen auf dem Burghofe töten ließ und von seinem Fenster aus zuschaute. Da hat er denn einmal Fehde gehabt mit dem Ritter von Hohenstein. Der hatte einen Sohn, den die Tochter des Ritters dieser Burg hier liebte. In der Fehde nun gelang es dem hiesigen Ritter, den Sohn des Ritters von Hohnstein gefangen zu bekommen. Er wollte ihn auch töten lassen und hatte dazu einen bestimmten Tag festgesetzt. Seine Tochter aber wollte ihn befreien und mit ihm fliehen. Es war mit Hilfe einiger treuer Diener alles vorbereitet. Als sie aber um Mitternacht ihre Flucht ans Werk gesetzt hatten und schon die äußere Pforte erreicht, wurden sie entdeckt und vor den Burgherrn geführt. Dieser schäumte vor Wut. Er befahl und schwur dazu, daß beide am folgenden Tage auf dem Burghofe eines grausamen Todes sterben sollten. Und so geschah es auch. Aber an der Stelle, wo ihr Blut geflossen war, stand am darauf folgenden Tage ein dichter Flor von roten Nelken, wie Blutstropfen. Der Ritter war darüber erschrocken und ließ sie ausreißen. So oft er sie aber vertilgen ließ, am anderen Morgen standen sie immer wieder da. Da ging er in sich, trat in das Kloster Walkenried ein und wurde Mönch. Die Burg aber verfiel." 236 „Die Sage ist nicht übel, Manschen, aber sie wird überall erzählt, und das ist auch ganz natürlich, denn böse Ritter, die ihre Nebenmenschen opfern, hat es zu allen Zeiten gegeben und gibt es auch heute noch. Die Beziehung zwischen der Blume und den bösen Rittern ist aber vom Volke gemacht worden und beweist, wie die Menschen vor ungerechtem Blutvergießen immer Abscheu empfunden haben. Wenn heute das Schlachtfeld von Leipzig, wo durch den bösen Ritter unserer Tage so viel unschuldig Blut vergossen worden ist, durch die Blutströpfchen gekennzeichnet werden sollte, dann würde die Gegend wohl meilenweit wie ein roter Teppich aussehen. Aber der Abscheu vor Blutvergießen, der sich in jener Sage ausspricht, läßt dem Menschsreunde wenigsten die Hoffnung, daß, wenn auch erst in ferner Zukunft, die Völker selbst dahin wirken werden, den Krieg und das Blutvergießen unmöglich zu machen, und dann," hier erhob sich der alte Herr, „dann wird vielleicht ein fortdauernder goldener Friede die Menschen beglücken." Dabei blickte er, hoch aufgerichtet, ernst auf die bewaldeten Harzer Berge, die mit ihren Buchen- und Eichenwäldern von der scheidenden Sonne vergoldet wurden, und seine Frau stand neben ihm und sah andächtig zu dem schönen Greisenantlitz auf, das von langen weißen Haaren umflossen war, aber sie schwieg, als sie sah, daß er in Gedanken versunken dastand. Nach einer Weile sagte er: „Komm, Mariechen, laß ims gehen, es wird kühl und fängt an, aus dem Tale herauf zu ziehen!" Und sie gingen den Bergrücken entlang, bis sie an einen Weg kamen, der in die Zorger Vorstadt führte, den sie einschlugen. Der alte Rat führte seine kleine Frau am Arme, langsam gingen sie, über dies und jenes sprechend, von den 237 Leuten, die ihnen begegneten, freundlich gegrüßt, mit diesem und jenem ein paar freundliche Worte wechselnd, oder sich auch wohl länger unterhaltend. — „Wirst du denn heute die Parade auch mitmachen?" fragte die Frau Rat Weimar am Sonntag früh ihren Mann. „Allerdings, Manschen, warum sollte ich nicht?" „Ja, ich weiß nicht, ob ich es dir sagen soll! Aber es kommt mir doch gar so komisch vor, wenn ich sehe, wie du mit dem langen Referendar an der Spitze marschierst, und läßt dich von dem Bürgermeister und von Pfeifern kommandieren. Denn von Rechtswegen müßtest du doch kommandieren, du bist doch der erste Beamte in der Stadt, und du bist doch sonst nicht gewohnt, dir befehlen zu lassen." Der Rat lächelte und schwieg eine Weile. Dann sagte er: „Sieh, Manschen, die ganze Geschichte mit dem Landsturm ist im Grunde nichts anderes als Spielerei. Denn im Ernst würden wir nie etwas ausrichten oder ausrichten können. Die ungefähr zweihundert Mann, die wir sind, rissen beim ersten Flintenschuß aus, den ein paar Franzosen abfeuern würden, wenn sie hierherkämen. Aber wie jede Spielerei, hat auch diese etwas Gutes. Die Leute werden dadurch erinnert, daß es außer ihrem Handwerk und ihrer Familie und außer ihrem Kartoffelacker, den sie bebauen, noch etwas gibt, wofür der Mensch leben und sterben kann, und daß man diesem gegenüber Pflichten zu erfüllen hat, und daß dieses .Etwas' Vaterland heißt. So werden sie mal aufgerllttelt aus ihrem täglichen mechanischen Tun und geistlich lebendiger gemacht. Und das hat für sie einen gewissen Wert, es wird dadurch ein Stückchen Ideal in ihr sonst trocknes, hausbacknes Leben gebracht, von dem sie noch lange nachher zehren. Was du nun von mir und meiner Stellung sagst, so sei un238 besorgt. In meiner Gerichtsstube verliere ich das Kommando nicht, wenn ich mich auch auf dem Schützenplatze vom Bürgermeister oder von Pfeifern nach rechts oder nach links kommandieren lasse. Aber daß ich, wie jeder andere, die Flinte in die Hand nehme und mich in Reih und Glied stelle, zeigt den Leuten, wie ich mich in meinen alten Tagen nicht für zu gut halte, meine Pflichten gegen das Vaterland zu erfüllen, gleich dem geringsten Manne, und ich glaube, die Leute kommen um so lieber und tun, was man von ihnen verlangt. Den Respekt, den sie meiner Stellung schuldig sind, vergißt keiner; sie kommen vertraulich zu mir und reden mit mir, und das habe ich gern; unartig ist noch keiner geworden. „Und Pfeifer," fügte er lachend hinzu, „sagt immer: ,Um Vergebung, Herr Rat!' wenn ich mal bei seinem Kommando etwas falsch mache, was wohl hier und da noch vorkommt. Zum Major paßt der Bürgermeister ausgezeichnet; er weiß das Militärische herauszubeißen, und dann hat er auch den Schimmel. Da haben die Leute ihre Freude dran, und es sieht nach etwas aus. Vom militärischen Kommando versteht er freilich wohl nicht viel, aber die Ehre, das ist für ihn viel, und der Titel, ich glaube, den behält er bei, wenn der Landsturm längst schlafen gegangen ist." „Ja, die Frau Bürgermeister läßt sich jetzt nicht anders, als ,Frau Majorin' anreden," fiel die Frau ein. „Siehst du, Manschen, da habe ich also den Leuten einen doppelten Gefallen getan, daß ich die Charge nicht angenommen habe. Oder hättest du gern den Titel ,Frau Majorin' gehabt?" fragte er neckend. „Aber Weimar, wie kannst du so fragen I Du kennst mich wohl besser!" entgegnete die Frau. „Ich weiß. Manschen," und dabei reichte er ihr die Hand über den Frühstückstisch, „daß du eine vernünftige Frau bist, und es war auch nur mein Scherz." 239 Am Sonnabend Nachmittag hatte der Landsturm nochmals tüchtig exerziert, damit Sonntags auch alles klappte. Auf dem Schützenplatze rannte der kleine Pfeifer auf und ab und patzte auf, daß kein falscher Tritt gemacht werde; auf dem Wolfsgraben dagegen kommandierte Demut mit stoischer Ruhe von einem erhöhten Standpunkte aus, und es entging ihm kein Fehler. Schließlich ging es denn auch zu seiner Zufriedenheit, und Demut beschloß, dieselbe in einer Ansprache an seine „Mannschaft" auszudrücken. Nachdem er „rechts und links schwenkt zum Kreise!" kommandiert hatte, und die Piken nun Gewehr bei Fuß um ihn herumstanden, begann er: „Kameraden! Warum wir heute noch einmal stramm exerziert haben? Das ist um Pfeifer seinetwillen. Der denkt, er hat morgen das ?rä*), weil er bei den Büchsen als Unteroffizier ist. Ja Prosit die Mahlzeit! Darauf kommt es gar nicht an. Die Hauptsache ist der Griff und das Aweckemang **), und das habt ihr weg, das sage ich, Demut. Und die Beine schmeißt ihr auch gut aus, bloß Fritz Braun sein linkes Bein will nicht mit, aber dafür kann er nicht, das ist seine Natur, und gegen seine Natur kann kein Mensch.

  • ) Vorrang.
    • ) Von nveo (mit) — daS „Wir."

Pfeifer kann auch nicht gegen seine Natur, die ist klein und kratzbürstig, und wenn ihr morgen Fehler macht, dann macht er mich und euch überall schlecht und sagt, wir hätten unsere Schuldigkeit nicht getan. Und was ich noch sagen wollte, zur Parade muß jeder seine Orden und Ehrenzeichen anheften, und wer solch ein Zeichen hat, der näht es an, aber mit dem richtigen Zwirn, sonst sieht es schlecht aus. Pfeifer freilich hat kein Ehrenzeichen und kann auch keins annähen. Und die Piken müssen blank geputzt sein. Und wenn Pfeifer die Schnallen an den 240 Musketenriemen nicht blank putzten läßt, dann ist das seine Sache und geht mich nichts an, und ich rede auch nicht drüber." Nach dieser Anrede entließ der greise Kommandant seine Schar und jeder eilte nach Hause. Schneider Ziegenbein saß bald darauf mit seiner Familie beim Abendbrot, Pellkartoffeln und Bucheckeröl *)

  • ) Aus den Früchten der Buchen wurde dies Oet geschlagen. Die ärmeren Leute zogen im Herbst in die — damals — großen Buchen» Waldungen mit Leintuch und Schlägel bewaffnet. Einer bestieg mit dein Schlägel den Baum und fchlug auf die Aeste, woraus die Früchte sich lösten und auf das unter dem Baume ausgebreitete Tuch fielen. Für viele Leute war dieses Oel ein Leckerbissen und ersetzte die Butter. Dazu hatten es die Leute umsonst, denn das Sammeln der Früchte war frei.

Sein Platz am oberen Ende des Tisches machte es ihm möglich, jeden der Tischgenossen, die Kinder und den Lehrjungen, im Auge zu behalten; und in bezug auf den letzteren war dies allerdings notwendig. Denn wenn es Bucheckeröl gab, dann wurde er manchmal unverschämt. Anstatt bescheiden, wie die andern, die Kartoffel in die gemeinsame Schüssel zu tunken, ließ er sie absichtlich hineinfallen, um sie darin herumwälzen und dann recht fett wieder herausziehen zu können, zum größten Aerger der Schneiderkinder, die das nicht wagen durften. Wenn nun sonst der Meister bei solchen Vorkommnissen ein zorniges Wort, oder eine Drohung ausgestoßen hatte, so geschah das heute abend nicht, und der freche Junge wurde immer dreister und tat sich „eine rechte Güte" an Bucheckeröl. Die Frau Meisterin, eine stille Frau, sah immer öfterer zu ihrem Manne hinüber, und die Kinder warfen dem Lehrjungen Blicke zu, die ihm nichts Gutes weissagten. Der Meister aber saß, schälte Kartoffel auf Kartoffel, stippte sie ein und aß, aber immer in Gedanken. Manch241 mal lächelte er sogar, das kam selten vor. Nach dem Abendbrote ging er mit großen Schritten in der Stube auf und ab. Plötzlich blieb er vor seiner Frau stehen, die eben eingctreten war, und sagte: „Frau, ich habe eine Idee! Der Pfeifer soll sich ärgern! Dem will ich's anstreichen von neulich! Kommt der Kerl da herauf Sonntags früh und räsonniert, weil der Kehricht nicht vor der Türe weggefegt ist I Was kann ich dafür, daß der Lehr- junge es vergessen hatte? Aber er denkt ja, er ist Herr im Lande, und da muß er sich um jeden Dreck bekümmern. Er kann seine spitze Nase in seinen Dreck stecken, unsern machen wir schon allein weg. Und wenn der Lehrjunge es vergißt, dann bin ich da. Und mein Lehrjunge geht Pfeifern gar nichts an, der ist bei mir in der Lehre, und nicht bei Pfeifern. Wo ist der Bengel?" dabei drehte er sich fragend im Kreise herum. „Er ist unten an der Türe," sagte die Frau. „Herauf soll er kommen!" rief der Meister. Die Frau ging, den Jungen zu rufen. Der Meister aber kramte in einer alten Lade voller Kleidungsstücke und Tuchlappen, bis er endlich eine blaue Tuchhose mit breiten roten Streifen an den beiden Seiten hervorzog. Befriedigt hielt er sie in den Händen, besah die Streifen und nickte dabei. Dem eben eintretenden Lehrjungen befahl er, sich hinzusetzen, die breiten roten Streifen abzutrennen, die Fäden sorgfältig herauszuziehen und die Streifen dann sauber zu bürsten. Der Junge tat, wie ihm befohlen war, und als der Meister die Streifen dann besah, da war er — eine seltene Ausnahme — mit der Arbeit zufrieden. Er legte die Streifen auf seinen Sitz auf dem Werktische. Am andern Morgen, als die Frau aufstand, um den Cichorienkaffee zu kochen, saß ihr Mann bereits in seiner Höhle auf dem Werktische und nähte die roten Streifen an seine Sonntags- w 242 Hose. „Siehst du, Frau, das ist ein Ehrenzeichen, und das gehört mir, denn ich habe die Hose vom Juden Frohnhausen für fünf Groschen gekauft, und da kann ich die roten Streifen tragen. Aber Pfeifer, wenn der die Streifen sieht, dann wird er grün und gelb vor Aerger, denn Demut sagte, er hätte keine Orden und Ehrenzeichen und gar nichts. Drum ist er auch immer so giftig aus den Demut, weil der seine Denkmünzen hat." Die Frau und die Kinder besahen die Hose, und auch der Lehrjunge trat herzu und sagte keck: „Aber Meister, da werdet ihr den meisten Staat heute machen, denn so 'ne Hose hat kein Mensch in Ellrich." Und der Meister schwieg und strafte des Jungen Vorwitz nicht, wie er es bei einer anderen Bemerkung wohl getan haben würde. Während Ziegenbein seinen Unaussprechlichen das für sein gutes Geld erworbene, vermeintliche Ehrenzeichen an- nähte, wurden die Bewohner der Stadt durch die Reveille an die Fenster und vor die Türen gelockt. Der Tambour Krebs und sein Sohn durchzogen die Straßen und bearbeiteten die Trommeln mit einer Zähigkeit, würdig des Tages, den sie durch ihren Generalmarsch einweihten. Auf den Straßen war es jedoch während des Vormittags ruhig. Die Leute waren zahlreich in der Kirche gewesen, um die Festpredigt des Pastor Linke zu hören über das Thema: „Den Gewaltigen stürzt er vom Stuhl, er erhöhet die Niedrigen." In den Häusern ging es hier und da noch lebhaft zu, besonders die Frauen hatten zu tun, um den Mann festlich herauszuputzen für heute nachmittag mit Wäsche und dergleichen. Nachmittags versammelten sich alle Mann des Landsturms auf dem Schützenplatze. Von den Zuschauern war namentlich der männliche Teil der Schuljugend stark — 248 — vertreten, balgte sich herum und machte seine Glossen über die Ankommenden. Als der Referendar auf dem Platze erschien, sagte der Sohn des Apothekers zum Doktorsprößling: „Du, Hermann, sieh mal den langen Referendar, wie der die Flinte aufgehockt hat, und wie er den Kopf zur Seite hält, damit er ihr nicht zu nahe kommt!" Ungezogene Bengel, über Karlinens Sorge und Angst auch noch sich zu mokieren! „Wenn er doch nur zu den Piken gegangen wäre, Frau Nachbarn!" hatte sie zur Nachbarin Panse gesagt. „Das hätte ich mir noch gefallen lassen, aber mit solcher Büchse! Du lieber Gott, er hat in seinem Leben kein ordentliches Gewehr in Handen gehabt. Bloß wie er klein war, hat der Herr Konrektor ihm einmal eine hölzerne Flinte für vier Groschen gekauft, und da hat er mich mal ins Gesicht geschossen, aber er konnte nichts dazu. Und nun denken sie, Frau Nachbarn, jetzt nimmt er ein ordentliches Gewehr in die Hand, das mit Pulver und Kugeln geladen wird, und alle Tage exerziert er damit. Wenn das gut abgeht, dann will ich nicht mehr Karline heißen!" Nachmittags, als der Referendar zur Parade gehen wollte, hatte er kühn die Flinte in der Hand und bei der Mündung oben angefaßt, als Karline aus der Küche eintrat, um ihn abzubürsten. Sie nahm die Bürste und trat an ihn heran. „Aber, Herr Referendar, tun sie mir den einzigen Gefallen und stellen sie das Gewehr so lange weg. Ich kann's nicht sehen, wenn sie's so in der Hand haben." „Aber, Karline, das macht ja nichts, es ist ja nicht geladen." „Das ist einerlei, Herr Referendar, man kann doch manchmal nicht wissen, ob's losgeht." Als der Referendar die Büchse in der Hand behielt, i«* 244 griff sie danach und nahm sie ihm aus der Hand, was er denn auch ruhig geschehen ließ, und indem sie sie weit von sich abhielt, stellte sie sie in eine Ecke, und wandle sich dann wieder ihrem Herrn Referendar zu. Sie mochte die Büchse wohl nicht ordentlich hingestellt haben, denn plötzlich siel sie mit lautem Krach um. Karline kreischte laut auf, sank halb ohnmächtig auf den nächsten Stuhl, während der Referendar das Gewehr aufzuheben ging, und dann rief sie: „Habe ich's nicht gesagt, daß noch einmal was passiert mit dem Dinge? Ich habe keine Ruh, so lange das Ding im Hause ist." „Sie ist ja nur umgefallen, sei doch nicht so wunderlich !" sagte der Referendar verweisend. „Ja, aber das hat was zu bedeuten, denn sie ist doch von ganz allein umgefallen! — Darauf schwieg sie, augenscheinlich gekränkt, daß der Referendar sie ob ihrer Sorge um ihn auch noch wunderlich genannt hatte. Der Referendar ging; Karline blickte ihm wie gewöhnlich nach, diesmal mit doppelter Sorge. Als sie dann wieder in „ihre" Küche eintrat, lieh sie ihren Gedanken freien Lauf und sprach laut vor sich hin. „So ist er immer gewesen, von klein auf! Wovor man ihn warnt, und was ihm schaden könnte, das tut er erst recht. Immer die gefährlichsten Dinge muh er mitmachen! — Aber das hat er von seinem Vater, denn die Frau Konrektor war nicht so, aber er, der Herr Konrektor, war auch immer Hans Vorndran. - Daß mit dem Dinge noch was passiert, das weiß ich ganz gewiß; und da hat man denn gewarnt und gewarnt! Wenn doch nur diese Landstürmerei erst vorbei wäre, daß man wieder ruhig werden könnte und nicht immer in Angst leben müßte." Damit nahm sie ihren gewohnten Sitz am Herde ein und stützte den Kopf in die Hand. 245 „Ja, ja," begann sie nach einer Weile, „ich habe um deswillen nicht geheiratet, daß ich keine Sorge und Plage mit Kindern haben wollte; und was hat der" — dabei zeigte sie mit dem Daumen über die Schulter nach des Referendars Stube hin —, „was hat der mir schon für Sorge gemacht!" Und sie seufzte dabei, die alte Karline, der ihr Waisenkind ans Herz gewachsen war, wie kaum ein eigenes. — „Na, nun seh' mal einer an!" rief auf dem Schützenplatze ein vorlauter Bursche, „dort kommt Weschke mit einem Kälbergekröse!" Der Bezeichnete, der Leinweber und Kleinhändler war, und grundsätzlich nie etwas „Weißes" vor der Brust trug, hatte es sich doch am heutigen Tage gefallen lassen müssen, daß seine Frau ein Jabot ir !-> Louis XlV., das sich unter ihrem Weißzeuge befand, und welches sie sorgfältig gebügelt und in die hundert Falten und Fältchen gebracht hatte, daß sie dieses Jabot ihm vorgelegt, nachdem sie die Weste, die sonst zugeknöpft bis oben an getragen wurde, zu einer „Klappenweste" mit Hilfe verschiedener Stecknadeln umgeschaffen. Das Jabot stand recht schön und kraus hervor. Und das nannten die unverschämten Jungen ein Kälbergekröse. I^asr not leusr Kam Schneider Ziegenbein. Er hatte wohl absichtlich heute mit seinem Erscheinen gezögert, denn sonst war er immer der erste auf dem Platze, und die Leute behaupteten, nichts wäre ihm erwünschter gekommen, als der Landsturm mit seinen täglichen Exerzitien, denn für einen Schneider hätte er viel zu wenig Sitzfleisch. — Ziegenbein faßte seine Pike vorschriftsmäßig, als er an den Kommandanten Demut herantrat, blieb vor diesem stehen, zeigte auf die roten Streifen an seiner Hose, blinzelte Demut verständnisvoll an und sagte nichts als das Wort: „Pfeifer!" 246 Demut verstand ihn und blickte nach Pfeifer hinüber. Die andern aber kamen herbei, bewunderten die Hose, die roten Streifen und ließen ihre Bemerkungen darüber los. Einige aber gingen hin, um Pfeifern aufzuhetzen. Da solle er mal sehn, der Schneider Ziegenbein trage Offiziersstreifen an der Hose. Ob das erlaubt wäre? Und noch dazu bei den Piken? Wenn das noch unter den Büchsen wäre, ließe sich so etwas noch entschuldigen. Das gehöre für die Offiziere, aber für keinen buckligen Schneider. So wurde gehetzt, bis Pfeifer wirklich in die Wolle kam. Er ging die Front entlang und trat zu den Piken heran, bis an den linken Flügel. Dort blieb er vor Ziegenbein stehen, der ihm höhnisch ins Gesicht lachte, und nachdem er die Streifen besehen, sagte er spitz: „So! Das ist ja hier bei euch Piken eine schöne Rangordnung, da tragen die Gemeinen Offiziersauszeichnung, und," setzte er giftig hinzu, „sogar die Buckligen!" „Herr Unteroffizier Pfeifer, hier kommandiere ich," trat Demut herzu, „und wer mit meinen Leuten dienstlich zu reden hat, der hat sich an mich zu wenden." „Was hat er gesagt?" schrie Ziegenbein. „Bucklig hat er gesagt? Was geht ihn das an, ob ich bucklig bin oder nicht! So'n . . . „Stillgestanden!" kommandierte in diesem Augenblicke Demut, denn der Herr Major erschien mit seinem Schimmel auf dem Platze. Ehe er aber an die Mannschaft herantrat, kam der Schützenwirt mit einem großen Kranze, den er nicht ohne Mühe dem Schimmel um den Hals hing. Der Bürgermeister, ohnehin schon in festlicher Stimmung, wurde durch diese seinem alten Schimmel ungetane Ehre in die beste Laune versetzt. Da trat Pfeifer ihm entgegen. „Sehen Sie mal, Herr Bürgermeister, der Schneider 247 Ziegenbein hat sich rote Offiziersstreifen an die Hose genäht. Das ist doch unstatthaft, und man sollte..." „Ach, Pfeifer, laßt doch den Mann machen, was ihm gefällt. Meinetwegen kann er sich seinen Buckel noch rot einfassen, wenn's ihm Spaß macht. Diese ewige Anzeigerei liebe ich nicht. Ich habe das schon oft gesagt." Da hatte Pfeifer seinen Lohn, und er ging mit süßsaurer Miene weg und trat vor die Front. Der Major-Bürgermeister hatte die Richtung nehmen lassen, dann kommandierte er: „Rechtsum !" Der Musikdirektor Dickert setzte sich mit seinen Lehrjungen an die Spitze und erwartete das Kommando „Marsch!" „Daß du mir nicht wieder t statt 6» bläst, Heinrich! Sonst nimm dich in acht I I), n, ti8!" sang er dem Lehrjungen noch einmal vor, da kommandierte der Major: Marsch! Die Beine hoben sich und nach einigen Schritten setzten denn auch alle Lehrjungen des Musikdirektors ziemlich präzis ein. Dahin marschierte der Zug, an der Zorge entlang durch die Vorstadt der großen Brücke zu, die über den Zorgefluß in die innere Stadt führte. Rat Weimar und der Referendar waren die ersten im Zuge und nahmen sich stattlich aus, nur daß der Referendar die Büchse etwas abseits hielt. Schneider Ziegenbein und Fritz Braun beschlossen den Zug ebenso würdig und erregten die Aufmerksamkeit, der eine durch die Osfiziersstreifen und den Buckel, der andere durch das kurze Bein, das ihn bei jedem Schritte zur Seite Kippen ließ. Die Jungen, die hinter ihm Hergingen, machten ihm dies nach, indem sie nach der Melodie des Marsches sangen: „Ein und dreißig, ein und dreißig !" wobei das „Ein" jedesmal auf den schweren Tritt des linken kurzen Beines, das „Dreißig" auf das längere, rechte Bein kam. An der Brücke des Zorgeflusses nach der inneren Stadt 248 zu war eine Ehrenpforte errichtet, ein Werk des Fleischermeisters Bocke, der dicht an der Brücke in einem kleinen Häuschen wohnte. Das ganze Haus hatte er in Bewegung gesetzt, um dieselbe fertig zu bringen. Die Fleischerburschen hatten die Stangen zurecht machen müssen, Frau und Magd hatten das „Grüne" besorgt zu den Kränzen. Nur den Bindfaden hatte der gegenllberwohnende Kaufmann Mar- kuse geliefert, um doch auch seinen nachbarlichen Anteil dazu zu geben. Die schwerste Arbeit hatte Bocke selbst zu liefern, das war die Inschrift. Sein Sohn, der Franz, hatte einen schönen reinen Bogen auf einen Pappdeckel geklebt, aber noch harrte derselbe am Sonntage früh der Tinte, die ihn zu einem gedankenreichen machen sollte. Es war ein schweres Werk für einen Fleischer. Zwar hätte er sich bequem eine passende und schöne Inschrift von seinem Vetter, dem Kantor Müller, verschaffen können. Der machte Verse zu allen Gelegenheiten und schüttelte sie nur so aus seinem Aermel heraus. Aber den hatte er schwer erzürnt. Beim letzten Schweineschlachten hatte er ihn nicht zu frischer Wurst eingeladen, und für frische Wurst hatte der Kantor eine besondere Schwäche, weshalb er auch wohl im Spott der „Wurstkantor" genannt wurde. Das konnte der Kantor dem Vetter Bocke nicht vergeben, und hätte letzterer jetzt eine Gefälligkeit verlangt, gar eine Inschrift, ein Gedicht, so wäre der Vetter Kantor kapabel gewesen und hätte eine abschlägige Antwort gegeben, und einer solchen sich aussetzen? Um keinen Preis. Aber selbst erhuben, selbst dichten! Das war nicht so leicht als Wurstmachen. Sinnend ging Bocke in der Stube auf und ab, das runde Käppchen bald nach der einen, bald nach der andern Seite rückend. Plötzlich wandte er sich an seinen Sohn! Schreib, Franz, ich hab's, wir brauchen Wurstkantern nicht! 249 Und Franz nahm die Feder und schrieb, was der Vater diktierte: „Zum Andenken nn die Leipziger Schlacht Hab' ich diesen Vers selber gemacht. Es lebe der Landsturm So hvch wie der Kirchturm! Fleischcrineistcr Christian Vocke." Und Docke hatte die Genugtuung, als der Landsturm unter dem Bogen durchmarschierte — er war natürlich auch dabei — daß alle ihm zuriefen: das wäre schön und etwas Extrafeines. Der Zug war auf dem Markte angelangt. Hier hatte sich versammelt, was laufen konnte. Kopf an Kopf standen die Leute bis zur Rathaustreppe hinauf, unter ihnen viele aus den benachbarten Dörfern. Alle Fenster am Markte waren geöffnet und mit Neugierigen beseht. Als der Zug dem Rathause gegenüber angekommen war, wurde Halt gemacht. Die Frauen und Kinder drängten sich heran, um ihre tapferen Männer und Väter zu begrüßen. Schneider Ziegenbein auf dem linken Flügel erregte die meiste Bewunderung wegen der roten Offiziersstreifen. Aber er nahm alle Aeußerungen darüber kaltblütig auf, während seine Frau und seine Sprößlinge dabei standen und ihre stolze Freude über ihren Vater nicht verbergen konnten. Da geschah es, daß der eine seiner Knaben, als der Major mit dem Schimmel geritten kam, beim Zurllcktreten die Gosse hinter sich nicht bemerkte und daher ausglitt, worauf er der Länge nach in den Graben hineinfiel. Zwar erhob er sich schnell, aber die schöne neue Hose war über und über naß und schmutzig. Da war es um Ziegenbeins Kaltblütigkeit geschehen. Zornig und kirschrot sprang er aus der Reihe heraus, und mit dem Schafte seiner Pike versetzte er dem armen Jungen einige Püffe, daß dieser laut zu heulen anfing. 250 „Warte, du sollst mir wieder in die Gosse fallen! Hast du keine Augen, daß du Hinsehen kannst?" Die Leute bildeten sofort einen Kreis um die Ziegen- beinsche Familie und schauten zu, wie Ziegenbein sein Vaterrecht handhabte. Die einen hatten ihren Spott darüber, andere schalten ihn. „Ziegenbein!" rief Kaufmann Buse, „müßt ihr denn gleich auf den Jungen losschlagen? Wartet doch, bis ihr nach Hause kommt!" „Was?" entgegnete der Schneider, gereizt durch die Zurechtweisung, „ich strafe meinen Jungen, wo er's verdient hat, und da hat niemand drein zu reden. Und die Hose habe ich ihm erst letzte Woche gemacht, und sie hat mir genug Arbeit gekostet, denn nur mit aller Mühe habe ich das Zeug vom Natmann Biedermann und Schlicht- weger seinen Anzug herausschneiden können, die kaufen ihr Tuch immer zusammen, aber immer zu wenig. Und nun will der Bengel sich auch noch damit in der Gosse herumwälzen? Wart, ich will dich!" Und er wollte wieder auf den Knaben losschlagen; aber die Frau hatte mit Tränen im Auge den heulenden Jungen genommen und sich still durch die Menge gedrängt; die andern Kinder waren eiligst gefolgt, um nach Hause zu gehen. „Denn," sagte sie nachher zu einer Nachbarin, die ihr begegnete, „nun ist mir die ganze Parade verdorben. So auf offenem Markte das Kind durchzuprügeln! Nein, Frau, Nachbarn, sie glauben gar nicht, was ich mit dem Manne aushalten muß." „Ja, Frau Ziegenbein," entgegnete die Angeredete, „das ist nicht anders bei kleinen Leuten, wie ihr Mann ist; da sitzt die Galle zu nahe dem Kopfe, und wenn sie dann überläuft, steigt sie gleich ins Gehirn, und dann braust's. Bei großen, langen Personen, wie z. B. beim Referendar 251 Schmaling, da ist das nicht möglich, und deshalb kommen solche Leute auch nicht so leicht in die Wolle. Wenn ein Mädchen heiratet, nur nicht so'n kleinen Manul Da gibt's alle Augenblicke Krakehl!" Frau Ziegenbein ging gedankenvoll weg und seufzte. Ob sie wohl bereute, einen so kleinen Mann geheiratet zu haben? Wir wissen's nicht. Die Parade war vorüber. Der Vorbeimarsch vor dem Bürgermeister - Major und vor der zuschauenden Menge unter den Klängen der Musik hatte allerseits Zufriedenheit erregt. Als nun das Lehrjungenmusikchor nach Beendigung der militärischen Feierlichkeiten sich auf der Rathaustreppe postierte und noch verschiedene Hopser und Walzer loslieb, da kannte der Jubel keine Grenzen. Die Beine der Tanzlustigen setzten sich in Bewegung, und diese drehten sich auf dem holperigen Pflaster. Traten sie dann unerwartet in eine Vertiefung — und deren gab es die Menge — und sie stolperten, so erhöhte das nur die Lust und den Lärm. Abends aber war die Freude erst recht groß. Die „Mannschaft," wie Demut sagte, war in den Sälen des Schützenhauses versammelt und labte sich an dem Biere, das in verschiedenen Tonnen von der städtischen Brauerei auf städtische Kosten geliefert worden war, und jeder konnte trinken, so viel er Lust hatte. Der Schützenwirt lieferte Bratwürste, extra groß, scharf gebraten und schön, zwar nicht umsonst, aber doch für billigen Preis. Nach und nach kainen auch die Weiber und teilten mit ihren Männern die bezahlte Bratwurst und das unbezahlte Bier. Der Rat saß mit seiner Frau auch dazwischen, aber er hielt keine Rede; und als der Bürgermeister ihn daran erinnerte, sagte er, der Pastor Linke habe heute Morgen in der Kirche schon so gut gesprochen von dem blutigen 252 Stern, der solange an Deutschlands Himmel gestanden, und nun endlich im erlöschen wäre, und dann von dem Morgenrot der Freiheit, das aus der Saat des Schlachtfeldes bei Leipzig aufginge, und von dem einigen deutschen Reiche, das nun entstehen würde, daß er, der Rat, nichts weiter darüber sagen könnte. Zweimal und noch dazu an einem und demselben Tage, über dasselbe reden, das würde den Leuten überdrüssig. Damit mußte sich denn der Bürgermeister zufrieden geben. — Der Tag der Parade war der Glanzpunkt des Ellricher Landsturmes gewesen. Von nun an erkaltete das Interesse an den Exerzitien immer mehr, und sie schliefen ein. Die Leute gingen nach und nach wieder ihren gewohnten Gang und ließen das „Extrae" beiseite. — Aber recht hatte der Rat in sofern gehabt, als das Interesse für das Allgemeine und Vaterländische in den Leuten angeregt worden war, und es hatte in der Landstürmerei seinen Boden gefunden, auf dem es fröhlich weiter emporwachsen und schöne Blüten und Früchte zeitigen konnte.

10. Kapitel

Ein Kreuz kommt nach Ellrich, über das der Tandssgerichtsrat erfreut ist. — Bemut entsagt der weiteren Mitteilung von Kriegsgeschichten aus seinem Jahrhundert. — Eins Verlobung und eins Hochzeit, und wer Schuld daran ist. — Einer nach dem andern von Bekannten nimmt Abschied. — Nachtwächters Hchluptablsau. Jahr 18 13 war zu Ende gegangen und hatte beim Scheiden noch gesehen, wie ein greiser Feldherr und mutige Krieger in eisiger Wintersnacht den Grenzfluß Deutschlands, den Rhein, überschritten, um nach Frankreich zu dringen und den Feind auf seinen eigenen Boden anzugreifen. Und das neue Jahr hatte mit Erstaunen preußische und russische Krieger auf den gesegneten Fluren des Landes jenseits des Rheines Kämpfen und siegen sehen, und je älter es wurde, desto näher sah es die Verbündeten an die große Hauptstadt heranrücken, bis-diese umzingelt und gezwungen war, sich zu ergeben. Aber endlich hörte es auch das Wort: Friede! und beeilte sich, dieses Wort Hinauszurufen in alle Welt, in alle Länder, welche Sprache sie auch ihr eigen nannten, in alle Häuser und in alle Herzen. „Friede!" welch schönes, beseligendes Wort, daß die gepreßten Herzen aufatmen läßt und die Tore einer finstern, stürmischen, vernichtenden Welt mit Wasfengeklirr und Aechzen und Stöhnen der Sterbenden öffnet zum Eintritt in eine lichte Welt, wo Heller Sonnenschein auf den Fluren ruht und Schnitter und Schnitterinnen goldene Aehren sammeln und fröhliche Lieder dazu fingen; und bausbäckige Kinder sitzen am Wege und winden Kränze von Kornblumen. 254 Auch nach Ellrich kam die Nachricht vom geschlossenen Frieden so schnell, als die damaligen Verkehrsanstalten — Telegraphen gab es ja nicht — es bewerkstelligen konnten. „Manschen," sagte der Rat, als er desselben Tages nach Hause kam, „heute Abend illuminieren wir." „Illuminieren? Warum denn, Weimar? „Es ist Friede, Manschen, endlich Friede! Bei den Nachrichten von gewonnenen Schlachten habe ich nichts getan, aber diesen Tag, den ich so lange gehofft und gewünscht habe, den wollen wir feiern, und meine Freude, daß ich diesen Tag erlebe, fast dachte ich, ich würde darüber hin sterben, die will ich nun auch kundgeben öffentlich. Nun laß in alle Fenster so viel Kerzen setzen, als nur hineingehen, und laß alle deine silbernen und bronzenen und gläsemen Leuchter aufmarschieren, und die Kerzen sollen den ganzen Abend brennen." Es geschah, wie der Rat angeordnet hatte. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich das Gerücht in der Stadt: Bei Landgeichtsrats wird illuminiert! Da kamen die Leute schon des Nachmittags, um die vielen Leuchter mit Kerzen, die zwischen Blumen aufgestellt waren, in dem langen zweistöckigen weißen Hause zu bewundern. Abends aber, als die Fenster nun alle hellerleuchtet waren und ihren Schein in die dunkle Straße warfen, da wogte es von Menschen vor dem Hause, und alle sagten, so etwas Schönes sei in Ellrich noch nicht dagewesen. Das Beispiel des Rats steckte an, und vor vielen anderen Fenstern in den Straßen der Stadt erschienen nach und nach brennende Lichter der verschiedensten Art. Freilich so glänzend, wie bei Weimars, war es in keinem Hause. In dem Häuschen am Tore beim Nachtwächter Demut standen in den beiden Fenstern der engen Wohnstube je 255 zwei irdene Näpfchen mit Unschlitt gefüllt, in den ein Docht eingelassen war um, auch hier, wenn auch in ganz bescheidener Weise, der Freude über den Frieden Ausdruck zu geben. „Denn," hatte der Alte zu seiner Tochter gesagt, „wenn der Herr Rat illuminiert, das ist der erste Beamte der Stadt, dann ist das für alle anderen Beamten ein Beispiel, und ein gutes, und jeder muß folgen, wie er nur kann. Das wird sich so gehören." Als es nun dunkel geworden war, zündete Dortchen die vier Lämpchen an, und sie blieb vor dem einen Fenster stehen und sah in die trüben Flämmchen der kleinen Illuminationslampen. Ihre Gedanken gingen weit weg zu einem, von dem sie nie sprach, dessen Name aber tief in ihr unverdorbenes Herz gegraben war. Er hatte nicht wieder geschrieben seit der Schlacht bei Leipzig, die er mitgemacht und aus der er, so viel hatte er auf einem mit Bleistift geschriebenen Zettel mitgeteilt, heil und ganz gekommen war. Seit dieser Zeit aber keine Nachricht. Wo mochte er sein? Lebte er noch, oder hatte der Schlachtengott auch ihn zum Opfer gefordert? Und wie sie daran dachte und alle Möglichkeiten erwog, da stahl sich Träne auf Träne aus ihren Augen, und sie wußte es wohl kaum. Da trat der Alte, der bisher draußen gewesen war, in die Stube. Sie schaute verwundert auf, und rasch wischte sie die verräterischen Tropfen von Auge und Wange. — Es verging Tag um Tag. Da kam die Nachricht, daß ein Teil der Truppen entlassen worden wäre. Das Herz der kleinen Nachtwächterstochter klopfte stärker, als sie es hörte. Wird er auch dabei sein? Wird er überhaupt wiederkommen? — Wenn man es wüßte I — Und wenn er wiederkommt? Er hat so lange nicht geschrieben und ist uns wohl fremd geworden. Wer weiß auch was er geworden ist, Unteroffizier oder gar Feld256 webe! oder Offizier. Und dann? — Ach, sie ist ja nur Nachtwächters Dortchen! — Wie oft gingen ihr diese Gedanken durch den Kopf, und sie grübelte darüber und konnte nicht fertig werden, und wenn sie glaubte zum Schluß zu kommen, dann ging es wieder von neuem an. So saß sie auch einst im Zwielicht des hereinbrechen- den Abends, den Kopf in die Hand gestützt, und ihre Gedanken hatten sie dem kleinen Stübchen entrückt. Da ging die Türe leise auf, sie hatte niemanden kommen hören und hörte auch die Türe nicht, bis eine tiefe Stimme guten Abend bot. Erschrocken blickte sie auf, und vor ihr stand im Halbdunkel eine hohe Gestalt in Militäruniform, und ein großer Vollbart rahmte das gebräunte Gesicht ein, in das die Militärmütze tief hineingeschoben war. Die Gestalt blieb an der Türe stehen und sagte nichts weiter. Beklemmt schwieg auch sie anfangs, bis sie sich ein Herz faßte und fragte, ob der Herr zu ihrem Vater wolle. Da rief es ihr entgegen: „Dortchen!" „Karl!" rief sie, und ihrer nicht mehr mächtig, stürzte sie an seine Brust. Er aber umfaßte sie und drückte einen Kuß auf ihre Stirn. Da machte sie sich errötend los und: „Ach," rief sie, „wir dachten, du würdest gar nicht wiederkommen. Aber ich will rasch Licht anzünden, und nun setze dich auch. Wie wird sich der Vater freuen, wenn er dich wieder sieht!" So redete sie noch dies und das, um die Verlegenheit zu verbergen, in der sie war, weil sie verraten hatte, was sie doch so sorgsam verborgen halten wollte. Da trat der Alte ein. „Karl!" rief er, als er ihn erkannte, „na, endlich! Und — Donnerwetter! Unteroffizier. Das lasse ich mir gefallen und habe es auch 257 nicht anders von dir erwartet, und ich bin auch Unteroffizier gewesen, und nun sind wir............Wa . . . was ist das?" Und der Alte faßte den jungen Mann an beiden Armen und zog ihn ans Licht, „das eiserne Kreuz? — Dortchen! — Karl I — Nein I Herr Karl! Herr Karl Mehmel !" Dabei stellte er sich vor den jungen Krieger kerzengerade hin und hielt die rechte Hand militärisch grüßend an sein Hauskäppchen. „Herr Unteroffizier Karl Mehmel! Ich habe Respekt vor ihnen. Und das sage ich, Demut!" Der junge Mann lachte, legte den Arm um des Alten Schulter und sagte: „Kommt, setzt euch, Nachbar, und macht keine Komplemente. Deshalb bleiben wir dir Alten, und ich bin der Karl nachher wie vorher." Sie setzten sich an den Tisch, und Dortchen ging leise hinaus, um das Abendbrot für alle zu bereiten. Aber heute wollte es gar nicht so recht vorwärts gehen, und immer wieder ertappte sie sich, wie sie in Gedanken da- stand mit irgend einem Geschirr in der Hand. Doch auf ihrem Gesichte lag es wie Sonnenschein, und zum ersten Male seit langer Zeit spielte zuweilen ein glückliches Lächeln um ihren Mund. Drinnen saß der Alte vor seinem Gaste und ließ sich erzählen von diesem und jenem und machte seine Bemerkungen dazu. Mit dem glücklichen Stolze eines Vaters blickte der alte Nachtwächter in das Gesicht des jungen Mannes und von da immer wieder auf das schwarze Kreuz auf seiner Brust. Am anderen Tage verbreitete sich die Nachricht in der Stadt, der Mehmel sei zurückgekommen als Unteroffizier und mit dem eisernen Kreuze. Hier und da äußerte man zuerst einige Zweifel, aber sie wurden bald zerstreut durch die Menge derer, die in das Haus vor dem Tore kamen, wo Herr Engelmann so lange einsam gehaust hatte; und 17 258 als sie nun mit eigenen Augen sahen, was ihnen erzählt worden war, da hieß es: „Ich hab ihn selbst gesehen und gesprochen, Herr Nachbar," oder „Frau Nachbarin, und er hat richtig das eiserne Kreuz, und die Unteroffizierstressen hat er auch, und er sagt, bei Leipzig, da hätte er beides bekommen." Und tagelang hatte man kein anderes Gesprächthema, als: Karl Mehmel und das eiserne Kreuz Von allen Seiten wurde er zum Besuch cingeladen, aber er wies diese Einladungen ab; er komme schon noch, ließ er sagen, aber jetzt wolle er zu Hause ausruhen, und er habe auch manches in Ordnung zu bringen. Das verdroß manchen, denn sie hätten mit ihm und seinem Kreuze gern paradiert und den Leuten gezeigt, wie sie gut Freund mit dem Herrn Unteroffizier wären. Der Landesgerichtsrat erfuhr dies alles und machte seine stillen Bemerkungen. Am nächsten Sonnabend beim Kaffeetrinken früh morgens sagte er zu seiner Frau: „Weißt du, Manschen, der Karl Mehmel gefällt mir, wie lange kein Mensch." „Ja," entgegnete die Frau, „weil er das eiserne Kreuz sich verdient hat? Ach wenn das seine Mutter erlebt hätte!" . »Ich hätte ihr die Freude wohl gegönnt," sagte der Rat, „denn sie hat wenig frohe Tage gehabt. Sie steht mir immer noch vor Augen, wie sie damals ihren Mann erschossen ins Haus gebracht hatten. Daß der Sohn sich nun gerade so auszeichnen muß und das eiserne Kreuz nach Ellrich bringt, das macht mir große Freude. Aber der Mann scheint mir in allen Beziehungen das Herz auf der richtigen Stelle zu haben. Jeder andere mit dieser Auszeichnung würde in Ellrich herumflankiert sein und hätte sie wohl zur Schau getragen, hätte sich von den Leuten einladen lassen und es ihnen zur Ehre angerechnet, 259 daß er sich von ihnen hätte traktieren lassen, und hätte dabei von seinen Kriegstaten gesprochen, und welche wichtige Rolle er gespielt habe. Aber der Mann tut das nicht. Er hält sich still zu Hause und nimmt keine der Einladungen an, die ihn von allen Seiten zugehen, und allem Gefeiertwerden geht er sichtlich aus dem Wege. Weißt du, Manschen, das ist etwas, was man in unserer Zeit, und vielleicht zu allen Zeiten, selten findet, und das ehrt den Mann mehr, als das Kreuz selber. Und darum möchte ich den Mann gern genauer kennen lemen uud ihm zeigen, daß ich ihn achte. Was meinst du denn, Manschen, wenn ich ihn morgen mir zu Tische hole, ohne ihm vorher etwas zu sagen, so ganz wie zufällig?" „Ja, Weimar, du weißt ja am besten, was du zu tun hast, und mir soll der Mann bestens willkommen sein, wenn er dir gefällt. Aber ich denke nur, er wird sich bei uns genieren, und es ihm am Ende peinlich sein, bei uns zu essen." „Darum will ich ihm auch vorher keine Einladung zugehen lassen, damit er nicht etwa auf ein Benehmen sich vorbereitet, das ihm nicht natürlich ist. Ob er sich bei uns wohl fühlt, das wird auf uns ankommen, aber daß er sich beengt fühlen sollte, das glaube ich nicht. Ein Mann, der sich das eiserne Kreuz verdienen kann und nachher in so bescheidener und doch fester Weise austritt, der kann sich wohl hier und da nicht heimisch fühlen, aber verlegen und beengt, glaube ich, niemals." Am anderen Morgen ging Friederike, die Köchin von Weimars, in das Mehmelsche Haus. „Ein Kompelment vom Herrn Rat, und ob der Herr Unteroffizier Mehmel heute gegen elf Uhr zu Hause wäre, der Herr Rat wolle vorsprechen um diese Zeit." „Jawohl," war die kurze Antwort, „wenn der Herr Rat ihm die Ehre geben wolle." 17» 260 Im stillen aber wunderte sich Mehmet, was den Rat wohl veranlassen könnte, ihn aufzusuchen, doch dachte er nicht weiter darüber nach. Um elf Uhr trat der greise Herr in die niedrige Stube, in der er schon einmal gewesen war, aber unter ganz anderen Umständen. Karl Mehmel trat ihm entgegen, straff militärisch, und lud den alten Herrn zum Sitzen ein. Dieser aber blieb stehen, reichte ihm die Hand und sagte in seiner herzlichen Weise: „Ich freue mich, lieber Mehmel, daß sie gesund und heil wiedergekommen sind. Wie ich sehe, haben sie ihre Schuldigkeit getan als braver Soldat," dabei wies er auf das eiserne Kreuz, „und ich habe das von ihnen auch nicht anders erwartet, und um ihrer verstorbenen Eltern willen freut es mich doppelt, daß ich mich in meiner Erwartung nicht getäuscht habe. Aber sie müssen mir einen Gefallen tun, und müssen mir ausführlich erzählen, bei welcher Gelegenheit sie sich diese Auszeichnung erworben haben. Wenn es ihnen recht ist, begleiten sie mich, und vielleicht zeigen sie das Kreuz dann auch meiner Frau, die ist nämlich neugierig, so ein Ding zu sehen, von dem sie so viel gehört hat, und sie tun ihr wohl den Gefallen." Mehmel war von diesen freundlichen Worten so über- wältigt, daß er sich dem alten Herrn „zu Befehl" stellte, was dieser lächelnd entgegennahm. Und so gingen denn die beiden hinaus aus dem kleinen Hause. Der Landesgerichtsrat unterhielt sich auf der Straße in der freundlichsten Weise mit dem strammen jungen Manne, und er ging absichtlich recht langsam, nahm auch nicht den kürzesten Weg, sondern schlenderte durch die Hauptstraßen der Stadt, über den Salzmarkt, die Markt261 straße hinab, über den Markt beim Rathause vorbei und dann erst bog er in die Straße ein, wo sein Haus lag. Als sie in das Haus eingetreten waren, kam ihnen die Frau Rat entgegen. In einfacher Weise begrüßte sie den Gast, ohne viel Redensarten, dann eilte sie wieder in die Küche, um die nötigen Weisungen für die Zubereitung des Mittagstisches zu geben. Der Rat nahm den Gast mit in seine Stube, und hier stellte er so viele Fragen über das, was Mehmel erlebt hatte und veranlaßte ihn zum erzählen, daß letzterer gar nicht Zeit hatte, darüber nachzudenken, in welch vornehme Gesellschaft er gekommen war. Als er später auf des Rats Aufforderung sich mit zu Tische setzte zu den alten Leuten, da war es ihm gar nicht mehr befremdlich. Dazu kam, daß die Erlebnisse, die hinter ihm lagen, ihm bei aller Bescheidenheit, die ihm geblieben war, doch eine Festigkeit im Auftreten gegeben hatten, die ihn in alle Verhältnisse sich gleich finden ließ. Hatte er noch niemals bei feineren Leuten zu Tische gesessen, und waren ihm deren Sitten und Gewohnheiten fremd geblieben, so hatte er doch gelernt, aufzumerken, und bald hatte er weg, wie die beiden alten Leute aßen und tranken, und er machte mit, als ob er zeitlebens in keiner anderen Gesellschaft gespeist hätte. Und er war doch nur ein armer Zimmergesell, der nie etwas von Komfort gesehen, bei den Soldaten auch nicht. Je länger der alte Herr mit ihm zusammen war, desto mehr gefiel ihm der junge Mann. Schließlich fragte er ihn, was er nun beginnen wolle. Er erwiderte, daß es seine Absicht sei, Arbeit zu suchen und, wenn möglich, sich auf das Zimmermeisterexamen vorzubereiten. Habe er dieses gemacht, finde sich vielleicht jemand, der ihm auf Treu und Glauben eine kleine Summe vorschieße, damit er einen Anfang finde. Der alte Herr nickte, sagte aber nichts dazu. 262 Einige Tage darauf traf der Rat mit dein Bürgermeister zusammen. „Wie geht's denn dem alten Zimmermeister, ich höre, er ist immer leidend und will die Flinte bald ins Korn werfen?" fragte der Rat. „Pfeifer hat mir erzählt, datz er daran denkt, das Geschäft aufzugeben," war die Antwort des Bürgermeisters. „Gefällt ihnen der junge Mehmel?" fragte der Rat weiter. „O ja," erwiderte der Bürgermeister, etwas erstaunt über die Wendung, „er hat ja der Stadt besondere Ehre gemacht durch die Erwerbung der eisernen Kreuzes." „Da haben sie recht, Herr Bürgermeister, und deshalb möchte ich sagen, wenn wir mal solchen Zimmermeister hätten, dann brauchten wir uns nicht zu schämen." „Ich bin ganz ihrer Meinung, Herr Rat, aber der Mann hat nur kein Vermögen." „Das ist allerdings wahr, aber wenn sich Leute fänden, die für ihn gut sagten, dann brauchte die Stadt nicht ängstlich zu sein. Mir scheint der Mann versteht seine Sache und ist in jeder Weise zuverlässig. Und wenn sie, Herr Bürgermeister, ihn unter ihre Protektion nehmen, dann schlagen sie zwei Fliegen mit einer Klappe. Erstens helfen sie der Stadt zu einem braven Zimmermeister, und zweitens tun sie in anderer Weise, was Se. Majestät der König durch das eiserne Kreuz getan hat. Sie belohnen die Tapferkeit vor dem Feinde." Dieser Vergleich mit der Majestät schmeichelte denn nun dem Bürgermeister ungemein, und er versprach, was in seinen Kräften stehe, zu tun. Mehmel konnte sich, nachdem ihn der Rat so ausgezeichnet hatte, nun nicht mehr der Gesellschaft entziehen, und er mußte es sich gefallen lassen, hier und da gefeiert zu werden, so wenig ihm auch daran lag. „Denn," hatte Demut gesagt, „siehste, Karl, wenn du 263 dich jetzt von den Leuten zuriickziehst, so denken sie, du bist stolz geworden, und namentlich, seitdem du bei Landesgerichtsrats zu Tische gewesen bist. Und dann werden dir die Leute gram." So saßen sie denn, Demut und Mehmel, der alte Krieger aus dem achtzehnten Jahrhundert, einige Tage darauf abends im Stadtbrauhause an der langen Tafel inmitten einer zahlreichen Gesellschaft. Waren einige von der Gesellschaft vorher pikiert gewesen, daß der Zurückgekommene nicht gleich in den ersten Tagen zu ihnen gekommen war und sich präsentiert hatte, so wurden sie versöhnt durch die herzliche und schlichte Art und Weise, wie er ihnen entgegentrat und sie begrüßte. Da war auch nicht die geringste Spur von Stolz und Ueberhebung an ihm. „Sag' mal, Karl," redete ihn einer der Anwesenden an, „wie war denn das eigentlich bei Leipzig. Du kannst uns ja am besten darüber Auskunft geben, weil du mit dabei gewesen bist." „Da bist du im Irrtum," erwiderte Mehmel, „ich kann nur von den Orten sprechen, wo ich gewesen bin und mitgemacht habe, und das ist nur ein ganz kleiner Teil des großen Schlachtfeldes gewesen." „Wo war denn das?" wurde geforscht. „Das war bei Probstheida. Da ging's allerdings heiß her. Mein Battaillon kam zuletzt mit ins Feuer, als das Dorf schon mehrere Male gestürmt worden war, aber immer vergeblich. Wir gingen natürlich mit Hurra drauf, über eine Menge Tote und Verwundete weg, wie ich sie noch nicht gesehen hatte. Und dabei fielen von uns rechts und links Kameraden. Wir liefen, was wir konnten, um an den Feind heranzukommen, der hinter einer Lehmmauer stand, die sich um das Dorf herumzieht. Als wir dort ankamen, lagen die Menschen wie gesäet, 264 und der Kampf war so erbittert gewesen, daß hüben und drüben Franzosen und Preußen sich gegenseitig mit dem Bajonett aufgespießt hatten und standen tot an die Mauern gelehnt. *) Wir kamen heran, und es gelang uns, über die Mauer zu kommen und die Franzosen aus den Gärten und dann aus dem Dorfe zu vertreiben. Wenn ich aber sagen sollte, wie das alles geschehen ist und sollte eine genaue Beschreibung geben, dann vermöchte ich es nicht, denn in solchen Lagen denkt man an nichts weiter, als sein Leben, das man den Kugeln und Bajonetten preisgiebt, so teuer wie möglich zu verkaufen, denn wen ich nicht wegschieße, der kann mich wegschießen."

  • ) Historisch.

„Dort hast du dir auch das Kreuz verdient, nicht wahr?" wurde gefragt. „Ja, einige Tage drauf, da sagte mein Hauptmann, ich wäre für das Kreuz mit vorgeschlagen, weil ich der erste auf der Mauer und im Garten gewesen wäre und hätte den andern Lust gemacht, daß sie mir hätten nachkommen können. Es muß wohl so sein, aber ich hätte es nicht sagen können. Ich weiß nur, daß mir die Kugeln um den Kopf pfiffen, aber glüchlicherweise traf keine." „Donnerwetter, Karl," rief Demut, „das ist, wie mir scheint, denn doch eine größere und schlimmere Bataille gewesen als bei Leuthen." „Glaub's wohl, Nachbar," erwiderte Karl, „denn auf Seite der Verbündeten allein standen wohl mehr als eine halbe Million Truppen." „Gott soll mich bewahren! — Hört ihr's, Leute? Und der alte Fritz hatte bei Leuthen schon eine große Armee, so ein Fünfzigtausend. Aber eine halbe Million? Freilich, die hätte Friedrich Wilhelm nicht allein übersehen können, drum hat er sich den Alexander von Ruß265 land und den Franz von Österreich zu Adjutanten angenommen." „Als Adjutanten nun wohl gerade nicht," erwiderte Mehmel lächelnd, „die waren seine Verbündeten und hatten ebenso zu kommandieren wie unser König." „Karl, ich glaube, da bist du noch nicht ganz genau unterrichtet, denn, siehste, das ist ja ganz unmöglich, daß drei zu gleicher Zeit kommandieren, da wird nichts draus, und der eine sagt Hott und der andere Hü. Wenn das gewesen wäre, dann wäre es mit der ganzen Battaille für uns Essig gewesen. Das sage ich, Demut " „Die drei Monarchen haben auch nicht eigentlich kommandiert, sondern sie hatten den Oberbefehl über sämtliche Truppen an den Fürsten von Schwarzenberg übertragen, das war der Höchstkommandierende." „Siehste, Karl, da hatte ich doch recht. Nur einer muß kommandieren, wenn was werden soll, und viele Köche verderben die Mehlsuppe. Aber was ich noch sagen wollte, so recht gefällt mir das von Friedrich Wilhelm nicht, daß er den Oberbefehl an Schwarzenbergen gegeben hat, das war doch nur ein Fürst, und er ist König. Ich an seiner Stelle hätte es nicht getan. Da war der alte Fritz anders. Wetter noch einmal! Wo's da donnerte, da hatte er auch das Heft in der Hand, und dann ging's Schlag aus Schlag, wie bei Roßbach. Da waren wir in zwei Stunden mit den sackermentschen Franzosen fertig. Nun kann ich mir auch denken, warum es bei Leipzig so lange gedauert hat, bis sie retirieren mußten." „Ihr habt aber doch oft genug erzählt," warf einer ein, um den Alten zu necken, „daß euch bei Leuthen der alte Fritz den Oberbefehl übertragen hat!" „Ach was!" erwiderte Demut, ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen, „das war ganz etwas anderes. Das versteht ihr nicht I Das war doch gleichsam nur zur 266 Not und auch nur auf ein paar Minuten, und der alte Fritz blieb immer der alte Fritz; er nahm bloß meinen Rat an und meine Winke, wie's gemacht werden sollte, um die Bataille zu gewinnen. Dabei war er immer Ewige Majestät und kommandierte und gewann Schlachten. Aber nun, da ihr mich einmal darauf gebracht habt, will ich euch etwas sagen. Ich habe euch nun so oft und viel erzählt vom alten Fritz, und wie ich unter ihm gedient habe, und was wir zusammen durchgemacht haben, ich und mein König. Und ich habe euch das gern erzählt, weil ich wußte, daß ihr es gern hörtet; und wenn wir oben auf der Wachtstube zusammensaßen, da verging die Zeit, und ihr schlieft nicht ein. Denn sonst wäre aus der Wachtstube eine Schlafstube geworden." „Ihr habt aber selber oft genug darin geschlafen !" warf Rieländer ein. „Das war nach Zwölfen, Herr Rieländer," entgegnete Demut schlagfertig, „und wenn sie die Wache hatten, Herr Rieländer, dann gingen sie nach Zwölfen nach Hause, und legten sich in die Federn, und ob ich nachher einen Nicker gemacht habe, das können sie nicht behaupten, denn sie haben's doch nicht gesehen." „Bravo !" rief die Gesellschaft unter schallendem Gelächter über Rieländers Abfertigung. Der Alte war heute abend wieder ganz jung geworden. „Aber," fuhr er fort, „was ich sagen wollte, nach solchen Kriegstaten, wie sie dieser hier sitzende Unteroffizier mit dem eisernen Kreuze erzählen kann, da sehe ich ein, mit den alten Geschichten aus dem vorigen Jahrhundert ist es nichts mehr, die ziehn nicht mehr. Heute muß alles ins Große gehen, in die Millionen. Soweit bin ich aber bei unserem alten Kantor im Rechnen nicht gekommen. Drum sage ich, wer von heute ab Kriegsgeschichten hören will, der wende sich an den hier," dabei zeigte er auf 267 Mehmel, „der kann erzählen. Ich aber, ich lüge euch — wollt ich sagen — ich erzähle euch nun nichts mehr, meine Herren! — Einen Bittern, Herr Steinecke!" Damit setzte er sich und trank in philosophischer Ruhe den ihm vom Wirte dargereichte Schnaps, während die Zuhörer über die letzten Worte und das unfreiwillige Geständnis, das in so drolliger Weise gegeben wurde, sich höchlich amüsierten und ihre Bemerkungen austauschten.

  • * *

Die Zeit flog schnell dahin. Mehmel arbeitete den Winter über tüchtig im Entwerfen von Plänen und Rissen zu Bauwerken, während in Wien große Herren an der Karte von Europa herumdüftelten und konnten sie nicht fertig bringen. Dabei ging er zu dem Zimmermeister Böttcher, der ihn bereitwilligst in die Geschäfte einweihte und froh war, bei seiner Krankheit einen so wackeren Gehilfen gefunden zu haben. Im Frühjahre des Jahres 1815 wollte er dann seine Meisterprüfung ablegen. Mit Demuts hielt er innigen nachbarlichen Verkehr und war zu Dortchen wie ein Bruder. Diese aber war in ihrem Benehmen gegen ihn nicht mehr dieselbe. Die Ehre, die dem Nachbarssohne zu teil geworden war, erhob ihn in ihren Auge, so hoch, daß sie sich, die Nachtwächterstochter, so recht klein und ärmlich gegen ihn vorkam. Nur zuweilen vergaß sie dies, und die alte Vertraulichkeit, die sie mit Gewalt zurückzudrängen suchte, brach wieder durch. Dann lächelte Karl Mehmel zufrieden, als wolle er sagen: „Verstelle dich, wie du willst, ich weiß doch, wie es in deinem Innern aussieht." Sein Gesuch um Zulassung zur Meisterprüfung war gegeben, und er harrte der Antwort, die ihm nicht zweifelhaft war. Da ging ein Ruf durch die Stadt, der alles in Bewegung setzte und ihn erschütterte. „Napoleon ist 268 von der Insel Elba geflohen und in Frankreich gelandet!" so hieß es, „und der Krieg geht von neuem los." Als Mehmel vom Zimmermeister Böttcher, wo er die Nachricht empfing, nach Hause kam, warf er seine Zeichenmappe und die Mütze erregt auf den Tisch und ging mit großen Schritten im kleinen Zimmer auf und ab. „So nahe dem Ziele," sagte er halblaut vor sich hin, „und noch einmal vor die Kugeln! — Nächsten Sonntag wollte ich es ihr sagen. — Nächsten Sonntag?" Er lachte bitter. „Da bin ich wahrscheinlich schon aus dem Marsche, dem Feinde entgegen, und wer weiß, ob und wann ich wieder- komme. — Nun bin ich doch froh, daß ich geschwiegen habe bis jetzt. Da ist der Abschied leichter." Und resigniert bereitet er sich zum Abmärsche vor, wenn die Obre kommen sollte. Diese ließ auch nicht lange auf sich warten. Er hatte richtig gerechnet; am Sonntage darauf war er auf dem Marsche und hatte Ellrich bereits weit hinter sich. Bald kamen die Nachrichten über die Truppen- zusammenzüge und über das Vorwärtsrllcken derselben. Dann kamen Waterloo und Quatrebras, wo sie den Friedensstörer beinahe gefangen hätten, und so weiter. Aber von Mehmel kam keine Nachricht. Nur einmal schrieb ein Ellricher, daß er ihn flüchtig gesehen habe, kurz vorher, ehe Paris zum zweiten Male von den Verbündeten besetzt wurde. Das war alles. Endlich war Friede, zum zweiten Male, und der einst große Kaiser wurde in sein enges Gefängnis im Meere gebracht, wo die Engländer ihn so bewachten, daß er nicht wieder entfliehen konnte. Die Krieger aber kehrten „geschmückt mit grünen Reisern" nun wieder zu ihren Häusern. Da zog denn auch in ein kleines Haus am Tore eines Tages — es war wiederum gegen Abend — der Eigentümer ein, um es nun für lange Zeit nicht mehr zu verlassen. 269 Dortchen atmete auf, als er auch dieses Mal ihr heil und gesund entgegentrat, aber sie nahm sich bei der Begrüßung mehr zusammen, wie das erste Mal, und verriet sich nicht. Im Frühjahr 1816, ein ganzes Jahr später, als er geglaubt, bestand er denn seine Meisterprüfung, und er bestand sie gut. Der Zimmermeister Böttcher aber erklärte, nun setze er sich zur Ruhe, und wenn Mehmel an seine Stelle treten wolle, dann wäre es ihm recht, denn er wisse, er sei ein tüchtiger Mann. Das Material aber werde er ihm billig lassen, und er brauche es auch nicht gleich zu bezahlen. Als Mehmel die Zuschrift in Händen hatte, die ihm mitteilte, daß er die obrigkeitliche Erlaubnis habe, sich als Zimmermeister in Ellrich niederzulassen, ging er zu Demuts hinüber. „Nun, Nachbar," rief er beim Eintreten in die Stube, „den Meister haben wir in der Tasche und die Erlaubnis zur Niederlassung dazu. Nun heißt's anfangen, aber vorerst Geld schaffen!" „Ich gratuliere dir von ganzem Herzen, Karl!" sagte der Alte und gab ihm die Hand. „Und ich wünschte weiter nichts, als ich wäre ein reicher Mann. Dir vertraute ich alles an. Aber," setzte er seufzend hinzu, „ich bin nur ein armer Nachtwächter." „Nun, Dortchen, du sagst wohl nichts dazu, und wünschest du mir kein Glück?" fragte Karl, als das Mädchen sitzen blieb und eifrig auf ihre Näharbeit sah. „Ach ja, Karl," erwiderte sie leise, „von ganzem Herzen. Und ich weiß auch, dir wird es nun gut gehen. Du bist jetzt ein angesehener Mann und verstehst dein Handwerk, da wird sich das Geld zum Anfang schon finden. Dir vertraut gewiß jeder gem ein Kapital an und" — setzte sie zögernd hinzu — „auch wohl eine reiche Tochter." 270 „Sieh, Dortchen, was du für ein gescheites Mädchen bist! Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Eine reiche Heirat, dann sind wir aus aller Verlegenheit raus." Und er lachte dabei recht lustig. Dortchen aber konnte nicht mehr Stand halten gegenüber dieser Lustigkeit; die Tränen quollen gewaltsam hervor. Sie eilte schnell an dem inmitten der Stube Stehenden vorbei und flüchtete auf den Hof in die dichte Fliederlaube. Dort drückte sie sich in eine Ecke, bedeckte ihr Gesicht und weinte bitterlich. Nicht lange hatte sie gesessen, als ein Arm sie umschlang, während eine Hand ihr Gesicht freimachte. Als sie aufblickte, sah sie in Karls Gesicht. Aus seinen Augen traf sie ein Strahl, der ihr bis zum Herzen drang, und sie hörte, wie er sprach: „Dortchen, willst du meine Frau werden?" Erschrocken fast sah sie ihn an, und mit bittendem Blicke sagte sie: „Karl, spotte nicht! Sieh, ich weiß ja, daß ich arm bin, und du kannst wohl ein reiche und bessere kriegen!" „Eine reichere wohl," entgegnete er, „aber eine bessere nicht. Du sollst von jetzt ab mein Reichtum und mein Glück sein. Wenn du aber Nein sagst, dann heirate ich auch keine andere." „Karl!" rief sie in aufsteigendem Glücke, „ist es denn war? Und ich bin dir nicht zu gering?" Dabei liefen ihr die Tränen noch über die Wangen, Tränen des Schmerzes, die zu Tränen der höchsten Freude wurden. „Freilich, Dortchen," entgegnete er, „wie hast du wohl denken können, daß ich eine andere zur Frau nehmen könnte als dich! Hast du denn nicht gemerkt, wie so sehr gut ich dir bin?" „Ja, Karl, manchmal habe ich es wohl geglaubt, aber dann dachte ich wieder daran, wie es doch nicht sein 271 könnte, weil ich ein gar so armes Mädchen bin, und dann — du wirst nun Zimmermeister und mein Vater ist nur — Nachtwächter." „Närrisches Mädchen!" erwiderte er. „Dein Vater ist ein braver Mann, ob er nun dabei Nachtwächter oder Bürgermeister ist, das ist gleichviel." Da brach denn die volle Freude und das ganze Glück bei ihr hervor, und sie schmiegte sich an ihn an und tauschte liebe Worte, .und er hielt sie umschlungen und küßte ihr abwechselnd Stirn und Mund. Plötzlich aber sprang sie auf, ergriff seine Hand und bat: „Komm zum Vater!" Er stand auf, und Hand in Hand traten sie in die kleine Stube vor den dasitzenden Alten, und mit schlichten Worten bat Karl, er möge ihm seine Tochter zur Frau geben. Da schaute ihn der Alte erst verwundert an, als ob er sich besänne, dann aber sagte er, und seine Stimme zitterte ein wenig: „Gern, Karl! Wenn du sie nehmen willst, wie sie ist, arm, aber treu wie Gold. — Ich hätte nicht gedacht, solch ein Glück zu erleben." Dabei stand er auf, wie im Ueberfluß der Freude, zog mit zitternden Händen sein Käppchen, hielt es von sich ab, und die weißen Haare umflossen ein verklärtes Gesicht; er rief: „Nun kann ich ruhig und getrost zur großen Armee abmarschieren, denn nun ist die einzige Sorge, die ich auf dieser Welt hatte, mir vom Herzen heruntergenommen." „Nein Nachbar," rief Karl, „nun wollen wir erst recht lange noch zusammen leben und froh und glücklich sein!" Dortchen aber umschlang ihren alten Vater, als wolle sie den Worten des Liebsten Nachdruck geben und den Vater festhalten, damit er nicht „abmarschiere," wie er sagte, zur großen Armee. Bald darauf dankte der Zimmermeister Böttcher ab und überließ dem Karl Mehmel das Geschäft. 272 Zwar hatte letzterer kein Geld, aber es traten mehrere zusammen, der Landesgerichtsrat an der Spitze, und sagten gut für ihn, und da erklärte Böttcher, der übrigens ein wohlhabender Mann geworden war, das sei ihm ebensogut wie bares Geld, und Mehmel möge abzahlen, wie es ihm bequem wäre. Als aber das erste Haus aufgerichtet worden war von dem neuen Zimmermeister, da bestellte letzterer auch seine Hochzeit mit Dortchen Demut. Sie wurde gefeiert, einfach bürgerlich und ohne großen Aufwand, so liebte es der junge Mann und Dortchen auch. Als sie am Hochzeitsabend beisammen saßen, nahm der Alte seinen Schwiegersohn beiseite und sagte zu ihm: „Siehste, Karl, daß du nun mein Sohn bist, das heißt mein Schwiegersohn, und könntest auch mein richtiger Sohn sein, das heißt mein Stiefsohn, und das wäre doch nicht das richtige gewesen. Deine verstorbene Mutter aber, das war eine gescheite Frau, und sie ist schuld, daß du nun mein Schwiegersohn bist." Der junge Mann wußte nicht, was er aus den Worten des Alten machen sollte, und blickte ihn verwundert und fragend an. „Ja, Karl, das kannst du nicht begreifen, aber ich will es dir sagen. Ich alter Esel hatte mich mal von dem Herm Bürgermeister aufstacheln lassen, das heißt, der kleine Pfeifer, die Kratzbürste, die überall hetzt, war daran schuld, und der Bürgermeister hatte zu mir gesagt, ich müßte wieder heiraten, und der Engelmann, den ich darum fragte, der sagte, zu alt wäre ich nicht dazu. Da ich nun aber keine bessere Frau kannte, wie deine Mutter, da zog ich denn meine Uniform an und ging hin zu ihr und fragte sie, ob sie mich heiraten wolle. Aber deine Mutter war viel vernünftiger als ich und sagte, ich solle das Heiraten nur bleiben lassen, schon um Dortchens willen. Und da 273 hatte sie vollkommen recht. Und wäre deine Mutter damals nicht so verständig gewesen, dann wäret ihr, ich meine Dortchen und du, Geschwister geworden, und wir hätten diesen Tag nicht erlebt. Wer weiß, wie dann alles gekommen wäre! Was du mir und meinem Dortchen heute bist, und das ganze Glück, das haben wir deiner Mutter zu danken; und, Karl, das sage ich dir, sie war die bravste Frau auf Gottes Erdboden, und darum wollen wir sie auch nicht vergessen!" Der junge Mann drückte dem Alten bewegt die Hand, dann traten sie wieder zu den wenigen Gästen, die am Tische saßen. — Bald nach seiner Verheiratung hatte Karl Mehmel den alten Demut zu bewegen gesucht, sich in Ruhe zu setzen und seinen Nachtwächterposten aufzugeben. „Nein, Karl," hatte ihm der Alte in seiner drolligen Weise erwidert, „auf dem Posten bleiben, auf dem Posten, bis man abgelöst wird!" Auch alle späteren Versuche scheiterten an Demuts Festigkeit, bis endlich die Stadtbehörde — nicht ohne Mehmets Anregung — den alten Mann „in Anbetracht seiner treuen Dienste und unter Berücksichtigung seines hohen Alters," wie es in dem amtlichen Schreiben hieß, in den Ruhestand versetzte, unter Gewährung einer kleinen Pension. „Bin noch viel zu jung dazu!" hatte der Alte mit komischer Betrübnis gesagt, als er das Schreiben in der Hand hielt. „Na, wenn's nicht anders sein soll, dann kann der Fritz Braun meinetwegen mein Nachfolger werden, aber ich werde ihn wohl noch sehr instrutewieren*) müssen."

  • ) instruieren.

Bald räumte er die Nachtwächterwohnung und zog in das Mehmel'sche Haus, in das Stübchen, in dem Herr 18 274 Engelmann gewohnt hatte. Denn dieser hatte sich, still und geräuschlos, wie sein Leben dahingeflossen war, aus dem Staube gemacht in jene Welt, aus der keine Wiederkehr möglich ist. Niemand von seinen Angehörigen, weder seine „gebildete Frau" noch sein, wie die Leute ihn nannten, „übergeschnappter Sohn," der bei dem Gericht als Schreiber angestellt war, folgten dem schlichten Sarge. Nur der alte Nachtwächter und einige Nachbarn, ebenfalls arme Leute, gingen mit zu seinem Grabe. Auf dem Rückwege von letzterem bemerkte Demut: „'s ist schade um den Herrn Engelmann, er war ein stiller und guter Mann, wie ein rechter Philostrof, *) wie Biedermann immer sagt, und hatte sogar auf den Pfarrer studiert." Wie Herr Engelmann von der kleinstädtischen Bühne abgetreten war, auf welcher er nicht viel mehr als die bescheidene Rolle eines Statisten gespielt hatte, trat nach ihm einer nach dem andern von unseren alten Bekannten ab mit mehr oder weniger Eklat. Der erste und vornehmste war der alte Rat. Es war in demselben Jahre, in dem auf der Wartburg ein großes Feuer angezündet worden war von der studierenden Jugend Deutschlands und — wie der Rat nachher sagte — so viel schöne unbesonnene Worte waren gesprochen worden, die von den Mächtigen, zuerst von dem Minister Metternich in Wien, so übel vermerkt wurden. Auch in Ellrich brannte ein Feuer hoch oben auf dem Riesenberge. Der Rat ging mit seiner Frau nach dem Frauenberge, um das Feuer von dort aus zu sehen. Es war ein kaltfeuchter Oktoberabend, und die Frau Rat fror so recht innerlich. Aber sie mochte nichts sagen, bis

  • ) Philosoph.

275 ihr Mann, als er ihren Arm nahm, fühlte, wie sie zitterte. Besorgt eilte er so schnell wie möglich mit ihr nach Hause in das warme Stübchen. Aber seit diesem Abend kränkelte sie, und als das Frühjahr kam, da schlief sie sanft ein, als eben die ersten Frühlingsblumen neu erwacht waren, und der frischgrüne Rasen deckte bald das milde, ihrem Gatten so treu und in Liebe ergebene Herz. Der alte Herr aber nahm von dieser Zeit an ganz andere Gewohnheiten an. Er drechselte nicht mehr und ging auch nicht mehr in den Hausgarten, in dessen Jasmin- laube er so viele Jahre bei schönem Sonnenwetter mit seiner Frau gesessen und den Nachmittagskaffee getrunken hatte. Er ließ am Grabe seiner Frau eine zweisitzige Bank Herrichten, und dort verbrachte er den Sommer über meist die Stunden, die er sonst zu Spaziergängen mit seiner Frau in die Felder oder in seinen Garten zugebracht hatte; und man merkte es dem alten Herrn an, wie ihn die Sehnsucht verzehrte, obgleich er nie von seiner verstorbenen Frau sprach. Er hielt es denn auch nicht länger aus, wie bis zum Spätherbst des Jahres 1819. Da fand man ihn eines Morgens in seinem Bette, ruhig eingeschlafen, vor ihm auf dem Nachttische aber fand man eine Bleistiftzeichnung von ihm selbst, es war das Bild seiner Frau. Man bettete ihn neben sein treues Mariechen in die schon gefrorene Erde. Daß Karline ihren Referendar treulos verlassen würde, hätte wohl niemand geglaubt, und doch tat sie es, wenn auch nicht gern und in großer Sorge um seine Zukunft. Seit sie gestorben war, lief das arme Wurm, der Referendar, hilflos herum, daß es zum Erbarmen war. Er war doppelt geschlagen. Einen Chef hatte er verloren, der mit seinen Schwächen zu rechnen verstand und gütig über seine Unbeholfenheit in manchen Dingen hinweggesehen hatte, und dafür hatte er einen Vorgesetzten bekommen, 276 der das „Schneidige" herauszukehren liebte, den er nicht verstand, wie er von jenem nicht verstanden wurde. Die Frau aber, die an Karlinens Stelle getreten war, fand sich auch nicht in ihn und hatte auch keine Interesse für ihn. Wenn er früh seine steife Binde mit ihrer Hilfe umlegen wollte, dann war sie entweder nicht da, oder sie schnallte die Binde bald zu locker, bald zu fest, daß ihm das Blut ins Gesicht stieg und er Kirsch braun wurde. Da mußte er denn in seinen alten Tagen lernen, sich selbst bedienen. Endlich nahm sich seiner eine alte Verwandte in Nordhausen an und vermochte ihn, sich pensionieren zu lassen und zu ihr nach Nordhausen zu ziehen. Dort stapelte er denn noch lange im „Gehege" herum, dem schönen mit Buchen bewachsenen Vergnügungsorte der Nordhäuser. Das rosafarbene Haus mit der schokoladefarbenen Tür und dito Fensterladen stand eine Zeitlang leer, und die letzteren waren geschlossen, bis es auf einmal hieß, Mehmel habe das Haus erworben. Zu welchem Preise und unter welchen Bedingungen erfuhr so recht niemand. Später verlautete, es wäre halb verschenkt, um des Mehmel- schen Stammhalters willen, bei dem — noch zu Lebzeiten Karlinens — der Referendar Pate gewesen war. Am weitesten in das neunzehnte Jahrhundert hinein marschierte der alte Demut. Er war neunzig geworden und sein Geist frisch geblieben. Mancher, der ihn an seine Nachtwächtergeschichten erinnerte, und damit necken wollte, erhielt eine schlagfertige Antwort. Da traf den alten Mann der Schlag und lähmte ihm beide Beine. Aber auch auf seinem Krankenbette verließ ihn der Humor nicht. Als ihn einst Rieländer besuchte und an die alten Zeiten erinnerte, wo sie so oft zusammen aus der Wachtstube gewesen, und wie das jetzt mit dem Fritz Braun doch gar nichts sei, gar kein Spaß mehr, da sagte der Alte lächelnd: „Sehen sie, Herr Rieländer, der Fritze hat 277 eine kurzbeinige Natur, die gibt das nicht her, denn da liegt keine Phantasie drin." „Ja," erwiderte Rieländer, „der ist zum Lügen zu dumm." „Lügen!" sagte Demut darauf, „Herr Rieländer, Lügen waren meine Geschichten nicht, und sie haben niemandem geschadet, im Gegenteil, sie haben euch manche vergnügte Stunde bereitet, gerade so, wie die gedruckten Märchen oder die Fabeln, wo die Pferde und Hunde und sogar — die Esel reden. Mir kann solch Zeug nicht gefallen, da ist kein Schmiß drin. Und wenn ich zur großen Armee abgefahren bin, und dort ist das erlaubt, dann fange ich da meine Geschichten von vorn an zu erzählen und erfinde vielleicht noch einige hinzu." Rieländer lachte und sagte dem Alten Lebewohl. Als in der Stadt seine Unterredung mit ihm bekannt wurde, nannte man von der Zeit an den neuen Nachtwächter nicht anders als die „kurzbeinige Natur." Einige Wochen darauf stand Dortchen weinend neben ihrem Manne an dem Bette ihres Vaters. Heiter und sanft war der Alte aus der Zeit des alten Fritz eingeschlafen, und seine Tochter drückte ihm die Augen zu, indem sie schluchzend sagte: „Du guter Vater, dul"