Sangerhäuser Industrie vor 50 Jahren

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Die Sangerhäuser Industrie besitzt in der heutigen Wirtschaft Mitteldeutschlands eine nicht geringe Bedeutung. Ihre Entwicklung begann etwa in der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Bis dahin war Sangerhausen ein Landstädtchen, dessen Bewohner sich durch Ackerbau und Handwerk ernährten. Erst die Verbindung der Stadt mit anderen Orten, durch die Eisenbahn brachte die Wende. Die damit einsetzende Industrialisierung sei in einer Zeittafel dargestellt (einschl. der Industrialisierung vor Eröffnung des Bahnverkehrs):

1853 Gründung der St. Georgenbrauerei durch den Gastwirt Seibt.
1865 Errichtung der Sangerhäuser Maschinenfabrik und Eisengießerei.
1868 Gründung der Helbig'schen Brauerei, aus der sich 1879 die Aktienbrauerei Feldschlößchen entwickelte.
1869 Errichtung und Inbetriebnahme des Gaswerkes („Gasanstalt“).
1872 Gründung der Aktien-Malzfabrik, an der 1889 und 1896 wesentliche Vergrößerungen vorgenommen wurden.
1889 entstand die Aktien-Feilenfabrik und
1890 das Eisenwerk „Barbarossa“.
1898 begann die Möbelfabrik von F. A. Braun mit der Produktion.
1903 übernahm Alexander Herrmann die Born-kesselsche Pianofabrik und vergrößerte sie wesentlich.
1905 Vereinigung von Georgenbrauerei und Feldschlößchenbrauerein (seit 1920 Engelhardtbrauerei).
1907 Gründung der Mitteldeutschen Fahrradwerke (Mifa).

Nach dem Ersten Weltkriege litt die heimische Industrie zunächst unter der Wirtschaftskrise, konnte sich jedoch bald auf Grund der Unternehmerinitiative, des Fleißes der Arbeiter und Angestellten und des guten Rufes: der Sangerhäuser Qualitätserzeugnisse erholen. So wurden vor 50 Jahren die wirtschaftlichen Verhältnisse unsere Stadt durch obige Betriebe wesentlich bestimmt. Die Maschinenfabrik Sangerhausen AG wurde acht Jahre nach ihrer Gründung durch die damaligen Besitzer, Julius Hornung und Karl Rabe, 1873 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Das Aktienkapital betrug im Jahre 1926 2,4 Millionen Reichsmark. Das Hauptwerk befand sich in Sangerhausen, eine Zweigniederlassung in Halle. Das Werk Sangerhausen beschäftigte vor 50 Jahren etwa 500 Arbeiter und Angestellte und umfaßte eine leistungsfähige Gießerei mit Modelltischlerei, eine große Schmiedewerkstatt mit mechanischem Betriebe, mehrere geräumige Groß- und Kleindrehereien sowie große, umfangreiche Montagehallen und die erforderlichen Nebeneinrichtungn. Der Antrieb aller Arbeitsmaschinen erfolgte durch elektrischen Strom, der im eigenen Werk erzeugt wurde. Das Werk verfügte über einen eigenen Bahnanschluß mit Verlade- und Rangiervorrichtungen. Für die Arbeiter wurde ein Wohlfahrtsgebäude mit Speise-, Wasch-, Dusch- und Baderäumen errichtet und eine Siedlung mit Wohnungen für Betriebsangehörige in Angriff genommen. Das Werk Sangerhausen bestand in den 20er Jahren aus der Abteilung für den Bau von kompletten Zuckerfabriken und Raffinerien für das In- uind Ausland, der Abteilung für den Bau von Maschinen und Apparaten für chemische Fabriken, Abteilung für den Bau von Dampfmaschinen und Pumpen für Zuckerand chemische Fabriken und der Abteilung für den Bau von Filterpressen für die Zucker- und chemische Industrie. Das Werk Halle beschäftigte etwa 70 Ar-eiter und Angestellte. Es führte Kesselschmiedearbei-. jeder Art durch, außerdem Verbleiungen schmiedeeiserner Röhren und Apparate nach eigenem Verfah ren. Die Sangerhäuser Maschinenfabrik erwarb Weltruf. Das Rheinisch-Westfälische Gußwerk Alfred Eberhard u. Cie., Köln, Abteilung Eisenwerk Barbarossa Sangerhausen, unterhielt eine Spezialgießerei für Allgemeinguß, besonders auch für landwirtschaftliche Maschinen, eine Modellschlosserei und Modelltischlerei sowie Reparaturwerkstätten. Außerdem wurden hergestellt die Dauerbrandöfen „Barbarossa“, Rund- und Vierkantöfen und Ofenbauartikel in schwarzer, vernickelter und emaillierter Ausführung uind die fahrbare Handpreßformmaschine „Barbarossa“.

Die Aktien-Feilenfabrik entstand am 1. Juli 1889 in der Hüttenstraße 57 und grenzte an die Eisenbahnstrecke Sangerhausen — Halle/Saale. Diese Fabrik hat stets über einen treuen Stamm von Facharbeitern verfügt. Da sie ihrem Grundsatz, nur Qualitätsware herzustellen, immer treu blieb, genossen ihre Fabrikate besonders in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen guten Ruf. Es wurden alle Sorten Feilen hergestellt; auch das Aufhauen gebrauchter Feilen wurde übernommen.

Die Mitteldeutschen Fahrradwerke GmbH, fabrizierten Fahrräder und Fahrradteile.

Die Maschinenfabrik Askania GmbH., Mühlenbau-Anstalt Askania, stellte Müllereimaschinen, Transmissionen und Walzenriffelei en, elektrische Brutapparate. Verbundmühlen und Getreidequetschen her.

Die Aktien-Malzfabrik Sangerhausen erreichte in den 20er Jahren eine Jahresproduktion von 150 000 Zentnern Malz. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg wurde sie von einem verheerenden Unglück betroffen: In einer Herbstnacht des Jahres 1911 brannte die Fabrik nieder. In dieser Nacht, vom Sonnabend zum Sonntag, feierte die Feuerwehr gerade im Schützenhaus ihren Ball. Bei den Löscharbeiten kamen die Feuerwehrleute Tack, Ludwig und Brandt in den Flammen ums Leben. An sie erinnern die Namen dreier Sangerhäuser Straßen und ein Denkmal auf dem Sangerhäuser Friedhof. Mehrere Feuerwehrmänner erlitten Rauchvergiftungen, unter ihnen Schomsteinfegermeister Ernst. Die Fabrik erhielt dann die jetzt noch vorhandenen Gebäude.

Die Biere der Engelhardt-Brauerei AG., Abteilung Sangerhausen, waren weithin bekannt. Die Produktion umfaßte „Spezial hell“, „Export dunkel“ und „Cara-mell-Vollbier“. Heute wird „Mammut-Bräu“ produziert, für das als Symbol das berühmte Mammut des Spengler-Museums dient.

Die Möbelfabrik F. A. Braun stellte speziell eichene Speisezimmer, Herrenzimmer und Schlafzimmer her. Die Hofpianofabrik Alexander Herrmann entstand aus der’ Bomkesselschen Pianofabrik, lieferte ihre Instrumente, Pianos und Flügel von hervorragender Qualität, vielfach auch ins Ausland.

Die Sangerhäuser Gasanstalt versorgte seit dem 30. Oktober 1869 mit Leuchtgas 102 Armlaternen und 34 Kandelaber in den Sangerhäuser Straßen. Nach 1884 verbreitete sich die Gasbeleuchtung in den Wohnungen. Nach der Jahrhundertwende wurde diese mehr und mehr durch das elektrische Licht verdrängt. Nach 100-jährigem Bestehen wurde das Werk schließlich wegen Unrentabilität geschlossen.

Die genannten Betriebe und ihre Produkte bezeugen die ansehnliche Industrie-Entwicklung Sangerhausens vor 50 Jahren. Damals; gab es kaum eine andere Stadt von der Größe Sangerhausens, deren Erzeugnisse in Heimat und Ausland so angesehen waren. Die gegenwärtige Sangerhäuser Industrie umfaßt die Maschinenfabrik, die Mifa-Werke, die Feilenfabrik, die Lederwarenfabrik, den Elektrobau und das Wohnungsbaukombinat Sangerhausen (sämtliche VEB). 1951 begann die Kupfererzförderung im „Thomas-Müntzer-Schacht“. Vor 50 Jahren spielte Bergbau in Sangerhausen keine Rolle, da er nach Anfängen im Mittelalter und nach weiteren Versuchen in späteren Jahrhunderten im Jahre 1887 völlig zum Erliegen kam. Herbert Ostwald

26. Jahrgang 2. Vierteljahr 1976 Nummer 82