Friedrich August Wolf (1759–1824)
Friedrich August Wolf
(1759–1824).
Von D. Dr. Hermann Stoeckius.
Bei dem Gedanken an die Ursprünge und die Ausbreitung dieser neuen Denkweise deute ich nur einige Namen an: Winckelmann zeigte seinen Zeitgenossen, daß die griechische Kunst nur aus dem Geiste des griechischen Volkes geboren sein kann; Lessing stellte dem französischen Klassizismus die Genialität eines Shakespeares gegenüber; Kant gab der natürlichen Theologie den Todesstoß; Herder lehrte die Religion und Dichtung aller Völker als Offenbarungen des ewigen und göttlichen All-Einen erkennen und verehren; und Goethe zeigte, in Sturm und Drang reifend, daß Dichtung und Schönheit, wie Liebreiz und Jugend, ein Geschenk der Götter sind. Die gewaltigen Gegensätze zwischen beiden Zeitaltern offenbart auch die Umstimmung in der praktischen Schätzung der Dinge: während die Aufklärung den Wert der Dinge an ihrem Nutzen (Wohlfahrt und Glückseligkeit) maß, sah das Zeitalter Herders und Goethes das an sich selbst Wertvolle als das Höchste an. Der Wert des Lebens liegt in dem freien Spiel der Muße: die Arbeit ist mit Aristoteles um der Muße wiHen oder anders gewendet: die freie Betätigung geistiger Kräfte auf allen geistigen Gebieten ist der an sich wertvolle und darum allein höchste Inhalt des Lebens — das höchste Gut und das allein Nützliche ist die Bildung (Fr. Schlegel). Bildung — dieses neue Wort ist die Bezeichnung für das neue Lebensideal. Rousseau hat als erster der Sehnsucht der Zeit nach einem neuen Lebensideal leidenschaftlichsten Ausdruck gegeben: sein neues Evangelium war der Glaube an die Natur, an die Natur im Menschen. Natur und Wahrheit sind die ersten Bedingungen alles menschlichen Wertes. Daher lautet das neue Ideal der Erziehung: naturgemäße Entwicklung der natürlichen Anlage: seid Menschen und wagt es, euere Kinder zu Menschen, schlechthin zu Menschen zu erziehen! Denn Bildung kann nur durch Entwicklung der Anlagen von innen heraus entstehen. Von Rousseaus, des Enthusiasten, nicht des Schwärmers hohen Gedanken ist dann in erster Linie Kant beeinflußt; diesem radikalen Moralisten und damit zugleich diesem radikalen Kritiker der Kultur und Bildung seiner Zeit verdankte er vor allem eine neue Wertung des Erkennens: Wissenschaft und Spekulation sind nicht von unbedingtem Werte, sie sind nicht absoluter Selbstzweck, sondern ein Mittel zu einem höheren Zweck: der moralischen Bestimmung der Menschheit zu dienen. Daher ist auch der gute Wille das einzige, was absoluten Wert hat. Und Goethe und Schiller sahen in der vollendeten Entwicklung aller menschlich-geistigen Anlagen das allein absolut Wertvolle: die „schöne Seele“ bedeutet die vollkommene Wesensgestaltung des Menschen. Diese Anschauung steht aber mit der griechischen Auffassung in innnigstem Zusammenhänge, denn Schön- und Gutheit (Kalo- kagadia) bedeutet für den Griechen die vollendete Wesensgestaltung und zugleich das höchste Gut. Und der Mann, der als freies Selbst der Welt gegenübersteht und das ihm innewohnende Bild der Vollkommenheit im Leben und Wesen ausprägt, ist der wahre Mensch. Und dieses wahre Menschentum zeigen uns die großen Gestalten des griechischen Volkes, Staatsmänner wie Perikies, Dichter wie Sophokles, Philosophen wie Plato — hochgebildete und doch ganze, natürliche Menschen! Daher bedeutet Bildung zur Humanität die Bildung nach dem Vorbilde des Griechentums. Bildung zur Humanität — diesen neuen Ausdruck für das neue Erziehungsideal hat Herder geprägt. Und er sah im Gegensätze zur Aufklärung in einem Volke ein individuelles organisches Wesen, in dem eben alle geistigen Erscheinungen durchaus national individualisiert waren. „Wäre Deutschland“, so ruft er in seinem genialen Erstlingswerk (Fragmente über die neuere deutsche Litteratur 1767), „bloß von der Hand der Zeit an dem Faden seiner eigenen Kultur fortgeleitet: unstreitig wäre unsere Denkart arm, eingeschränkt; aber unserem Boden treu, ein Urbild ihrer selbst, nicht so mißgestaltet und zerschlagen.“ Aber nur dem Einflüsse der griechischen Kultur auf unser Dasein kann er freudig beistimmen. Denn nach seiner Anschauung sind die Griechen die der Natur einmal gelungene vollkommene Darstellung der Gattung. Aus den Werken der Griechen spricht der Dämon der Menschheit rein und verständlich zu uns. Darum aber sollen wir die Werke der Griechen doch nicht etwa nachahmen, vielmehr sollen sie uns die Augen öffnen für die Aufklärung der Natur des Menschen, der Idee der Humanität. Pallas nahm dem Diomedes die Wolke vom Auge hinweg, daß er einen Gott und einen Sterblichen unterscheiden konnte; diese Wohltat gewährt uns das Studium der griechischen Kunst: wir erfüllen unsere Seele durch den Anblick ihrer Bilder mit dem Ideal des Menschen und durch Lesung der Schriften der Griechen pflanzen wir diesen zarten Keim der Humanität in uns, in das Herz unserer Jünglinge (vgl. Herders Briefe zur Beförderung und Humanität 1793). Infolgedessen hat die historisch-philologische Beschäftigung mit den Griechen die Erkenntnis dieses einzigartigen Volkes in allen seinen Lebensäußerungen zu vermitteln: das Studium des Griechentums wird zum Gegenstand eines religiösen Kultus (naturalistisch-diesseitige Auffassung), also im Gegensätze zum Christentum, dessen Wesen ja supranaturalistischer und transzendenter Art ist. Denn „mit heiligem Ernst“, sagt der Generalsuperintendent von Weimar, „treten wir zum Olymp hinauf und sehen Götterformen im Menschengebilde. Die Griechen heben im Gegensatz zu anderen Nationen das Göttliche im Menschen zum Gott empor.“ Diese geistige Welt ist in den nächsten beiden Menschenaltern für die gelehrten Schulen und Universitäten Deutschlands von höchster Bedeutung geworden: Bildung zur Humanität oder Bildung schlechthin ward das Losungswort. Rousseaus Naturevangelium wurde durch das Evangelium der Bildung verdrängt und seine glänzendsten Verkündiger außer Herder, Goethe und Schiller waren: Wilhelm von Humboldt und Friedrich August Wolf. Sie alle verband die Liebe zum Menschheitsideal, das ihnen in der Griechenwelt sich offenbarte. Von diesen deutschen Neuhellenen kann W. von Humboldt ein wahrhaft griechischer Geist genannt werden. Denn er besaß nach Friedrich Paulsen durch ein glückliches Naturell, was die griechische Ethik als die vollendetste Charakterbildung beschreibt: eine theoretische, unbedürftige Seele, deren ruhige Heiterkeit durch Affekte nicht gestört wurde; mit feinster Empfänglichkeit für sinnlich-intellektuelles Genießen ausgestattet, lebte er mit ganzer Hingebung und Zuversicht, wie nur je ein Grieche, in der diesseitigen Welt, das Transzendente war für ihn nicht vorhanden. Es war ihm beschieden, sein Leben ganz dem inneren Triebe gemäß zu gestalten: in völliger Unabhängigkeit lebte er, wie ein Grieche, nur sich selber und dem Staate, frei dienend, nicht Sklave des Amts. Es ist ja bekannt, daß er sich in die Stille zurückzog, um ein ganzes Jahrzehnt dem Studium der Griechen zu widmen. Die letzte Absicht dieser Studien hat er seinem Freunde Friedrich August Wolf ausgesprochen: die Kenntnis des Menschen suche er durch dieses Studium zu erlangen, denn bei jenen Schriftstellern sei der Mensch aus lauter zugleich einfachen und großen und auch schönen Zügen zusammengesetzt; ja kein anderes Volk als das Griechische habe soviel Einfachheit und Natur mit soviel Kultur verbunden. Humboldt will also nicht die Menschen, sondern den Menschen kennen lernen, und eben in den Griechen ist ihm die Idee des Menschen realisiert. Daher führt der vollkommenste Weg zur Selbsterkenntnis und Selbstbildung einzig und allein durch das Tor, über dein in goldenen Lettern steht: die vollkommene Erkenntnis des Griechentums. Aus dieser Gesamtanschauung erklärt sich denn auch die Wendung zum Historisch-Philologischen und damit zugleich der Wert der Kenntnis des Griechischen und Lateinischen für den Jugendunterricht. Die Ideeen und Empfindungen des neuen Humanismus hat aber der heros eponymos Friedrich August Wolf in die gebildeten Kreise getragen und damit in ihnen den bedeutendsten und tiefgehendsten Einfluß ausgeübt: die Neugestaltung des Gelehrtenschulwesens in Preußen ist sein ureigenstes Werk. — I.Friedrich August Wolf wurde am 15. Februar 1759 zu Hainrode, einem Dorfe bei der damaligen Kaiserlichen freien Reichsstadt Nordhausen, geboren. Sein Vater, dem es an geistiger Regsamkeit keineswegs gefehlt zu haben scheint, war Lehrer und Organist des Ortes und galt für einen tüchtigen Pädagogen, wie er denn im Anfänge seiner dortigen Amtsführung auch jungen Leuten, die aus der Schule nicht viel mitgebracht hatten, in den Abendstunden noch besonderen Unterricht erteilte. Auch er hatte das Nordhäuser Gymnasium mehrere Jahre besucht und den Unterricht des Konrektors (dann Rektors) Joh. Eustachius Goldhagen (seit 1753 Rektor der Domschule zu Magdeburg) genossen. Verheiratet war er mit der Tochter des Kantors und Stadtschreibers Henrici zu Neustadt (Hohenstein). Die gleiche Naturanlage, cholerischen Temperaments, doch gutherzig und weichmütig scheint auch seinem Sohne Friedrich August eigen gewesen zu sein. Wolfs Mutter besaß ein frommes Gemüt; sie hielt das kleine Hauswesen in guter Ordnung und wollte von Armut nichts wissen. Ihrer gesunden Grundsätze erinnerte sich der große Sohn noch oft und gern, wie er denn überhaupt von seiner Mutter stets mit der zärtlichsten Liebe sprach. Ihr besonders verdanke er sein geistiges Leben, und daß er von Jugend auf das Höhere im Auge behalten; überall und immer habe sie den Ehrtrieb des Knaben anzuregen gewußt und ihn einst innig geherzt, als er auf ihre Frage, was er denn werden wolle, ganz ernst geantwortet habe: „ein Superdent.“ Wolf ist ein frühreifes Kind gewesen. Daher kann es nicht wundernehmen, daß sein Vater, der, den pädagogischen Strömungen seiner Zeit folgend, eine eigene Methode für die Behandlung der lateinischen Sprache als einer zweiten Muttersprache sich aussann, ihm bereits nach Vollendung seines zweiten Lebensjahres eine große Anzahl lateinischer Vokabeln beigebracht hat, ja Wolf selbst meint, er habe für ihre Bildung und Zusammensetzung bereits ein dunkles grammatisches Gefühl gehabt. Mit fünf Jahren sagte er in der Heimatkirche zur Feier des Hubertsburger Friedens nach der Predigt ein vom Vater abgefaßtes Festgedicht auf und schon im sechsten Jahre las er an Stelle seines Vaters Predigten in der Kirche wiederholt vor zur nicht geringen Erbauung der andächtigen Zuhörer. Vier Jahre alt empfing er von seinem Vater regelmäßigen Unterricht. Vielleicht ist auch der Hainröder Pfarrer Nagel auf seine Bildung nicht ohne Einfluß gewesen. Das Lehrverfahren seines Vaters war gut: strenge Gewöhnung an deutliche Aussprache und genaue Ausdrucksweise, viel Uebung im lauten Lesen und Denken, viel Kopfrechnen und Auswendiglernen. Er pflegte dabei gern auf seinen eigenen Lehrer Goldhagen hinzuweisen und dem Sohne öfters vorzustellen, wieviel Dankbarkeit er diesem Manne schulde, da er ganz nach dessen Grundsätzen unterrichtet werde. Am 2. März 1767 wurde sein Vater zweiter Mädchenschullehrer in Nordhausen, wo er in der Sackgasse (jetzt: Wolfstr. 7, wo der „Wissenschaftliche Verein“ zu Nordhausen dem hochberühmten Sohne eine Ehrentafel errichtet hat) Wohnung fand, und im Jahre 1773 zugleich Organist zu St. Jacobi in der Neustadt. Friedrich August wurde vom Rektor des Gymnasiums Joh. Andreas Fabricius Ostern 17G7 der Tertia zugewiesen; zu Michaelis 1768 kam er vermutlich in die Sekunda und mit 11& Jahren in die Prima. Als Religionslehrer im Gymnasium hatte er den Pastor primarius S. Nicolai E. Ch. Ostermann und den Pastor S. Blasii Joh. Phil. Lesser. Den Pfarrunterricht erteilte und die Konfirmation vollzog der Diakonus S. Blasii Jakob Zober. Unter Joh. Jordan Frankenstein (seit 1770) war Wolf auch Chorschüler. Gymnasium und Prima standen seit 1769 unter der trefflichen Leitung Hakes, dessen Vater in Nordhausen Gildemeister der Schneider und dessen älterer Bruder Oswald ebenda Pastor primarius S. Nicolai war. Leider starb dieser ausgezeichnete Schulmann bereits am 8. Februar 1771. Von allen seinen Lehrern scheinen nur Hake und Frankenstein einen bedeutsamen Einfluß auf den jungen Wolf ausgeübt zu haben. An Joh. Konrad Hake hat er einen Lehrer gehabt, „dessen Talenten und Methoden in Sprachen“, wie er selbst bekennt, „ich meine frühere Bildung vorzüglich verdanke, einen Mann, den wenige außer seiner Geburtsstadt Nordhausen kennen mögen. Sein Andenken ist mir noch immer ehrwürdig, und ich habe ihn oft mit innigem Vergnügen in den Zirkeln derer erwähnt, die in seiner Nähe wohnten.“ Von diesem seinen Lehrer, selbst Autodidakt, bekam auch Wolf die Ueberzeugung, daß man bei angestrengtem Fleiße das meiste ohne Lehrer für sich allein aus Büchern lernen könne, eine Ueberzeugung, die für ihn umso wichtiger wurde, je mehr er durch die Beschaffenheit des späteren Schulunterrichts auf Selbstbildung sich angewiesen sah. Schon damals wird er in seinem Innern das stolze Wrort des griechischen Dichters getragen haben, das er später seinem „Lehrer“ Heyne zugerufen hat: „Ich werde nur meinen eigenen Weg wandeln.“ In welchem Geiste er aber den Weg seiner eigenen Bildung schaute, das hat er selbst unvergleichlich schön inbezug auf Winckelmann ausgesprochen: Seelen, die eine höhere Weihe mit ins Leben brächten, bedürften, nach Platons Ausspruche, gleich dem Golde der athenischen Burg, bloß sorgsame Aufbewahrung, die dem Erziehungskünstler, der selbst dem Göttlichen seinen gemeinnützigen Stempel aufzwinge, nicht ohne Gefahr anvertraut werde, lieber die Entwicklung der Grundzüge in seinem Charakter äußerte sich Wolf wiederholt: „Im dreizehnten Jahre war ich als Mensch ziemlich fertig, d. i. die charakteristischen Züge waren alle da fürs ganze Leben; der Knabe war offenbar der Mann im kleinen!“ Allein die Kontinuität der ursprünglichen Entwicklung wurde jäh unterbrochen: aus dem Wunderkind von Fleiß und Ernst wurde einer der wildesten Jungen seines Alters. Dem genialen Wildfang wußte indes Kantor Frankenstein (* 1732 zu Nordhausen; Besuch des Gymnasiums; 1754—56 Student in Jena; Lehrer und Aedituus im Altendorfe; seit 1746 als Quintus am Gymnasium; 1770 Kantor, später den Titel Musikdirektor; † 26. Mai 1785) ein lebendiges Interesse für die Erlernung der neueren Sprachen einzuflößen. Der Junggeselle Frankenstein muß ein originales Kraftgenie gewesen sein; ein Mensch, der Witz und Spott nur zu sehr liebte. Wolf selbst nennt ihn noch 1816 in einem Gespräche mit seinem einstigen Kommilitonen auf Gymnasium und Universität Konrad Gottlieb Rosenthal (* zu Nordhausen am 3. Februar 1758; 1784 Pastor zu Rehungen, dann zu Klein-Furra; † um 1835) einen „ungeschliffenen Edelstein.“ Wolf nahm zunächst das Französische wieder auf und fing zugleich das Italienische an, an das sich das Spanische und Englische anschloß. Diesen Studien widmete er sich so ausschließlich, daß er selbst erzählt: Jis mensibus, quibus primum ad italicam et anglicam linguam me applicui, nullum librum graecum et ne latinum quidem in manum sumebam. Ja seit Hakes Tod versäumte er monatelang willkürlich die Schule und hat sie in den letzten Jahren fast gar nicht mehr besucht. Freilich angesichts seines großen häuslichen Fleißes hatten selbst seine Eltern nichts dagegen, und Wolf, der die Unzulänglichkeit des Unterrichts am eigenen Leibe erfahren hatte, beschloß damals, ganz sein eigener Lehrer unter Entwerfung eines umfassenden Planes der Selbstbildung zu werden. An litterarischen Hilfsmitteln bot allerdings die Gymnasialbibliothek wenig, wohl aber öffneten die Bibliotheken einiger wissenschaftlich gebildeter Männer in der Stadt, namentlich der beiden Pastoren Ostermann und Lesser wie des praktischen Arztes Dr. Pezolt ihre Schätze. Die reichste Unterstützung aber fand er durch E. G. II. Leopold in Ilfeld, nicht hur durch gute Ratschläge, sondern auch durch Entleihung' von Büchern teils aus seiner eigenen Bibliothek, teils aus der der Klosterschule. Ja er trieb förmlich bibliologische Studien und konnte daher später rühmen, daß er durch seltsame Fügung die besten Bücher und in der vernünftigsten Folge zum Gebrauch und Studium erhalten habe. Auch das Lesen wissenschaftlicher Zeitschriften unterließ er nicht. Später hat er mit Schaudern daran gedacht, wie er von seinem 14. bis 18. Lebensjahre seine Studien mit heißem Bemühen in einem meist ungeheizten Zimmer Nächte hindurch die Füße in kaltem Wasser und die Augen abwechselnd verbunden getrieben habe. Auch die Anfangsgründe im Hebräischen hat er bei einem Juden in Nordhausen erlernt, sodaß er sich eine Art vergleichender Grammatik anlegen konnte. Schon damals begann er seiner Finanzen wegen Privatunterricht zu erteilen, der infolge der üblen Schulverhältnisse sehr begehrt wurde. Auf die Vorbereitung dazu verwandte er reichlichste Mühe, sodaß er von sich wirklich rühmen konnte, daß er in seinem 15. bis 22. Jahre durch Lehren sehr viel gelernt habe. Daneben versäumte er keineswegs die Musik und begann bei Ohr. Gottlieb Schroeter, dem Erfinder des Pianoforte und Organisten zu S. Nicolai, den Generalbaß zu studieren; dabei ergriff er mit besonderem Eifer, was Schroeter über die griechische Musik einfließen ließ. Um dieselbe Zeit sollte er auch, besonders auf den Wunsch seiner Mutter, das Tanzen erlernen. Ueber den Zirkel dieser Tanzstunde führte eine junge Kaufmannswitwe eine Art Aufsicht, von deren Reizen und feinen Geistesbildung der jugendliche Wolf bald ernsthaft gefesselt ward. Dieses zarte Liebesverhältnis übte auf seine ästhetische Ausbildung und besonders auf seinen deutschen Stil wohltätige Wirkungen aus; denn zwischen beiden wurde ein reger Briefwechsel in deutscher und französischer Sprache geführt. Klopstocks Dichtungen, namentlich seine Oden trug ihm die Dame seines Herzens vor oder sang sie ihm nach Glucks Kompositionen zum Klavier. Diese innige Geistes- und Herzensgemeinschaft fand indes durch den frühen Tod der reichbegabten jungen Frau in dem Augenblicke ein jähes Ende, wo Wolf im Begriff war, vom Gymnasium zur Universität überzusiedeln. Nach seiner Entlassung um die Weihnachtszeit 177G erklärte er schon bei einem vorläufigen Besuche im März 1777 dem Professor Heyne an der Universität Göttingen mit aller Entschiedenheit, daß er Philologie und nur Philologie studieren wolle. Mit grämlicher Miene fragte ihn Heyne, wer ihm denn diesen törichten Rat gegeben habe, da ja die sogenannte Philologie noch gar kein selbständiges akademisches Studium sei; man müsse entweder Theologe oder Jurist sein. Trotz noch weiterer Bedenken seitens des berühmten Schulhauptes der Georgia- Augusta verharrte Wolf doch bei seinem Entschlüsse, denn ihn reize die große Geistesfreiheit, mit der gerade das Studium der Philologie betrieben werden könne, indem hier niemand wie in der Theologie um abweichender Meinungen willen verketzert, werde, und um eine der ganz wenigen Stellen dieses Lehrfaches an den Universitäten gedenke er sich später zu bewerben. Anfangs April 1777 bezog der jugendliche Studiosus, vom Rate in Nordhausen mit „guten Stipendien“ ausgestattet, die alma mater in Göttingen. Noch schlimmer als bei Heyne erging es ihm da aber bei dem Prorektor der Universität, dem berühmten Arzte Baidinger, als er von ihm verlangte, als Philologiae Studiosus eingeschrieben zu werden. Sich vor Lachen schüttelnd, meinte Seine Magnifizenz: Medicinae studiosos gebe es wohl, auch iuris und theologiae, ja selbst philosophiae. Aber ein Student der Philologie sei ihm in praxi noch nicht vorgekommen. Des Jünglings Beharrlichkeit siegte indessen über alle formalen Bedenken: Philologiae Studiosus — so lautet des jungen Friedrich August Wolf Matrikel vom 8. April 1777. Und dieses Datum bezeichnet zugleich den Geburtstag der Philologie überhaupt, denn damit wurde ihr als einem freien Studium, das seinen Zweck und seine Berechtigung in sich selbst trage, der prägnanteste und kühnste Ausdruck gegeben. So zog der „auf eignen Grund und Boden gegründete Mann“ hinaus in das Leben, dessen stürmische Wogen auch sein Lebenschifflein hart umspülen sollten. In seinen Studien blieb Wolf im allgemeinen Autodidakt: in den kostbaren Bücherschätzen der Universitätsbibliothek und in der reich ausgestatteten Privatbibliothek des Professors Lüder Kulenkamp fand sein umfassender vorwärtsstrebender Geist beste Nahrung. Der Besuch der Vorlesungen in den ersten 14 Tagen diente ihm nur zur Kenntnis der Quellen und Hülfsmittel seiner Disziplin. Aber auch außerhalb seines eigentlichen Studienfaches hörte er zahlreiche Vorlesungen, in denen ihn entweder Gelehrsamkeit oder Geist der Untersuchung anzogen. Infolge seines Interesses an der Kritik des Alten Testamentes bei Professor Michaelis wurde er mit einem Privatdozenten im orientalisch-philologischen Fache, Joh. Ohr. Wilhelm Diederichs aus Pyrmont, und einem Juristen, Heinrich Meurer aus den Nassau-Weilburgischen Landen freundschaftlich zusammengeführt. Seine Teilnahme an einem geselligen Abendzirkel brachte ihn ferner näher hervorragenden Persönlichkeiten wie Kästner, Lichtenberg und Kulenkamp. Dagegen wollte sich mit dem eigentlichen Fachvertreter, mit Professor Heyne, kein inneres Verhältnis anbahnen, ja Heyne war gerade ihm, der gleich einem Prometheus die Fackel der neuen Wissenschaft leuchtend in die Lande tragen sollte, in tiefstem Grunde abgeneigt. In seinem vierten Briefe an Heyne zieht Wolf selbst die Summe seiner Versuche, sich Heyne zu nähern: „... Genug, jene rauhe Begegnung (Ausschluß von einer Pindarvorlesung) war die vornehmste Ursache, warum ich das fernere Melden und Hören gänzlich aufgab, mich auf meine vorherige Studienart einschränkte und nicht einmal eine Stelle in dem philologischen Seminarium suchte, so ungern ich sie in ökonomischer Rücksicht entbehrte.“ Sein sich immer erweiternder Privatunterricht, in dem er Studentenn nicht nur lateinischen, griechischen und englischen Unterricht erteilte, sondern ihnen auch den Xenophon, Demosthenes und andere Schriftsteller erklärte, hatte bereits in den Professorenkreisen eine gewisse Sensation erregt, als ihm wider alles Erwarten ohne akademischen Grad, ohne Examen, ja ohne Mitglied des philologischen Seminars gewesen zu sein, von Heyne (vielleicht nach dem bekannten Rezepte des Promoveatur, ut amoveatur) eine Kollaboratorstelle am Kgl. Pädagogium in Ilfeld, dessen Kommissar Heyne war, und zugleich vom Professor der Theologie Joh. Peter Miller eine Hauslehrerstelle bei einem Wiener Reichshofrate angeboten wurden. Wolf entschied sich für Ilfeld und reichte Heyne als Beweis seiner Gelehrsamkeit eine Abhandlung unter dem Titel „Ketzereien über Homer“ ein. Da offenbar Heyne von dieser Leistung nicht sonderlich erbaut war, so sollte Wolf vor dem Ilfelder Rektor Carl Friedrich Meisner und den beiden älteren Lehrern eine Probelektion halten. Interessant ist Heynes Schreiben (30. August 1779) an Meisner: „… Der Mensch hat Fähigkeiten, aber sein Wesen gefällt mir nicht; jedoch darf das hier nicht entscheiden… . Ew. Hochedelgeboren ersuche ich, ihn nach aller Strenge zu prüfen und besonders darauf zu achten, wie weit Sie sich seiner Gelehrigkeit und Folgsamkeit versichert halten können.“ Bald darauf (8. September 1779) hielt Wolf in Ilfeld seine Probelektion, deren Themata er „auf ganz eigentümliche Weise“ behandelte. Noch am gleichen Tage berichtete Rektor Meisner an Heyne über seinen Eindruck dieser Lektion (Ovid. Met. H. 761—800 und Aelian V. H. XIV 24): „ … ich traue ihm alle Geschicklichkeit und Tüchtigkeit im wissenschaftlichen Vortrage zu, ein sehr guter Collaborator zu werden, wenn er will. Er scheint freilich etwas eine gute Meinung von sich zu haben, und da sie nicht ungegründet ist, so nehme ich ihm das so übel nicht, wenn sie ihn in der Folge nicht zum Mißbrauch verleitet. Sonst hat mir sein Wesen viel besser gefallen, als ich nach den von ihm aus seiner Vaterstadt erhaltenen Beschreibungen vermuten konnte. Bei der hiesigen Jugend, merke ich, hat er schon einiges Zutrauen gewonnen, und das ist zugleich Gewinnst an Ansehen, um auch den Teil seiner Pflichten, die die Disziplin betreffen, ohne viel Mühe und erziehungsmäßig erfüllen zu können …“ Auf Grund des Ministerialrescripts vom 21. Oktober 1779 kam Wolf am 27. Oktober nach Ilfeld, stellte sich am nächsten Tage dem Oberamtmann Wilhelm Christian von Wuellen, dem höchsten Beamten der Grafschaft Hohenstein und zugleich Administrator des Ilfelder Stiftsfonds, vor und ward am 29. Oktober um 10 Uhr vormittags in größerem Auditorium vom Direktor Meisner durch eine Rede „von den Pflichten der Lehrer“ feierlichst in sein Amt eingeführt. Die Handhabung der Disziplin im Kloster Ilfeld war auch damals nicht leicht. Kein Wunder daher, daß Wolf bei seinem jugendlichen Alter trotz „Perrücke und Tressenkleid“ in dieser Hinsicht keinen leichten Stand hatte, doch gewann er bald die richtige Position. In den zu behandelnden Disziplinariällen legte er ruhige Besonnenheit und äußerst taktvolles Vorgehen an den Tag; auch warnte er wiederholt in besonderen Voten vor allzu strenger Anwendung der Schulgesetze. Dagegen stellte er an die wissenschaftlichen Leistungen seiner Schüler mit Recht hohe Forderungen, wie sich aus seinen Gutachten bei Versetzungen deutlich ersehen läßt. Bei den Beratungen über die Auswahl eines Primus scholae (im Januar 1778) gab er folgendes interessante Votum ab: „Der Primus, den wir zu den Absichten, die durch ihn erreicht werden sollten, wünschten, ist freilich nicht da. Denn wenn ein bei gesetztem Wesen zugeich mit Kenntnissen vorzüglich versehener Scholar gesucht werden soll, so gestehe ich wenigstens, daß ich unter dem gegenwärtigen Coetus diesen nicht finden kann.“ Und wie er selbst tüchtige Schüler gern förderte, so drang er auch darauf, daß schwächeren Zöglingen von den Lehrern privatim geholfen werde. So ließ er selbst es sich angelegen sein, die drei ihm anvertrauten Scholaren in ihren Freistunden besonders zu beschäftigen und überhaupt über ihr ganzes Studium eine genaue Aufsicht zu führen, über dessen Fortgang er seinen Kollegen in der Konferenz zu berichten pflegte. Der Direktor Meisner war freilich der Ansicht, daß Wolf von seinen Schülern zu viel verlange, auch drückte ihn wohl die geistige Ueberlegen- heit des jungen Mannes, da er auf sein Ansehen als Direktor sehr eifersüchtig war. Auch Heyne scheint mit Wolfs Behandlungsart der Schriftsteller und der Scholaren nicht immer zufrieden gewesen zu sein, doch meinte Wolf: „ich sah bloß aufwallende Hitze, bittere Laune: schlimme Absichten sah ich nicht“ und schrieb eben damals zugleich dem berühmten Meister das stolze Wort von sich: „ich wandele nur meinen eigenen Weg.“ Doch erkannte er auch rühmend an, Heyne für seine Bearbeitung von Platons Gastmahl (am 16. Januar 1782 in Ilfeld abgeschlossen) „die besten Hülfsmittel von der göttingischen Bibliothek“ zu verdanken. Seine Konzentration auf das Symposion war aber eine Folge des „Schreibens Friedrich des Großen an den Etatsminister Freiherrn von Zedlitz“, das die Verbesserung des gelehrten Schulunterrichts besonders durch eine in rhetorischer und logischer Analyse mehr auf den Inhalt der alten Autoren gerichtete Interpretationsmethode bezweckte. Dieses Schreiben des großen Königs scheint ihn auch zur deutschen Erklärung veranlaßt zu haben. In seiner Vorrede gedachte er absichtlich des „Philosophen auf dem Throne und seines erleuchteten Staatsministers“; auch fehlte es nicht an einem Komplimente gegenüber dem Berliner Direktor Gedike, vermutlich in dem geheimen Wunsche, an einer preußischen Gelehrtenschule oder Universität wirken zu können, wobei auch der Gedanke an eine Heirat mit Sophia Hüpeden, der Tochter eines seiner Pathen, des Justizamtmanns Hüpeden zu Neustadt unterm Hohnstein mitgespielt haben mag. Da erfuhr Wolf im Spätherbst 1781 durch seinen Kollegen, den Rektor Pätz, aus einem bereits drei Monate alten Stück der „hannöverschen Anzeigen“, die Ausbietung des Rektorats durch den Magistrat zu Osterode am Harz. Sofort fuhr er, ohne die notwendige Reiseerlaubnis von Heyne einzuholen, nach Osterode, wo ihm der Bürgermeister Jenisch und der Syndikus Köpp eröffneten, daß die fragliche Rektorstelle bereits an den Göttinger Repetenten J. Ch. H. Krause so gut wie vergeben sei. Dennoch trat er von seiner Bewerbung nicht zurück und wußte durch die geniale Abhaltung einer Probelektion (über eine Ode des Horaz und zwei Kapitel des Thukydides) sämtlichen Wahlherren der Stadt in dem Grade zu imponieren, daß er am 13. Dezember 1781 einstimmig zum Rektor gewählt wurde. Nach seiner Wahl sollte er aber (Ende 1781) vom Oberkonsistorium zu Hannover zu einem theologischen Examen beschieden werden. Allein Wolf perhorrescierte diese Instanz und verstand sich nur zu einem Kolloquium mit dem dazu kommissarisch beauftragten Osteroder Superintendenten C. Söllig, einem Kolloquium, das bei einem guten Frühstück abgehalten wurde, und bei dem Wolf des Erlanger Theologen C. F. Seilers Dogmatik (17741) zum ersten Male, wie Körte erzählt (I, 89), „zwischen Weingläsern liegen sah.“ Ich kann mir doch nicht versagen, hier Wolfs Erzählung in Hanharts Erinnerungen (Basel 1825) einzufügen: „Ich kam zwei Tage vor der Probelektion dort an und lernte bald meine Leute kennen. Es schien mir notwendig zu versuchen, 'was außerhalb des Lehrzimmers für den Zweck getan werden könnte. Denn daß meine Erklärungsmanier, die so sehr von der gewöhnlichen abwich, Beifall finden und der Wert des Lehrenden erkannt und richtig beurteilt werden dürfte, wagte ich kaum zu hoffen. Im Gasthof schrieb ich eine Anzahl Briefe an berühmte Männer, mit welchen ich in einigen litterarischen Verkehr gekommen war. Sie wurden nicht ohne Absicht auf den Tisch gelegt. Bald las ich den Leuten im Gesichte, daß sie — der Wirt wie der Postherr und Bürgermeister — solcherlei Kunde von mir einander mitgeteilt. Den Vorabend, den die Bewerber unter mühlicher Vorbereitung verschwitzten, brachte ich auf einem Spaziergang und nachher an der wohlbesetzten Tafel mit den Honoratioren zu. Die Mitternacht traf uns noch im angenehmen Kreise. Früh morgens wieder ein Spaziergang. In der Schule ließ ich mir von einem Schüler das Buch geben. Mit der größten Sorgfalt hatte ich allem auszuweichen gesucht, was im geringsten nur den Schein von Verlegenheit auf mich geworfen oder die Vermutung irgend einer Vorbereitung herbeigeführt hätte. Dieses Verfahren und das bald gewonnene Vertrauen zu mir, als einem, der auch außerhalb des Schulbereichs etwas wert sei, hat mich damals glücklich au das Ziel meiner Wünsche gebracht.“ So zog denn Wolf im März 1782 mit seiner jungen Frau in Osterode ein. Der junge Rektor gab wöchentlich 18 Lehrstunden, ließ nur wenige Schriftsteller in der Schule lesen, aber diese recht genau. Sein Ton im Umgänge mit den Schülern war durchaus frei und liberal, ja fast vertraulich, was aber seiner Autorität durchaus keinen Abbruch tat, weil sie auf dem Gefühl der Tüchtigkeit und der moralischen Kraft des Lehrers beruhte. Dem eigenen Studium der griechischen und lateinischen Autoren aber gab er sich mit solchem Eifer hin, daß er sein Klavier als gefährlichen Konkurrenten wiederholt zeitweise aus seinem Hause verbannte. Bei der Ausübung seiner Amtsbefugnisse (Inspektion der Unterrichtsstunden) geriet er freilich mit dem Konrektor (und Subrektor) in solche Differenzen, daß er sich schließlich genötigt sah, eine Beschwerde über beide Kollegen beim Magistrate zu Osterode (27. Juni 1782) einzureichen. Mit welchem Erfolge — läßt sich aus Mangel an städtischen Akten nicht näher sagen. Ja mit dieser städtischen Behörde selbst scheint er nicht im besten Einvernehmen gestanden zu haben. Dagegen war sein häusliches und gesellschaftliches Leben höcht angenehm und glücklich, allerdings verlor er seinen zärtlich geliebten Erstgeborenen kurz vor seinem Abgänge nach Halle durch den Tod. Denn Wolf sollte nicht lange in Osterode bleiben. Bereits gegen Ende 1782 wurden ihm zwei Direktorate (Hildesheim und Gera) angeboten. Allein der preußische Staatsminister von Zedlitz berief ihn auf Grund von Gutachten seines Freundes des Kanzleidirektors Göcking zu Ellrich, des Professors Heyne in Göttingen (übrigens teilweise ungünstig) und des Leipziger Professors Fr. Wolfgang Reiz durch ein Schreiben Biesters vom 4. Januar 1783 an die Universität Halle a. S. und zwar laut seiner Bestallungsurkunde vom 3. April 1783 als Professor nicht nur der Philologie, sondern auch der Paedagogik in specie. Im August 1783 traf Wolf in Halle ein. II.„Leben Sie nun,“ so schloß der Staatsminister von Zedlitz sein Schreiben an Wolf (11. April 1784), „ganz Ihrer Wissenschaft, werter Herr Professor, und helfen Sie den einen Vorwurf, der noch immer Halle traf, abwälzen, daß man dort keine Philologen bildet.“ Diese Aufgabe hat Wolf in 23jähriger hingehender Arbeit glänzend gelöst. „Ihm, dem unerreichten Lehrer, haben wir ja,“ so ruft Geheimrat Nußlin in Mannheim seinem alten Studienfreunde G.-R. Föhlisch in Wertheim an seinem 50jährigen Direktorialjubiläum (6. August 1852) zu, „die größte und schönste Aussteuer zur würdigen Hebung unseres Berufes zu verdanken. Er, in welchem wir das höchste Vorbild lebendig anregender, begeisternder Lehrweise erkannten, ist uns der weiseste Führer in die Heimat des Schönen geworden, hat unsern Sinn für alles Große und Edle aller Zeiten geweckt und geschärft, vorzüglich unsere Liebe für das klassische Altertum entzündet und uns mit dessen geistigen Heroen, den Homer, Platon und ihren Sinnesverwandten befreundet, deren Werke als unerreichte Muster des Schönen gleich den olympischen Göttern fortblühen und nimmer altern.“ Da in Deutschland die Altertumsstudien noch keine Selbständigkeit gewonnen hatten, so las Wolf bereits im S. S. 1785 ein Kolleg, in dem er bestrebt war, alles, was zu vollständiger Kenntnis des gelehrten Altertums gehöre, zu der Würde einer wohlgeordneten philosophisch-historischen Wissenschaft emporzuheben. Diese Encyklopädie und Methodologie der Studien des Altertums hat Wolf in Halle neunmal vorgetragen und sie im Jahre 1807 als „Darstellung der Altertumswissenschaft nach Begriff, Umfang, Zweck und Wert“ im „Museum“ veröffentlicht. Diese seine Darstellung ist Goethe gewidmet als dem Kenner und Darsteller des griechischen Geistes, in dessen Werken und Entwürfen jener wohltätige Geist sich eine zweite Wohnung nahm. Freilich einem Goethe und Niebuhr gegenüber hat dieses Werk sein eigener Schüler Boeckh (in einem Briefe an Schleiermacher) kühl beurteilt: das Wesen der Philologie liege doch viel tiefer als von Wolf zugegeben sei. Auch sonderte sich immer mehr eine formale und eine reale Philologie ab. Und schließlich wich das bewußte Erkennen und Begreifen des Altertums immer weiter von den Idealen Wolfs ab. Hat doch die Wissenschaft selbst den Glauben an die Antike als Ideal und Einheit zerstört! Denn die Philologie als Geschichtswissenschaft, also auch die Altertumskunde ist nicht nach ihren Idealen, sondern nach ihrer historischen Bedeutung für die Kultur der Menschheit zu werten. Daß nach Humboldt die Erkenntnis des Menschen wesentlich aus dem Studium der griechischen Welt geschöpft werden müsse, ist auch bei Wolf die bewegende Idee. Auf dieser Idee ist dann die gelehrte Schule gegründet. Als das letzte Ziel der Erkenntnis bezeichnet auch Wolf die Kenntnis der altertümlichen Menschheit und durch und in dieser die Kenntnis des Menschen selbst, die durch beständiges Blicken auf eine große Nation und auf deren Bildungsgang in den wichtigsten Verhältnissen und Beziehungen erreicht werde. Und diese Nation könne nur die griechische sein. Nur hier wird uns das Schauspiel einer organischen Volksbildung zuteil. Denn bei welchem Volke der modernen Welt, fragt Wolf, könnten wir hoffen, etwas Aehnliches zu linden? Wo wäre eines, das seine Kultur aus innerer Kraft gewonnen, das die Künste der schönen Rede und Bildnerei aus nationalen Empfindungen und Sitten geschaffen, das seine Wissenschaften auf eigentümliche Vorstellungen und Ansichten gebaut hätte? Diese Menschenkenntnis ist aber der Weg zur Menschenbildung. „Die in sich geschlossene Welt des Altertums berührt jede Gattung von Betrachtern auf eigene Weise und bietet anderen anderes, um ihre Anlagen zu erziehen und zu üben, ihre Kenntnisse durch Wissenwürdiges zu erweitern, ihren Sinn für Wahrheit zu schärfen, ihr Urteil über das Schöne zu verfeinern, ihrer Phantasie Maß und Regel zu geben, die gesamten Kräfte der Seele durch anziehende Aufgaben und Behandlungsarten zu wecken und ein Gleichgewicht zu bilden“. Und „niemand, der unsere Studien ein wenig kennt, wird glauben, daß das, was durch historische Untersuchungen des Altertums und durch Bekanntschaft mit den Sprachen und den unsterblichen Werken desselben zur harmonischen Ausbildung des Geistes und Gemüts gewonnen wird, ebenso vollkommen auf irgend einem anderen Wege könne erreicht werden.“ Kein Wunder daher, daß das Studium des Altertums auch für den Jugendunterricht von unvergleichlichem Werte ist. Denn „die jetzige Menschheit,“ so Wolf aus Jean Pauls Levana, „sänke unergründlich tief, wenn nicht die Jugend durch den stillen Tempel der großen alten Zeiten und Menschen den Durchgang zu dem Jahrmarkt des Lebens nähme.“ Ganz vortrefflich entwickelt dann Wolf den Wert der alten Sprachen für die formale Bildung der Geisteskräfte. „Die Sprachen, die ersten Kunstschöpfungen des menschlichen Geistes, enthalten den ganzen Vorrat von allgemeinen Ideen und von Formen unseres Denkens, welche bei fortschreitender Kultur der Völker gewonnen und ausgebildet worden sind. Durch die Kenntnis und fleißige Beschauung der verschiedenen Gepräge in mehreren Sprachen fangen wir zuerst an uns in der Intellektual- welt zurecht zu finden und die bereits daheim erworbenen Reichtümer derselben besser kennen und gebrauchen zu lernen, indem die mancherlei Modifikationen ähnlicher Hauptideen uns zwingen, die an denselben vorkommenden Unähnlichkeiten wahrzunehmen. So erhalten wir in den miteinander verglichenen Wörtern und Ausdrucksarten nicht etwa armselige Schätze vieler gleichgeltender Zeichen, sondern einen uns wirklich bereichernden Vorrat von Mitteln zur Auflösung und Zusammensetzung unserer Ideen, der auf keinem anderen Wege zu gewinnen ist; und hierauf gründen sich wieder Hebungen des Verstandes, welche eine Gewandtheit und Fertigkeit verschaffen, ohne die keine höhere Operation desselben vonstatten gehen kann.“ Solche Hebung gewähren nun die alten Sprachen und besonders die griechische, die Muttersprache der Musen, in ganz ausgezeichneter Weise, denn sie ist reich an Bezeichnungen von sinnlichen und besonders moralischen Begriffen, vielgewandt und bedeutsam in Bezeichnungsarten, bildsam zu leicht verständlichen Formen durch Zusammensetzung wie durch Ableitung aus eigenen Quellen, endlich drang sie, den Gedanken tief schöpfend, fest ergreifend, oft plastisch darstellend, zugleich bis in das Innere der Empfindung und des Affektes ein, und malte noch da gleichsam mit Farben, wo die Geschäftssprachen der späteren Welt sich beinahe mit einem mathematischen Plus und Minus behalfen.“ Und bei diesen beiden (alten) Sprachen kommt auch ihr Alter und unsere Jugend in Betracht oder mit anderen Worten: die alten Sprachen können auf keinen Fall durch moderne ersetzt werden. Denn in dem Grade wie ein Volk von uns entfernter und abweichender ist in Denkart, Sitten und Lebensweise: und solche Abweichungen verursacht schon der Abstand der Zeit: um desto mehrere uns ungewohnte Ansichten der Dinge, um desto mehrere neue Ideen und neue Modifikationen derselben muß notwendig die Sprache des Volkes darbieten. Ein Beweis hiervon ist die Leichtigkeit, mit der wir ungefähr drei heutige Sprachen unserer Nachbarn gegen eine der alten lernen, indem ein gewisser, man möchte sagen, Neo-Europaismus diese wie zu einem Idiom vereinigt: allein eben die größere Schwierigkeit einer alten Sprache, die auf eine fremde Welt von Ideen und Bezeichnungen hinweist, verspricht auch im allgemeinen unsere Mühe reichlicher zu belohnen. Mögen manche meinen, mit einer Sprache zu jedem Bedürfnis auszureichen, und mögen sie sich dabei wohlbefinden: doch wird man sich erinnern, daß wir nicht von dem Gebrauche der göttlichsten aller Himmelsgaben zu gemeiner Notdurft des Lebens reden, sondern von der höchst wichtigen Hülfe, die ihr Besitz und ihre Handhabung der Entwicklung und Verfeinerung unserer Kraft zu denken und zu empfinden leistet. Demnach ist eine Nation keineswegs glücklich zu nennen, die alle höhere Ausbildung in ihrer Landessprache versprechen und vollenden kann, und dadurch an der Erlernung vorzüglicher ausländischer gehindert wird: ja, sie hat Ursache, über eine Art von geistiger Konspiration zu klagen, wenn ihr die Nachbarn ihre so nachteilige Lage nicht vorhalten, oder sie darin gar bestärken. Denn, so bequem und genügend sie ihre Sprache zu Schriften politischen, ökonomischen, medizinischen, militärischen, mathematischen und andern nützlichen Inhalts gebrauchen mag, so sieht sie sich doch in allem, was über die heißhungrigen Forderungen der Zivilisation hinausgeht, einer Menge von Vorteilen beraubt, auf welchen allein die Vielseitigkeit und Tiefe aller Kultur beruht. So muß es annoch wenigstens scheinen, bis vielleicht in künftigen Zeiten eine Nation wieder hervortritt, die in der Sprache ihres Vaterlandes die unvertragsamsten Eigenschaften entwickeln und die menschliche Denkkraft an eigenem Maßstabe zu messen geben wird, vorausgesetzt, daß dann auch eine solche Nation, wie die griechische vor der Zeit ihrer Erudition, nicht in Untersuchungen der früheren Schicksale und Verhältnisse unserer Gattung, sondern bloß in genialen Produktionen einheimischer Künste wird arbeiten wollen. Ob zu einer Erscheinung der Art irgend eine Hoffnung vorhanden sei, ist ohne künstliche Divination zu erwarten.“ Ist doch nach einem Wort von Schelling die neuere Welt in allem und besonders in der Wissenschaft eine geteilte Welt, die in der Vergangenheit und in der Gegenwart zugleich lebt. In dem Charakter aller Wissenschaften drückt es sich aus, daß die spätere Zeit von dem historischen Wissen ausgehen mußte, daß sie eine untergegangene Welt der herrlichsten und größten Erscheinungen der Kunst und Wissenschaft hinter sich hatte, mit der sie nicht durch das Band einer organisch fortgehenden Bildung, sondern einzig durch das äußere Band der historischen Ueberlieferung zusammenhing. Die Frucht der klassischen Studien ist aber: allseitige Entwickelung aller Seelenkräfte, der intellektuellen wie der moralischen und ästhetischen, durch Uebungen aller Art von den elementarsten bis zu den höchsten und schwierigsten. Und welchen materiellen Nutzen haben diese Studien? Auf seine Rechtfertigung verzichtet Wolf ganz und gar; denn allein durch eigenen, absoluten Wert können sie sich erhalten, sonst ist ihr Ende nicht abzuwehren. Daher betrachtete er auch als die Grundbedingung aller höheren Ausbildung den idealen Sinn, der beim Lernen und Forschen von jedem äußeren Vorteile absehe, indem er mit aller Entschiedenheit der gemeinen Denkart und dem banausichen Treiben derer entgegentrat, die in der Wissenschaft eben nichts anderes sähen, als eine tüchtige Kuh, die sie mit Butter versorge — überall nur auf das Vorteilhafte zu sehen ist ja nach Aristoteles des Freien und Edelgesinnten unwürdig. Im allgemeinen sah er in allem akademischen Unterricht „eine Anleitung, den weiteren Weg- selbst zu finden“ und ließ es sich ganz besonders angelegen sein, seinen Schülern „den Charakter seines Geistes einzuhauchen, der in andern Mischungen neuer Persönlichkeiten die Wissenschaft mannigfacher und reicher gestalten sollte.“ Deshalb studiere nur der recht, der für sich und das Leben studiere, nicht aber um der Prüfungen willen, denen er beim Eintritt in den Staatsdienst sich unterziehen müsse. In seinem Hörsaal stand nur eine einzige Büste — die Büste Lessings: alle seine Vorträge waren durchdrungen von dem Geiste einer Kritik, die bei jeder bedeutenden Frage Wahrheit oder Gewißheit von Wahrscheinlichkeit und von Möglichkeit zu unterscheiden und die Grade der beiden letztem sicher zu bestimmen suchte. Ueber den gewaltigen Eindruck seines Vortrags sind alle Stimmen einig. So bezeichnet Goethe seine Vorlesungen als „eine aus der Fülle der Kenntnis hervortretende freie Ueberlieferung, aus gründlichstem Wissen mit Freiheit, Geist und Geschmack sich über die Zuhörer verbreitende Mitteilung.“ Und sein Schwiegersohn Körte schreibt: „Nie fehlte ihm das rechte, schlagende Wort, der überraschende Ausdruck, und sein herrliches Organ gestattete ihm überall den bedeutsamsten Ton, der jeden Punkt, auf den es eben ankam, klar hervorhob.“ Dem umfassenden Bilde aber, das Föhlisch von dem Meister in seinen „Erinnerungen“ gibt, entnehme ich nur noch folgende Züge: „Wolf war ein ebenso ausgezeichneter Lehrer als Schriftsteller. Sein Vortrag war frei, in dem er nur anregte, Ideen gab und seine Schüler durch die Liebe zur Wissenschaft begeisterte, die ihn selbst erfüllte. Daher die gespannte Aufmerksamkeit seiner zahlreichen Zuhörer und ihr reger Eifer, seinem raschen Gedankengange, welcher nicht selten blitzartig auf verwandte Gegenstände übersprang, zu folgen. Ueberall empfahl er bei Inangriffnahme neuer Aufgaben ein historisch-wissenschaftliches Quellenstudium als sicherste Grundlage. Alle seine Vorträge waren gewürzt durch heitere Laune und Witz. Er besaß eine seltene Kombinationsgabe. Musterhaft war seine methodische Kunst, wissenschaftliche Ergebnisse im Geiste seiner Zuhörer zu entwickeln. Und seine Methode in der Erklärung der Schriftsteller war im allgemeinen eine historisch-kritische: aus sich selbst und ihrem Zeitalter.“ Ueber die Konjekturalkritik hat Wolf selbst sich sehr bestimmt ausgesprochen: „Wenn irgend eine Kunst von denen, die sich ihr widmen, Ernst und Besonnenheit fordert, so ist es die philologische Kritik. Weniger auf Regeln als auf das Gefühl vertrauend; weniger dem Fleiße günstig, der in jedes Macht steht, als der Divination, die niemand erzwingen kann (vgl. auch seine Anwendung eines Ausspruches von Cervantes auf die philologische Kritik und Erklärung: … Seite dixit Cejvantes de poetica arte, credo, primas quasque cogitationes scribentibus a diabolo suggeri …), scheint sie eine Geburt der Willkür, ein Spiel des Witzes, der ihr Gebiet durchschwärme, ohne zu wissen, von wannen er komme, noch wohin er wolle ...“ „Ganz eigentümlich“, so kennzeichnet C. G. Zump t Wolfs Methode, „bleibt ihm die Vollendung der Interpretationskunst, und dahin führte ihn sein ausgezeichnetes Talent, in alle schriftstellerische Individualitäten auf das schärfste einzudringen und den Stil der Autoren in die kleinsten Nüanzen zu verfolgen. Er verwandte darauf die sorgfältigste Vorbereitung; alle Ausgaben, Uebersetzungen, Lexika wurden benutzt; er war äußerst behutsam, einen Fehltritt zu tun und verlangte so auch von seinen Schülern die reiflichste Ueberlegung …“ Aber seine erfolgreichste Wirksamkeit entwickelte Wolf in dem von ihm gestifteten philologischen Seminar (15. Oktober 1787 seine Eröffnung). Und bei dem Enthusiasmus, den ei’ unter der studierenden .Jugend für das klassische Altertum erweckte, gingen aus ihm hauptsächlich diejenigen Männer hervor, die seit den neunziger Jahren an den höheren Schulen, Universitäten und Unterrichtsbehörden eines großen Teiles von Deutschland und der Schweiz tätig zu sein anfingen und jene Anerkennung des humanistischen Prinzips zu Wege brachten, die auf die Gesamtentwicklung unserer geistigen Kultur von dem erheblichsten Einfluß waren. Er selbst betrachtete ja dieses Seminar als Institut zur Aufrechterhaltung der Gelehrsamkeit und zur Bildung wie akademischer Dozenten, so besonders solcher Schulmänner, die auf den zwei oder drei obersten Klassen gelehrter Schulen unterrichten sollen. Freilich solche gelehrte und sachkundige Lehrer erhalte man nach Wolfs Ansicht so lange nicht, als die Schulmänner professionsmäßige Theologen seien. „Ich sehe daher“, erklärte er weiter, „eine nach und nach unbemerkt vorgenommene Trennung des Schulstandes vom Predigerstande für etwas in mehrerem Betrachte durchaus Notwendiges und Gemeinnütziges an.“ Aber freilich würde für einen jungen Menschen die prinzipielle Entscheidung für das Schulfach ganz ausschließlich höchst schwierig sein und deshalb könnten auch Studiosi theologiae rezipiert werden, wenn sie nur die erforderlichen philologischen Kenntnisse hätten, und nicht ausschließlich für das Predigtamt determiniert wären. Daß freilich Wolf in praxi zur Aufnahme von Theologen doch nicht geneigt war, läßt ein Vorgang deutlich erkennen, den der Studiosus Thiersch , der in Leipzig unter Hermann studierte, gelegentlich eines Besuches in Halle berichtet: „Letzthin hatte er schon die Feder in der Hand, jemanden als Mitglied des Seminars einzutragen. Aber, hielt er ein, Sie sind doch nicht im theologischen Seminar? — Ja. — Nun, sagte er, und legte die Feder hin. da können Sie nicht in das philologische Seminar treten, das geht durchaus nicht.“ Sollte dies Verhalten als Revanche gegen die Professoren der Theologie zu deuten sein, die ihren Seminaristen den Besuch des Wölfischen Seminars als gute Vorschule empfohlen hatten? Neben den wissenschaftlichen Uebungen des Seminars waren gleich anfangs auch didaktische Versuche der Mitglieder in Aussicht genommen. Diese Versuche bestanden in dreierlei: interpretieren, disputieren und unterrichten in den oberen Klassen der lateinischen Schule des Waisenhauses. Der Pädagogik und Didaktik wandte damals Wolf überhaupt sein lebhaftestes Interesse zu. Seine Consilia scholastica hat er zweimal gelesen (1799 und 1801—02), die nach E. Föhlisch (1829—30) auch von Koerte im Jahre 1835 unter dem Titel herausgegeben sind: „Friedrich August Wolf über Erziehung, Schule und Universität (Consilia scholastica). Sein Enthusiasmus über den Wert der klassischen Studien für die Jugendbildung beraubt ihn nicht des gesunden Urteils über das Mögliche. In diesem Zusammenhänge möchte ich auf die höchst lesenswerte Studie von A. Baumstark (Professor der Philologie in Freiburg), Friedrich August Wolf und die Gelehrtenschule 18G4 hinweisen, weil sie Wolf als Vertreter der gesunden Vernunft gegenüber der Verstiegenheit und Maßlosigkeit späterer klassizistischer Gymnasialpädagogen gegenüberstellt. Wer nicht studieren will, soll nach Wolf auch nicht die alten Sprachen lernen. So sind denn wenigstens die beiden oberen Klassen des Gymnasiums ausschließlich für künftige Studenten. Aber nicht einmal alle Studenten bedürfen der gelehrten Sprachen. Der Theologe und Philologe muß, der Jurist und der Mediziner mag Griechisch lernen, wenn er Lust und Anlage hat. Wenn nicht, sollte man ihn nicht zwingen. Denn durch Zwang — darin Rousseau und der Pädagogik seiner Zeit zustimmend — läßt sich der Natur nichts abgewinnen. Und aller Unterricht, der nicht den individuellen Fähigkeiten und Neigungen entspricht, ist vergeblich. Die Bedingung alles wirklichen Erfolges in der Schule ist Selbsttätigkeit, umso mehr, je älter der Schüler ist. Solcher Spontaneität und Freiheit kommt unser gegenwärtiges höheres Schulwesen ja bereits in hohem Grade entgegen. Und wir heißen euch hoffen!' Wolfs Forderungen hinsichtlich des Zieles des griechischen Unterrichtes wie seine Ansichten über den Umkreis der Schullektüre sind bescheiden: sie stehen im schärfsten Gegensätze zu der Pädagogik der „großen Worte.“ Reich sind seine Bemerkungen über die Methode, in den Spuren Gesners und Heynes wandelnd. Für den Unterricht selbst gebe es zwar keine absolute Methode, vielmehr könne sie je nach den Eigentümlichkeiten der Lehrer und Schüler unendlich verschieden sein, aber jeder Lehrer müsse ein Herz für die Jugend haben und die wissenschaftliche Anregung sei und bleibe die Hauptsache. Die gute Methode kennt ja nur wenige Regeln; und die inwohnende Seele des Lehrers ist es, wie Hegel sagt, was die Wirksamkeit seines Unterrichts ausmacht. Gleich jenem Könige aus dem Morgenlande in Rückerts Parabel faßte auch Wolf sein pädagogisches Credo in den einen Satz zusammen: „Habe Geist und wisse Geist zu wecken.“ Auf den Einwurf seines einstigen Schülers, des Königsberger Fr. August Gotthold, er stimme einer solchen Pädagogik vollkommen bei, aber nur unter der Voraussetzung, daß Wolf für sämtliche Schularten solche gottbegnadeten Männer schaffe, da habe Wolf der Unterhaltung mit den Worten ein Ende gemacht: Freilich, freilich; aber für die andern gebe es ja dicke und dünne Anweisungen in Menge. Auch bei seinen eigenen Kindern, Johanna, Wilhelmine und Karoline, deren Erziehung er sich von ihrem zweiten Lebensjahre ab höchst angelegen sein ließ, beobachtete er im allgemeinen die pädagogischen Grundsätze in den Consilia scho- lastica, allerdings berücksichtigte er die eigentümlichen Anlagen des weiblichen Gemüts- und Geisteslebens zu wenig. Insbesondere scheint er für das Wesen der deutschen Frau kein Verständnis gehabt zu haben, das schon Tacitus in seiner Germania so schön als sanctum aliquid et providum (als etwas Heiliges und Ahnungsreiches) bezeichnet hat. Er liebte überall Helle und Klarheit und widerstrebte jedem unbewußten Sein und Handeln. Daher war er dem Dämmerweben der romantischen Schule eines Calderon de la Barca so abhold, daß er seiner Tochter Wilhelmine alles Träumen einfach untersagte. Und „Wilhelmine,“ versichert ihr Mann Koerte, „hat wirklich seitdem nie wieder geträumt.“ Auf den persönlichen Umgang mit den Studentenn und im besonderen mit seinen eigentlichen Schülern legte Wolf hohen Wert. Daher öffnete er vielen sein Haus und ließ sie seine Bibliothek benutzen. Auch besuchte er seine Schüler auf ihren eigenen Zimmern und manchem gar zu schüchternen hat er mit dem Becher in der Hand das vertrautere Wort zugebracht. Im Verkehr selbst gab er sich wie ein älterer Kamerad. Und so sah man ihn auf seinen regelmäßigen Spaziergängen vor dem Essen von einem großen Studentenkreise umgeben. Die ihm eigene Gabe der Unterhaltung, seine Offenheit, sein immer treffender Witz und die ganze Urbanität seines Wesens wirkten unwiderstehlich auf die jungen Leute; ehe sie selbst es wußten, sahen sie sich in seine großartige Bahn mit fortgerissen. An den abendlichen Symposien, die sich bisweilen bis zum Morgen des folgenden Tages ausdehnten, wurden wundervolle Gespräche geführt, mit denen die Seminaristen und Zuhörer ihr Meister bei solchen Gelegenheiten zu regalieren wußte. Aber er hatte sich immer selbst, er hatte sich immer ganz, und keine seiner Eigenschaften war ihm fragmentarisch verliehen. Nie vergaß er seiner Würde, er hielt darauf in angeborener Vornehmheit; in ihr stellte er die Ehre des Gelehrten dar, wie in dem Fleiße dessen Tapferkeit. In der gelehrten Welt begann bald Wolf als Stern erster Größe zu glänzen und immer mehr wurde er als der Fräst der deutschen Philologie angesehen. Seinen literarischen Ruhm haben in Halle vor allem zwei bahnbrechende Werke in alle Lande getragen: 1) sein exegetisches Hauptwerk, die Rede des Demosthenes wider Leptines (1794) und 2) die Prolegomena ad Homerum (1795), ein Urbild geschichtlicher Forschung. Die Homerische Frage ist eine historische und kritische: die Philologie ward zur Geschichtswissenschaft. Sie hat auf die Gestaltung der Literaturgeschichte überhaupt fruchtbringend eingewirkt, sie hat auf Niebuhr und durch ihn auf die deutsche Geschichtsforschung neues Licht verbreitet, und aus ihr sprang ein zündender Funke auf die theologischen Forscher des Alten und Neuen Testamentes. „Wie doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung setzt“! Denn nicht bloß wenn Könige bauen, auch wenn sie niederreißen, haben die Kärrner zu tun. So mächtig auch seine wissenschaftlichen Arbeiten, insbesondere die Prolegomena wirkten, so ist doch in der Folge Wolf als Schriftsteller fast nur noch gelegentlich aufgetreten. Die Erklärung für diese an sich seltsame Erscheinung liegt nahe: einmal war es die große Regsamkeit seines Geistes, die ihn rasch von einem Gegenstände zum andern fortriß und bewirkte, daß der schöpferische Trieb erkaltete, sobald das erste Interesse vorüber war, sodann wurde er vor allem durch den Reiz des akademischen Lehrens von der schriftstellerischen Tätigkeit abgezogen, denn den Gymnasien und den Universitäten tüchtige Lehrer zu bilden, das war ja seine tiefste Lebensaufgabe. Er selbst hat seinem Freunde Wilhelm von Humboldt gestanden, er habe niemals Schriftsteller, sondern nur Lehrer sein wollen, und in einem Briefe an Professor David Ruhnken in Leyden spricht er die gleiche Auffassung aus: docendo aliquanto plus quam scrillendo delector. Ja, die akademische Lehrtätigkeit entsprach der ganzen Eigentümlichkeit seines Wesens, und noch in Berlin blickte er mit gerechtem Stolze auf seine ureigene Schöpfung, auf das philologische Seminar zurück. Wer aber das Tote zu lebensvoller Anschauung und das Ferne in die unmittelbare Gegenwart zu versetzen vermag, der gehört zu den unsterblichen Großen im Reiche der Wissenschaft und des Lebens, gehört zu den „seligen Geistern“, die das große Bild des Wirklichen in sich aufnehmen und es in wunschlosem Frieden anschauen: aber von allen Geistern auf dem Gebiete der Altertumswissenschaft, die da wollen, ist er der vornehmste gewesen — und geblieben. Aber selbst diesem reichen sonnigen Leben fehlte doch nicht der Schatten: der Zwiespalt in seiner Ehe führte 1802 zu ihrer Auflösung. Indes nicht diese Schatten haben seine weitere amtliche und wissenschaftliche Tätigkeit wesentlich verdüstert, sondern erst die unglückliche Schlacht von Jena ward der verhängnisvolle Wendepunkt seines Lebens: am 17. Oktober 1806 wurde auf Befehl des Platzkommandanten General Menard der Lehrbetrieb an der Universität aufgehoben. Auf Goethes Rat gab sich Wolf gelehrten Arbeiten hin, erhielt aber am 2. April 1807 von Johannes von Müller die Einladung, nach Berlin zu kommen „für die Zeit, bis etwas entschieden wäre“. Bereits Ende April folgte er ihr, kehrte aber, da Halle dem napoleonischen Königreiche Westfalen einverleibt wurde, nicht mehr in die Stadt zurück, in der er den reichsten und glücklichsten Teil seines Lebens zugebracht hatte. III.Schon im Sommer 1807 tauchte die Idee auf, in Berlin eine Hochschule zu errichten. Denn damals galt es im Innern wieder zu erobern, was dem Staate an äußerem Umfange genommen war oder nach einem wahrhaft königlichen Worte: der Staat muß durch geistige Kräfte ersetzen, was er an physischen verloren hat. Auch Wolf betonte vor allem (in seinen Vorschlägen vom 3. August 1807 an den Geh. Kabinettsrat B e y m e), daß die lebendigsten, größten Kräfte in dem moralischen Menschen liegen, und wer möchte die besten Anlagen in unserem Volke schlummern lassen, da sie durch erhöhte Tätigkeit nicht nur gerettet, sondern trefflicher ausgebildet werden können? Und Beyme antwortete ihm (von Memel aus am 5. September 1807): die Idee der Begründung der Berliner Universität sei als eine Sache der ersten Notwendigkeit zu betrachten. Nach den Grundzügen der Wolf sehen Vorschläge vom 24. Juli 1809 hat dann Wilhelm von Humboldt in rastlosem Eifer seine größte Tat vollbracht: die Gründung der Universität Berlin (1810). Sie ist nicht nur das Werk des Ideologen, der an die Wiedergeburt der vernichteten Nation von den inneren Kräften des Geistes aus glaubt, sondern auch das Werk des Politikers, der mit den gegebenen Mitteln zu rechnen weiß. Sollte doch der preußische Staat keineswegs auf die führende Rolle in Deutschland verzichten, denn das Vertrauen — so Humboldt an den König — welches ganz Deutschland ehemals zu dem Einflüsse Preußens auf wahre Aufklärung und höhere Geistesbildung hegte, sei durch die letzten unglücklichen Ereignisse keineswegs gesunken, sondern vielmehr durch den Geist, der in allen seitdem getroffenen Staatseinrichtungen herrsche, gestiegen! Hierzu werde vor allem auch die neue Universität, die etwas durchaus anderes als eine bloße Landesuniversität werden müsse, beitragen. Preußen könne und werde daher fortfahren, von dieser Seite den ersten Rang- in Deutschland zu behaupten und auf seine intellektuelle und moralische Richtung den entschiedensten Einfluß ausüben. Mit seinem griechischen Freunde kennzeichnete Humboldt das Wesen der Universität dahin: die Wissenschaft als solche zu suchen, sie als ein unaufgelöstes Problem zu behandeln; alles andere würde sich von selbst um den Kern herum krystallisieren oder anders gewendet: ihre Aufgabe ist: die Erkenntnis der Dinge durch freie Forschung, und ihre Idee, zum Dienst der Wahrheit zu führen, nicht zum Dienst des Geltenden. Darum muß, wer am sausenden Webstuhl der Wissenschaft sitzen soll, in erster Linie Forscher, erst in zweiter Bekenner seines Wissens und Glaubens sein. Man kann freilich niemanden zwingen, ein Forscher zu werden. Sein Beruf gleicht dem Schaffen des Dichters und Künstlers. Er ist abhängig von einer ganz besonderen Begabung: zu einem scharfen Verstände muß sich vor allem eine starke, intuitive Phantasie und schöpferische Kraft gesellen. Und wirklich ganz Vollkommenes auf wissenschaftlichem Gebiete kann nur der Forscher leisten, der sich aufs strengste spezialisiert. Eine wirklich endgültige und tüchtige Leistung ist heute stets: eine spezialistische Leistung. So soll auch die Universität neben der Akademie der Wissenschaften, die der Idee nach die höchste und letzte Freistätte der Wissenschaft und die vom Staate am meisten unabhängige Korporation ist, die Wissenschaft erweitern: beide können unter Umständen den Gipfel meisterhafter Vollendung erreichen. Und darum sollen Akademie und Universität miteinander in einen heilsamen Wettbewerb regster Tätigkeit treten. Bei aller Verbindung sollen sie ihre Selbständigkeit und Eigenart in sich bewahren: die Universität steht den praktischen Bedürfnissen des Staates näher, die Akademie emanzipiert sich am weitesten vom Staate. Die Universität bietet im allgemeinen die Formen, in denen die innere Kraft gewonnen wird, die wir zu den Taten brauchen, die uns befreien. Denn in ihr ist nach einem schönen Wort von K. Fr. von Savigny, einem Mitarbeiter Wolfs und Humboldts an der Gründung der Berliner Universität, eine Form gegeben, worin jedes ausgezeichnete Lehrtalent seine Entwickelung findet und jede lebendige Empfänglichkeit des Schülers ihre Befriedigung; eine Form, wodurch jeder Fortschritt der Wissenschaft schnell Eingang findet, eine Form, wodurch es leicht wird, den höheren Beruf ausgezeichneter Menschen zu erkennen, und worin auch dem Leben ärmerer Naturen ein erhöhtes Gefühl des Daseins mit geteilt wird. Ueber Wolfs eigene Stellung im wissenschaftlichen Leben zu Berlin tauchten schon frühe die verschiedensten nicht ganz unbegründeten Gerüchte auf. Sein ehrgeiziges Streben scheint, sich, soviel ich sehe, auf die Erreichung folgender hervorragenden Wirkungskreise gerichtet zu haben: 1) er wollte Staatsrat werden oder 2) er wünschte die Stellung eines Präsidenten der Berliner Akademie der Wissenschaften oder 3) er hoffte zum Kanzler der neuen Universität ernannt zu werden. Schon in seinem Begleitschreiben zu seiner Immediateingabe vom 19. September 1807 an Beyme sprach Wolf den Wunsch aus, nicht als gewöhnlicher Universitätsprofessor einzutreten, sondern in der Eigenschaft eines lesenden Mitgliedes der Akademie (der Wissenschaften), also als Professor honorarius. Schon damals schrieb Fichte über ihn an Beyme (Berlin, den 3. Oktober 1807): „Er scheint überhaupt sich nicht gern zu einer planmäßigen Tätigkeit bequemen zu wollen, sondern es mehr zu lieben, wie ein Freiherr zu treiben, was ihm eben einfällt und wenn es ihm einfällt.“ Nach mancherlei Verhandlungen erhielt Wolf in einer Kabinettsverfügung vom 20. Juni 1808 die Aufforderung, dem Freiherrn von Stein, der am 30. September 1807 an die Spitze des preußischen Ministeriums getreten war, seine Vorschläge einzureichen, „auf welchem Wege er jetzt bis zu anderweitiger Bestimmung seine gelehrte Tätigkeit mit einer praktischen Beschäftigung nützlich vereinigen zu können glaube.“ Durch ein Kabinettschreiben vom 14. Oktober 1808 wurde ihm der außerordentliche Auftrag erteilt, die durch den Tod des Direktors (der philosophisch-historischen Klasse in der Akademie der Wissenschaften) Merian erledigte Stelle eines Visitators des Joachimstalschen Gymnasiums einstweilen zu versehen. Wolf ging mit gutem Mute an das ihm aufgetragene Geschäft und war in gehobener Stimmung: „Mein hiesiges Loos ist durch Herrn von Stein, bei dem ich hier manche sehr erfreuliche Stunde genoß, gar sehr verbessert worden, und so der Gedanke jeder Auswanderung (ein Ruf nach Landshut blieb unbeachtet!) verbannt. Wie wunderbar liefen doch die Schicksale, besonders seit der Zeit, wo ich mehr durch Ihre (d. h. Johannes von Müller) als irgend jemandes Aufmunterung gereizt das vorige Nest (Halle) verließ“ (Schreiben an Johannes von Müller vom 8. September 1808). Infolge der Neuordnung der obersten Staatsbehörden der preußischen Monarchie (auf Grund des Publikan- dum vom 16. Dezember 1808) sollte der öffentliche Unterricht unter unmittelbarer Leitung des Sektionschefs stehen. Für diese einflußreiche Stellung war Wolfs vieljähriger Freund und nun Geheime Staatsrat Wilhelm von Humboldt ausersehen. Seinem neuen Chef reichte Wolf als Visitator am 18. Februar 1809 einen umfassenden Bericht über das Joachimsthalsche Gymnasium ein (siehe Näheres Arnoldt I S. 143 ff.). „Ihr Bericht, mein teurer Freund“, so schreibt W. von Humboldt am 24. Februar an Wolf, „ist vortrefflich, frei, wie sonst in diesen Dingen selten gesprochen worden ist; dabei schonend und fein, und so, daß er sehen läßt, daß die Anstalt noch mehr, als Sie es geradezu sagen, Hauptreformen bedarf. Ich werde eilen, ihn gleich nach Königsberg zu schicken.“ Und zugleich bemühte sich Humboldt darum, das Verhältnis Wolfs als Visitators zum Joachimsthalschen Schuldirektorium und die Stellung dieses Direktoriums zum Ministerium aufs genaueste zu bestimmen (vgl. seine Eingabe an den Minister des Innern, Grafen zu Dohna-Schlobitten vom 28. Februar 1809). Infolgedessen bestimmte die Kabinettsordre vom 24. März 1809, daß der Visitator G. R. Wolf als Mitglied jenes Direktoriums demselben nicht subordiniert, sondern coordiniert sein solle, sodaß ihm die Verwaltung der inneren Angelegenheiten (Unterricht und Disziplin) anvertraut würde, und er in Ansehung derselben von keiner Behörde als der Sektion des öffentlichen Unterrichts abhänge.“ Dieses Joachimsthalsche Visitatoriat blieb zunächst Wolfs einzige praktische Betätigung. Aber die Staatsregierung wünschte ihm einen erheblich weiteren seiner Kraft und Neigung entsprechenden Wirkungskreis zu verschaffen, und so ersuchte der Minister des Innern, Graf zu Dohna, (Königsberg, 24. Januar 1809) Wolf, er solle W. von Humboldt in Berlin seine Ideen wegen einer bestimmten Anstellung mitteilen. Infolgedessen schrieb Wolf (Anfang Februar) an Humboldt, er werde gern alles übernehmen, wenn nur die Umstände, unter denen er etwas leisten solle, eine freie Wirksamkeit möglich machten. Auf Grund eines Berichtes Humboldts zeigte der Staatsrat Nicolovius dem Minister am 16. Februar an, daß Wolf sich bereit erklärt habe, „teils an der beabsichtigten Universität zu Berlin als Lehrer nicht nur, sondern auch als Direktor des philologisch-pädagogischen Seminariums, teils an der Akademie der Wissenschaften, teils in einem der mit der Sektion des öffentlichen Unterrichts zu verbindenden wissenschaftlichen Kollegien, teils endlich als Oberaufseher der Gelehrtenschulen in Berlin dem Staate mit seinen ausgebreiteten und tiefen Kenntnissen und seiner Geschicklichkeit noch ferner nützlich zu bleiben.“ Im April 1809 begab sich Humboldt selbst nach Königsberg, wo er die Wolfen gebührende Rücksicht nicht bloß bei dem Minister des Innern, sondern auch bei der Majestät des Königs in geeigneter Weise geltend zu machen wußte. Seinem Freunde aber schrieb er (Juni 1809) u. a.: „… Dir Beruf sind große gelehrte Arbeiten; Sie sind so gesetzt (3000 Thaler Gehalt!), daß Sie vollkommene Muße haben ... Unternehmen Sie irgend eine Arbeit … und schließen Sie mich, wie bisher, in Ihr inniges und liebevolles Vertrauen ein. Aber machen Sie ja, daß es nicht heiße, ich mache Sie, indem ich Sie hier fixiere, untätig für die Wissenschaft.“ Allein auch Wolf gehörte nicht zu denen, die im Gegensätze zur Masse in der neuen Ordnung der Dinge ein erneutes Leben beginnen können. Auf seine Befürchtungen über die Lage des Staates hin sprach sich Humboldt wiederholt aus:,,… Niemand kann die Zukunft enträtseln. Aber ich weiß nicht, ich habe einen vielleicht manchem wunderbar scheinenden Mut. Lassen Sie uns nur mit Raschheit fortarbeiten… (Königsberg, den 14. Juli 1809). „Man muß auch am Rande des Abgrundes das Gute nicht aufgeben. Ich arbeite mit ununterbrochenem Eifer fort (Königsberg, den 28. Juli 1809). „Die Gegenwart ist eine große Göttin, und selten spröde gegen den, der sie mit einem gewissen heiteren Mute behandelt.“ (Erfurt, Weihnachtsabend 1809). Besonders viel wurde die Frage über Wolfs Stellung als Direktors der wissenschaftlichen Deputation bei der Sektion des öffentlichen Unterrichts erörtert. Der Direktor der Deputation sollte zugleich Mitglied der Sektion sein, ihren Sitzungen beiwohnen und an allen ihren Beratungen teilnehmen. Er sollte ferner hierin durchaus gleiche Rechte mit den Staatsräten haben und mit ihnen lediglich nach der Anciennität rangieren. Auch wenn in den Deputationssitzungen der Chef der Sektion selbst zugegen wäre, so sollte doch allein der Direktor das Präsidium führen und alle Ausfertigungen und offiziellen Schreiben der Deputation allein unterzeichnen. Das bedeutete offenbar die Huldigung, die Humboldt der Idee der philologischen Wissenschaft darbrachte. Er hatte ihr einen Thron bereitet: das Direktorat der Wissenschaftlichen Deputation, von dem die Herrschaft über das pädagogische Reich ausgehen sollte, und er wollte nun den König seiner Ideale auf diesen Thron setzen. In dieser Stellung würde in der Tat Wolf in weit höherem Sinne als S ü v e r n das höhere Schulwesen gefördert haben, wenn er eben den Gelehrten mit dem Geschäftsmann zu vereinigen gewußt hätte. Allein er besaß die gefährliche Neigung, die ihm eigentümliche Sphäre, „die Fortifikationslinien seines Daseins“ zu überspringen. Denn unbefriedigt von dem bescheidenen Lose des Gelehrten, wollte er ein hoher Staatsbeamter werden. Und den über die Verzögerung seiner Anstellung Unmutigen weiß der getreue Freund, ein Heros von Geduld, immer wieder zu trösten: ,,.... Ich schmeichle mir,“ so schreibt Humboldt aus Königsberg den 20. November 1809, „daß Sie finden werden, daß ich mit der Treue und Freundschaft, die ich immer für Sie hege, Ihre Lage so bereitet, so in nahe Verbindung mit mir gebracht, und zugleich so frei und mobil erhalten habe, daß sie Ihnen nie einen Augenblick drückend werden kann. Indes bleiben Sie immer durchaus frei …“ Und seinem grillenhaften Ehrgeize, Staatsrat zu werden, tritt Humboldt freundlichmild entgegen (vgl. sein Schreiben aus Erfurt vom 11. Januar 1810): „… Aber, mein Bester, da wären Sie sehr schlecht beraten gewesen, die Wissenschaft und die Universität ebensosehr, ...........Fragen Sie nur Süvern, ob er den ganzen Sommer hindurch hat etwas für sich tun können .... Sie hätten gar keine oder äußerst wenig Zeit, und würden vor Ekel und Verdruß bald ausgeschieden sein … Ich dagegen (d. h. im Gegensätze zu Steins Plan) habe Ihnen Ihr Gehalt gesichert, auch wenn Sie eigentlich nichts tun; ich habe Ihnen eine dem Wesen nach viel ansehnlichere Stelle als die eines bloßen Staatsrates, eine Direktion gegeben, und Sie in die Sektion mit völlig gleichem Range eines Staatsrats gesetzt … Wer. mein Lieber, hat nun besser für Sie gesorgt, Stein oder ich? Jeder Unparteiische mag selbst entscheiden. Ein Gelehrter, wie Sie, muß nicht Staatsrat sein, er muß es im eigentlichsten Verstände unter sich halten. Als Titel muß er es verschmähen, und mit vollen Geschäften sich nicht auf bürden lassen.“ Aber schon am 27. Januar 1810 machte Wolf seinem unmutigen Herzen aufs neue Luft. Auf diese Vorwürfe antwortete Humboldt am 30. Januar mit unsäglicher Langmut und in echtester Freundestreue: „… Wegen der Verdienste, die Ihnen niemand je streitig macht, habe ich darauf gedacht, Ihnen den ehrenvollsten Posten, den ich für einen Gelehrten zu vergeben hatte, zu erteilen (d. h. den des Direktors der Wissenschaftlichen Deputation)............. aber daß es mir auch persönlich wehe tut, wenn ich sehe, daß eine, wie es mir scheint, vorgefaßte Meinung über einen bloßen Titel, Sie, der Sie in jeder Rücksicht so trefflich sind, hindert, mit uns gemeinschaftliche Sache zu machen............, — das können Sie mir nun einmal nicht verargen und werden es nicht tun …“ Wirklich erklärte sich nun Wolf im Februar mit mancherlei Umschweifen zur Annahme der Stellung bereit. Tatsächlich aber hat er die Geschäfte überhaupt nicht übernommen. Denn schon im März machte er seinen ungünstigen Gesundheitszustand geltend. Er trat zurück und blieb fortan — nach dem Reglement — außerordentliches Mitglied der Deputation. Humboldt aber schrieb ihm am 10. April 1810 u. a. „… Ihre Krankheit, liebster Wolf, hat Sie trübsehender gemacht, als Sie sonst sind. Muße und Ruhe werden Ihnen Ihre frühere Heiterkeit wiedergeben. Kommt noch, was ich so sehr wünsche, eine litterarische Arbeit hinzu, so werden Sie sich wieder glücklicher fühlen: Glauben Sie es mir, ein Geist, wie der Ihrige, bedarf einer starken, kräftigen, ihn ganz in Anspruch nehmenden Beschäftigung. Eine solche ist in unsern Geschäften nicht …“ Humboldts eigene Differenzen mit dem Staatsministerium führten indes zu seiner Entlassung. Sein Scheiden aber wurde allgemein bedauert, und auch er selbst wußte, daß er Bleibendes geschaffen hatte. „Ich hatte,“ so sagt er rückblickend nicht ohne Wehmut, „einen allgemeinen Plan gemacht, der von der kleinsten Schule an bis zur Universität alles umfaßte, und in dem alles ineinandergriff, ich war in jedem Teil desselben zu Hause, ich nahm mich des kleinsten wie des größten, ohne Vorliebe, mit gleicher Tätigkeit an, ich ließ mich durch keine Schwierigkeit abschrecken; wo ich für eine Sache augenblicklich schlechterdings nichts tun konnte, wandte ich mich sogleich auf eine andere; ich hatte, wie die wirkliche Niedergeschlagenheit bei meinem Abgang beweist, allgemeines Vertrauen.“ Wolf aber erhielt vom Ministerium Allenstein die Aufforderung, „nunmehr selbst zu bestimmen, in welche Verbindung er mit der Universität zu treten wünsche, und die Vorlesungen anzugeben, die er im bevorstehenden Winter zu halten gesonnen sei.“ Seine Anschauung darüber ging dahin (vgl. seine Antwort aus Wien den 4. September 1810), daß es den Mitgliedern der Königlichen Akademie der Wissenschaften vergönnt sein würde, auf gleiche Weise wie die eigentlichen Glieder der Universität Vorlesungen zu halten. Auf die Aufforderung der Sektion (vom 1. November 1810) eine bestimmte, unumwundene Erklärung abzugeben, blieb Wolf (am 8. Novbr.) bei seinem Wunsche, „an der neuen Universität n i c h t als Professor Ordinarius oder als Glied einer Fakultät“ in Funktion zu treten, sondern „in der Qualität eines Mitgliedes der Akademie der Wissenschaften lesen zu dürfen und s o im Lektionsverzeichnisse aufgeführt zu werden.“ Die Entscheidung fiel schließlich dahin aus, daß Wolf mit seinen Vorlesungen seit Ostern 1811 nicht mehr unter den ordentlichen Professoren, sondern unter den Sodales der Königlichen Akademie der Wissenschaften aufgeführt wurde. Darin sah er aber ein Werk bürokratischer Chikane und ließ sich von dem Unmut darüber derart beherrschen, daß er der Akademie der Wissenschaften entgelten ließ, was nach seiner Meinung das Departement des Kultus an ihm verschuldet hatte. Wolfs Streben war von vornherein darauf gerichtet gewesen, in allererster Linie als Akademiker (d. h. als Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften) eine Stellung sich zu gründen. Deshalb hatte er schon am 5. Februar 1809 seinem Freunde Humboldt seine Wünsche dargelegt: „ … Bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften allhier möchte ich immerhin meinen seitherigen Platz behaupten, falls mit der Akademie keine Veränderung vorginge, sonst aber mir auf eine der ersteren Stellen Hoffnung machen dürfen, als auf die eines Direktors der philologischen Klasse, überhaupt unter denen zu sein, die auf zweckmäßige Reform der Akademie wirken werden.“ Als aber die ohne seine Anteilnahme entworfenen Statuten der Akademie der Wissenschaften vom 24. Januar 1812 in Wirksamkeit getreten waren, erklärte Wolf (11. März 1812), er wisse nicht, wiefern es möglich sei an einer solchen Tätigkeit in der Akademie, wie in den Statuten beschrieben werde, teilzunehmen und deshalb, wenn es erforderlich sei, darüber bei erster Gelegenheit sich erklären würde.“ Diese Erklärung gab er aber (am 8. April) dahin ab, daß jetzt, wo er „gegen Wunsch und Neigung zur Tätigkeit eines ordentlichen Professors verpflichtet worden, von seiner Seite weder auf die den neuen Statuten gemäßen Verrichtungen noch auf ein regelmäßiges Lesen von Memoiren zu rechnen sei …“ Diese Erklärung betrachtete die Akademie als freiwilligen Austritt und beantragte über sein Jahresgehalt von 900 Talern anderweitig disponieren zu können. Gegen letzteren Antrag erhob jedoch Wolf berechtigten Protest, ward aber als „Ehrenmitglied“ in dem Verzeichnis der Mitglieder und Korrespondenten der Akademie vom 3. Juli 1812 aufgeführt. In der Folgezeit war aber eine Annäherung zwischen ihm und der Akademie so wenig erfolgt, daß noch in den Jahren 1816 und 1817 Schuckmann als Minister des Innern sogar diese seine Ehrenmitgliedschaft in Schutz nehmen mußte. Wolf beschränkte aber seine amtliche Tätigkeit auf seine Universitätsvorlesungen, doch gelang es ihm nicht wieder, sein ganz hervorragendes Lehrtalent in den alten Schwung zu bringen, zumal er unlustig und nach und nach auch sehr unregelmäßig las. Dies hatte aber hauptsächlich darin seinen Grund, daß seine Berufsfreudigkeit unheilbar gebrochen war, da er, mißvergnügt und mit aller Welt zerfallen, immer tiefer in seinen Widerspruchsgeist, den Geist der Verneinung hineingeriet, einen Geist, der Goethe so unangenehm berührte. Und über die gleiche Beobachtung schrieb Goethe nach einem Besuche Wolfs in Tennstädt aufs neue an Zelter (28. August 1816): „Wolf hat sich auf die seltsamste Weise dem Widerspruch ergeben, daß er alles, was dasteht, hartnäckig verneint und einen, ob man gleich darauf gefaßt ist, zur Verzweiflung treibt. Eine solche Unart wächst von Jahr zu Jahr und macht seinen Umgang, der so belehrend und förderlich sein könnte, unnütz und unverträglich; ja man wird zuletzt von gleicher Tollheit angesteckt, daß man ein Vergnügen findet, das Umgekehrte zu sagen von dem, was man denkt. Man kann sich vorstellen, was dieser Mann als Lehrer in früherer Zeit trefflich muß gewirkt haben, da es ihm Freude machte, tüchtig positiv zu sein.“ Kein Wunder daher, daß infolge solcher Seelenstimmung auch der Ertrag seiner wissenschaftlichen Arbeiten in Berlin gering war. Von den Uebersetzungen als einem schönen Spiel nimmt die Nachdichtung der „Wolken“ des Aristophanes (1811) den ersten Platz ein. Der Kern seiner Uebersetzungs- theorie besteht darin, daß die Uebertragung eine Nachbildung sein müsse, worin Stoff und Form dergestalt sich durchdringen, daß dem Kenner ein völlig gleicher Genuß wie durch die Urschrift ohne irgendeine Störung bereitet würde. Und oft genug hat er dabei den übertriebenen Purismus verworfen und aus dem Wesen aller Sprache nachgewiesen, daß keine sich völlig abschließen lasse, noch auf ihren alleinigen Füßen stehe. Von jener „herrlichen Uebertragung“ urteilt aber J. 0. Droys en als berufener Kenner: Wolfs ausgeprägte und dem Klassischen merkwürdig verwandte Eigentümlichkeit, die kecke Grandiosität seiner Laune und die attische Kühnheit seines allseitig beweglichen und freien Sinnes habe sich nirgends anziehender und imponierender abspiegeln können als eben in den deutschen „Wollten.“ Wenn damals Wolf in resignierter Stimmung auch seine wissenschaftliche Laufbahn für abgeschlossen erklärte, so zeigt doch die folgende Zeit, daß er ein besonders reges Interesse für die Pädagogik an den Tag legte. So hat er zahlreiche Arbeiten zu der am 12. Oktober 1812 veröffentlichten Abiturientenprüfungsinstruktion geliefert. Freilich war darin sein Ton voll Bitterkeit, insbesondere gegen Süvern, dem die Abfassung des Reglements nach seiner amtlichen Stellung oblag, und das scheint auch Schuckmann verstimmt zu haben. Dennoch wurde er (1812) von dem Departement für den Kultus und öffentlichen Unterricht über eine „Anweisung über die Einrichtung der öffentlichen allgemeinen Schulen im preußischen Staate“ zu Rate gezogen. Und sein Gutachten über Süverns Entwurf „die Unterrichtsverfassung der Gymnasien und Stadtschulen betreffend“ war freundlich gehalten (13. Januar 1812). Vielleicht ist an der Wandlung seiner Gesinnung gegenüber seinem einstigen Schüler W. von Humboldt nicht ohne Einfluß gewesen. Denn wiederholt griff er begütigend ein und verfehlte nicht auf Süverns unleugbare Verdienste hinzuweisen: man dürfe ihn nicht nur als Philologen betrachten, sondern er habe auch über Pädagogik und den philosophischen Teil des Erziehungsfaches äußerst gut durchdachte und selbst neue Ideen. In der Tat faßte Süvern, neben Humboldt (Wolf saß gleich dem zürnenden Achill abseits) unzweifelhaft der geistreichste und tätigste Kopf der Sektion, in dessen Leben sich die schöne Welt des Neuhumanismus mit der aktiven Philosophie eines Fichte aufs innigste vermählte, immer die Dinge vom hohen Standpunkte der Idee, immer aber wußte er auch die Individualität der Wirklichkeit zu schonen und so die Verfügungen zu lebenweckenden Maßregeln zu gestalten. Auch Wolf trug sich lange Zeit mit dem Gedanken, eine „neue Schulordnung für deutsche Gymnasien“ zu entwerfen, und diese Absicht scheint seine Studien besonders bestimmt zu haben. Allein trotz aller Vorbereitungen hat er seine Arbeit doch nie zum Abschluß gebracht. Von den ihm zugedachten Funktionen hat er also nur die Visitation der Berliner Gymnasien eine Zeitlang ausgeübt; gerade diese hätte er auch künftig gern beibehalten, was aber verfassungsmäßig nicht möglich war. Daß er aber auf dem Gebiete der pädagogischen Wissenschaft nicht praktisch tätig im eminentesten Sinne gewesen ist, bleibt stets aufs tiefste zu bedauern. Denn er besaß hier in der Tat die umfassendste Erfahrung, ein Gebiet, das Humboldt doch nur durch das Medium bestimmter grundsätzlicher Ideen sah. Und trotz seiner Abneigung gegen jede gesonderte pädagogische Wissenschaft war und ist er doch der eigentliche Begründer der Gymnasialpädagogik, die er nach ihrer damaligen, vorwiegend eben philosophischen Richtung in allen ihren Zweigen übersah. Was aber Wolf nicht ausgeführt hat, das hat sein Schüler Süvern als Referent für das Gymnasialwesen in rastloser und vielseitiger Tätigkeit durchzuführen versucht. Und das Resultat davon ist um 1820 im wesentlichen etwa folgendes: die griechische Sprache wurde als ein unerläßliches Hauptstück von allen Schülern gefordert; das Lateinschreiben nach ciceronianischem Muster in den oberen Klassen als das erste und wichtigste Stück des Gymnasialunterrichts geübt, Mathematik und Philosophie traten hingegen sehr zurück. Diese für manchen Beobachter der pädagogischen Welt um 1770 bis 1820 überraschende Wendung der Dinge läßt sich auf drei Momente, auf ein religiöses, ein nationales und ein soziales zurückführen. Der Fürst der Aufklärung Voltaire herrschte in den oberen Kreisen, in Berlin wie in Paris. Und was in Frankreich auf politischem Wege geschah, das vollzog sich in Deutschland auf litterarisch-philologischem: trotzige Absage an das kirchliche Glaubensbekenntnis. Spinoza ist der Philosoph der neuen Zeit. Aber der religiöseTrieb in der Menschennatur ist unausrottbar. Darum fand die neue Zeit das Bild des Vollkommenen — im Griechentum. Der hellenische Humanismus ist eine neue Religion, die Philologen sind ihre Priester, die Universitäten und Gymnasien ihre Tempel. Voß und Wolf, Passow und Thiersch, Hegel und Hölderlin konnten zum Christentum kein inneres Verhältnis mehr gewinnen, wohl aber erschien ihnen das Griechentum als die Welt der Wahrheit und Freiheit, der Schönheit und Größe: „glückselig“, ruft einmal Wolf aus, „sind wir Philologen, daß uns weder Götter noch Menschen hindern, d. h. frei und ungebunden nach allseitiger Erwägung so oder anders uns zu entscheiden. Wenn ein Theolog einmal von der gebotenen Ansicht abweicht, gleich entsteht Geschrei und Aufregung des Pöbels, wenn dagegen wir heute einreißen, was wir gestern bauten, so merkt es kaum der Nachbar.“ Das erwachende nationale Selbstgefühl rief dann im Kampfe gegen die Franzosen die Griechen, die wahren Klassiker zu Hilfe; von ihnen als den Lehrern aller Völker zu nehmen und zu lernen, bedeutete keine nationale Kränkung und keinen seelischen Druck. Dies Gefühl ist schon bei Lessing wie bei dem jungen Goethe in Straßburg lebendig. Und später nährte wiederum das deutsche Volk gegenüber dem korsischen Unterdrücker die Freiheitshoffnungen an der griechischen Literatur; man las den Demosthenes und verstand Napoleon, wo jener von Philipp redete. Darum vergiß nicht, du deutsche Jugend, daß die Griechen stets ein Jungbrunnen für Freiheit und Natur suchende Geister sind: in der Welt der Griechen spiegelt sich die Sehnsucht nach Freiheit. Auch die Tatsache ist höchst wichtig, daß der Neuhumanismus vom protestantischen Deutschland ausgegangen ist. Denn der Grundcharakter der protestantischen Theologie ist historischer Natur. Die protestantischen Theologen haben es mit ihrem großen Vorbilde Luther immer für eine Ehrensache gehalten, die Bibel im Original zu lesen. Darum ist die deutsche Freiheit mit der griechischen Sprache auch in der Theologie verknüpft. Und endlich das soziale Moment: seit dem 17. Jahrhundert war der Adel der herrschende Stand und der Träger der Bildung gewesen; die Höfe waren die Brennpunkte der Kultur; die Städte und das Bürgertum hingegen hatten ihre Bedeutung verloren. Aber seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ist das Bürgertum wieder im Aufsteigen: neues Ansehen in der Literatur und Wissenschaft und Gleichstellung im Staat und in der Gesellschaft waren die wohltätigen Folgen. Diese aufsteigende Schicht stellt der französischen Bildung des Adels die griechische Bildung als die höhere und w irklich vornehmere gegenüber: die griechische Bildung ist die wahrhafte Menschenbildung; Unkunde des Griechischen (nicht des Französischen) schließt dagegen von höherer und freierer Bildung aus. Ohne den Eintritt des Bürgertums in die Gesellschaft wäre nie das Griechische als obligatorisches Lehrfach in den Gymnasien durchgesetzt worden. An den Höfen lernten nicht nur Minister (z. B. von Zedlitz und von Reizenstein), sondern sogar Fürsten und Prinzen die griechische Sprache. Das alte Preußen brach zwar durch Napoleon zusammen, aber Männer aus dem Volke wußten die deutsche Volkskraft zu entfesseln: eine geistige Aristokratie übernahm die Führung. Und der Neubau des gesamten Staatswesens machte auch zugleich eine durchgreifende Reform des Bildungswesens notwendig. So blüht auch im Leben der Völker aus den Ruinen neues Leben: in der Tat ein tröstlicher Gedanke auch für die Zukunft! — In die Zeit aber, wo Wolf voll Unmut nichts für gut hielt, wenn er es nicht selbst gemacht hatte, fällt auch sein Aburteilen über Fach- und Amtsgenossen. Ueber sein abschätziges Urteil über Niebuhr als Autodidaktos ist die Ansicht Goethes an Wilhelm von Humboldt (vom 30. August 1812) höchst lehrreich: „Sie geben mir die Notiz, daß unser Wolf mit dem Niebuhrschen Werke (über die Geschichte der Römer) nicht zufrieden ist, er, der vorzügliches Recht hätte, es zu sein. Ich bin jedoch hierüber ganz beruhigt, ich schätze Wolfen unendlich, wenn er wirkt und tut, aber teilnehmend habe ich ihn nie gekannt, besonders am Gleichzeitigen, und hierin ist er ein wahrer Deutscher. Sodann weiß er viel zu viel, um sich noch belehren zu mögen und um nicht die Lücken in dem Wissen anderer zu entdecken. Er hat seine eigene Denkweise, wie sollte er fremden Ansichten etwas abgewinnen? Und gerade die großen Vorzüge, die er hat, sind recht geeignet, den Geist des Widerspruchs und des Ablehnens zu erregen und zu erhalten.“ Und als Wolf vor Verdruß darüber, daß ihm sein Schüler Heindorf mit einer Platonausgabe zuvorkommen wollte, die Schale seines Zornes auch über Heindorfs Freunde reichlich ausgegossen hatte, da veröffentlichten diese für ihren eben aus dem Leben geschiedenen Freund († 23. Juni 1816) eine Flugschrift unter dem Titel: „Buttmann und Schleiermacher über Heindorf und Wolf“ (Berlin 1816). Welchen Staub sie aber in den gelehrten Kreisen aufwirbelte, dafür sind zwei Schreiben Zelters an Goethe höchst charakteristisch: 1) „Gegen G. R. Wolf ist gestern eine Schrift von Buttmann und Schleiermacher erschienen, die ihm den gar- aus machen soll. Ich wüßte ihn ganz anders zu zausen, und man sieht wohl, daß die Herrn weder sich noch was anderes verstehen“ (20. Oktober 1816) und 2) „Wenn Du jetzt den Ise- grimm sehen solltest, würdest Du Deinen Spaß daran haben. — Wie er von allen Seiten gescholten, ja verfolgt wird, fehlt es nicht an solchen, die ihm die Stange halten; und da ihm wirklich etwas bange ist, ist er wie Schafleder und nimmt hin, was ihm sonst unerträglich gewesen wäre“ (25. Oktober). Eine öffentliche Widerlegung jenes Pamphlets erfolgte allerdings nicht, aber vor dem Kreise seiner Hörer schleuderte der Meister in ungebrochenem Selbstgefühle die echt Wölfischen Worte in die Welt hinaus: „Sie haben gelesen, meine Herren, was die Herren Buttmann, Schleiermacher und von Savigny gegen mich und für den Professor Heindorf in die Welt geschickt haben. Versteht sich, daß ich von meinem Urteile nichts zurücknehme, aber lassen Sie uns betrachten, welche Helden gegen mich aufgetreten sind: Herr Buttmann, der Welt als Grammatiker, aber keineswegs als Interpret bekannt, Herr Schleiermacher, der durch seine Uebersetzung Platon verdorben hat, Herr von Savigny, der selbst gesteht, erst hier in Berlin das Griechische gelernt zu haben. Wer ich bin, Quiriten, das wißt Ihr.“ Wer den Wolf der Berliner Zeit ganz verstehen und damit völlig objektiv beurteilen will, der wird gut tun, in die damalige Welt der Gelehrten und Regierenden bis in die feinsten Verästelungen mit Scharfblick und mit starkem Mute einzudringen. Goethe sah ja in jeder genialen Natur etwas „Dämonisches“; er kannte das Unselige in einer solchen Natur und wußte, daß sie an ihren inneren Gegensätzen leide. Darum hatte gerade er für die Tragik des Genies Wolf so tiefes Verständnis und so milde Worte. Er selbst freilich, der große erzieherische Geist, der Selbstbildner und Selbstvollender hat auch das Genie in sich erzogen und freigemacht. Sein früheres Wesen aber konnte Wolf dauernd nur auf Reisen wiedergewinnen. So war er 1814 vier Monate in den Rheinbädern und im Herbst 1816 besuchte er „seine Inkunabeln“, Hainrode und Nordhausen, dann Osterode am Harz und Göttingen. Am genußreichsten aber war seine Sommerreise 1820: nach längerem Aufenthalte bei seiner jüngsten in Frankfurt a. M. verheirateten Tochter Karoline zog er den Oberrhein hinauf bis Zürich, wo allein von seinen alten Schülern sieben beisammen waren: Usteri, Bremi, Ulrich, Weiß, Ochsner, Escher und Han- hart. Aus jenen lebensfrohen Tagen gibt Escher seinem Freunde Nüßlin in Mannheim (6. Juni 1821) eine prachtvolle Schilderung: „… Eine köstliche Stunde hatten nur, als er (Wolf) auf unsere Bitte, um uns so ganz in die alten Zeiten zu versetzen, ein Stück aus der Odyssee erklärte. Wolf saß in der Mitte des Zimmers, unser etwa fünfzehn um ihn herum, und nun war er wieder ganz der alte: in einer Ecke saß ein geschickter Porträtzeichner, der ihn während der Vorlesung ganz in seiner Individualität auffaßte. Daß auf dieses Kollegium ein fröhliches Mahl folgte, versteht sich …“ Auf dieser Reise scheint in der Tat Wolfen die hohe Bedeutung seines Lebens noch einmal recht lebhaft vor die eigene Seele getreten zu sein: „Ich genieße ein Glück, das nur wenigen in meiner Lage zuteil wurde, — noch lebend zu sehen, was die mühsamen Pflanzungen für die zukünftige Zeit versprechen, und wie sie gedeihen möchten, wenn man nicht mehr dabei ist.“ Und er sollte in der Tat nicht mehr lange dabei sein. Nach seiner Krankheit (Anfang 1822) kränkelte er häufig; deshalb sollte er im Frühjahr 1824 auf ärztlichen Rat ein milderes Klima — Nizza aufsuchen. Am 14. April reiste Wolf von Berlin ab und kam schließlich am 16. Juli in Marseille an, wo er aber aufs neue erkrankte. Am 8. August (1824) ist er daselbst gestorben, in dem gleichen Jahre also, da seine erste Bildungsstätte, das Gymnasium zu Nordhausen, die 300jährige Jubelfeier beging. Auf dem klassischen Boden der uralten phokäischen Pflanzstadt Massilia hat er auch seine letzte Ruhestätte gefunden. Bei seiner Beerdigung waren der Präfekt der Stadt, der preußische und dänische Konsul, der Bankier Otier und noch etwa 150 Personen zugegen. Als die Nachricht von seinem Tode in Berlin eintraf, erschien von Gottlieb Wilhelm Groke in der Vossischen Zeitung folgendes Epigramm: Fr. Aug. Wolfii Massiliae mortui epitaphium. „Seu redeam sanus, seu det mihi classica sedem („Kräftiger kehr ich zurück, wo nicht: giebt klassischer Boden Die Versammlung deutscher Philologen, Schulmänner und Orientalisten hatten am 2. Oktober 1850 in Berlin beschlossen, Wolfs Grab mit einem Denkmale zu schmücken. Aber trotz der eifrigsten Nachforschungen, besonders von Wolfs Tochter an Ort und Stelle, konnte die Ruhestatt des großen Mannes doch nicht bestimmt ausfindig gemacht werden. Solche Vergänglichkeit menschlicher Dinge muß wehmütig stimmen, aber ein hoher Gedanke, ein Ausspruch des Perikies (bei Thukydides) mag uns trösten und zugleich erheben: „Hochberühmten Männern gewährt jegliches Land eine Ruhestatt.“ Auf der Erlanger Philologenversammlung (1852) beantragte jedoch sein genialer Schüler B o e c k h , Wolf an dem Sitze seiner vorzüglichsten Wirksamkeit, in Halle, ein Denkmal zu setzen: eine Marmorbüste (nach dem unvergleichlichen Kunstwerk des Bildhauers Friedrich Tieck) in der Aula des Hallischen Universitätsgebäudes (seit 1854). Und die einfache Steinplatte (wohl aus gleicher Zeit) auf Wolfs letzter Ruhestätte trägt die Inschrift: D. M. Rings nur Welle und Spiel.
Noch aber bleibt dem Geschlechte deutscher Philologen eine Ehrenschuld: Wolfs inneres Leben und sein rein wissenschaftliches Wirken fordern eine eigene Biographie: sie hätte sein griechischer Freund, Wilhelm von Humboldt, der die menschlichen, oft allzu menschlichen Wesensseiten seines Meisters, wie nur je ein kongenialer Geist, verstand, wohl am besten schreiben können. Dennoch mag der Tag nicht ferne sein, wo dem Manne, in dessen klassischem Talente „die Welt der Griechen und Römer eine neue Stätte des Lebens und Wirkens gefunden, der auf dem Gebiete des edelsten Wissens seinem Volke ein Lehrer im höchsten Sinne geworden,“ Friedrich August Wolf ein solches Denkmal aere perennius errichtet werde. — Die tragische Fügung des oben angedeuteten Schicksals wird sich im Kreislauf der Jahre aufs neue wiederholen: während das Gymnasium zu Nordhausen seine 400jährige Jubelfeier begeht, muß es zugleich um die Schläfen seines größten Sohnes den ewiggrünen Cypressenzweig winden. Aber die Geister des Himmels, die immer geschäftigen, tragen seine Wünsche durch Nacht und Ferne in die Heimat. Solange aber sein Geist wie die Sterne des Himmels über seiner heimatlichen Bildungsstätte leuchtet, wird das Gymnasium zu Nordhausen unter voller Berücksichtigung der Forderungen einer neuen Zeit, zugleich aber auch unter kräftiger Betonung der Ausbildung seiner Eigenart seine hohe Aufgabe, seinen Jünglingen die wissenschaftliche Grundlage für ihre Ausbildung zu geistigen Führern der Nation zu geben, auch künftig glänzend erfüllen. Und die Arbeit seiner Erzieher und Lehrer bleibt in hohem Ansehen: in lebendigem Verkehr lebendigen Menschenseelen in dem empfänglichsten Lebensalter Gehalt und Form zu geben, ist und bleibt eine freie und vornehme Kunst. Die öffentliche Meinung jedoch, auch wenn sie wandelbar ist wie das Wetter, wird gut tun, die gewichtigen Stimmen sachkundiger Männer über den Wert oder Unwert von Einrichtungen einer höheren Schule zu hören. Dann allerdings wird die Stunde nicht mehr ferne sein, in der des neuen Lebens Sonne tagt. Was aber einmal Friedrich Schleiermacher über das Wesen der Universität sagt, das dürfte in gleichem Maße auch schon für die Gelehrtenschule gelten: „Es mag vielleicht andere Dinge geben, welche gedeihen können, wenn auch diejenigen, die daran arbeiten, nur durch äußeren Zwang gehalten und getrieben werden; dieses Werk aber nicht, sondern es kann nur durch Lust und Liebe bestehen, und was ohne diese auch die vortrefflichsten Gebote und Statuten tun können, kann immer nur ein leerer Schein werden. Wer sich die Aufgabe setzt, eine Universität so einzurichten, daß sie gehen und Dienste leisten müßte, wenn auch die Lehrer kaum mittelmäßig wären, und nicht vom besten Willen, der unternimmt ein töricht Ding. Denn was für den Geist sein und ihn kräftigen soll, das muß auch aus der Kraft des Geistes hervorgehen.“ —
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