Festreden zur Jahrtausendfeier von Nordhausen am 28. Mai 1927

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Festreden zur Jahrtausendfeier der Stadt Nordhausen am 28. Mai 1927.

Oberbürgermeister Dr. Baller

Hochgeehrte Festversammlung!

Die Zeit und ihre Uhr, die mit Millionen und Milliarden Jahren rechnet, als wären es Stunden oder Tage, geht ihren Lauf unablässig weiter. So unendlich groß wie das Weltall ist, so unendlich ist auch seine Zeitrechnung, und es fehlt uns Menschen das Verständnis diese Unendlichkeit zu begreifen. Deshalb müssen wir uns auf unsere Welt und ihre Zeitrechnung einstellen. Dann schrumpft aber der Begriff „Zeit" auf einen verhältnismäßig kleinen Raum zusammen, denn unsere Kenntnis von geschichlichen Ereignissen aus unserer Welt reicht nicht weiter als wenige Jahrtausende zurück. Und in diesem Rahmen muß uns ein Jahrtausend bereits als eine gewaltige Zeitspanne erscheinen, die es gestattet, mit Bewundern und mit Ehrfurcht darauf zurückzuschauen. Freilich: die Zeit, die ja keinen Stillstand und keine Rast kennt, die unbekümmert und unerbittlich über alles Geschehen, wenn es auch noch so groß und inhaltsschwer ist, hinwegschreitet — die Zeit geht auch in 1000 Jahren, achtlos vorüber. Wir Menschen aber dürfen, das kann uns die Zeit nicht verwehren, in einem bedeutsamen Augenblick einmal für eine kurze Weile Halt machen, um zurückzuschauen auf das, was gewesen ist, aus dem Vergangenen zu erklären, was heute ist, und aus der Vergangenheit heraus, über die Gegenwart hinweg, einen Blick in die Zukunft zu werfen.

Tausend Jahre gehen an einer Stadt nicht spurlos vorüber, sie drücken ihr unerbittlich ihr besonderes Gepräge auf. Das Alter läßt sich eben nicht verleugnen! So ist es auch mit Nordhausen. Der Fremde allerdings wird zunächst kaum den Eindruck gewinnen, in eine tausendjährige Stadt zu kommen. Aber sobald er — durch jüngere Stadtteile mit breiten Straßen und modernen Häusern hindurch — in das Stadtinnere gelangt, wird er das Alter verspüren, dem» zahlreiche schmale und steile Treppen führen ihn, an Nesten alter Stadtmauern mit trotzigen Türmen vorbei, in die alte Stadt hinein, und ist er dann im ältesten Teile, dem ehemals umwehrten Alt-Nordhausen angelangt, dann erfaßt sein Blick enge und schmale Straßen mit kleinen, niedrigen, oft vorn Alter gebeugten Häuschen, im bunten Wechsel und unregelmäßig erbaut von unseren Vorfahren, denen ein Gesetz, das Baufluchten vorschreibt, noch unbekannt war. Zwar hat der Baumeister der Neuzeit schon viele alte, baufällige Häuser niedergelegt und durch moderne Bauten ersetzt; zwar hat eine weitschauende Verwaltung für diese neuen Bauten Baufluchten geschaffen, um dem wachsenden Verkehr allmählich Raum zu geben. Aber noch stehen überall mitten darin — verkehrshindernd und verkehrsfeindlich — die Zeugen aus grauer Vorzeit, noch wird Nordhausen auf lange Zeit hinaus den Charakter der alten, tausendjährigen Stadt nicht verleugnen können. Es will ihn aber auch nicht verleugnen, denn moderne Städte, nach neuen städtebaulichen Grundsätzen erbaut, sind zwar sicherlich um vieles Schöne zu beneiden, aber sie können uns nicht den geheimnisvollen Reiz des Alten geben, sie können nicht die malerischen Winkel schaffen, die uns die bescheidenen Lebensbedingungen unserer Vorfahren als Denkmäler hinterlassen haben. Und gerade darin findet der Fremde, der nach Spuren kulturhistorischer Vergangenheit sucht, in Nordhausen köstliche Quellen, und wer unter sachkundiger Führung in die vielen verschwiegenen Winkel vordringt, die dem oberflächlichen Beschauer verborgen bleiben, der wird und muß zu der Überzeugung kommen, daß Nordhausen einen seltenen Reichtum an Altertumsschätzen und Altertumsreizen besitzt.

Doch die Bedeutung der alten Stadt spiegelt sich nicht nur in ihrer äußerlichen Gestalt wieder, sondern noch viel mehr in ihrem inneren Wesen. Und auch dabei kann — das glaube ich ohne Überheblichkeit behaupten zu können — Nordhausen, vor jedem Kritiker in Ehren bestehen. Es ist hier nicht anders wie bei uns Menschen: wessen Leben im täglichen Einerlei — ohne Abwechslung, ohne Widerstände und ohne Kampf — ruhig dahinfließt, der von Sorgen und Nöten niemals etwas verspürt hat, der wird auch kaum Anspruch darauf erheben können, eine „Persönlichkeit" zu sein, denn er weiß ja nichts von den Kämpfen des Lebens und hat niemals Gelegenheit gehabt, sein „Ich", seine ganze Person einzusetzen und dadurch seinen Charakter zu bilden und zu festigen. Erst kürzlich — bei der Jahrhundertfeier Bremerhavens — bat unser allverehrter Herr Reichsaußenminister diesem Gedanken mit den Worten Ausdruck gegeben: „Ob jemand im Menschenleben sich bewährt, das hängt davon ab, ob er nach Schicksalsschlägen im Charakter stark genug ist, aufs neue zu arbeiten und vorwärts zu kommen ... In die Höhe gekommen sind stets nur Menschen, die Hindernisse zu überwinden hatten." Und wie es bei jedem einzelnen von uns ist, so ist es auch bei einer Gemeinschaft von Menschen, mag diese Gemeinschaft ein ganzes Volk umfassen — diesen Vergleich zog Dr. Stresemann — oder mag sie nur die Bürger einer Stadt in sich vereinen. Auch eine Stadt, verkörpert durch ihr Bürgertum, wird stets in ihrer Entwicklung beeinflußt werden durch den Charakter dieses Bürgertums, und sie wird nur dann in der Geschichte bestehen können, wenn ihr Bürgertum stets Kraft und Stärke bewiesen, wenn es durch Kampf und Not auch in schwerster Zeit sich durchgerungen hat.

Ohne im einzelnen auf die wechselvolle Geschichte Nordhausens einzugehen, glaube ich sagen zu dürfen, daß es diese Voraussetzungen in hohem Maße erfüllt. Die inneren und äußeren Kämpfe, die es im Laufe der Jahrhunderte hat erleben müssen, sind hart und schwer gewesen. Aber beseelt von dem Willen zum Leben, von dem Willen zum Sieg, hat es sie erfolgreich bestanden und ist innerlich gefestigt daraus hervorgegangen. Fast 6 Jahrhunderte hindurch ist Nordhausen eine „Freie Reichsstadt" gewesen und hat so seine Entwickelung — wenigstens innerlich — selbst bestimmen können. Aber auch nach seiner Einverleibung ins Königreich Preußen hat es sich seine Selbständigkeit zu bewahren gewußt, und ein kraftvolles Bürgertum hat stets am Aufbau und Ausbau seines Gemeinwesens gearbeitet. In zäher Arbeit haben Nordhausens Bürger an der wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Vaterstadt geschaffen. Reiche Industrien, lebhafter Handel und ein starkes und gesundes Handwerk haben das Wirtschaftsleben Nordhausens zu ungeahnter Blüte entfaltet. Auch das kulturelle Leben war von jeher besonders reich, denn alle Kreise der Bevölkerung haben die höheren Künste stets besonders gehegt und gepflegt. Die schweren Zeiten des großen Weltkrieges und der folgenden vielleicht noch schlimmeren Jahre haben die weitere Entwickelung nicht aufhalten können. Gewiß gab es in diesen schweren Jahren Zeiten, wo mancher mutlos wurde und verzweifeln wollte, aber der alte Bürgersinn und die alte zähe Bürgerkraft haben auch diese Zeiten überwunden und unser Nordhausen weiter aufwärts geführt. Und heute — nur wenige Jahre nach dem furchtbaren Schlage, der uns getroffen hat — sehen wir wieder die schaffenden Hände der Nordhäuser Bürger in alter Kraft sich regen, um weiter zu arbeiten an dem ferneren Aufstieg ihrer geliebten Vaterstadt, getreu dem Spruche, der an dem Laubengauge unseres Stadthauses mit goldenen Lettern verewigt ist: „Rast' ich, so rost' ich".

So gestattet uns nicht nur die äußere Tatsache der tausendjährigen Vergangenheit Nordhausens, sondern auch der Inhalt seiner tausendjährigen Geschichte, das Jubelfest 1927 besonders festlich zu begehen, und das ist auch der Grund, weswegen wir unserer Feier einen größeren Rahmen gegeben haben, als es vielleicht sonst üblich ist. Seit vielen Monaten schon hat Nordhausem sich zum Empfang der zahlreichen Gäste gerüstet, die es gebeten hat, in diesen Festtagen zu ihm zu kommen und an seiner Jubelfeier teilzunehmen. Festlich hat es sich für ihren Empfang geschmückt: ein altes Stadttor — ein Wahrzeichen ans vergangenen Zeiten — grüßt am Bahnhof den Fremden beim Eintritt in die Stadt, ungezählte Fahnen — meist in den schwarz-gelben Farben der alten Freien Reichsstadt — flattern ihm entgegen, und der würzige Duft herrlicher Harzestannen begleitet ihn an seinem Wege. Eine freudig bewegte, erwartungsvolle Menge durchzieht die Straßen, und lachender Sonnenschein überstrahlt das bunte Bild, das sich unseren Angell darbietet.

Schon gestern ist eine stattliche Anzahl Gäste aus allen Teilen unseres Vaterlandes, besonders aber aus unserer engeren Heimat, angekommen, um bei diesem Feste ein frohes Wiedersehen zu feiern mit der Stadt, um alte liebgewordene Erinnerungen aufzufrischen und alte Bekannte zu begrüßen. Der Auftakt am Abend, das zwanglose Zusammensein in unserer Festhalle, hat ihnen dazu die erste Gelegenheit gegeben, und frohe Gesichter zeugten von ehrlicher Wiedersehensfreude. Wie im Fluge vergingen die Stunden, und nach kurzer Ruhe grüßten uns heute am Festesmorgen Choräle vom altehrwürdigen Petrikirchturm und mahnten uns zugleich an die ernste Bedeutung des heutigen Tages. Dann ertönte der eherne Klang der erst vor welligen Wochen geweihten netten Kirchenglocken, der uns die Erinnerung zurückrief an die schweren Zeiten, wo ihre Vorgänger zur Abwehr gegen unsere Feinde auf dem Altar des Vaterlandes geopfert wurden, und an die vielen Stunden tiefer Trauer, die das gewaltige Völkerringen auch in unsere Stadt brachte, da mehr als 1000 Söhne Nordhausens ihr Leben für das geliebte Vaterland lassen mußten. Beim Festgottesdienste in unserer alten Marktkirche haben wir ihrer in tiefer Dankbarkeit gedacht, haben Gott gedankt, daß er uns durch das Dunkel der vergangenen, schweren Jahre hindurch bis zu dieser Stunde geleitet hat und den Segen von ihm erfleht für die Zukunft unserer geliebten Stadt.

Und nun ist der Höhepunkt der Feier gekommen. Eine festlich gekleidete und festlich gestimmte Menge erfüllt diesen Saal, der sonst der Muse geweiht ist, und ist Zeuge eines denkwürdigen geschichtlichen Augenblicks. Im Namen unserer Stadt entbiete ich Ihnen allen, m. D. u. H., einen herzlichen Willkommensgruß. Insbesondere begrüße ich die Herren Vertreter der Reichs- und Staatsregierung, an der Spitze Herrn Staatsminister Dr. Schreiber, den Präsidenten des Deutschen und des Preußischen Städtetages, Herrn Dr. Mulert, den obersten Beamten unserer Provinzialverwaltung, Herrn Landeshauptmann Dr. Hübener, sowie den Prorektor der Universität Halle-Wittenberg, Herrn Prof. Dr. Fleischmann, ferner die zahlreichen Vertreter von Reichs-, Staats- und Kommunalbehörden, von Industrie, Handel und Handwerk, die Geistlichkeit aller Konfessionen, die vielen Personen, die — durch Abstammung oder Freundschaftsbande mit Nordhausen verbunden — zu uns gekommen sind, und endlich die zahlreichen Vertreter der Presse. Es ist eine große Freude für uns, zu sehen, welches Interesse unsere Jubelfeier in weiten Kreisen unseres Vaterlandes gefunden hat, und wir danken Ihnen Allen herzlich dafür. Besonders dankbar aber würden wir es empfinden, wenn Sie eine freundliche Erinnerung an die in Nordhausen verlebten Stunden mitnehmen und unserer Stadt ein gutes Andenken bewahren würden!

Mein Gruß gilt weiterhin auch allen denen, die außerhalb dieses Saales, sei es in unserer Stadt — vor dem altehrwürdigen Rathause oder im prächtigen Gehege — sei es sonst irgendwo in unserem Vaterlands — an dieser Feier teilnehmen. Ihnen allen, m. D. u. H., mögen Sie Nordhäuser Bürger sein oder Fremde, Ihnen Allen rufe ich im Namen unserer 1000 jährigen Stadt einen aus dem Herzen kommenden Gruß zu und danke Ihnen für Ihre freundliche Anteilnahme an unserem Jubelfeste. Möchten auch Sie, die Sie nicht, wie wir hier im Festsaale, unmittelbare Zeugen dieses feierlichen Aktes sein können, dennoch von dem Geiste dieser Stunde erfüllt werden und mit uns zusammen die Bedeutung dieser Feier empfinden!

So ist es eine große, nach vielen, vielen Tausenden zählende Gemeinde, die in dieser Stunde an das tausendjährige Nordhausen denkt, an seine tausendjährige Geschichte uud seine tausendjährige Kultur, an seine tausendjährige, in Ehren durchlebte Vergangenheit. Mit Blitzesschnelle durcheilen unsere Gedanken diesen gewaltigen Zeitraum, und was tausend Jahre zu seinem Werden bedurfte, zieht heute in ebensoviel Sekunden an uns vorüber. Die Erinnerung an Nordhausens 1000 jährige Vergangenheit und Gegenwart vereinen sich dadurch für uns zu einem einheitlichen Bilde. In diesem Bilde aber sehen wir Nordhausen vor uns als eine alte 1000 jährige und doch wieder jugendfrische Stadt, als eine Stadt, die äußerlich noch sichtbar die Spuren hohen Alters trägt, aber doch die Einwirkungen der neuen Zeit nicht verleugnen kann, als eine Stadt, deren inneres Wesen noch deutlich durch früheres Geschehen beeinflußt ist, sich aber doch den Bedürfnissen und Erfordernissen von heute in hohem Maße angepaßt hat, als eine Stadt, die ihre Bedeutung, die sie sich errungen hat, ihrer Vergangenheit verdankt!

Das ist Vergangenheit und Gegenwart! Und was wird in der Zukunft sein? Wir wissen nicht, was sie uns bringen wird — und das ist gut so —, wir können nur wünschen und hoffen. Aber damit allein ist es nicht getan; wir müssen vielmehr selbst dabei mithelfen. Und das können wir, wenn wir über alles Trennende, das uns täglich und stündlich auseinanderreißt, hinweg uns die Hand reichen und uns zusammenschließen in dem einen Willen, gemeinsam und brüderlich, als Menschen des gleichen Stammes und der gleichen Heimat, zum Wohle der Allgemeinheit, in Freud und Leid, in der Arbeit und im Erfolge, fest zusammenstehen und an der inneren Erstarkung unseres Gemeinwesens mitzuarbeiten und mitzuschaffen. Deshalb wollen wir Alle, die wir Bürger dieser Stadt sind, heute feierlich geloben, unser Bestes hinzugeben, um unsere Vaterstadt weiter vorwärts und aufwärts zu führen. Mag auch der Weg manchmal steinig, der Pfad dornenvoll sein, wir wissen es heute noch nicht, aber wir wollen ihn gehen, unentwegt und voll Zuversicht in dem Glauben an unsere Kraft und an Nordhausens Zukunft.

Damit wollen wir aber auch zugleich auch unserem Vaterlande dienen. So wie Nordhausen in den vergangenen Jahrhunderten alle Zeit, im Glück und im Unglück, treu zum Reiche gestanden hat, so soll es auch weiterhin bleiben. Nennen wir uns auch heute, bei unserer Jubelfeier mit Stolz Nordhäuser Bürger, so wollen wir doch darüber niemals vergessen, daß wir Deutsche sind, und das uns mit allen unseren Brüdern und Schwestern in unserem Vaterlande ein gemeinsames Band umschlingt, das Band heiliger und treuer Vaterlandsliebe. Wir Alle, die wir uns Deutsche nennen dürfen, wollen deshalb in dieser Stunde zuerst gemeinsam unseres Vaterlandes gedenken und wollen geloben, unsere ganze Kraft einzusetzen, ein jeder von uns nach seinem Können und an seinem Patze, um unser Deutschland einer glücklichen und sonnigen Zukunft entgegen zu führen!

Deutschland, unser geliebtes Vaterland, hoch, hoch, hoch!