Auswanderer aus Nordhausen in die USA

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Deutschsprachige Bevölkerung in den USA, 1872

Die Stadt Nordhausen erlebte im Laufe des 19. Jahrhunderts mehrere Auswanderungswellen in die Vereinigten Staaten von Amerika. Diese Bewegung war Teil einer umfassenderen Emigration aus Deutschland, die durch ein Zusammenspiel wirtschaftlicher, politischer und persönlicher Faktoren angetrieben wurde.

Zwischen 1844 und 1870 wanderten 276 Nordhäuser in die USA aus.

Frühe Auswanderung

Die erste dokumentierte Auswanderung aus Nordhausen in die USA fand im Jahr 1829 statt. Der Bäckermeister August Eiteljörge gilt als Pionier dieser Bewegung. Seine Geschichte ist beispielhaft für viele spätere Auswanderer: Nachdem er alle seine bürgerlichen Pflichten erfüllt und sein Haus in der Kranichstraße für 5.000 Reichstaler in Gold verkauft hatte, erhielt er am 27. Juni 1829 die offizielle Erlaubnis zur Auswanderung, den sogenannten "Auswanderungs-Konsens". Für dieses Dokument musste Eiteljörge eine Gebühr von einem Taler und 28 Silbergroschen entrichten - eine nicht unerhebliche Summe zu jener Zeit.

Einige Wochen später verließen August Eiteljörge, seine Frau Caroline geborene Quelle und die mitreisende Christiane Köhler Nordhausen in Richtung Amerika. Ihre Reise markierte den Beginn einer Bewegung, die in den folgenden Jahrzehnten Hunderte von Nordhäusern über den Atlantik führen sollte.

Gründe für die Auswanderung

Die Motive für die Auswanderung aus Nordhausen waren vielfältig und oft miteinander verwoben:

Wirtschaftliche Gründe

Ökonomische Schwierigkeiten spielten eine herausragende Rolle. Viele Handwerker und Arbeiter sahen sich mit Arbeitslosigkeit und fehlenden Zukunftsperspektiven konfrontiert. Die Industrialisierung begann die traditionelle Handwerksstruktur zu verändern, und nicht alle konnten mit diesem Wandel Schritt halten.

Ein anschauliches Beispiel liefert der Tischlergeselle Friedrich Ude. In seinem Auswanderungsantrag schrieb er:

„Einem Wohllöblichen Magistrate ist es bekannt, wie schwer es jetzt hält, in Deutschland ein sicheres Unterkommen zu finden und daß namentlich es an Arbeitern in meinem Metier nicht fehlt, und daher die Bedingungen, welche von den Meistern gestellt werden, für die Gesellen sehr hart sind und ein eigenes Etablissement mit zu viel Gefahr und Schwierigkeiten verbunden ist, als daß man es wagen könnte, ein solches zu begründen.“[1]

Politische Gründe

Politische Motive waren ebenfalls von großer Bedeutung. Die repressiven Maßnahmen nach den Karlsbader Beschlüssen von 1819 und die Unterdrückung freiheitlicher Bestrebungen trieben einige politisch engagierte Bürger ins Exil. Das "Regime Metternich", benannt nach dem österreichischen Staatskanzler, stand für eine Politik der Restauration und Repression, die viele freiheitsliebende Deutsche als erstickend empfanden.

Die gescheiterte Revolution von 1848/49 führte zu einer verstärkten Auswanderungswelle. Viele politisch Engagierte, die als "Forty-Eighters" bekannt wurden, verließen Deutschland, um der Verfolgung zu entgehen und ihre Ideale in der Neuen Welt zu verwirklichen.

Persönliche Gründe

Neben wirtschaftlichen und politischen Motiven gab es auch persönliche Gründe für die Auswanderung. Einige Menschen suchten einfach nach Abenteuern oder der Möglichkeit eines Neuanfangs. Andere folgten Familienmitgliedern oder Freunden, die bereits ausgewandert waren.

Der Auswanderungsprozess

Der Weg nach Amerika war für die Nordhäuser Auswanderer oft lang und beschwerlich. Bevor sie die Reise antreten konnten, mussten sie verschiedene bürokratische Hürden überwinden:

  1. Auswanderungs-Konsens: Die Auswanderer mussten bei der Regierung einen "Auswanderungs-Konsens" beantragen. Dieser wurde nur erteilt, wenn der Antragsteller nachweisen konnte, dass er allen Untertanenpflichten nachgekommen war, insbesondere der Militärdienstpflicht, und alle Steuern und Abgaben bezahlt hatte.
  2. Nachweis der Reisemittel: Vor der Ausstellung des Reisepasses mussten die Auswanderer den Besitz ausreichender Geldmittel nachweisen, um zumindest die Überfahrt bezahlen zu können.
  3. Erklärung: Zum Schluss mussten die Auswanderer eine Erklärung unterschreiben, dass sie im Falle einer mittellosen Rückkehr damit einverstanden wären, an der Grenze des Preußischen Staates zurückgewiesen und als fremde Landstreicher behandelt zu werden.

Die Reise selbst war oft gefährlich. Ein Beispiel dafür ist das Schicksal der Familie Rosenthal. Der 66-jährige Bäcker Erich August Rosenthal, sein Sohn August und dessen frisch angetraute Ehefrau Johanna Ida John verließen Nordhausen am 22. März 1834. Ihr Schiff, der amerikanische Zweimaster „Shenandoah“, erlitt kurz nach der Abfahrt Schiffbruch. Von den 192 Auswanderern an Bord konnten nur 161 gerettet werden. Der alte Bäckermeister Rosenthal gehörte zu den Opfern und wurde in Bremerhaven begraben. Sein Sohn und dessen Frau setzten die Reise mit einem anderen Schiff fort.

Auswanderungswellen und Statistiken

Die Auswanderung aus Nordhausen nahm in den 1830er Jahren an Fahrt auf und setzte sich in Wellen fort. Genauere Zahlen liegen ab 1844 vor[2]:

  • 1844-1845: 10 Personen mit einem Gesamtvermögen von 1.660 Reichstalern
  • 1845-1846: 18 Personen mit 1.100 Reichstalern
  • 1846-1847: 14 Personen mit 3.600 Reichstalern
  • 1847-1848: 5 Männer, darunter Ferdinand August Friedrich Rosenthal und seine Ehefrau Caroline, die allein 6.000 Reichstaler mitführten

In den folgenden Jahren schwankte die Zahl der Auswanderer:

  • 1851-1852 und 1852-1853: jeweils 3 Personen
  • 1853-1854: 16 Personen (mit nur 400 Reichstalern Gesamtvermögen)
  • 1854: 13 Personen mit 2.500 Reichstalern
  • 1855: 14 Personen mit 4.200 Reichstalern

Die Revolution von 1848/49 führte zu einem deutlichen Anstieg der Auswandererzahlen. In den Jahren 1860 und 1868 verließen jeweils 25 Personen die Stadt in Richtung Nordamerika.

Insgesamt wanderten nach amtlichen Angaben von 1844 bis 1870 276 Personen aus Nordhausen in die USA aus. Diese Zahl mag auf den ersten Blick nicht besonders hoch erscheinen, doch für eine Stadt von der Größe Nordhausens stellte sie einen bedeutenden Bevölkerungsverlust dar.

Bedeutende Auswanderer

Unter den Auswanderern aus Nordhausen befanden sich einige bemerkenswerte Persönlichkeiten, deren Geschichten exemplarisch für die Erfahrungen vieler deutscher Einwanderer in Amerika stehen, wie die Familie Hoffbauer:

Integration und Leben in den USA

Die Auswanderer aus Nordhausen ließen sich in verschiedenen Teilen der USA nieder. Beliebte Ziele waren Städte wie St. Louis, Cincinnati und Milwaukee sowie ländliche Gebiete in Wisconsin und Iowa. Viele fanden Arbeit in ihren erlernten Berufen oder gründeten eigene Unternehmen.

In St. Louis beispielsweise wuchs die deutsche Gemeinde rapide. 1833 gab es dort nur eine kleine deutsche Gemeinschaft, doch bereits 1840 waren von den 5.000 Einwohnern 1.515 deutscher Herkunft. 1850 machten Deutsche sogar ein Drittel der Gesamtbevölkerung von St. Louis aus.

Die deutschen Einwanderer, darunter auch die aus Nordhausen, trugen wesentlich zur Entwicklung ihrer neuen Heimat bei. Sie gründeten Vereine wie den von Hugo Hoffbauer mitbegründeten Buffalo Turnverein und pflegten teilweise ihre deutschen Traditionen. Die Turnvereine spielten eine wichtige Rolle bei der Bewahrung deutscher Kultur und der Integration in die amerikanische Gesellschaft.

Gleichzeitig integrierten sich die Einwanderer in die amerikanische Gesellschaft und nahmen aktiv am politischen und wirtschaftlichen Leben teil. Viele, wie Wilhelm Hoffbauer, schlossen sich der Republikanischen Partei an, die damals als progressiv galt und sich gegen die Sklaverei aussprach.

Verbindungen zur alten Heimat

Trotz der großen Entfernung und der Schwierigkeiten der Kommunikation im 19. Jahrhundert versuchten viele Auswanderer, den Kontakt zu ihrer Heimatstadt Nordhausen aufrechtzuerhalten. Briefe waren das Hauptmittel der Kommunikation und boten oft einen lebendigen Einblick in das Leben der Auswanderer in der Neuen Welt.

Ein bemerkenswertes Beispiel für die anhaltende Verbindung zur Heimat ist die Geschichte der Familie Rosenthal. Nachkommen von Ferdinand August Friedrich Rosenthal und seiner Ehefrau Caroline, die 1847/1848 nach Milwaukee ausgewandert waren, besuchten in den 1990er-Jahren Nordhausen und das Stadtarchiv.

Besondere Geschichten und Schicksale

Die Auswanderung aus Nordhausen brachte viele interessante und teilweise dramatische Geschichten hervor:

Der junge Liebmann Plaut

Eine interessante Randnotiz in den Auswanderungsakten betrifft den 16-jährigen Liebmann Plaut, der 1856 auswanderte. Seinem Namen war die Bemerkung hinzugefügt: „nach Amerika, wo er sich bereits mehrere Jahre befand“. Dies deutet darauf hin, dass einige junge Menschen möglicherweise schon vor ihrer offiziellen Auswanderung in Amerika waren, vielleicht um die Bedingungen zu erkunden oder bei Verwandten zu leben, bevor sie sich endgültig für die Auswanderung entschieden.

Der Tanzlehrer Stephany

1858 wanderte der bekannte Tanzlehrer Stephany mit seiner Ehefrau und fünf Kindern aus. Diese Notiz gibt einen Einblick in die Vielfalt der Berufe und sozialen Schichten, die unter den Auswanderern vertreten waren. Es zeigt auch, dass nicht nur Handwerker und Arbeiter auswanderten, sondern auch Personen aus dem Dienstleistungssektor und der Kulturbranche.

Die Geschichte von Amalie Pressel und dem Gymnasiasten Brachmann

Eine besonders interessante Geschichte verbirgt sich hinter den Auswanderungsakten von 1858. Der 17-jährige Gymnasiast Brachmann wanderte legal mit Entlassungsurkunde aus. Zusammen mit ihm ging, allerdings ohne Entlassungsschein, die 24-jährige „unverehelichte“ Amalie Pressel, Tochter des Schuhmachers Ferdinand Pressel. Beide verließen Nordhausen am 2. Oktober 1858 mit dem Ziel Cincinnati.

Auswirkungen auf Nordhausen

Die Auswanderung hatte spürbare Auswirkungen auf die Heimatstadt der Emigranten. Der Verlust von 276 Personen zwischen 1844 und 1870 mag auf den ersten Blick nicht dramatisch erscheinen, war aber für eine Stadt von der Größe Nordhausens durchaus bedeutsam.

Siehe auch

Literatur

Einzelnachweise

  1. Peter Kuhlbrodt: „Lebe wohl, Heimat! Amerika ruft…“. In: Nordhäuser Nachrichten. Südharzer Heimatblätter (1/2019). S. 24.
  2. Peter Kuhlbrodt: „Lebe wohl, Heimat! Amerika ruft…“. In: Nordhäuser Nachrichten. Südharzer Heimatblätter (1/2019). S. 25.