Nordhausen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts; der Verlust der Reichsfreiheit
Kapitel 15.
Nordhausen
in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts; der Verlust der Reichsfreiheit.
Während Deutschland im 18. Jahrhundert in kultureller Beziehung ebenbürtig neben den am weitesten fortgeschrittenen Nationen stand und ein Leibnitz und ein Lessing den Vergleich mit den erleuchtetsten Geistern Frankreichs und Englands nicht zu scheuen brauchten, während Deutschland in wirtschaftlicher Beziehung zwar mit jenen großen Westmächten, die den Vorzug einer unvergleichlich besseren geographischen Lage als Deutschland besitzen, nicht Schritt halten konnte, durch den Fleiß und die Begabung seiner Bevölkerung aber hinter diesen doch nicht gar zu stark zurückblieb, lagen die politischen Verhältnisse des nunmehr 900jährigen Reiches derart im Argen, daß von der Auflösung dieses kläglichen Gebildes nur Vorteile für das deutsche Volk zu erwarten waren. Dennoch gab es genug Reichsstände, welche sich mit Händen und Füßen gegen jede Änderung der völlig veralteten Zustände sträubten. Besonders waren es die geistlichen Stifter und kleineren Freien Reichsstädte, die politisch längst jede Daseinsberechtigung verloren hatten, aber mit aller Gewalt sich am alten Reiche festklammerten und für sein Bestehen eintraten, weil sein Untergang auch der ihre war. Gewiß, es wurde höchste Zeit, daß diese merkwürdigen Zeugen längst verschwundener Tage ausgelöscht wurden. Das soll aber unseren Blick nicht trüben für die Leistungen, welche diese staatlichen Gebilde für das deutsche Volk und für die Menschheit voreinst vollbracht haben; und für das späte 18. Jahrhundert müssen wir ihnen wenigstens das Recht der Selbstbehauptung zubilligen. Denn: „Alles, was lebt, hat eine Berechtigung zu leben und sein Leben zu verteidigen.“ So verteidigte denn auch die Reichsstadt Nordhausen bis zum äußersten und bis zum letzten ihre alten Rechte und Freiheiten, und wie in den vorhergehenden Jahrhunderten, so hielt sie auch in diesen letzten Lebensjahren des Römischen Reiches treu zu Kaiser und Reich als den einzigen Stützen ihrer Unabhängigkeit und ihres Eigenlebens. Wie im 17. Jahrhundert, so gab es auch im 18. Jahrhundert keine loyalere Stadt als Nordhausen. Selbst bei jeder Schwangerschaft der Kaiserin wurden in Nordhausen behördlicherseits öffentliche Gebete für eine glückliche Entbindung angeordnet, so daß damals verhältnismäßig viel gebetet wurde, da Maria Theresia ihrem Gatten 16 Kinder schenkte. Und die ganze Treue Nordhausens zur kaiserlichen Familie spricht aus den Bestimmungen, die der Rat im Jahre 1780 nach dem Eintreffen der Nachricht vom Tode der großen Kaiserin erließ. Am Heiligen Abend dieses Jahres wurde eine sechs Wochen dauernde allgemeine Trauer angeordnet. Die Ratsherrn hatten schwarze Tracht anzulegen, jede öffentliche Festlichkeit, jede Musik war untersagt, die Altäre und Kanzeln in den Kirchen wurden mit schwarzem Flor umhüllt, 14 Tage lang wurde mittags von 11-12 Uhr mit allen Glocken geläutet, von der Petri- und Blasiikirche herab erklangen Sterbelieder, ja, die Nachtwächter mußten nachts Sterbelieder singen. Mit sehr viel größeren Ehren hat man selbst den Heilbringer Lenin in Sowjet-Rußland nicht zu Grabe getragen. Und uns scheint sogar beim Tode dieser Kaiserin die Trauer echt und herzlich gewesen zu sein. Denn wir wissen zwar nicht genau, ob es jemals eine größere Regentin gegeben hat als Maria Theresia, das aber wissen wir, daß niemals eine bessere Gattin und Mutter einen Thron geziert hat. War die Trauer jedesmal groß beim Ableben eines Mitgliedes des Kaiserhauses, so war die Freude nicht geringer bei der Thronbesteigung eines neuen Habsburgsprosses. Zum letzten Mal wurden am 9. Juli 1792 zur Begrüßung des neuen Kaisers, Franz’ . II., die Kanonen abgefeuert und unter Pauken und Trompeten ein Te Deum angestimmt. Sehr viel zurückhaltender war man anderen Herrscherhäusern gegenüber mit Freuden- oder Trauerbezeugungen. Als Friedrich II. im August 1786 die Augen geschlossen hatte, ging ein höfliches Kondolenzschreiben nach Berlin, und damit gut. Man hatte seine Gründe dafür. Im allgemeinen merkte man sonst nicht viel vom Reiche. Regelmäßig wurden die Beiträge zur Unterhaltung von Reichstag und Reichskammergericht angefordert, auch mußte man bei Kriegen des Reiches außerordentliche Beisteuern leisten, und schließlich führte man Prozesse in hinreichender Zahl vor dem Reichskammergericht in Wetzlar und dem Reichshofrat zu Wien. Wirklich Ersprießliches für Handel und Wandel in Nordhausen leistete das Reich kaum, es sei denn, daß die im Jahre 1731 verabschiedete Reichshandwerksordnung am 30. September 1732 auch in Nordhausen angeschlagen und bekannt gegeben und damit den gröbsten Auswüchsen des verknöcherten Zunftwesens Einhalt getan wurde, wie sie sich besonders in den Reichsstädten, wo die Handwerker das Heft in der Hand hatten, in der immer größeren Einschränkung der Lehrjungen- und Gesellenzahl zeigte, so daß beinahe nur noch Meistersöhne ein Handwerk ergreifen oder es wenigstens in ihm zu etwas Rechtem bringen konnten. Neben dem Reiche machte sich wohl hie und da der Niedersächsische Kreis, dem Nordhausen angehörte, bemerkbar; doch war er gegenüber dem 16. und 17. Jahrhundert nunmehr fast zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken, da Hannover, Braunschweig und Preußen zu einer überragenden, diese alte Kreiseinteilung sprengenden Stellung gelangt waren. So führte man denn zu Nordhausen in politischer Beziehung schlecht und recht und ziemlich inhaltlos sein Eigenleben. Je bedeutungsloser man wurde, desto stolzer wurde man auf die noch bewahrte Selbständigkeit. 1736 hatte Chilian Volkmar Riemann noch einmal ein neues Stadtsiegel anfertigen lassen, auf dem stolz der alte Reichsadler prangte. Im Siebenjährigen Kriege hatte man nicht wenig gezittert um die Bewahrung der Freiheit. Desto größer war beim Friedensschluß 1763 der Jubel darüber, daß kein altes Recht der Stadt angetastet worden war. Den hölzernen Tempel, der für die Friedensfeierlichkeiten auf dem Königshofe errichtet worden, erleuchteten 2000 Lampen, und 16 Inschriften zierten ihn, darunter als bedeutsamste: „Liberias incolumis“, die der Konrektor Hake triumphierend übersetzte: „Noch stehet die Freiheit.“ Eng verknüpft mit der Reichsfreiheit war die Vorherrschaft der Innungen; und wenn man auch sonst nicht allzu viel aus der alten Stadtgeschichte kannte, – daß im Jahre 1375 die Herrschaft von den gefreundten Geschlechtern auf die Handwerker übergegangen war, mußte jeder Lehrjunge wissen, und am Tage, wo sich der Tag der großen Nordhäuser Revolution zum 400. Male jährte, am 14. Februar 1775, feierten die Gilden ein großes Jubelfest, und die Annalen berichten: „Es wurde dieses Fest unter Pauken- und Trompetenschall, auch vielen Illuminationen und Schmausereien vollbracht.“ Die bürgerliche Unabhängigkeit glaubte man einstmals errungen zu haben, und stolz war man auf sein Nordhäusisches Bürgertum. Man sah zwar gern, wenn Adlige sich Nordhausen als ihren Ruhesitz wählten und hier ihr Geld verzehrten, aber Bürger konnten sie ebenso wenig werden wie die Juden. Als Antastung eines uralten städtischen Rechtes faßte man es deshalb auf, als im 18. Jahrhundert ein Bürger namens Uckermann, der durch Getreidehandel im Siebenjährigen Kriege wohlhabend geworden war, vom Kaiser geadelt wurde und trotzdem Bürger bleiben sollte. Tief bekümmert wandte sich die Stadt an den Reichshofrat ob solcher unerhörten Beeinträchtigungen, und noch bekümmerter war sie, als der Reichshofrat des Grundsatzes: „Adlige Personen haben bürgerliche Jura in Nordhausen nie gehabt“, nicht achtete und nach mehrfacher Resistenz der Stadt befahl, den Herrn „von“ Uckermann ungekränkt in der Stadt als Bürger zu dulden. Merkwürdig war es, daß die Einwohnerzahl trotz starken wirtschaftlichen Aufschwungs seit Jahrhunderten fast dieselbe geblieben war. 1581 schon zählte man 1192 Herdstätten, 614 in der Oberstadt, 588 in der Unterstadt, für die man etwa 7000 Einwohner annehmen muß. 1747 waren 1234 Herdstätten, und zwar 643 in der Oberstadt und 591 in der Unterstadt vorhanden, und bei der Zählung im Jahre 1771 fand man genau wie in den früheren Jahrhunderten etwa 1250 Häuser mit 4131 Einwohnern in der Oberstadt und 3676 in den Vorstädten, zusammen 7807. Trotz der politischen Bedeutungslosigkeit und der Stagnation in der Einwohnerzahl war die Stadt kulturell durchaus mit der Zeit fortgeschritten. Aufklärung und bis zu einem gewissen Grade Toleranz hatten schon früh ihren Einzug in Nordhausen gehalten, und in den siebziger Jahren des Jahrhunderts stellte sich pünktlich die Neigung zum Sturm und Drang ein, die auch von Göckingk, weiland zu Ellrich Kanzleidirektor, genährt wurde. Tüchtige Männer, die den Geist ihrer Zeit erkannt hatten, bewirkten, daß Nordhausen hinter der Welt nicht zurückblieb. Allen weit überlegen war unzweifelhaft der Bürgermeister Chilian Volkmar Riemann, ein Kommunalpolitiker von bedeutendem Rang, aber auch sonst ein vielseitig angeregter und anregender Mann. Trotz mancher Anfeindungen, die auch er, wie jeder im öffentlichen Leben Stehende, zu ertragen hatte, und trotz kleiner Makel, die nun einmal von ihm nicht wegzuwaschen sind, wußte Nordhausen doch, was es an diesem Manne besaß. Als er, 76 Jahre alt, am 17. Juli 1763 gestorben war und am 20. Juli auf dem Petersberg-Friedhofe begraben wurde, gestaltete sich die Totenfeier zu einer machtvollen und ehrlichen Kundgebung für den Toten. Von 1-2 Uhr nachmittags erklangen alle Glocken Nordhausens; und war wohl kein falscher Ton darin. Ähnlich wie er wirkten sein Bruder Joh. Gottfried Riemann und dessen Sohn Heinrich Gottfried Riemann. Daneben stand die mit den Riemanns verschwägerte Filtersche Familie, aus der Großvater, Vater und Sohn Kaiserliche Postmeister in Nordhausen waren, zugleich aber als Bürgermeister, Ratsherrn und Stadtsekretäre in städtischen Diensten standen. Und abgesehen von diesen meist als Juristen ausgebildeten Männern tat sich noch mancher wackere Theolog und Philolog hervor. Wir erwähnen nur den Pietisten und Rationalisten Goldhagen, der zunächst als Konrektor, dann von 1744-1753 als Rektor am Nordhäuser Gymnasium tätig war und der ebenso wie sein Vorgänger zu Beginn des Jahrhunderts, der Rektor Meier, nach Magdeburg berufen wurde. In den sechziger und siebziger Jahren löste diesen dann, nach dem Zwischenrektorat von Fabricius, Konrad Hake ab, ein vorzüglicher Erzieher und ein literarisch und ästhetisch hochgebildeter Mann, der leider schon 1771, noch jung an Jahren, dahinschied. Auch tüchtige Musiker hatte Nordhausen damals in seinen Mauern: Bis 1782 wirkte Gottlieb Schröter als Organist an St. Nikolai in der Stadt, und neben ihm trat bald der Kantor Frankenstein des Gymnasiums hervor, ein Sonderling zwar, aber ein geistvoller Lehrer, dem der junge Friedrich August Wolf, welcher um 1770 herum in Nordhausen die Schulbank drückte, die ersten bedeutungsvollen Anregungen verdankte. Und schließlich wollen wir auch noch des vielgewandten Nachfolgers Lessers in der Pfarre von St. Jakobi, des Pastors Joh. Heinrich Christian Hüpeden, gedenken, der als Seelsorger seiner Gemeinde getreulich in den Spuren seines Vorgängers wandelte, als Obstzüchter und Landwirt aber auf seinem 70 Morgen großen Gütchen an der Salza landwirtschaftliche Musteranlagen errichtete, die dem gesamten Nordhäuser Land- und Gartenbau zugute kamen.[1] Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts bekamen auch weitere Kreise wenigstens einen gewissen Anteil an einer tieferen Bildung, die bis zu Beginn des Jahrhunderts nur eine dünne Oberschicht im Gymnasium erworben hatte. In Verbindung mit den protestantischen Stadtkirchen und dem Waisenhause wuchsen Volksschulen empor, die wenigstens Schreiben und Lesen lehrten. Auch der Erziehung und dem Unterricht der Mädchen widmete man endlich einige Aufmerksamkeit. Schon in der Reformationszeit, schon im Jahre 1557, hatte ja die Priorin des Frauenbergklosters Margarete Bese die Güter und das Einkommen des Klosters dem Rate der Stadt zur Errichtung einer Mädchenschule zur Verfügung gestellt. Doch die Begeisterung der humanistischen Zeit für die Erteilung von Unterricht an breitere Volkskreise verpuffte gar bald. Schon Ausgang des 16. Jahrhunderts trug der Rat kein Bedenken, die überkommenen Güter anderen Zwecken dienstbar zu machen. Im 17. Jahrhundert lag die Erziehung der Mädchen ganz danieder, und die zwei Schulmeisterinnen, die bei kärglichstem Gehalt in der nach der Pfaffengasse verlegten Schule unterrichteten, mögen der weiblichen Jugend nicht viel mehr als einige Bibelsprüche und etwas Lesen beigebracht haben. Erst seit dem 18. Jahrhundert legte man mehr Wert auf eine gediegene Vorbildung des weiblichen Geschlechts. Eine neue Schule wurde in der Pfaffengasse erbaut, die aber schon 1712 abbrannte. So mußte man sich denn zunächst mit einem Raume im Broihanhause an der oberen Rautenstraße begnügen, bis 1735 die neue Schule in der Sackgasse (heute Wolfstraße) bezogen werden konnte. Damals wurde auch endlich eine dritte Lehrkraft angestellt; neben Frauen unterrichteten jetzt auch Männer. Das wichtigste Unterrichtsfach war im Zeitalter des Pietismus die Religion und im Zeitalter französischer Vorherrschaft das Französische. Durch Handfertigkeitsunterricht suchte man die Mädchen für ihren späteren Beruf als Hausfrauen und Mütter vorzubereiten. In dieser Form blieb die Schule bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts bestehen.[2] Der pietistische Geist der Zeit, der das Waisenhaus geschaffen hatte, und der bureaukratische Charakter des Absolutismus, der dem Staate auf alle Funktionen des öffentlichen Lebens Einfluß verschaffte, nahm sich auch der untersten Schichten der Gesellschaft an. War früher die Armenfürsorge durchaus der Kirche und den von ihr beeinflußten Einzelpersonen zugefallen, so raffte auch auf diesem Gebiete der Staat jetzt alles an sich.[3] Er ordnete und regelte auch hier und schuf dadurch für notleidende Menschen gewiß viel Segensreiches; aber man darf doch auch nicht die schädlichen Wirkungen der Omnipotenz des Staates übersehen. Hatte sich früher jeder Besitzende verantwortlich gehalten für die Übernahme von kulturellen und sozialen Aufgaben, so schwand jetzt dieses Bewußtsein der noblesse oblige mehr und mehr. Der Staat sorgte ja für alles, und man hatte seine Pflicht getan, wenn man ihm widerwillig die Steuern bezahlt hatte. Gerade auf Gebieten aber, wo es, wie bei der Armen-, Kranken-, Mütter-, Kinder- und Säuglingsfürsorge, nicht allein auf Linderung der materiellen und physischen Not ankommt, sondern wo die ganze hegende und pflegende Persönlichkeit auf die der Hegung und der Pflege bedürftige Persönlichkeit einwirken soll und muß, – gerade auf diesen Gebieten kann der immer bureaukratische und unpersönliche Staat niemals das leisten, was der einzelne vermag. Das erfahren wir ja heute, in unseren Tagen, mehr denn je, wo Staat und Gemeinden auch in der Wohlfahrtspflege, in der sie ein Heer von Beamten beschäftigen und besolden, alles an sich gerissen haben und wo dadurch das lebendige Verantwortungsbewußtsein des einzelnen für die leidende Menschheit immer mehr dahinsiecht.. Diese Entwicklung setzte im Zeitalter des Absolutismus ein, und diese Entwicklung ist ganz besonders jetzt nach dem Weltkriege wieder stark vorangekommen, seitdem der Staat, wenn auch in ganz anderen Formen, so doch in verschärftem Maße absolutistische Neigungen zeigt. Nicht die Kultur und das soziale Empfinden aus sich heraus, sondern die Wirtschaft scheint diesmal die Gärtnerin zu sein, die dafür Sorge tragen wird, daß die Bäume nicht bis in den Himmel wachsen. Kurzum, im Nordhausen des 18. Jahrhunderts hören wir zum ersten Male von einer wohlgeordneten Armenpflege. Es wurde festgestellt, daß „die greuliche Menge fremder Bettler den hiesigen Armen die Almosen entzieht und der ganzen Stadt höchst gefährlich und schädlich wird“. Deshalb wurde am 23. November 1728 alles Gassen- und Hausbetteln bei Gefängnisstrafe untersagt. Den Torschreibem und Pförtnern war es zur Pflicht gemacht, genaue Kontrolle zu üben und landfremde Bettler überhaupt nicht hereinzulassen. Nur die durch Krieg oder um des Glaubens willen Verfolgten durften durch das Sundhäuser Tor in die Stadt. Hier mußte ein Ratsdeputierter die Pässe der Ankommenden prüfen und besondere Quartierscheine für das Elisabethhospital ausstellen. Durch Feuersbrünste in Not Geratene und Kollektensammler, die für notleidende Kirchen und Schulen um Almosen baten, durften auch in Gasthäusern untergebracht werden. Reisende Handwerksburschen dagegen mußten sofort auf die Herberge ziehen, mußten von dort aus sogleich Arbeit suchen und nach zwei Tagen das Feld räumen, wenn sie keine Unterkunft gefunden hatten. Wenn man sich einerseits auf diese Weise fremder Bettler zu erwehren suchte, so stellte andererseits die im Oktober 1728 herausgegebene Armenordnung klipp und klar fest: „Jeder Ort oder Kommune ist schuldig, seine Armen zu versorgen.“ Da die Stadtkasse diese Lasten nicht übernehmen konnte, wurde jeden Mittwoch bei sämtlichen Bürgern eine Kollekte für die Stadtarmen eingesammelt. Jeder war gezwungen, Almosen zu geben. Wohlhabendere durften durch monatliche Zahlungen von mindestens 4 Groschen oder Vierteljahresbeiträgen von mindestens 12 Groschen die Kollekte ablösen. In den Gasthäusern und Schankstätten wurden verschlossene Büchsen aufgestellt, und dem Wirte wurde befohlen, die Gäste zur Mildtätigkeit „zu ermahnen“. Wöchentlich mußten die Stadtarmen sich im Martinihospital versammeln, jeder wurde vom Spitalgeistlichen nach dem Katechismus gefragt, bekam auch einen Katechismus und ein Gesangbuch in die Hand gedrückt, und der Pfarrer ordnete die Bedürftigen nach ihrer Würdigkeit und Arbeitsfähigkeit zum Almosenempfang ein. Derlei Bestimmungen und Kontrollen sind Musterbeispiele für die verheerenden Wirkungen, die staatliche Fürsorge mit sich bringen muß, auch in unseren Tagen, wo an die Stelle von Thron und Altar nur andere Potenzen getreten sind. Die erzieherischste Bestimmung der Armenordnung war die, daß jeder Arme, der arbeiten konnte, auch zur Arbeit angehalten wurde. Für die Frauen wurde im Martinistifte eine Spinnstube eingerichtet. Für Invaliden, alte Leute und Kranke standen der Stadt ja seit alters auch das Martinihospital und der Siechhof zur Verfügung. Beide Spitäler besaßen selbst im 18. Jahrhundert noch ansehnliche Mittel. 1782 beliefen sich die von St. Martini ausgeliehenen Kapitalien auf 24928 Taler, 3170 Taler waren bar vorhanden; St. Cyriaci oder der Siechhof verfügte über 16193 Taler ausgeliehenes Kapital und 1.061 Taler baren Vorrat.[4] So sehen wir, daß das Nordhausen des 18. Jahrhunderts in seiner Weise auch die soziale Fürsorge pflegte und auch in dieser Beziehung den Strömungen der Zeit folgte. Nur auf einem Gebiet versagte sich die Stadt der Zeit und ihrem Charakter, besonders im Gegensatz zum toleranten Preußen: Nordhausen blieb, solange es Freie Reichsstadt war, unduldsam auf religiösem Gebiete. Mit den wenigen Katholiken der Stadt, die man gezwungen dulden mußte, war jeder Verkehr untersagt, Reformierte wurden als Bürger überhaupt nicht zugelassen, ebenso wenig die Juden. Selbst gegen die Bestrebungen der Freimaurer scheint man mißtrauisch gewesen zu sein. Als 1790, also erst ganz am Ende der reichsfreiheitlichen Herrlichkeit, einige Männer zusammentraten, um eine Loge zu gründen, hielten sie es für gut, die Zusammenkünfte zunächst unter dem Aushängeschild eines literarischen Kränzchens abzuhalten. Erst nach einigen Jahren und nach einigen Irrungen unter dem ersten Logenmeister, dem sonst verdienstvollen Pfarrer Plieth aus Salza, nahm die Johannisloge „Zur gekrönten Unschuld“ unter dem Pastor Leopold aus Steigerthal, der 1797-1803 Logenmeister war, einen bemerkenswerten Aufschwung.[5] Trotz dieses orthodoxen Charakters mußte auch das kirchliche Leben Nordhausens allmählich dem Zuge der Zeit folgen. Bis 1788 bestanden noch die dreimaligen Predigten an Wochentagen, dann beschränkte sie der Rat auf eine. In demselben Jahre, am 5. August 1788, wurde auch die allgemeine Beichte neben der privaten trotz des Einspruchs der Geistlichen zugelassen; nach und nach hörte die private Beichte gänzlich auf. An den Sonntagen waren die Kirchen zwar stark besucht, doch vermißten Reisende, die mit offenen Augen in Nordhausen weilten, die rechte innere Teilnahme der Bevölkerung. Der evangelische Gottesdienst habe „zu wenig Sinnliches für ein gesundes, starknervigtes Volk“, meint einer dieser Beobachter. Ja, gegen Ausgang des Jahrhunderts bürgerte es sich sogar schon ein, nicht um des Wortes Gottes willen, sondern um der schönen, geistreichen Predigt willen in die Kirche zu gehen. Und da Nordhausen damals keine packenden Kanzelredner hatte, scheute man sich selbst nicht, in den katholischen Dom zu gehen, um einen guten Redner zu hören. Kann man schon in kultureller und sozialer Hinsicht beobachten, daß Nordhausen, so sehr es sich um seiner politischen Selbständigkeit willen abzusondem strebte, im großen Strome der Zeit mitschwamm, so zeigt auch sein Verkehr, sein Handel, sein Gewerbe im 18. Jahrhundert, daß es trotz der besonderen Note, die sein Wirtschaftsleben aufwies, Anschluß an den allgemeinen Fortschritt gefunden hatte. Seit dem Ausgange des Dreißigjährigen Krieges hatten sich die Verkehrsverhältnisse und der Güteraustausch in Deutschland ständig gebessert und gehoben. Der eigentliche Frachtverkehr war ja der Unternehmungslust von Privatleuten überlassen geblieben. Doch nahm die Beförderung von Gütern immer mehr zu, seitdem man sich die Anlage guter Landstraßen angelegen sein ließ und alles tat, um den friedlichen Handel vor räuberischen Eingriffen zu schützen. Das Haupthindernis des Verkehrs waren die tausend Schlagbäume, die an der Grenze jedes kleinen Ländchens die Landstraßen sperrten. Nicht zum wenigsten Nordhausen, das von preußischem, hannöverschem, schwarzburg-sondershäusischem Territorium umsäumt war, hatte unter den vielen Zollschranken und den damit verbundenen Abgaben sowie dem Zeitverlust zu leiden. Neben dem privaten Speditionswesen stand aber seit Ausgang des 16. Jahrhunderts auch schon ein staatliches Postwesen, das Briefsendungen, Personen und auch Güter beförderte. Am 1. November 1597 hatte Kaiser Rudolf II. die Post für ein kaiserliches Regal erklärt und dasselbe dem Thum- und Taxisschen Geschlechte erblich verliehen. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts kehrten sich aber die größeren Staaten nicht mehr an dieses etwas schwerfällig arbeitende und nicht allen Anforderungen gerecht werdende Regal, sondern schufen sich eigene staatliche Posten. Nordhausen fand ziemlich spät Anschluß an diese staatlichen Unternehmungen. Erst 1691 wurde die Stadt dem kaiserlichen Postnetze angeschlossen, und 1704 übernahm die aus Braunschweig stammende Familie Filter die kaiserliche Posthalterei.[6] Als kaiserliches Posthaus diente das Privathaus der Filter am Königshofe. Es war kenntlich an dem kaiserlichen Postschilde. Im April 1758 verlegte Joh. August Filter seine Posthalterei nach seinem Hause in der Jüdengasse, doch kehrte dessen Sohn im Dezember 1780 nach dem Ursprungssitze am Königshof zurück. Diese kaiserliche Post sollte aber für Nordhausen nicht die einzige und nicht einmal die wichtigste bleiben. Schon 1703, nachdem Preußen die Freie Reichsstadt besetzt hatte, eröffnete dieser Staat eine eigene Post in dem Preußen gehörenden Walkemieder Hofe; 1704 kam zu den beiden schon vorhandenen Unternehmungen noch die kursächsische Post, und 1736 endlich ließ auch noch Hannover eine Postlinie über Nordhausen laufen. Diese hannöversche Posten hielten im Ilfelder Hof. Die kaiserliche Post unterhielt nach Erfurt und Stolberg hin einen regelmäßig Brief- und kleine Postsendungen vermittelnden Boten; Ellrich und Duderstadt dagegen waren durch eine reitende und fahrende Post mit Nordhausen verbunden. Die Post nach Duderstadt fand dort Anschluß an die große Nord-Südlinie des Verkehrs, die Hamburg und Hannover mit Nürnberg verband, und in Ellrich traf man auf preußische Postlinien nach Halberstadt und Magdeburg. Direkte Verbindung war auch mit Halle und Leipzig aufgenommen worden, und zwar ging nach Halle via Sondershausen, Frankenhausen, Sangerhausen, Eisleben eine Postkutsche, während nach Leipzig durch die thüringischen Lande, Sondershausen, Weißensee, Greußen berührend, eine reitende Post den Verkehr aufrecht erhielt. Während neben diesen kaiserlichen Linien die kursächsische nur geringen Einfluß gewann, waren die preußischen Posten und die hannöversche Linie für den Verkehr Nordhausens von besonderer Bedeutung. Preußen richtete schon 1703 eine Linie nach Halle ein und verband später, im Jahre 1756, wenigstens für einige Jahre, die Grafschaft Honstein mit der Stadt, indem es regelmäßige Posten zwischen Bleicherode, Ellrich und Nordhausen hin und her pendeln ließ. Hannover legte 1738 eine außerordentlich wichtige Femlinie über Nordhausen, welche von Hamburg über Braunschweig, Hasselfelde, Nordhausen nach Gotha, Koburg und Nürnberg ging. Nach und nach liefen die landesherrlichen Posten der kaiserlichen immer mehr den Rang ab. Das lag nicht zum wenigsten an Joh. August Filter selbst, der zwar ein höchst befähigter, gebildeter und in Nordhausen einflußreicher Mann war, aber allzu stark seinen persönlichen Vorteil im Auge hatte und deshalb sowohl die Nordhäuser Bürgerschaft wie auch das durchreisende Publikum übervorteilte. Vertragsgemäß fiel ihm nämlich die Hälfte des Briefportos zu, während er die andere Hälfte an die übergeordnete Postdirektion in Erfurt abzulief em hatte. Deshalb scheint er reichlich hohe Porti genommen zu haben. Die Briefporti schwankten zwischen 6 Pfennig für einen Brief bis Sondershausen und 6 Groschen für einen bis Preßburg, Trient oder Straßburg. Man warf Filter aber sogar vor, daß er kaiserliche Postkutschen, die gar nicht vorgesehen waren, abgehen und die einkommenden Gelder in seine Tasche wandern ließ. Trotz dieser nicht einwandfreien Verhältnisse suchte das offizielle Nordhausen eine Zeit lang die kaiserliche Post gegenüber den anderen zu begünstigen. Erstens tat die Stadt das schon, um auch durch diese Verkehrspolitik ihren Reichsstand und ihre Unabhängigkeit von anderen Ländern zu dokumentieren, dann aber suchte auch der Bürgermeister Chilian Volkmar Riemann als Schwiegervater Filters diesem möglichst große Einnahmen zu verschaffen. Seit dem Ausgange des Siebenjährigen Krieges ließ es sich jedoch nicht mehr verheimlichen, daß die Linien Preußens und Hannovers vom Publikum bevorzugt wurden. Die kaiserliche Post ging immer mehr zurück, bis mit dem Übergange Nordhausens an Preußen auch das Postwesen eine Veränderung von Grund aus erfuhr.[7] Dieser Anschluß der Reichsstadt an das große deutsche Verkehrsnetz war vor allem für ihre Kaufleute und Krämer, weniger für ihr Gewerbe vonnöten. Eine Großindustrie hatte sich ja in Deutschland bis zu Beginn des 19. Jahrhundert kaum entwickelt, am allerwenigsten in Nordhausen mit seiner engherzigen Mittelstandspolitik der herrschenden Innungen. So beschränkte sich hier die Einfuhr von Eisen, Kupfer, Zink und Zinn auf das Notwendigste, was Schmiede und Klempner gebrauchten. Betriebe, die eine größere Belegschaft beschäftigten, waren nicht vorhanden, und der Handel mit Eisen wurde noch in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts durch ein Verbot der Ausfuhr von Eisen unterbunden. Es sollte noch manches Jahrzehnt dauern, ehe sich Eisenindustrie und Eisenhandel in Nordhausen entwickelten. Ebenso fehlten der Stadt größere Webereien und Tuchhandlungen. Die Gilden der Gewandschnitter und Tuchmacher waren aufs äußerste darauf bedacht, daß sich unter ihren Mitgliedern niemand zum Großhändler herausbildete. Alle Handwerker arbeiteten überhaupt nur in Kleinbetrieben für den Bedarf der Stadt und ihrer näheren Umgebung. Man kaufte zwar auf den Märkten von Braunschweig und Leipzig ein, besonders Krämerwaren, Leder, Rauchwerk und Glas, man hielt auch seine Erzeugnisse wie im Mittelalter auf den Jahrmärkten von Mühlhausen, Duderstadt, Frankenhausen, Sondershausen und Querfurt feil; mit diesem Absatz der gewerblichen Produkte in der näheren Umgebung begnügte man sich aber auch. Wenn die Stadt auf das Handwerk allein angewiesen gewesen wäre, hätte sie durchaus das Gepräge einer bedeutungslosen, armen Kleinstadt getragen. Was Nordhausen wohlhabend machte und ihm seinen Ruf in den weiteren Gauen des deutschen Vaterlandes eintrug, waren die Bodenprodukte seiner Umgebung, die Erzeugnisse, die man aus ihnen gewann, und der Handel, den man mit ihnen trieb. Nordhausen ist ja dadurch begünstigt, daß es einerseits in seiner nächsten Umgebung fruchtbare, für Acker- und Gartenbau außerordentlich geeignete Landschaften besitzt, und daß es andererseits in den unfruchtbaren Landstrichen des Harzes für diese Erzeugnisse des Bodens ewig hungrige Abnehmer findet. Schon deshalb war sein Getreide-, Gemüse- und Viehmarkt von jeher recht ansehnlich. Das wenigste von dem auf den drei Wochenmärkten dienstags, donnerstags und sonnabends zum Verkauf Angebotene stammte aus der kleinen Stadtflur Nordhausens selbst. Was in den 71 Gärten Nordhausens, deren Größe auf etwas über 345 Morgen geschätzt wurde, geerntet ward, verbrauchte die Stadt für sich selbst, und auch die Produkte der wenigen Ländereien in der Stadtflur kamen für den Handel kaum in Betracht. Der jährliche Überschuß im Naturalienetat der Stadt von 306 Scheffeln Weizen, 685 Scheffeln Roggen, 230 Scheffeln Gerste, 125 Scheffeln Hafer im Werte von 1733 Talern war mehr den außerhalb der Stadtgrenzen liegenden städtischen Gütern Uthleben, Bielen, Wasserthalleben und Niederspier zuzuschreiben als der Stadtflur selbst.[8] Um so bedeutender war die Anfuhr von Gemüse und Kleinvieh auf den Wochenmärkten aus den reichen umliegenden Dorfschaften. Aus uralter Kaiserzeit her, wo einige der Dörfer noch Reichsgut waren oder für den kaiserlichen Hof in Nordhausen zu liefern hatten, besaß eine Reihe Dörfer noch immer Zollfreiheit, anderen, für den Markt in Nordhausen wichtigen Lieferanten war sie später gewährt worden. So brauchten Ilfeld, Crimderode, Petersdorf, Kehmstedt, Heringen, Windehausen, Görsbach, Urbach und Leimbach keinen Zoll zu zahlen, sondern mußten nur geringfügige Naturalabgaben entrichten. Sie waren auch dadurch bevorzugt, daß ihre Einwohner nur halbes Marktgeld, d.h. halbe Abgabe von den auf dem Markte zum Verkauf kommenden Waren bezahlten.[9] Obst und Gemüse brachten vor allem die Dörfer Sundhausen, Uthleben und Windehausen auf den Markt, „die nichts als Gartenbau trieben“. An diesen Gartenprodukten kam soviel auf den Markt, daß die Händler, die erst nach 10 Uhr morgens, wenn die Nordhäuser Bevölkerung ihren Bedarf gedeckt hatte, mit dem Aufkauf beginnen durften, noch reichlichen Vorrat fanden, den sie über den ganzen Harz hin abführten. Selbst Klausthal, Zellerfeld, Altenau, Andreasberg versorgten sich in Nordhausen mit Nahrungsmitteln. Schon dieser Umschlag von ländlichen Produkten bedingte naturgemäß einen lebhaften Verkehr, aus dem alle Handwerke, besonders aber auch die Gaststätten, die Brauer, die Brenner und die Nahrungsmittelhändler reichen Verdienst zogen. Viel bedeutungsvoller für den Wohlstand der Stadt aber war ihr Getreidehandel und der Vertrieb derjenigen Produkte, die mit dem Getreide zusammenhingen. Nicht nur daß ein großer Teil des Getreideüberschusses der reichen Goldenen Aue und der Grafschaft Honstein nach Nordhausen auf den Markt kam, sondern auch das Thüringer Becken und sächsische Gebiete bis vor die Tore Leipzigs schafften ihr Getreide nach Nordhausen. Die Stadt wurde vor allem von Roggen, dann aber auch von Weizen, Gerste und Ölfrucht zeitweise geradezu überschwemmt. Daher kam es, daß in der kleinen Stadt von 7800 Einwohnern mehr als 400.000 Scheffel Getreide gemahlen oder geschrotet und 14000-17000 Scheffel Ölfrucht zu Öl geschlagen wurde. Ein Übelstand war es nur, daß die Stadt bei der Einfuhr dieser Unmengen von Getreide ganz und gar von der Wirtschaftspolitik anderer Länder, besonders Schwarzburgs und Sachsens, abhängig war. Schränkte Sachsen in schlechten Emtejahren die Ausfuhr ein, oder ward sie bei kriegerischen Ereignissen gar verboten, dann wirkte sich eine solche Fruchtsperre sogleich in verhängnisvollem Umfange aus. Brauerei und Branntweinbrennerei mußten sofort eingeschränkt werden. Dennoch wurde Nordhausen von Krieg und teuren Jahren nie so betroffen wie andere Städte und Landschaften, bei denen die Brotfrucht zeitweilig derart knapp wurde, daß eine andere Verwendung des Roggens als zum Brotbacken gar nicht in Frage kam, Brennerein also völlig stillgelegt werden mußten. Zu diesem letzten Mittel brauchte Nordhausen nur ein einziges Mal für ganz kurze Zeit zu greifen, so daß es allmählich in der Branntweinindustrie anderen Gegenden weit vorankam. Die ursprüngliche Industrie infolge des Getreideüberschusses aber war für Nordhausen nicht die Branntweinindustrie, sondern die Bierbrauerei. Wir haben in früheren Kapiteln gesehen, daß Nordhausen durch sein Braugewerbe wohlhabend geworden war. Es hatte einst das alleinige Braurecht auf eine Meile im Umkreise gehabt, hatte sein Bier in der Grafschaft und der Aue abgesetzt, hatte aber auch weiter gelegene Ortschaften mit Bier versorgt. Gegenüber dieser Ausfuhr war die Einfuhr von Einbecker Bier, das bis ins 18. Jahrhundert hinein etwa denselben Ruf hatte wie heute echtes Münchener Bier, ganz geringfügig. Allmählich kehrte sich aber kein Mensch mehr an die alten, von Karl IV. der Stadt verliehenen Privilegien; die Dörfer um Nordhausen brauten ihr eigenes Bier, zuweilen war es den Bauern, z.B. den preußischen, sogar verboten, Nordhäuser Bier zu beziehen. Schon im 16., dann aber besonders im 17. Jahrhundert hatte der Wohlstand der Stadt darunter bedenklich gelitten, bis die Verbesserung der Verkehrsstraßen, besonders aber der immer regere Warenaustausch in Nordhausen infolge der Bedürfnisse des Harzes und infolge der aufblühenden Branntweinbrennerei und Schweinemast einen solchen Zustrom von Fremden, vor allem Getreide- und Nahrungsmittelaufkäufern, Viehhändlern und Schweinetreibem brachte, daß die Brauer die Nachfrage nach Bier innerhalb der Stadt selbst kaum befriedigen konnten. Dadurch war das frühere, nunmehr verloren gegangene auswärtige Absatzgebiet wenigstens einigermaßen wieder ersetzt. Bis zum Übergang an Preußen gewährte das Braugewerbe den Bierbrauern reichliche Nahrung. Deshalb ist es hier am Platze, auf die Eigenart der Gesetze und des Verfahrens früheren Bierbrauens kurz einzugehen. Gebraut wurden Braunbier, Broihan und Gose. Für das älteste Bier, das Braunbier, gab es 253 brauberechtigte Häuser, von denen rund 200 in der Oberstadt und 50 in den Vorstädten lagen. Das Brauen geschah also in den Privathäusem der Brauherm, es stand aber unter strenger Aufsicht der städtischen Behörden. Alle 8 Tage wurde bei einem anderen Brauherm ein neues „Gebräu aufgemacht“. Die Reihenfolge dabei wurde innerhalb der vier Stadtviertel ausgelost. Nur die beiden alljährlich am Regimente sitzenden Bürgermeister hatten das Vorrecht, als erste in der Reihe zu marschieren, und der letzte war der jedesmalige Schützenkönig, der für dieses Gebräu aber keine Abgabe zu bezahlen brauchte. In den Zeiten der städtischen Mißwirtschaft um 1700 waren die „Braulose“ nicht selten nach Gunst ausgegeben worden, was zu mancherlei Beschwerden Veranlassung gegeben hatte. Wollte jemand auf sein Braurecht verzichten, so konnte ein anderer Brauer dessen Braulos mieten, doch durfte niemand mehr als drei Lose zu seinem eigenen hinzuerwerben. Auch war es streng verboten, das Braulos eines anderen Stadtviertels als des eigenen an sich zu bringen; erst vom 13. November 1798 ab konnten die Brauer auch Lose aus anderen Vierteln kaufen. Um 1700 waren auch bei diesem Aufkauf von Gerechtsamen Durchbrechungen der alten Ordnung vorgekommen, die erst durch die neue Brauordnung vom Jahre 1726 beseitigt wurden. Wenn ein Nordhäuser Bürger die Braugerechtsame erwarb, so mußte er dafür an die Stadt 10 Taler Brauzins oder „Braugeschoß“ entrichten; mietete er ein weiteres zu dem eigenen hinzu, so mußte er dafür 15 Taler an die Stadt abführen, zu zahlen in Gold, in Louisdor ä 5 Taler. Im übrigen besteuerte die Stadt jeden Brauer mit 8 Talern sogenannten „Brauzeichengeldes“ dann, wenn alljährlich an ihn die Reihe des Brauens kam. Diese Abgabe wurde von einigen Ratsherrn, den „Zeichenherm“, eingenommen. Im 18. Jahrhundert ermäßigte man dieses Zeichengeld auf 5 Taler 8 Groschen in Gold. Dafür durfte jeder Brauer ein „Biergebräu“ einbrauen. Die Menge der Gerste und des Hopfens für ein solches Gebräu war genau vorgeschrieben, sie betrug im 17. Jahrhundert 72 Scheffel Gerste, 12 Scheffel Hopfen, im 18. Jahrhundert 108 Scheffel Gerste, 9 große Scheffel Hopfen. Durch einen von der Stadt angestellten Malzmesser wurde das Getreide auf dem Kornboden des Brauers abgewogen, in Säcke getan, und diese wurden dann versiegelt. Aus dem Getreide sollten 14 Faß Bier zu 110 Stübchen (etwa 460 Liter), also ungefähr 6500 Liter gebraut werden. Da im allgemeinen 1 Liter Bier 10-12 Pfennige kostete, war der Bruttogewinn bei einem Gebräu etwa 6500 Groschen = 270 Taler. Die Steuer von 5 Talern 8 Groschen dafür war also sehr mäßig; doch mußte der Brauer noch andere kleine Abgaben entrichten. Die kupfernen Braupfannen waren nämlich Eigentum der Stadt und wurden durch die Ratspferde jedesmal von einem Brauherm zum anderen gefahren. Für dieses „Pfannenrükken“ gab der Brauherr 8 Groschen, für den Gebrauch der Pfanne selbst 1 Taler 16 Groschen. Ja, selbst die Gemäße, die der Brauer beim Ausschank benutzte, stellte die Stadt, um jede Unregelmäßigkeit zu unterbinden. Hierfür zahlte der Brauer 6 Pfennig, später 1 Groschen. Ein „neues“ Bier wurde alle 8 Tage, den ersten Tag eingerechnet, „aufgemacht“. Der Marktmeister der Stadt hatte die Pflicht, dem jedesmal folgenden Brauer Nachricht zu geben, wann das vorhergehende „Gebräu ausging“, damit der Abgang sofort ersetzt werden konnte und das betreffende Stadtviertel, in welchem der Brauer brauberechtigt war, niemals ohne Bier war. Das Bier vor der Zeit zu verkaufen, war bei 10 Taler Strafe verboten; ebenso wurde aber auch der Säumige mit der harten Strafe des Entziehens des Brauloses bestraft. War jemand während der 8 Tage, während deren er das Bier verschenken durfte, seine 14 Faß nicht losgeworden, so wurde ihm das Brauzeichen dennoch entzogen. Doch durfte er den Rest seines Bieres als Altbier für billigeren Preis weiter ausschenken. Neben diesem Braunbiere stand seit 1602 der Broihan und seit 1721 die Gose. Diese beiden Biere wurden aber nicht in Privatbrauhäusem, sondern in von der Stadt errichteten Brauereien von Privatleuten gebraut. Das Broihanhaus wurde 1708 in der oberen Rautenstraße erbaut, das Gosehaus 1729 auf dem Hagen. Die beiden Häuser waren vom Rate mit Gerätschaften und Gefäßen ausgestattet, welche die Brauer in ebenso ausgeloster Reihenfolge benutzten, wie es beim Braunbier der Fall war. Für jedes Gebräu Broihan rechnete man 56 Scheffel Gerste, 28 Scheffel Weizen, 36 Scheffel Hafer, 1 Scheffel Hopfen, woraus 14 Faß Bier gebraut wurden. Ein von der Stadt angestellter Braumeister besorgte das Brauen; der Brauer bezahlte an die Stadt jedesmal 6 Taler. Ähnlich ging es beim Gosebrauen zu, nur hatte es sich hier eingebürgert, daß manche wohlhabenden Leute 4-12 Lose aufkauften. Doch wurde am 8. September 1730 diese Unsitte abgestellt und der Erwerb von nur 2 Losen zu dem eigenen gestattet. In der Erntezeit wurde auch ein unschuldiges Dünnbier hergestellt, von dem der Eimer 1 Groschen kostete, und daneben konnten ganz arme Leute noch den sogenannten Kofent, den Eimer für 4 Pfennig, kaufen.[10] Obgleich infolge des starken Fremdenverkehrs der Bierumsatz in Nordhausen nicht unbeträchtlich war und den Bürgern immer noch bedeutenden Gewinn brachte, bedingte das Braugewerbe den Wohlstand Nordhausens doch nicht mehr derart wie im ausgehenden Mittelalter. An seine Stelle war allmählich die Branntweinbrennerei getreten, die ebenso wie die Brauerei eine Folge des Getreidereichtums der Nordhäuser Umgebung war. Nur durch den Roggen, welcher in Nordthüringen schlechthin „Korn“ heißt, wird das Aufblühen der Nordhäuser Branntweinindustrie, das Brennen des „Korns“, verständlich. Im 16. und 17. Jahrhundert hatte der Rat das Kombrennen noch zu unterdrükken gesucht, weil er in der Brennerei eine Konkurrenz für das althergebrachte Braugewerbe fürchtete. Erst als er einsah, daß das alte Absatzgebiet draußen im Lande für Bier dahin war, begann er die Branntweinindustrie zu begünstigen. Doch fast 150 Jahre, von 1530-1680, sollte es dauern, bis man sich zu der Erkenntnis durchgerungen hatte, daß die Brennerei keine Konkurrenz der Brauerei bedeutete, sondern neben derselben den Wohlstand der Stadt bedingte. Diese 150 Jahre der Umstellung, wo die Brauerei daniederzuliegen begann und die Brennerei ihre Blüte noch nicht entfaltet hatte, sind deshalb auch die magersten Jahre Nordhausens gewesen.[11] Noch nach dem Dreißigjährigen Kriege war die Branntweinbrennerei unansehnlich genug. Fast ausschließlich kleine Leute hatten eine einzige Blase für das Brennen aufgetan. Die Steuer aus den wenigen Blasen war noch so gering, daß sie im Etat der Stadt noch gar nicht erschien. Erst seit 1677 trat sie als Einnahmetitel auf. Dazu kam die Feuergefährlichkeit des Brennens. Die Polizeiordnung schärfte deshalb 1668 ein, daß nur an „sicheren und aller Gefahr entfreiten Örtern“ gebrannt werden dürfe; und nach den großen Bränden von 1710 und 1712 wurde am 13. September 1717 die durchgreifende Maßnahme getroffen, daß das Brennen in der Oberstadt überhaupt verboten wurde. Seitdem mußten die Brennereien in die Vorstädte, vor den Aar, in die Neustadtstraße, auf den Sand, in den Grimmei, unter die Weiden und ins Altendorf übersiedeln. Das Mißtrauen der Stadt gegen das Brennen und ihre einschränkenden Bestimmungen ließen also lange Zeit das neue Gewerbe zu keinem rechten Gedeihen gelangen. Erst gegen 1700 steigerten sich die Einnahmen aus dem Branntweinzins sprunghaft, und von da an begann der unaufhaltsame Aufstieg der Industrie. 1715 wurde der Blasenzins aufgehoben und statt dessen das Schrotgeld erhoben, das zeitweise für den Scheffel 6 Pfennig, im Siebenjährigen Kriege 8 Pfennig, seit 1760 aber nur 4 Pfennig betrug und erst gegen Äusgang des Jahrhunderts unter scharfem Protest der Brenner auf 1 Groschen erhöht wurde. Dieses Schrotgeld der Brenner gestaltete sich nach und nach zu einer trefflichen Einnahmequelle für die Stadt, wurden doch in den 90er Jahren nicht weniger als 354.079 Scheffel Getreide geschrotet, die bei dem geringsten Satze von 4 Pfennigen Schrotgeld 4.917 Taler Steuer brachten. Die erste wirkliche Blütezeit für den Branntwein sollte der Siebenjährige Krieg werden. Denn trotz mancher Beschränkungen, die man sich wegen der durch den Krieg hervorgerufenen Getreidesperren auferlegen mußte, hob sich infolge der durchziehenden, zuweilen Monate lang in der Stadt liegenden Truppen der Konsum. Auch kleinere Heereslieferungen kamen wohl vor, wie z.B. 1760 fünfzig Faß Branntwein nach Duderstadt abgingen. So hatte sich denn nach Beendigung des Krieges die Branntweinbrennerei zu dem wichtigsten Gewerbe der Stadt emporgeschwungen. Fortan wurde sie vom Rate in jeder Beziehung aufs pfleglichste behandelt, und diese Politik sollte belohnt werden: Allmählich errang der „Nordhäuser“ geradezu eine Monopolstellung im westlichen Mittel- und Norddeutschland. Im Gegensatz zu anderen Gegenden, die in teuren Zeiten das Brennen stark beschränkten oder ganz verboten, entschloß sich die Stadt Nordhausen ganz selten zu solchen das Gewerbe schädigenden Maßnahmen. So mußte im September und Oktober 1756 wegen eines Zollkrieges der Stadt mit Preußen der Brennbetrieb auf eine Blase für den Brenner beschränkt werden, 1758 verursachte der Krieg vorübergehend Einschränkungen, und 1795 mußte der Rat wegen eines Getreideeinfuhrverbots Sachsens zu einschneidenden Maßnahmen schreiten, um die Versorgung der Bevölkerung mit Brotgetreide zu sichern. Aber nur einmal, vom 9. November 1771 bis zum 23. April 1772, wurde das Brennen gänzlich untersagt, weil Sachsen eine ganz schlechte Ernte gehabt hatte. Der Überschuß Nordhausens an Getreide, dem die nur ganz seltenen Eingriffe in das Gewerbe zu danken waren, und das Entgegenkommen des Rates gegen die Brenner, das bis an die Grenze der Gefährdung des Brotbedarfs ging, ließen Nordhausen alle übrigen Branntwein brennenden Gegenden überflügeln. Der Rat tat alles, um der Stadt den Vorrang im Brenngewerbe zu sichern. Damit beim Handel der Käufer sich darauf verlassen konnte, daß er stets das rechte Quantum Schnaps bekomme, wurden die Böttcher schon 1725 verpflichtet, nur gleich große Fässer für Branntwein zu 58 Stübchen = etwa 260 Litern anzufertigen. Unvorhergesehen nahm der Rat viermal im Jahre eine Nachprüfung der Fässergröße vor, ohne doch ganz die immer wieder vorkommende Unredlichkeit unterbinden zu können. Damit ferner die Böttcher ihre Monopolstellung gegenüber den Brennern nicht ausnutzten und zu hohe Preise für die Fässer verlangten, wurde am 14. Februar 1759 der Preis für ein Faß auf 28 Groschen festgesetzt. Vor allem aber war der Rat darauf bedacht, den guten Ruf des Nordhäuser Branntweins dadurch zu bewahren, daß er die Brenner auf das Einmaischen eines ganz bestimmten Branntweinguts verpflichtet. Der gute Absatz nach dem Siebenjährigen Kriege scheint nämlich schon einige Brenner übermütig gemacht zu haben, so daß sie schlechte Ware herzustellen begannen und doch auf Abnehmer hofften. Da griff der Rat ein und ließ am 16. Februar 1789 einen am 30. Januar gefaßten Beschluß veröffentlichen, daß das Brennmalz stets zu 2/3 aus Roggen und V3 aus Gerste bestehen solle, damit nicht „dem guten Rufe, in welchem der Nordhäuser Branntwein bei Auswärtigen immer gestanden, Abbruch getan werde und in der Folge zu besorgen sei, daß dieses Kommerzium hierdurch leiden und zur Abnahme desselben Veranlassung geben möchte“.[12] Um endlich auch die Mysterien des Nordhäuser Brennverfahrens möglichst geheimzuhalten und dadurch das Fabrikat zu schützen, wurde am 25. September 1775 jedem „Brennknecht“ bei Verlust des Bürgerrechts verboten, sich außerhalb der Stadt zu verdingen. Diese sorgfältige Behandlung des Brenngewerbes durch die Stadt hatte also während des 18. Jahrhunderts einen riesigen Aufschwung dieses Industriezweiges zur Folge. 1726 gab es 69 Brenner mit 83 Branntweinblasen in Nordhausen, und nur 5200 Fässer Branntwein wurden hergestellt. Mitte des 18. Jahrhunderts zählte man schon 100 Brenner, unter denen etwa 40 zwei Blasen in Betrieb hatten; und um 1800 wurden 198 Blasen unterhalten. Um die Nachfrage zu decken, wurde selbst sonn- und feiertags gearbeitet. Die gleichzeitigen Nachrichten wissen von 1600 Scheffeln Getreide zu berichten, die täglich, und von 600000 Scheffeln, die jährlich verbrannt worden sein sollen. Das erscheint uns freilich etwas zu hoch gegriffen. Bei einem täglichen Verbrauch von 1600 Scheffeln wäre der Jahresverbrauch genau 584000 Scheffel. Doch auch diese Zahl dürfte nicht ganz erreicht worden sein, da nur 354000 Scheffel Getreide, also die gewaltige Summe von 230000 Scheffeln weniger, als angegeben wird, verschrotet wurden. Mag nun auch manches Getreide ungeschrotet eingemaischt sein, mag hie und da in auswärtigen Mühlen geschrotet worden sein, mögen auch kleinere Unterschleife und Steuerhinterziehungen vorgekommen und dadurch nicht die gesamte Menge des geschroteten Korns offiziell bekannt geworden sein, so erscheint doch die Mehrangabe von 230000 Scheffeln viel zu hoch.[13] Dennoch geht aus diesen Zahlen hervor, in wie hoher Blüte schon um 1800 das Branntweingewerbe stand, so daß der preußische Kammerreferendar Piautaz mit Recht schreiben konnte: „Die Branntweinbrennerei ist in Nordhausen unstreitig das Gewerbe, welchem die Stadt einzig und allein ihren Wohlstand und, man kann füglich sagen, ihre Existenz als Stadt zu verdanken hat.“ Die Französische Revolution und die Kriege in ihrem Gefolge in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts übten keinerlei hemmenden Einfluß auf die Branntweinindustrie aus: im Gegenteil, das durch die Kriege gesteigerte Hin und Her von Menschenmassen und die Heereslieferungen begünstigten den Absatz. Nur eine verringerte Versorgung mit Getreide konnte gegebenenfalls die Brennerei einschränken. Wenn die Ernten mäßig ausfielen, so mußte das bei dem Verbrauche von Brotfrucht, der sich im Anschluß an jeden Krieg steigert, auf die Industrie zurückwirken. Das war im Frühjahre 1795 der Fall. Schon am 11. März 1795 mußte Nordhausen die Getreideausfuhr erschweren. Gleich darauf verbot Sachsen seinerseits sogar jede Ausfuhr und ließ Reiter die Grenzen nach Nordhausen hin abstreifen. Diese Maßnahmen mußten Einschränkungen des Branntweingewerbes im Gefolge haben. Am 31. März machte der Rat ordnungsgemäß die Brauer darauf aufmerksam und ließ die Kenntnisnahme bestätigen. Von den noch heute besonders bekannten Firmen und Geschlechtern unterschrieben damals Appenrodt, Arnold, Degen, Feist, Förstemann, Lerche, Schulze, Sommer, Spangenberg, Stade, Stegmann, Stolberg und Uhley das Rundschreiben. Erst nach langem Zögern jedoch, erst am 23. Juni 1795 ergriff der Rat entscheidende Maßnahmen: Es durften von jedem Brenner wöchentlich nur 36 Scheffel Korn gebrannt werden. Doch waren Übertretungen häufig, und leider stand auch der Getreidewucher, das Aufkäufen und Anhalten der Ware, in schönster Blüte. Dennoch litten natürlich die Brenner beträchtlich, besonders da auch der Holzpreis – und im allgemeinen nahm man zur Feuerung Holz – gestiegen war. Um endlich die Durchstechereien zu unterbinden, führte der Rat am 27. Oktober 1795 einen Beschluß zur strengsten Durchführung der Maßregeln herbei und erhöhte zugleich das Schrotgeld um das Dreifache, von 4 Pfennigen auf einen Groschen für den Scheffel. Die erstere Maßnahme des Rates ist durchaus verständlich; denn er hatte die Pflicht, zunächst die Brotversorgung der gesamten Bevölkerung sicherzustellen und dann erst auf das Gedeihen eines einzelnen Gewerbes bedacht zu sein. Das weitere Vorgehen aber verkannte sicher die ganze Lage der Dinge; denn es war nicht angängig, die Lasten, welche die Kriege mit sich brachten, auf die Schultern eines einzigen Gewerbezweiges abzuwälzen, eines Gewerbes, das unter der Fruchtsperre schon beträchtlich zu leiden hatte. So fühlten sich denn die Brenner durch die Beschlüsse des Rates aufs schwerste benachteiligt; sie kamen zu einer Protestversammlung in den „Drei Linden“ zusammen, und aus dem Protest ward schließlich ein Prozeß der Brenner gegen die Stadt vor dem Reichskammergericht. Der ganze Lärm war etwas übereilt begonnen; denn schon am 22. und 23. März 1796 konnten die versiegelten Blasen wieder freigegeben werden; das Schrotgeld blieb allerdings erhöht. Jedenfalls kostete der Prozeß beide Teilen viel Geld. Er kam erst am 28. November 1800 zum Ende; das Reichsgericht entschied gegen die Stadt und für die Brenner. Nach diesem Spruche mußte das Schrotgeld auf 4 Pfennig herabgesetzt und das seit 1795 zuviel gezahlte Schrotgeld, 50000 Reichstaler, den Brennern zurückerstattet werden. Der Rat dachte daran, gegen diesen außerordentlich schmerzlichen Entscheid Berufung einzulegen; doch kam es am 31. März 1801 zwischen Brennern und Stadt zu einer gütlichen Abmachung, nach welcher die Stadt den Brennern für jede Blase 50 Taler zahlte, zusammen 6500 Reichstaler, zu zahlen in Laubtalem zu 1 Taler 14 Groschen. Wieviel damals die Brennherm schon aus ihrem Geschäft heraus schlugen, geht daraus hervor, daß der Brenner Neuenhahn seinen durch die Versiegelung der Blasen vom 27. Oktober 1795 bis 22. März 1796 entstandenen Verlust auf 1800 Taler berechnete. Daraus läßt sich auf einen jährlichen Reingewinn von etwa 4000 Talern schließen, die damals mindestens die Kaufkraft von 35000 Reichsmark der Vorkriegszeit in unseren Tagen hatten. Um 1800 verbrannte ein Brenner täglich 8-12 Scheffel Getreide zu „ungekünsteltem“ Branntwein, d.h. Likör wurde überhaupt nicht hergestellt. Das Geschäft gestaltete sich überaus einfach, da in den seltensten Fällen ein Ausschank en detail stattfand, keine Reisenden ausgeschickt zu werden brauchten und Reklame unnötig war. Der Nordhäuser Branntwein hatte sich so eingeführt, daß die auswärtigen Fuhrleute von selbst kamen und die Fässer abholten. Die Hauptabnehmer waren abgesehen von der nächsten Umgebung das Eichsfeld, die hannöverschen und braunschweigischen Lande, Thüringen, Hessen und Westfalen.[14] Nun wäre es aber ganz falsch, wollte man annehmen, daß der oben errechnete Jahresverdienst eines Brenners aus dem Absätze des Branntweins stammte. Der Brenner Neuenhahn rechnet vielmehr aus seinem bloßen Gewerbe für sich sogar einen Verlust heraus, und der ganz sachliche preußische Kommissar Piaütaz, der 1802 seinem König über alle Verhältnisse in Nordhausen eingehenden Bericht erstatten mußte, nimmt auch nur den ganz bescheidenen Gewinn von jährlich 45 Talern bei einem täglichen Verbrauch von 8 Scheffeln Getreide für eine Blase an. Der eigentliche Gewinn für die Brennherm sprang also nicht aus dem Schnapsvertrieb, sondern aus der Schweine- und Rindviehzucht, welche durch die außerordentlich wertvollen Abfallprodukte der Industrie möglich war. Man konnte nämlich mit der Branntweinhefe bei einem täglichen Verbrauch von 8 Scheffeln 50 Schweine, bei 10 Scheffeln 60-70 Schweine, bei 12 Scheffeln 8090 Schweine mästen. Diejenigen Brennherm, die kein Ackerland besaßen, – und das waren die meisten – mußten sich mit dieser Schweinemast allein begnügen; andere wiederum, welche eine kleine Landwirtschaft nebenbei betrieben, konnten auch Rinder halten. Gegen Ausgang des Jahrhunderts, nachdem der Pfarrer Hüpeden den Kleeanbau in dem nur ganz wenig Wiesenland – 40 Morgen – besitzenden Nordhausen eingeführt hatte, scheint sich die Rindermast etwas gehoben zu haben. Das Vieh selbst wurde von weither, aus Sachsen und aus Brandenburg, selbst aus Mecklenburg, Pommern und Polen angetrieben. Die Brenner kauften das magere Paar Schweine für 10 Taler auf, mästeten es und verkauften es für 24 Taler wieder. Abnehmer fanden sie in erster Linie auf dem Harze, im Hannöverschen und im Thüringischen. Doch auch nach fernen größeren Städten wie Magdeburg und Berlin im Osten und Frankfurt am Main im Westen gingen die in Nordhausen gemästeten Schweine. Die Stückzahl gemästeten Viehs wird verschieden angegeben. Doch mästete Nordhausen jährlich wohl 40000 Schweine. Aus der Schweinemast errechnete man einen Gewinn von 68 %, aus der von Rindern einen von 85 %.[15] Es nimmt nicht wunder, daß das Stadtbild Nordhausens, besonders das der Vorstädte, durch diese außerordentliche Viehhaltung ein eigenartiges Gepräge bekam. In den Ställen der Brenner grunzten durchschnittlich 70-80 Schweine. Diese Schweine mußten aber auch durch die Straßen in die Schwemme getrieben werden, und so bevölkerten denn im Sommer und Herbst große Schweineherden die Straßenzüge. Bis zum Jahre 1777 schwemmten einige am Stadtgraben wohnende Brenner ihr Vieh selbst in diesem Graben, dessen Wasser, wenn nicht als Trinkwasser, so doch als Spülicht verwendet wurde. Erst damals verbot der Rat, das Mühlgrabenwasser durch Schweine zu verunreinigen. Sonst befanden sich die Hauptschwemmen im Pferdeteiche zwischen Siechen- und Sundhäuser Tore. Die Benutzung dieses Teiches und seiner Fischausbeute stand einigen Bürgermeistern und Vierherm zu, die sich deshalb für das Schwemmen der Schweine eine kleine Abgabe entrichten ließen. Doch auch der noch nicht einen Morgen große Pfützenteich nördlich des Grimmeitores diente als Schweineschwemme. Neben diesen Schweineherden bevölkerten aber auch Schafherden nicht selten die Straßen, denn die Knochenhauer waren berechtigt, 400, der Pächter der sogenannten Schackenschäferei, die der Neustadt gehörten, 425, später 600 Hammel zu halten, und das Stift St. Martini besaß eine Schäferei von 550 Hammeln ohne Lämmer. Auch diese Herden trieben fröhlich durch die Vorstädte und belästigten den Verkehr und die Anwohner nicht wenig, so daß es verständlich ist, daß der Pächter der Neustädtischen Schäferei seine Schafe nur durch das Siechentor, nicht aber durch das Sundhäuser Tor treiben durfte.[16] Ebenso wie die Viehhaltung hing der starke Holzverbrauch in Nordhausen mit der Branntweinindustrie zusammen. Der Holzbedarf der Stadt wurde auf jährlich 11461 Fuder Brennholz und 3400 Schock Wellholz für die Bäcker berechnet. Auch in dieser Beziehung war Nordhausen, das im Kirchhofsholze und in dem in Privathand befindlichen Wildeschen Hölzchen nur einen ganz dürftigen eigenen Holzbestand hatte, von der Umgebung abhängig. Die preußischen, hannöverschen, braunschweigischen und stolbergischen Forsten des Harzes belieferten Nordhausen mit Brennholz. Da aber bei dem dauernd steigenden Bedarf sich allmählich selbst die Wälder des Harzes lichteten, stieg gegen Ausgang des Jahrhunderts der Holzpreis von Jahr zu Jahr. Dieser Mangel an Holz brachte die Nordhäuser schon früh dazu, nach anderem Brennstoff Ausschau zu halten und Steinkohle zu verwerten. So führte man denn seit 1789 auch geringe Mengen stolbergische Steinkohle ein, begann auch auf eigenem Nordhäuser Gebiet nach Kohle zu graben; jedoch ohne Erfolg, und noch auf Jahrzehnte hinaus sollte die Beschaffung von Kraftstoff eine für Nordhausen schwer zu lösende Aufgabe bleiben. Der Seltsamkeit halber und zur Illustrierung der selbst im 18. Jahrhundert z. T. noch recht primitiven Verhältnisse sei hier noch angefügt, daß die Stadt von jeder Fuhre Holz, welche die Tore Nordhausens passierte, ein Scheit und einen Knüppel Holz als Zoll verlangte, das sogenannte „Torabwurfsholz“, weil es von den Fuhrleuten im Torwege einfach vom Wagen geworfen und vom Torwächter aufgesammelt wurde. Das auf diese Weise gesammelte Holz diente zur Heizung der öffentlichen Gebäude. Wenn wir im übrigen die sonst in Nordhausen ganz schwach vertretenen Industrien übergehen, so sei nur noch mit einem Worte der Stärke- und der Tabakindustrie gedacht. Die Fabrikation der Stärke lag bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts allein den Seifensiedern ob; seit 1726 trennten sich jedoch von diesen einige Stärkefabrikanten. Für die Herstellung der Stärke hatte ihnen der Rat vorgeschrieben, daß sie reinen Weizen benutzen sollten. Dafür gewährte er ihnen eine Monopolstellung und verbot jegliche Stärkeeinfuhr. Um 1800 gab es 7 Firmen, die kleine Stärkefabriken unterhielten. Viel bedeutungsvoller als dieser Fabrikationszweig sollte für Nordhausen die Tabakindustrie werden; doch befand sich diese im 18. Jahrhundert noch in ihren ersten Anfängen. Das Tabakrauchen hatte sich ja vor allem im Dreißigjährigen Kriege in Deutschland eingebürgert. Bald nach Beendigung desselben müssen die Nordhäuser schon eifrige Freunde des Tabaks gewesen sein; doch suchten die Behörden noch Jahrzehnte lang den Tabakgenuß zu unterbinden, besonders da im Jahre 1686 der große Brand, der die Unterstadt einäscherte, auf die Unvorsichtigkeit eines Rauchers von Pfeifentabak zurückzuführen war. Auf eine eigentliche Tabakindustrie, die sich vom Eichsfelde her in Nordhausen eingebürgert hatte, treffen wir erst nach der Mitte des 18. Jahrhunderts. Aus dem Jahre 1756 ist ein Tabakfabrikant Joh. Tobias Seiffardt bekannt. Der bedeutendste und bekannteste Fabrikant im 18. Jahrhundert aber wurde J.A. Fleck, der 1789 in der Barfüßerstraße eine kleine Fabrik anlegte. Alle diese Fabrikanten führten nur Schnupf- und Rauchtabake. Erst 50 Jahre später, in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts, begann die Kautabakindustrie ihren Aufschwung zu nehmen, und dieser führte dann zur Blüte eines neuen, für Nordhausen wichtigen Industriezweiges.[17] Keine Rolle für die freie Wirtschaft spielte der Weinkonsum in Nordhausen, da er städtisches Monopol war. Jeder Bürger durfte zwar selbständig Wein einkaufen, aber nur für den eigenen Bedarf; jeder Handel mit Wein war Privatleuten untersagt. Um den öffentlichen Bedürfnissen nach Wein gerecht zu werden, kaufte der Rat selbst den Wein ein und ließ ihn von dem Pächter des Ratsweinkellers ausschenken und verkaufen. Dieser Jahresumsatz an Wein muß ziemlich beträchtlich gewesen sein. Da nämlich der Pächter an einem Taler verschenkten Weins nur 8 Pfennig verdienen durfte und sein Durchschnittsgewinn mit 980 Talern angegeben wird, muß er, wenn man nur den Wein in Betracht zieht, für 28224 Taler Wein umgesetzt haben. Doch kann diese ungeheure Summe nicht allein dem Weinumsatz zugeschrieben werden; denn im Weinkeller kamen auch geringe Mengen Bier, vor allem aber Branntwein zum Ausschank, und auch der Verdienst an Speisen muß in Rechnung gestellt werden. Auch die Weinvorräte des Ratskellers, deren Wert um 1800 mit nur 5103 Talern angegeben werden, lassen auf einen geringeren Jahresumsatz schließen.[18] Eine zur Nordhäuser Wirtschaft ganz parallele Entwicklung hatten Verfassung und Verwaltung der Stadt im 18. Jahrhundert genommen. Denn die Grundlage für die gesamten wirklich in Betracht kommenden Zweige des Nordhäuser Wirtschaftslebens war durchaus die alte geblieben: Die Bodenbeschaffenheit der Umgebung bedingte die Wirtschaft der Stadt. Aber eine Verschiebung in der wirtschaftlichen Struktur war im Laufe des Jahrhunderts durch das Emporblühen der Branntweinindustrie doch erkennbar gewesen. Einem ähnlichen Verlauf war die innenpolitische Beschaffenheit der Stadt unterworfen gewesen. Die Grundlagen für Verfassung und Verwaltung waren noch immer die Bestimmungen vom Jahre 1375 und 1627, und sie blieben es, bis die Stadt an Preußen überging. Aber der ganze Geschäftsgang und teilweise auch der Geist in der Verwaltung war durch die Riemannschen Reformen seit dem Jahre 1725 doch moderner geworden. An der Spitze der Stadt standen wie in alter Zeit die drei Ratskollegien, die in der Führung der laufenden Geschäfte alle drei Jahre wechselten. Der jedesmal „sitzende“ Rat und vor allem seine beiden Bürgermeister und seine Vierherm hatten also die Exekutivgewalt, doch so, daß die Kompetenzen zwischen ihm und allen drei Räten nicht ganz so scharf abgegrenzt waren wie heute zwischen Magistrat und Stadtverordneten, da einerseits auch die anderen beiden, augenblicklich „quieszierenden“ Räte gewisse ausführende Organe stellten, während andererseits der eine sitzende Rat auch ohne Hinzuziehung der beiden anderen Räte wenigstens in unwichtigen Angelegenheiten die Legislative besaß. Alle wichtigeren Erlasse und Gesetze mußten allerdings von allen drei Räten, meist sogar unter Hinzuziehung der „gefreundeten“ Handwerksmeister, beschlossen werden, so daß man berechtigt ist, die Legislative den drei Räten zuzuschreiben. Das Kollegium der gefreundeten Handwerksmeister aber war ja eine Einrichtung, welche das Jahr 1375 geschaffen hatte: Die 9 ratsfähigen Gilden wählten je 2 Handwerksmeister zu jedem der drei Räte als beratenden Ausschuß hinzu, zusammen also 3x18=54 Handwerker. Doch nahmen an den Sitzungen der drei Regimenter, in denen wichtige Beschlüsse gefaßt wurden, nur jedesmal die 18 Handwerker, die dem sitzenden Regimente zugeteilt waren, teil, während die anderen 36 Handwerker völlig abtraten. Die 6 Bürgermeister endlich der drei Ratsregimenter bildeten eine engere Beratungs- und Verwaltungsbehörde, das collegium seniorum, einen Ausschuß, der regelmäßig alle 14 Tage zusammentrat und die Verhandlungen der Regimenter vorberiet. Neben den drei Ratskollegien stand das Kanzleikollegium, dem der Syndikus, die beiden Sekretäre, ein Aktuar und ein Kanzlist angehörten. Der Einfluß der Syndici war im 16. und 17. Jahrhundert zeitweise überragend gewesen, da sie häufig die einzigen rechtskundigen Beamten der Stadt waren. Ein Meyenburg im 16. und ein Titius im 17. Jahrhundert, die beide Syndici waren, können geradezu als eigentliche Lenker des Staats wesens angesehen werden. Das änderte sich im 17. Jahrhundert, seitdem es Regel wurde, daß einer der beiden alljährlich amtierenden Bürgermeister ein homo litteratus, ein akademisch vorgebildeter Jurist, sein mußte. Das 18. Jahrhundert war deshalb das Jahrhundert der Bürgermeister, und ein Mann wie Chilian Volkmar Riemann konnte sich eine fast unumschränkte Machtfülle aneignen. Die Syndici waren nichts weiter mehr als die häufig beiseite geschobenen rechtlichen Berater der Stadt. Ebenso wie der Syndikus waren die Sekretäre meist Juristen, da sie auch als Beisitzer oder Protokollführer in den Gerichtssitzungen zu amtieren hatten. Neben dem Rat und dem Kanzleikollegium standen ferner die sogenannten Offizianten der Stadt, von denen eine gehobene Stellung der Stadtphysikus, der Ratschirurgus, der zugleich Geburtshelfer war, und der Landmesser innehatten. Dazu kamen, abgesehen von zwei Hebammen, 49 untere Beamte und 16 Nachtwächter. Die Zahl dieser Polizeibeamten erscheint für eine Stadt von 7800 Einwohnern angemessen, dagegen setzt die große Zahl der übrigen Beamten auf den ersten Blick in Verwunderung. Doch wurden, abgesehen davon, daß die Tore und Zollgrenzen eine ganze Reihe Beamte beanspruchten, auch ein Ratszimmermann, ein Ratsmaurer, ein Schieferdecker, ein Feuermauemkehrer, zwei Flurschützen, ein Kuh- und ein Schweinehirte zu den dauernd städtischen Angestellten gerechnet. Schließlich wurden von der Stadt auch noch die paar Stadtmusikanten bezahlt, die unter Aufsicht der beiden Hausleute vom Blasii- und Petrikirchturm zu blasen und bei Festlichkeiten aufzuspielen hatten. Die drei wichtigsten städtischen Kammern, denen jedesmal nur Mitglieder des sitzenden Rates angehörten, waren die Kämmerei, die Vogtei und das Schultheißengericht. Die Kämmerer hatten den ganzen städtischen Etat zu überwachen. Ihre Vorsitzenden waren die beiden am Regimente befindlichen Bürgermeister, und zwar führte der dienstjüngere von Weihnachten bis Johanni, der ältere von da bis Weihnachten den Vorsitz. Dazu kamen 8 Kämmerer, von denen auch 4 vor und / 4 nach Johanni amtierten. Bei Besetzung der Kämmererposten nahmen die Vierherm insofern eine Ausnahmestellung ein, als sie ohne weiteres zugleich Kämmerer waren, während die Kämmerer, welche die Handwerkergilden stellten, von den amtierenden Bürgermeistern hinzuernannt wurden. Diese Kämmererstellen waren außerordentlich begehrt, weil mit ihrer Verwaltung ganz stattliche Einnahmen verbunden waren, und deshalb war es vor der Riemannschen Verwaltungsreform nicht selten vorgekommen, daß den Bürgermeistern ein „douceur“ gegeben wurde, um ihre Wahl zu beeinflussen. Allerdings hatten die Kämmerer auch die meiste Arbeit. Abgesehen von der Überwachung aller Einnahmen und Ausgaben mußten sie auch die Löhnung der Beamten vornehmen und mannigfaltige Revisionen veranstalten. Sie waren es, die alle 14 Tage die unteren Beamten entlohnten und auch die übrigen Viertelund Halbjahresgehälter auszahlten, was ja im 18. Jahrhundert bei der verwikkelten Zusammensetzung des Gehalts aus Geldentlohnung und Naturalentschädigung nicht ganz einfach war. Außerdem hatten sie jeden Monat eingegangene Mahl-, Zoll-, Wege-, Hausier-, Visiergeld und das sogenannte kleine Geleit, worunter der Leibzoll der Juden und der Zoll für bestimmte, meist geringe Waren verstanden wurde, zu revidieren. Sodann führten sie die Aufsicht über das rechte Gewicht der Backwaren, hatten die Kontrolle über die Fleischer und mußten die Maße und Gewichte nachprüfen. Endlich unterstand ihnen noch die gesamte Überwachung der Bierbrauerei. Ferner lag die Vogtei oder Strafgerichtsbarkeit und das Schulzenamt oder die Zivilgerichtsbarkeit in den Händen des sitzenden Rates. Seitdem Preußen diese einstigen Reichsämter im Jahre 1715 an Nordhausen verkauft hatte, war jedesmal einer der Bürgermeister Vogt und Vorsitzender des Strafgerichts, der andere Schultheiß und Vorsitzender des Zivilgerichts. Da besonders mit dem Schultheißenamte erhebliche Einkünfte verknüpft waren, suchten einflußreiche Bürgermeister wie die Riemanns das Amt dauernd in ihre Hand zu bekommen. Das führte in den vierziger und fünfziger Jahren zu schweren innerpolitischen Konflikten. Als Skabini, Schöffen oder Beisitzer, fungierten zwei Ratsmitglieder. Zum Straf- oder peinlichen Gericht gehörten außerdem noch die beiden Sekretäre der Kanzlei. Bei der Strafgerichtsbarkeit war übrigens der alte Brauch beibehalten worden, daß nach Abschluß der Untersuchung das Gericht auf offenem Markte vor dem Weinkeller gehegt und das Endurteil von den auf dem Rathause versammelten drei Räten eingeholt wurde. Als wichtigstes Ergebnis dieser Darlegungen stellen wir jedenfalls fest, daß Exekutive, Legislative und richterliche Gewalt, deren scharfe Trennung die Aufklärung des 18. Jahrhunderts forderte, in Nordhausen bis 1802 in denselben Händen lag. Das mußte zu Unzuträglichkeiten aller Art führen; von der „Unabhängigkeit“ der Richter, die für die Sauberkeit, ja für den Bestand eines jeden Staatswesens unerläßlich ist, konnte in Nordhausen keine Rede sein. Weniger wichtig als diese Ämter war das Paßamt, das ein Ratsherr aus dem sitzenden Regimente verwaltete, der die Pässe zu revidieren hatte. Alle anderen Kommissionen wurden von den drei Räten gemeinsam besetzt. Aus diesen Kommissionen sind einige als besonders wichtig hervorzuheben. So übte das Konsistorium die gesamte Sittenpolizei, die Kirchenzucht und die Aufsicht über die Geistlichen aus. Es setzte sich aus dem Syndikus als Vorsitzenden, den drei ersten Stadtgeistlichen, also den Pfarrern von St. Nikolai, St. Blasii und St. Petri, drei Vierherm und einem Sekretär zusammen. Ferner war nicht ohne Bedeutung das Wachamt, dem drei Ratsherrn, und zwar zwei Akademiker und ein Handwerker angehörten. Diese nahmen das sogenannte Wachtgeld ein, das die Einwohner für den Unterhalt der Stadtsoldaten aufzubringen hatten. Durchschnittlich kamen jährlich gegen Ausgang des 18. Jahrhunderts 1642 Taler an Wachtgeld ein, eine Summe, welche für die Besoldung der Soldaten ungefähr hinreichte. Dem Wachtamt unterstand auch die Beaufsichtigung der Inquilinen, derjenigen Bürger, die kein eigenes Haus besaßen, sondern bei anderen zur Miete wohnten. Auch das Mahlamt, das die bedeutenden aus dem Mahlen, Schroten und Ölschlagen vereinnahmten Summen und die zahlreichen Wassermühlen sowie die eine erst 1801 auf dem Taschenberg erbaute Windmühle inspizierte, gehörte zu den wichtigeren Ämtern. Denn die Einnahmen, die aus den Mühlbetrieben der Stadt zuflossen, beliefen sich auf etwa 7809 Taler jährlich, welche den fünften Teil der gesamten aufkommenden Steuern ausmachten; und die Überwachung der Müller, bei welchen Unterschleife nicht selten vorkamen, war keine leichte Aufgabe und erforderte ganz besonders ehrenfeste Männer. Die Armenversorgung weiterhin lag in Händen der Vormünder der drei Spitäler von St. Martini, Cyriaci und Elisabeth. Daneben gab es noch ein Almosenamt, das die für die Armen einkommenden Gaben verwaltete und verteilte. Den jedesmal drei ältesten Bürgermeistern stand ferner die Aufsicht über das Frauenbergskloster, über das Waisenhaus, über die Apotheken und über die große Schule zu, soweit es sich um Geldangelegenheiten handelte. Sehr kompliziert zusammengesetzt war schließlich noch die Kommission, welcher die Erhebung des Schosses, der Grund- und Gebäudesteuer und des Personalschosses, zustand. Aus dem sogenannten Realschoß, der auf allen Grundstücken, Gebäuden, Gärten, Äckern und Wiesen lag, kamen jährlich 5436 Taler ein, aus dem Personalschoß, der von Leuten ohne Grund und Boden bezahlt ward, 187 Taler. Aus der Dürftigkeit dieser letzteren Steuer ersieht man, daß es in Nordhausen ganz wenig Bürger ohne Grundbesitz gab. Eigentliche Einkommen- und Vermögenssteuern aber, die wir heute als die notwendigsten und gerechtesten Steuern ansehen, gab es ja im 18. Jahrhundert überhaupt noch nicht. Diese wurden erst im 19. Jahrhundert in England eingeführt und dann allmählich von anderen Staaten übernommen. Die Kommission für den Schoß hatte im Dezember jedes Jahres die Steuern einzuziehen und dann an die Kämmerei abzuführen.[19] Etwas abseits von der eigentlichen städtischen Verwaltung standen das geistliche Ministerium, dem sämtliche Pfarrer der Stadt angehörten und zu dem zuweilen der Rektor des Gymnasiums hinzugezogen wurde, ferner die Inspektion des Gymnasiums, die von den beiden Geistlichen von Nikolai und Blasii, und die Inspektion der Mädchenschule, die von dem Pfarrer an St. Petri ausgeübt wurde. Noch im 17. Jahrhundert hatten die beiden Inspektoren des Gymnasiums weitgehende Gewalt über die Schule, im 18. Jahrhundert war aber mit der immer weiter schreitenden Emanzipierung wenigstens der höheren Schule von der Kirche die Stellung des Rektors ziemlich selbständig geworden. Nur seine Prüfung vor der Anstellung nahmen noch die geistlichen Inspektoren vor. Die Einnahmen der Stadt setzten sich gegen Ausgang des Jahrhunderts aus 56 Titeln zusammen, die Ausgaben aus 135-150, wobei aber die Besoldung jedes einzelnen Beamten einen Titel für sich bildete. Die größten Einnahmen brachten:
Abgesehen davon, daß eine Einkommen- und Vermögenssteuer noch unbekannt war, fällt besonders auf, daß sich die Gewerbelasten in sehr bescheidener Höhe hielten. Wenn man bedenkt, daß in einer Stadt wie Nordhausen jährlich 400000 Scheffel Getreide verbrannt, etwa 40000 Schweine gemästet, 17000 Zentner Öl im Werte von mehr als 150000 Talern geschlagen wurden, wenn man dazu den Umsatz an Bier und den guten Absatz der Handwerker veranschlagt, der durch den regen Verkehr in Nordhausen gewährleistet war, und wenn man dann bedenkt, daß, abgesehen von ganz geringen Abgaben der Innungen und ganz niedrigem Standgeld für Buden und Bänke auf den Märkten eigentlich nur das Mahl-, Schrot- und Ölschlaggeld in Betracht kam, so muß man zu dem Urteil kommen, daß die Nordhäuser Bevölkerung unter außerordentlich glücklichen steuerlichen Verhältnissen lebte. Das Scheffelgeld war deshalb auch am meisten umkämpft, wurde doch für das Mahlen eines Scheffels Getreide 1 Groschen, für das Schroten 4 Pfennig, für das Ölschlagen 1 Groschen erhoben. Wenn hier Erhöhungen der Steuern vorgenommen wurden, wie beispielsweise in den neunziger Jahren das Schrotgeld von 4 Pfennig auf 1 Groschen heraufgesetzt wurde, so erregten solche Maßnahmen böses Blut. Im Verhältnis zu diesen Steuern waren die Pachten ziemlich hoch, obgleich der preußische Steuersachverständige auch sie noch für zu niedrig hielt. So mußte z.B. der Pächter der Rotleimmühle 200 Taler in Gold, 67 Taler 21 Groschen in Münze entrichten. Dazu kamen 3 Scheffel Weizen und 16 Scheffel Roggen, die er für den städtischen Kornboden zu liefern hatte, sowie 1 fettes Schwein im Werte von 8 Talern - sonst rechnete man 12 Taler dafür -, 6 fette Gänse ä 1 Taler 12 Groschen = 9 Taler, und beim jährlichen Abschlag des Mühlgrabenwassers 8 Taler 16 Groschen, alles Abgaben, die der Müller an die Bürgermeister und Kanzleibeamten abzuführen hatte. Endlich zahlte er auch noch an das städtische Bauamt 8 Taler. Der Pächter der Ziegelhütte am Altentore hatte 230 Taler in Gold zu zahlen und an die Bürgermeister, an die Kanzleibeamten und an das städtische Bauamt 2900 Stück Ziegeln und 108 Scheffel Kalk zu liefern, deren Wert auf 56 Taler 16 Groschen veranschlagt wurde. Nur in außergewöhnlichen Zeiten, etwa nach Kriegen, in denen die Stadt Kapitalien hatte aufnehmen müssen, suchte natürlich der Rat nach einer Vermehrung der Einnahmen. So erhöhte er 1764 nach dem Siebenjährigen Kriege die Grund- und Gebäudesteuer und legte eine Getränkesteuer um - 1 Pfennig für 1 Kanne Bier -, um die Zinsen bezahlen und die Schuld allmählich abdecken zu können. Im übrigen konnte jeder, der diesen Verpflichtungen nachkam und sich sonst den Gesetzen der Stadt gehorsam zeigte, Bürger werden, wenn er nicht gerade das Unglück hatte, Reformierter oder Jude zu sein. Für die Erwerbung des Bürgerrechts zahlten Bürgersöhne und Gatten von Bürgertöchtem 1 Taler 19 Groschen, nämlich für das Schulzenamt 2 Groschen 4 Pfennig, für Verordnungen und Erlasse 10 Groschen 8 Pfennig, für das Gilderecht 12 Groschen, für die öffentlichen Anlagen 6 Groschen, für den Schulfonds 12 Groschen. Von ganz Fremden, die sich in Nordhausen niederzulassen beabsichtigten, wurden 10 Taler für den Bürgerbrief erhoben; seit 1799 erhöhte man diesen Satz auf 30 Taler. Jeder Bürger war außerdem zum Waffendienst verpflichtet. Die Bürgerschaft war am Ausgang des 18. Jahrhunderts in 6 Kompagnien eingeteilt, jede mit einem Hauptmann, einem Leutnant, einem Fähnrich und 4 Korporalen. Zu kriegerischen und gefährlichen Exekutionen war das Blut der Bürger zu gut; das Bürgeraufgebot diente nur repräsentativen Zwecken. So zog in der Nacht der Ratswahl eine Kompagnie der Oberstadt vor dem Rathause auf, bei Vollstreckung eines Todesurteils bildeten die drei Kompagnien der Unterstadt den „Ring“, und bei großem Empfang oder besonderer Festlichkeit wirkten sämtliche 6 Kompagnien mit. Den wirklich militärischen Dienst verrichteten Berufssoldaten, die Stadtsoldaten, für die das „Wachtgeld“ erhoben wurde und deren Stärke sich auf 1 Hauptmann, 3 Unteroffiziere, 4 Spielleute und 44 Mann belief. Das Kontingent, welches das Reich bei kriegerischen Unternehmungen von der Stadt fordern durfte, war auf 45 Mann festgesetzt. Diese 45 Mann rückten während des 18. Jahrhunderts auch mehrere Male ins Feld; doch kam es auch wohl vor, daß die Stadt, um ihre Truppen zu schonen, dem Reiche Geld als Ersatz anbot. Neben dem Bürgeraufgebot und der Stadtmiliz war auch noch die Schützenkompagnie zu gewissen Dienstleistungen verpflichtet. Die Schützen wirkten bei Grenzbesichtigungen mit, nahmen auf Anordnung des Rates Ackervisitationen vor und gingen in kriegerischen Zeiten an den Stadtgrenzen Patrouille. Schließlich konnten Gesellen und junge Handwerksmeister auch zum Spritzendienst herangezogen werden. Die Stadt unterhielt 5 Spritzen, 4 in der Oberstadt und 1 in der Neustadt. Den 4 Spritzen der Oberstadt waren je 30 Mann unter 2 Spritzenmeistern zugeteilt; die Neustadt stellte 2 Kompagnien zu je 30 Mann und 4 Spritzenmeister. Nach allen diesen Darlegungen sollte man meinen, daß die Stadt nach Beseitigung der Mißstände durch Chilian Volkmar Riemann seit 1725 in den glücklichen innerpolitischen Verhältnissen gelebt hätte. Ganz war das allerdings nicht der Fall. Die engen Verhältnisse der kleinen Reichsstadt forderten zu allerhand Reibungen geradezu heraus, und besonders wenn ein streitsüchtiger, ehrgeiziger und einflußreicher Mann überall seine Hand im Spiele haben wollte, blieben kleine Verdrießlichkeiten und selbst schwerere Erschütterungen nicht aus. Ein solcher Mann war der Stadt Nordhausen in Andreas Sigismund Wilde beschert. Dieser sollte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts oft genug Anlaß zu innerpolitischen Spaltungen und Streitigkeiten geben. Johann Andreas Sigismund Wilde entstammte einer uralten Nordhäuser Patrizierfamilie, deren Anwesen in der Predigerstraße lag (heute Gesellschaftshaus Erholung). Schon in jüngeren Jahren zeigte er eine merkwürdig verbildete Natur. Der Eigensinn war in ihm ausgebildet bis zum Unsinn, jedenfalls weit über das Maß der Selbstdurchsetzung hinaus. Bei jedem anderen sah er die kleinste Schwäche und ahndete den geringsten Verstoß; er selbst aber bot Angriffsflächen über Angriffsflächen und setzte sich über jede Ordnung hinweg. Hochmütig gegen kleine Leute, warf er anderen Hochmut vor. Abstoßend grausam und rachsüchtig, wenn er als Bürgermeister am Regiment saß und als Gerichtsherr präsidierte, versuchte er sich Anhänger zu verschaffen, indem er auf die Ungerechtigkeit und Härte anderer hinwies. Voller Habsucht selbst die heiligsten Pflichten gegen die Verwandten verletzend, stieß er sich gerade bei seinen Gegnern, den Riemanns, an ihrer Habsucht. Diese Wesensart, die jede Selbsterkenntnis und jede Sachlichkeit vermissen ließ, steigerte sich noch in seinem Alter, in den siebziger und achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts, und man tut ihm wohl nicht unrecht, wenn man seine Handlungsweise im letzten Jahrzehnt seines Lebens als nicht mehr einem normalen Charakter entspringend ansieht und wenn es deshalb der Historiker ablehnt, die Äußerungen solcher pathologischen Unfähigkeit zu sachlichem Urteil zu werten. Wenn man das abschreckende Bild eines Prozeßhansl zeichnen will, so bietet Wilde dazu ein durchaus zweckmäßiges Modell. Gleich das erste Alter des reifen Mannes führte Wilde vor die Schranken des Gerichts, und in Wetzlar, wo er sich aufhielt, um beim Reichsgericht einen Prozeß selber durchzufechten, ist er als hochbetagter Greis gestorben. Jeder Prozeß brachte ihm eine Niederlage, jeder Prozeß zerrüttete das Vermögen des ursprünglich wohlhabenden Mannes mehr, - dennoch ließ er nicht ab vom Prozessieren. Es ist unmöglich, alle die Prozesse, die Wilde in privaten und öffentlichen Angelegenheiten geführt hat, zu behandeln. Manche sind auch völlig belanglos für die Geschichte. Um den Charakter Wildes zu beleuchten, seien nur zwei seiner Fehden gegen Mitglieder der eigenen Familie erwähnt. Seine Großmutter Katharina Elisabeth Wilde, geb. Grotjan hatte nach dem Tode ihres ersten Gemahls August Sigismund Wilde den Bürgermeister Joh. Michael Kegel geheiratet. Als sie 1728 starb, klagte der Enkel sofort gegen die Kegelschen Erben, und es entspann sich daraus ein Jahrzehnte dauernder Prozeß, der keinem als den Anwälten Freude bereitete. Noch widerlicher war ein Erbschaftsstreit mit seiner Schwägerin. Am 17. Januar 1763 war Wildes einziger Bruder, der Advokat Joh. Friedrich Wilde, gestorben und hatte seine Frau, eine geborene Schultheß, zur einzigen Erbin eingesetzt. Sogleich ließ Wilde Haus, Grundstücke und Mobilien des verstorbenen Bruders mit Beschlag belegen und der Witwe vorenthalten. Der schwächliche Nordhäuser Rat stimmte diesem Vorgehen seines Bürgermeisters zu. Die Witwe wiederum, im Gefühl ihres unantastbaren Rechtes, tastete die Gerichtssiegel an, die der Rat an Haus und Möbel hat kleben lassen. So kam es zu einem zehnjährigen Prozeß der Witwe Wilde gegen den Rat der Stadt Nordhausen und gegen ihren Schwager vor dem Reichskammergericht zu Wetzlar. Erst am 12. Oktober 1773 fällte das Reichsgericht eine Sentenz, die der Frau Wilde recht gab. Dem Rate wurde bei einer Strafe von 3 Mark (Pfund) lötigen Silbers aufgegeben, die Klägerin sofort in ihre Besitztitel einzusetzen. Trotz dieses gemessenen Befehls weigerte sich die Stadt, ihren Bürgermeister fallen zu lassen, so daß man nicht sagen kann, daß sie sich, selbst unter Hintansetzung des Rechtes, nicht schützend vor den Mann gestellt hätte, der ihr damals schon hundert Schwierigkeiten bereitet hatte. Erst als sich Nordhausen dauernd ungehorsam zeigte, machte Wetzlar am 5. Juli 1775 Emst und ordnete die Reichsexekution gegen die Stadt an. Dem Könige von Preußen und dem Herzoge von Braunschweig wurde aufgetragen, die Stadt zum Gehorsam zu zwingen. Da erst gab Nordhausen nach und auferlegte dem Bürgermeister Wilde, sich mit seiner Schwägerin zu vergleichen. Die Stadt selbst mußte um ihres Bürgermeisters willen die 3 Mark Silber - 288 Taler, nach heutigem Werte etwa 3000 M - Strafe bezahlen und führte sie am 12. Januar 1776 nach Wetzlar ab.[20] Dieses Vorgehen Wildes gegen Angehörige seiner Familie entsprang in erster Linie seiner Habsucht. Dieser selbe Charakterzug zeigte sich auch in der Behandlung seiner Mitbürgermeister. Viele Jahre lang war er, der als Jurist Bürgermeister war, mit einem braven, geduldigen Lohgerber namens Lange (Bürgermeister 1753-1776) zusammen sitzender Bürgermeister. Nun war zwar seit der Riemannschen Besoldungsreform das Gehalt der akademischen Bürgermeister höher als das der Bürgermeister aus den Gilden, aber die sogenannten Akzidentien, die in Naturalien einkommenden Nebengefälle, wurden nach wie vor zu gleichen Teilen unter ihnen geteilt. Da führte nun Wilde für sich und Lange den Brauch ein, daß Lange die Nebeneinnahmen des ersten halben Jahres bis Johanni, er die des zweiten Halbjahres bezog, und nicht, wie üblich, die Einkünfte des ganzen Jahres geteilt wurden. Das erste Halbjahr brachte nämlich so gut wie keine Vorteile; alle Naturalabgaben liefen erst nach der Ernte im Herbste ein. Mit außerordentlichem Langmut ließ sich Wildes Kollege, jedesmal wenn beide im dritten Jahre wieder regierende Bürgermeister waren, diese Behandlung gefallen. 1756, 1759,1762, 1765, 1769 setzte Wilde seinen Kopf durch, bis Lange schließlich doch auf das, was ihm zukam, bestand. Wilde dachte natürlich nicht an Nachgeben, und ein Prozeß vor dem Kaiserlichen Hofrat in Wien war die Folge. Der Hofrat entschied im Dezember 1771 gegen Wilde. Er mußte Lange die zuviel vereinnahmten Akzidentien erstatten und 1 Mark lötigen Silbers (96 Taler) Strafe bezahlen. Aber weit gefehlt, daß Wilde nun von seiner unlauteren Handlungsweise abgelassen hätte! Der Nachfolger Langes als Mitbürgermeister Wildes wurde 1777 der Kürschner Joh. Heinrich Förstemann (1777-1793), und mit diesem versuchte er trotz seiner Niederlage genau so zu verfahren wie mit seinem früheren Kollegen, so daß wieder das Gericht, diesmal das Reichsgericht, eingreifen mußte.[21] Doch berührten alle diese Prozesse, obgleich sie der Stadt Nordhausen nicht gleichgültig sein konnten, immerhin kaum das Wohl des Gemeinwesens. Viel schlimmer war es, daß Wilde sich nicht scheute, sein Bürgermeisteramt zu mißbrauchen, um städtische Gelder an sich zu bringen. So benutzte er seinen Einfluß als regierender Bürgermeister im Jahre 1777, um mit schamloser Dreistigkeit für seine Bemühungen um die Stadt im Jahre 1762 ein „douceur ex aerario publico“ von 3000 Talern zu verlangen. Dieses sein Verdienst hatte darin bestanden, daß er im Auftrage der Stadt nach Hannover gereist war, um eine Kriegskontribution der englisch-hannöverschen Armee abzuwenden. Dergleichen Missionen hatte in der Zeit des Siebenjährigen Krieges mancher Ratsherr übernehmen müssen und hatte sie übernommen mit mehr Erfolg als Wilde; denn Wilde hatte damals nicht das geringste erreicht. Und trotzdem wagte Wilde ein solches Ansinnen zu stellen, 15 Jahre später. Und er kannte seine Herrn Ratsmitglieder. Am 23. Juni 1777 stimmte der Rat tatsächlich der Auszahlung von 3000 Talern an Wilde zu und schädigte damit die Allgemeinheit. Nur die Frechheit hat eben Erfolg. Viel tiefer aber berührte das Staatswesen ein anderer Streit, den Wilde mit dem Rate und der Stadt Nordhausen vom Jahre 1746-1753 und dann wieder von 1777-1784 durchfocht. Dabei ist es nicht richtig, von einer preußischen Partei, welche die Riemanns vertraten, und einer reichsstädtischen Partei, welche Wilde vertrat, zu sprechen und daraus den Gegensatz zwischen der Riemannschen Familie und Andreas Sigismund Wilde abzuleiten. Nur um während der preußischen Besetzung im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts die Konjunktur auszunutzen und den auch von den Preußen geschürten Haß der Bürger gegen den Rat in ihre Dienste zu stellen, scheint es zunächst so, als ob das Geschlecht der Riemanns preußenfreundlich gewesen sei. Tatsächlich waren die Riemanns, wie wir noch sehen werden, nicht weniger reichsstädtisch und preußenfreundlich gesinnt als Wilde. Im Gegenteil: Wilde ging in seinem Haß gegen das einflußreichste Geschlecht Nordhausens so weit, daß er dem im 18. Jahrhundert als Erbfeind angesehenen Preußen gegen die Reichsstadt in die Hand spielte. Der Gegensatz zwischen den beiden Familien entsprang also allein aus der Voreingenommenheit des alten Patriziers Wilde, der alle Verhältnisse beim alten lassen wollte, um aus ihnen persönliche Vorteile zu ziehen, gegen die Riemanns als Emporkömmlinge, welche die Verhältnisse so zurechtstutzen wollten, daß sie und ihr Anhang dabei nicht zu kurz kamen. Konservativer Geist und Fortschritt prallten aufeinander. Um den Einfluß Riemanns zurückzudrängen, brach Wilde in allerungeschicktester Weise einen Streit um die Vogtei und das Schulzenamt vom Zaun. Seitdem nämlich Nordhausen im Jahre 1715 diese Reichsämter von Preußen erworben hatte und auf diese Weise völlig selbständig geworden war, brauchte es, jedesmal wenn ein neuer Kaiser den Thron bestieg, nur noch zweierlei vom Reich und Kaiser nachzusuchen: Es mußte sich seine Privilegien bestätigen lassen, und es mußte sich mit den Reichsämtem belehnen lassen. Das war am 21. Juli 1716 und am 30. September 1716 von Kaiser Karl VI. geschehen, das war am 14. August 1743 von Karl VII. geschehen, und das geschah auch am 31. März 1746 von Franz I. und am 29. August 1767 von Joseph II. Der Ratsbeschluß, der die Lehnsnachsuchung bei Franz I. herbeiführte, wurde am 16. Februar 1746 gefaßt, und diesen Beschluß nahmen Wilde und seine Anhänger zum Anlaß, gegen den Rat und die Riemannsche Familie vorzugehen, indem sie behaupteten, die Riemanns schädigten mit dieser Bitte um Belehnung die Reichsfreiheit der Stadt, welche seit 1715 gar nicht belehnt zu werden brauche. Diese ihre Auffassung begründeten sie mit Artikel 4 des Vertrages vom 22. Mai 1715, den Nordhausen mit Preußen eingegangen war und in dem es hieß: (Vogtei und Schultheißenamt gehen auf Nordhausen über) „Wobey aber auf Kgl. Preußischer Seiten ausdrücklich reservieret, von der Stadt Nordhausen auch angenommen und versprochen worden, daß dieselbe die in denen vorhergehenden Articulis exprimierte iura insgesamt zu ewigen Zeiten an sich behalten, und dieselbe ganz oder zum Theil nimmermehr an jemanden anders, er sey, wer es wolle, auch unter keinerlei Prätext, Vorwand und Ursache wieder cedieren, abtreten oder verpfänden will.“ Preußen, das die Reichsämter an Nordhausen verkauft hatte, verlangte also, daß diese Reichsämter immer bei Nordhausen allein bleiben sollten und nicht etwa an einen anderen Reichsstand, etwa an Sachsen oder Hannover, zum Schaden Preußens übergingen. Davon, daß die Reichsstadt die Belehnung mit den Ämtern nicht beim Reiche nachsuchen dürfe, war natürlich nicht die Rede. Um aber eine Handhabe gegen die Riemanns zu haben, schob Wilde dem Artikel 4 den Sinn unter, daß danach auch das Reich keinen Anspruch mehr auf die Ämter habe, also auch die Belehnung nicht mehr nötig sei, und daß derjenige, der sie nachsuche, Recht und Ansehen Nordhausens schmälere. Wir sagten schon, daß Wilde keinen unglücklicheren Griff tun konnte, als gerade wegen der Reichsämter die Riemanns zu diskreditieren. Denn abgesehen von der rechtlichen Unmöglichkeit des Wildeschen Standpunktes mußte der nunmehr unvermeidliche Streit vor den Gerichten des Kaisers ausgefochten werden, und die Sympathie des Kaisers und seiner Räte war naturgemäß auf Seiten derjenigen, die loyaler Weise die Belehnung nachsuchen wollten. Der Kampf begann also im Frühjahr des Jahres 1746. Auf Seiten Wildes standen der Vierherr Hoffmeister, die Senatoren Meyer und Joh. Wilhelm Reppel sowie der Sekretär Joh. Heinrich Reppel. Diese versuchten, „die beiden Riemänner in ehrenrührigster Weise anzutasten, als ob sie Nordhausen um seine Freiheit zu bringen suchten“. Der Rat schritt daraufhin am 28. Juli 1746 zur Klage gegen die Aufrührer beim Kaiser, und dieser lud sie am 19. August 1746 wegen „ärgerlichen Unfugs und strafbarer Vermessenheit“ innerhalb zweier Monate bei 10 M lötigen Silbers (etwa 1000 Taler) vor den Kaiserlichen Hofrat in Wien. Wilde trat selbst die Reise an und muß in Wien seine Sache, vielleicht auch mit Hilfe des goldenen Esels, nicht ungeschickt geführt haben. Er suchte sich aus der Schlinge zu ziehen, indem er behauptete, er habe die Belehnung durch den Kaiser als solche nie in Zweifel gezogen; nur jene doppelte Nachsuchung, indem einmal um Bestätigung der Privilegien und zum anderen um Belehnung mit den Reichsämtem gebeten werde, halte er für falsch und unnötig. Mehr noch als diese fadenscheinige Ausrede scheint Wilden aber der Gegenschlag genützt zu haben, den er jetzt in Wien gegen die Riemanns führte, indem er ihnen nicht nur eine Verletzung der Nordhäuser Verfassung vorwarf, da sie den Beschluß der Lehnsnachsuchung vom 16. Februar 1746 nur vor einem Rate und nicht vor allen drei Räten herbeigeführt hatten, sondern auch ihre Eigennützigkeit nachwies, mit der sie, um ihre Einnahmen zu vergrößern, die Zölle erhöht hatten. Davon wird noch unten die Rede sein. Kurz, Wilde erreichte, daß der Reichshofrat am 1. Dezember 1746 der Stadt Nordhausen befahl, den Bürgermeister Wilde in seinen Ämtern zu belassen. Voller Hoffnung kehrte Wilde nach Nordhausen zurück, wo er zur rechten Zeit ankam, da gerade für ihn das Jahr begann, in welchem er mit einem gewissen Pöppich zusammen regierender Bürgermeister war. Sogleich im Januar 1747 begann er nun der Stadt zu zeigen, daß er Oberwasser habe und gewillt sei, jeden Gegner mit Skorpionen zu züchtigen. Das Ratssiegel eignete er sich allein an, ließ es in seine Privatwohnung bringen und verweigerte jedem anderen den Gebrauch des Siegels. Viel toller noch war es, daß er sogleich dem Agenten Middelburg in Wien, der Nordhausen bisher beim Hofrate vertreten und natürlich im Vorjahre auftragsgemäß die Sache der Stadt gegen Wilde geführt hatte, sein Amt aufkündigte und, ohne Ratsbeschluß herbeigeführt zu haben, einen Herrn von Fischer als Agenten annahm. Der Rat protestierte gegen diese Maßnahme, und seit März 1747 war Middelburg wieder städtischer Sachwalter. Dann suchte sich Wilde aber auch in der Stadt weitere Anhänger zu verschaffen. Er war zwar wegen seiner Anmaßung außerordentlich unbeliebt, aber sein und seiner Freunde Geld warb aus der Hefe des Volkes, „infimae sortis“, wie es in der Quelle heißt, begeisterte Freunde seiner Sache. Und um schließlich seine Popularität nach außen hin zu dokumentieren, wurde Wilde als Beschützer der Freiheit am 31. Januar 1747 von seinen Gesinnungsgenossen eine große Ovation dargebracht. Es wurde musiziert, illuminiert, Transparente, die Wilden verherrlichten, erschienen, Unterschriften wurden gesammelt und Lieder gesungen, welche die Feinde Wildes herabsetzten. Selbst in unseren Tagen, wenn eine Zeitung in unsachlichster Weise den politischen Freund verherrlicht und den Gegner verunglimpft, kann es nicht lustiger zugehen. Weniger aber aus dieser Beweihräucherung Wildes als aus seinem Vorgehen gegen diejenigen, die sich an der Harlekinade nicht beteiligten, spricht der häßliche Charakter des leidenschaftlichen Mannes. Wilde wagte es, den Pastor primarius Stange, einen Verwandten Riemanns, der von der Kanzel herab die Bevölkerung zur Besonnenheit ermahnt hatte, von zwei Ratsdienem auf das Rathaus holen zu lassen und ihm bei Strafe der Kassation das Predigen zu untersagen. Er wagte es, dem Rektor Goldhagen, der sich geweigert hatte, seine Schüler bei der Ovation aufziehen zu lassen, das Gehalt zu entziehen. Daraufhin ermannte sich der Rat denn doch. Er suspendierte Wilde vom Amte und übertrug Pöppich allein die Bürgermeistergeschäfte; zugleich wandte er sich wieder nach Wien. Doch unser Wilde war nun einmal wild geworden. Er gab nicht nur nicht das Ratssiegel heraus, sondern nahm sogar den Rathausschlüssel an sich, so daß am 20. Februar 1747 die Ratsherrn, als sie gen Rathaus schritten, in der winterlichen Kälte stehen und dann betrübt abziehen mußten. Bis zum 24. Februar hielt Wilde das Rathaus unter Verschluß. Die Räte mußten auf dem Weinkeller tagen. Doch ließ es sich Wilde als herzhafter Mann nicht nehmen, alldort auch zu erscheinen, und nun hub ein Lärmen an, wie ihn das alte Gebäude noch nimmer erlebte. Wilde kam „mit dem größten Ungestüm dorthin, worauf ein solcher entsetzlicher Streit vorgefallen, dergleichen in Nordhausen niemalen erhöret worden“, eine Situation, in die sich jeder Besucher moderner Parlamente unschwer wird hineinversetzen können. Nach dieser Heldentat suspendierte auch Wien am 17. März 1747 Wilde und seine Genossen. Am 5. April wurde diese Suspensation öffentlich in Nordhausen bekanntgegeben, und 6 Wochen lang blieb das Kaiserliche Mandat unter Bewachung von zwei Stadtsoldaten angeschlagen, eine Kränkung, deren Wilde noch nach fast 40 Jahren, im Jahre 1781, in einem langen, für uns sehr aufschlußreichen Brief mit Bitterkeit gedachte. Nun gingen die Anklageschriften von beiden Seiten nach Wien, und wenn der Historiker sonst durch seine Studien noch nicht zu ergebener Ruhe erzogen ist, so geschieht das bei der Durchsicht dieser Schriften, bei denen 170 Seiten Text und 28 Anlagen mit mehr als 200 Seiten Selbstverständlichkeiten sind. Im November 1747 war man endlich soweit, daß die Spießgesellen Wildes von Wien rehabilitiert wurden, und am 13. Februar 1748 beschloß der Rat auf Vorschlag Riemanns, die Vogtei und das Schulzenamt jedes Jahr mit den jeweiligen beiden Bürgermeistern der Stadt zu besetzen, um der Nachrede entgegenzutreten, als ob sie selbst diese Ämter um ihrer Einkünfte willen an sich bringen wollten. Wien konfirmierte diesen Beschluß, und seitdem wechselten bis 1802 die jedesmaligen Bürgermeister in der Führung der Reichsämter ab. Wilde selbst aber blieb weiterhin seines Postens entsetzt, und wenn ihn die Aufregungen des Prozesses nicht klein bekommen konnten, so taten es die Kosten, die mit den vielen Reisen und Gerichtshonoraren verbunden waren. Am 28. Februar 1749 bat er den Kaiser de- und wehmütig um Restitution in seine Ämter, da er „die mehr als zwei Jahre dauernden schweren und herzfressenden Suspensationszeiten, die ihm Tage zu Monaten und Monate zu Jahren gemachet, und da er so viel unbeschreiblich und unzählbar als tödliche Verfolgungen seiner feindseligsten Gegner in einer mehr als menschlichen Gelassenheit geduldet habe“. Bald merkte er, daß nur durch Bestechungsgelder in Wien etwas zu erreichen war, und so wandte er denn mehr als 1000 Taler an, um die Richter des Hofgerichts gnädig zu stimmen. Mit Hilfe dieser goldenen Brücke gelang es ihm schließlich, das ersehnte Ufer, den Bürgermeisterposten, wiederzugewinnen. Der Reichshofrat hob die Suspensation auf und beschloß auch, was für Wilde besonders wichtig war, daß ihm sein Gehalt nachgezahlt wurde. Da aber zeigten sich nun die Riemanns unversöhnlich und taten einen hinterhältigen Schachzug gegen Wilde. Wilde neigte nämlich in religiöser Beziehung den damals gerade in Nordhausen wieder auftretenden Separatisten und Abendmahlsverweigerem zu.[22] Das benutzten nun seine Gegner, um ihn in Wien von neuem anzuschwärzen. Er sei ein Separatist und Atheist, hieß es, und während die Riemanns 1751 alle Sektierer in Nordhausen ihre Hand fühlten ließen und 12 Familien damals die Stadt räumen mußten, tat diese Anklage gegen Wilde auch in Wien ihre Schuldigkeit. Die Aufhebung der Suspensation wurde abermals hinausgezögert; die Herren Reichshofräte witterten abermalige Bestechungsgelder. Wilde wehrte sich, so gut er konnte. Er schrieb nun seinerseits am 17. April 1752 nach Wien, „daß die Riemannschen Stadtfeinde die allerärgsten Ketzer, Atheisten, Religionsspötter und solche Tyrannen seien, welche nicht nur über Hab und Gut, sondern auch über Seele und Seligkeit die Menschen grausamster Weise tyrannisierten ... , samt ihrer geschwägerten Geistlichkeit (Stange und Lesser) wahre, eingefleischte Teufel“. Endlich, am 7. August 1752, ließ sich der Kaiser erweichen, der Stadt zu befehlen, Wilde wieder in Gnaden aufzunehmen, aber unter den schwersten Bedingungen für ihn. Wilde mußte auf Nachzahlung seines Gehaltes verzichten, er mußte die Gelder, die er zur Führung seines Prozesses aus dem Stadtsäckel genommen, zurückzahlen, und er mußte „bei vollem Rate wegen seines Unfugs Abbitte tun“. Daraufhin wurde Wilde am 1. Dezember 1752 in Nordhausen rehabilitiert. Noch während der ersten Monate des folgenden Jahres versuchte er immer wieder, den Kaiser zu der Anordnung zu bewegen, daß ihm die Stadt sein Gehalt für die Jahre seiner Amtsentsetzung nachzahlte. Er erreichte nichts. Seine Wohlhabenheit scheint durch den Prozeß äußerst in Mitleidenschaft gezogen zu sein, so daß aus dieser Notlage die späteren Mißgriffe Wildes, von denen schon oben die Rede war, wenigstens teilweise ihre Erklärung finden.[23] Auch in diesem Kampfe um die Reichsämter zu Nordhausen, der nichts weiter war als ein Kampf gegen das Geschlecht der Riemanns, blieb Wilde unbelehrbar und starrköpfig bis zur Unverständlichkeit. Wenn er gegen die Riemannsche Familie vorgehen wollte, so mußte er eingesehen haben, daß die Reichsämter die ungeeignetste Angriffsfläche boten. Wilde sah das nicht ein. Jahrzehnte lang freilich ließ er den Streit ruhen. Doch am 17. Juli 1763 starb Chilian Volkmar Riemann, nachdem er fast 48 Jahre die Geschicke Nordhausens geleitet hatte, am 7. Juli 1774 starb sein Bruder, der Bürgermeister Joh. Gottfried Riemann. Die Tradition setzte dessen Sohn Heinrich August Riemann (Bürgermeister 1767-1801) fort. Da, nachdem die Alten zu Grabe getragen worden waren, wagte Wilde im ersten Jahre, wo er nach Joh. Gottfried Riemanns Tode wieder am Regimente saß, im Jahre 1777, noch einmal denselben Vorstoß wie im Jahre 1746. Er behauptete wieder, daß Nordhausen eine Lehnsnachsuchung für die Reichsämter nicht nötig habe. Es müssen damals merkwürdig unselbständige und unfähige Männer im Nordhäuser Rate gesessen haben. Denn jeder von ihnen wußte, daß Wilde mit seiner Behauptung im Unrechte war, jeder wußte, daß der Kaiser Wildes Standpunkt ablehnen werde, jeder wußte, daß sich die Stadt, wenn sie sich zu dieser Behauptung bekannte, nur selbst schädigte, indem sie gegen die Rechte des Kaisers Stellung nahm, des einzigen Menschen, der der Reichsstadt noch einigen Rückhalt bot, - und dennoch gelang es Wilde, den Rat so zu bearbeiten, daß alle drei Regimenter am 15. Dezember 1777 einen Beschluß unterschrieben, nach welchem der Kaiser gebeten werden sollte, auf die Belehnung Nordhausens mit Vogtei und Schultheißenamt zu verzichten. Zugleich glaubte man eine günstige Aufnahme der Bitte durch den Kaiser dadurch erreichen zu können, daß man für die Bestätigung der Privilegien, für die man bisher 50 Dukaten bezahlt hatte, 100 Dukaten entrichten wollte. Lange Zeit blieb das Gesuch Nordhausens in Wien unerledigt liegen, bis Anfang des Jahres 1781 aus Wien die Ablehnung der Bitte eintraf.[24] Längst war man aber auch in Nordhausen anderen Sinnes geworden. Sobald der starke Mann Wilde 1778 vom Regimente abgetreten war, regte sich der Widerspruch, und als nun gar die Ablehnung aus Wien angelangt war, beschlossen alle drei Räte am 17. August 1781, - aber in Abwesenheit Wildes, dessen Widerspruch man fürchtete - daß „das am 15. Dezember 1777 abgefaßte und bei Kaiserlicher Majestät übergebene Gesuch um Aufhebung der Lehen ... widerrufen und vielmehr beim Kaiser die Belehnung nachgesucht werden solle“. Wilde, der alte Haudegen, raste und schäumte, als ihm dieser Beschluß zu Ohren kam. Aber die Herren Stadtväter machten sich diesmal stark. Man hatte gegen den alten Bürgermeister einen starken Trumpf auszuspielen. Wilde hatte nämlich, wovon noch unten die Rede sein soll, vor langen Jahren von einem gewissen Liebenrodt, einem der Separatisten, die dann nach Preußen auswanderten, eine große Summe Geldes geborgt und hatte sich selbstverständlich Jahre lang geweigert, diese zurückzuzahlen, bis Friedrich der Große für seinen Untertanen eintrat und der Stadt Nordhausen, die Schlimmes befürchtete, nichts weiter übrigblieb, als ihrem Bürgermeister Wilde die verlangten 3000 Taler vorzustrekken. Ebenso selbstverständlich, wie Wilde dem Liebenrodt die Abzahlung schuldig geblieben war, blieb er sie der Stadt schuldig. Im Februar 1766 schon war die Stadt für ihn eingetreten, 1781 dachte Wilde noch gar nicht an Rükkerstattung. Als nun aber Wilde wegen des umgestoßenen Ratsbeschlusses vom Jahre 1777 Schwierigkeiten machte, begann der Rat seinerseits, den Bürgermeister an das vorgestreckte Geld zu erinnern. Sofort schritt Wilde zur Klage gegen den Rat beim Reichsgericht und erging sich in seinen Anklageschriften in solchen Schmähungen gegen die Stadt, daß diese zur Gegenklage schritt. Am 3. Dezember 1781 wurde der Beschluß gefaßt, beim Kaiser wegen „Beleidigung des Rats und der Riemannschen Familie“ vorstellig zu werden. Das ganze Jahr 1782 kämpfte nun Wilde in alter Frische und Selbstverkennung für Aufhebung der Belehnung und für sein vermeindliches Recht gegenüber dem Rat. Ja, der Kampf hatte ihn so verbittert, daß er sich nicht scheute, zu den für die Stadt schädigendsten Maßnahmen zu greifen, die damals für Nordhausen bei seiner außenpolitischen Lage fast an Hochverrat streiften: Er wandte sich um Hilfe an Preußen und bot Preußen dafür gewisse Anrechte an der Vogtei und dem Schultheißenamte an! Außerordentlich bezeichnend ist es, wie der große König den fast Unzurechnungsfähigen abfahren ließ. Der König erteilte am 16. Dezember 1783 dem Bürgermeister Wilde auf verschiedene Eingaben die „allergnädigste Resulution“, daß „Höchstdieseiben gedachter Stadt das Reichsschulzenamt und die Reichsvogtei durch den Vertrag vom Jahre 1715 gänzlich abgetreten und übereignet, sich wegen deren Verwaltung und Ausübung nichts vorbehalten, sondern nur ausbedungen, daß sie an sonst niemand, das ist an keinen anderen Reichsstand, wieder überlassen werden sollte“.[25] Mit dieser deutlichen Erklärung hatte Wilde, der schon in den fünfziger Jahren, wie wir sehen werden, einmal mit Preußen gegen seine Vaterstadt konspiriert hatte, auch hier das Spiel verloren. Und dennoch wagte der starrsinnige, jetzt mehr als siebzigjährige Greis zu trium Regum 1784 vor dem Nordhäuser Rat nochmals den Antrag vorzubringen, beim Kaiser die Aufhebung der Belehnung nachzusuchen. Er erfuhr damit allseitige Ablehnung. Und nun ward der Widerstand gegen ihn in der Stadt immer größer. Von 1781-1785 drängte die Stadt ihren Bürgermeister immer wieder wegen Rückzahlung der einst geborgten 3000 Taler, ohne zunächst ernsthaft gegen ihn vorzugehen. Wilde dachte gar nicht daran, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Da schritt endlich am 2. Januar 1786 die Stadt zur Pfändung. Sie legte die Hand auf das Haus „Hinter den Predigern“ (Erholung), auf die Wildeschen Ländereien und auf den Anteil des Bürgermeisters an dem Wildeschen Hölzchen. Den Prozeß, der sich wegen dieses Vorgehens der Stadt in Wetzlar entspann, wollte Wilde dort selbst durchfechten. Am 29. Juli 1786 reiste der Greis nach Wetzlar, am 10. Oktober ist er dort, fern von der Heimat und unversönlich gestorben. Er wurde mit den Ehren, die ihm als der Magnifizenz einer Freien Reichsstadt zukamen, begraben. Nach seinem Tode einigte sich die Stadt schnell mit dem einzigen Verwandten Wildes, einem preußischen Geheimrat und Dr. med. Frese. Frese zahlte nicht nur sogleich die von Wilde erborgten 3000 Taler zurück, sondern im Dezember 1786 auch noch die 3000 Taler, welche Wilde als ,,Douceur“ erhalten hatte. Der Rat verzichtete dafür auf alle Zinsen, und Geheimrat Frese spendete noch 50 Taler in die Kasse des Nordhäuser Waisenhauses. Wildes Hölzchen aber, das einzige, was noch heute an die Familie Wilde erinnert, ging im Jahre 1787 für 700 Taler an den Marktmeister Wedel über. Das ist der Ausklang eines alten Nordhäuser Geschlechts.[26] Viel größere Sorgen als die inneren Wirrungen machten der Stadt die außenpolitischen Schwierigkeiten. Nur die Zeit von 1715-1745 verlief leidlich ruhig. 1718 feierte die Stadt in glänzender Weise die Beendigung des dritten Türkenkrieges durch den Frieden von Passarowitz. 1735, im Polnischen Erbfolgekriege, schickte Nordhausen seine 45 Stadtsoldaten dem Prinzen Eugen an den Rhein zu Hilfe, 1738 bezahlte die Stadt 1750 Gulden Subsidien zum vierten Feldzuge wider die Türken. Auch durch den Österreichischen Erbfolgekrieg steuerte man das Schifflein noch einigermaßen glücklich hindurch, indem man erst den bayrischen Karl VII., nach dessen Tode aber sogleich Franz I. als Kaiser anerkannte. Vom ersten Schlesischen Kriege hörte man nicht viel; erst der zweite brachte das Kriegsgeschrei in bedrohliche Nähe. Im Sommer 1745 flüchteten viele Sachsen der näheren Umgebung in die Stadt und brachten dieselbe dadurch in einige Verlegenheit, da Nordhausen um alles in der Welt nicht den Anschein erwecken wollte, als bewahre es Preußen gegenüber nicht strengste Neutralität. Am 4. September 1745 erschien deshalb auch ein Ratserlaß: Man wolle zwar die geflüchteten Sachsen dulden; auf Geheiß des Rates müßten sie aber, ohne Schwierigkeiten zu machen, jederzeit die Stadt verlassen. Sachsens wegen war der zweite Schlesische Krieg auch sonst der Stadt nicht ganz gleichgültig. Preußen erhielt nämlich nach dem Kriege von Sachsen 1 Million Taler Kriegsentschädigung, zu deren Bezahlung auch die beiden Nordhäuser im sächsischen Hoheitsgebiet liegenden Güter Bielen und Uthleben mit 111 Talern herangezogen wurden. Doch man konnte sich immerhin glücklich schätzen, noch so davongekommen zu sein.
Nur ein kleines Vorpostengefecht bildeten noch die Streitigkeiten um die Zollfreiheit aller nach Nordhausen in den preußischen Walkenrieder Hof eingeführten Früchte, von denen Riemann ebenso einen Zoll erheben wollte wie von den übrigen eingeführten Waren. Am 28. Juni 1747 protestierte die preußische Kammer zu Halberstadt gegen diese Belastung, und als Nordhausen dennoch auf seinem rechtlich unhaltbaren Standpunkt beharrte, sandte Friedrich II. am 15. Dezember unter Berufung auf Artikel 11 des Vertrages vom Jahre 1715 ein so nachdrückliches Schreiben an die Stadt, daß diese sich doch gemüßigt fühlte, einzulenken, „um mit einem so großen Herrn in keinen Verdruß zu geraten“.[27] In demselben Jahre 1747 veranlaßte nun aber die Zollpolitik der Stadt Nordhausen gegen die Bewohner der preußischen Grafschaft Honstein einen noch viel ernstlicheren Zwischenfall. Nordhausen hatte in der Zeit nach dem Vertrage von 1715, der ihm ja für die Erwerbung von Vogtei und Schultheißenamt 50000 Taler Entschädigung auferlegt hatte, die Einwilligung der Nachbarstaaten erhalten, erhöhte Zölle festsetzen zu dürfen, bis die Stadt die Summen, welche ihr zur Abdeckung der preußischen Schuld von Hannover vorgestreckt worden war, abbezahlt hätte. Nun war diese Schuld, nachdem am 8. März 1735 die letzten 2000 Taler an Hannover bezahlt worden waren, getilgt, und Nordhausen mußte darauf bedacht sein, die Zölle herabzusetzen. Das geschah durch einen Ratsbeschluß vom 23. Juni 1735, der am 1. Juli bekannt gegeben wurde. Nach dieser neu aufgestellten Zollrolle wurden die indirekten Steuern erniedrigt, aber die alten, vor 1715 geltenden Sätze, die Preußen verlangte, erschienen nicht wieder, sondern die Stadt hatte ganz neue Tarife bekanntgegeben. So lagen die Sätze für das Mahl- und Schrotgeld, das die Bürgerschaft am meisten bedrückte, unter denen vor 1715. Die Abgaben für das Geleit- und Hausiergeld aber waren erhöht worden. Unter diesem Geleit verstand man erstens den Zoll, den jeder Jude, der nach Nordhausen kam, bezahlen mußte, dann den Zoll, der auf den Waren ruhte, mit denen fremde Händler in Nordhausen hausieren gingen, und endlich den Zoll von einer Reihe geringwertiger Waren, welche Fremde auf Fuhrwerk zum Verkauf auf den Nordhäuser Markt brachten, wie Salz, Butter, Kohl, Kümmel, Obst, Nüsse und dergl. Gerade an der Höhe des Zolls, der auf diesen Waren lag, war Preußen besonders interessiert, da seine Honsteinschen Untertanen den Nordhäuser Markt lebhaft beschickten. Preußen glaubte auch zu der Forderung berechtigt zu sein, daß Nordhausen diesen Zoll recht niedrig ansetze, da die Stadt vor allem durch Ausfuhr von Ölfrüchten - jährlich mehr als 1000 Schock - aus der Grafschaft manchen harten Taler zog. Deshalb verlangte es, daß für das Geleit wenigstens die alten, vor 1715 geltenden Sätze wiederhergestellt würden. Während aber Chilian Volkmar Riemann den Bürgern in einer möglichst starken Herabsetzung anderer indirekten Steuern sehr entgegengekommen war, hielt er es für angebracht, den Geleitsatz höher anzusetzen als einst und auch daran festzuhalten. Früher wurde nämlich einfach für jede geleitpflichtige Ware 1 Pfennig Zoll erhoben, jetzt dagegen wurde der Zoll je nach der Menge der Ware festgesetzt. Leider war dieses Vorgehen Riemanns nicht ganz einwandfrei. Das Geld, das aus dem Geleit einkam, stand nämlich nach altem Brauch dem Schultheißenamte zu, und da Riemann neben seinem Bürgermeisterposten auch sehr häufig den des Schultheißen bekleidete, flössen die Abgaben in seine Tasche. Jahrelang scheint Preußen diese veränderte Erhebung des Zolls zum Nachteil der honsteinschen Bevölkerung entweder gar nicht bemerkt, oder aber ohne Einspruch Nachsicht geübt zu haben. Da machten die oben berührten Streitigkeiten, die Nordhausen mit Preußen wegen der Zollfreiheit des Walkenrieder Hofes hatte, König Friedrich auf diese Verhältnisse aufmerksam. Zugleich muß der preußische Kammerrat Walther, der in Nordhausen auf dem Walkenrieder Hof residierte, aus der Mitte der Nordhäuser Bürgerschaft selbst von der ungerechtfertigten Höhe des Geleitgeldes unterrichtet worden sein. Denn in den Akten beschweren sich die Nordhäuser über Denunziationen, welche die Sachlage falsch dargestellt hätten. Hier berührt sich der Streit zwischen dem Bürgermeister Wilde und der Stadt Nordhausen mit dem Streit zwischen der Stadt Nordhausen und Preußen. Denn in dem Augenblicke, wo Wilde die Riemanns in Wien wegen zu hoher Zollgebühren verklagte, kamen auch die Einsprüche Preußens wegen der Höhe des Geleitgeldes. Riemann hatte gewiß nicht recht getan, um seines Vorteils willen den Zoll zu erhöhen, aber die Machenschaften des Kreises um Wilde herum, die dem Haß und dem Neid gegen die Emporkömmlinge entsprangen, schädigten die Stadt noch viel mehr und grenzten an Hochverrat. Während Riemann im Streit um die Befreiung des Walkenrieder Hofes vom Zoll schnell nachgegeben hatte, blieb er hier, wo es sich um seine eigenen Einkünfte handelte, äußerst hartnäckig. Neun Jahre lang, von 1747 bis 1756, tobte der Kampf. Am 16. Februar 1748 forderte Preußen die Aufhebung des von den honsteinschen Händlern erhobenen Hausiergeldes. Am 11. April erwiderte Nordhausen, die Erhebung sei sein altes, gutes Recht und ergänzte am 14. November 1748 diese Äußerung noch ziemlich grob durch den Hinweis, die Stadt könne ja das Hausieren überhaupt verbieten; es sei der Nordhäuser Kaufmannschaft nur recht, wenn sie die lästige Konkurrenz los werde. Darauf drohte Preußen am 4. Mai 1749 mit Gegenmaßnahmen. In diesem Stadium des Streites brachten nun die Riemanns im Rate einen für sie sehr vorteilhaften Antrag ein. In der Stadt waren nämlich Gerüchte verbreitet, die Bürgermeister und Schultheißen bezögen aus dem aufkommenden Geleitgelde 800-1000 Taler jährlich, ein Vorwurf, den die Betroffenen entkräften wollten. Zugleich merkten die geschickten Diplomaten, daß Nordhausen in dem Konflikte mit Preußen wahrscheinlich doch den kürzeren ziehen werde, das Geleitgeld herabsetzen müsse und damit die Einnahme des Schultheißen vermindert würde. Unter dem Vorwande, sie möchten nicht wegen zu hoher Gehälter angegriffen werden, stellten deshalb Ende des Jahres 1748 sämtliche Bürgermeister den Antrag, man möchte ihnen nur den dritten Teil der auf 800-1000 Taler veranschlagten Zölle regelmäßig als Gehalt auszahlen, dann seien sie schon zufrieden. Diesem Wunsche kam der Rat am 1. Januar 1749 nach. Seitdem floß das Geleitgeld in die Stadtkasse; die Bürgermeister aber, die jeweils Schultheißen waren, bekamen fortan als Entschädigung für Verwaltung dieses Amtes die Summe von 270 Talern. Nun mochte der Zollzwist mit Preußen auslaufen, wie er wollte; die Schultheißen bekamen jedesmal ihr Gehalt, geschädigt wurde höchstens die Kämmereikasse.[28] Sobald diese Ablösung erfolgt war, lag den regierenden Herren nicht mehr allzuviel an weiteren Auseinandersetzungen mit Preußen. Es erfolgte nur noch am 6. August 1749 eine lahme Rechtfertigung Nordhausens und dann ein Nachgeben in allen wesentlichen Punkten. Erst am 23. Dezember 1754 nahm Preußen die Unterhandlungen wieder auf und legte dar, es sei erfreut, daß Nordhausen selbst sein Unrecht einsehe und von dem erhöhten Geleitgelde zurückgekommen sei. Die Stadt möchte doch nun die revidierte Zollrolle im Druck erscheinen lassen, damit sie jedem bekannt würde. Dieser preußischen Forderung suchte nun aber Nordhausen wieder auszuweichen, um sich nicht für immer festzulegen. Es suchte nach Ausflüchten über Ausflüchten, die dem einstigen Advokaten Riemann alle Ehre machen, so daß Preußen über einen Streit „voll greulicher Schikane“ klagte und schließlich am 8. Dezember 1755 an die Stadt schrieb, sie wolle die Zollrolle nur nicht publizieren, weil sie die Zölle „nicht zu allgemeinem Besten, sondern willkürlich festsetzen wolle, so daß sie das Licht zu scheuen hätten“. Zugleich schritt Preußen nun zu scharfen Gegenmaßnahmen, welche Handel und Wandel Nordhausens nach und nach stark beeinträchtigen mußten. Den preußischen Untertanen der Grafschaft Honstein wurde bei Strafe der Konfiskation verboten, etwas in Nordhausen zu kaufen. Auf alle nach Nordhausen gehenden und von Nordhausen kommenden Waren wurde ein hoher Zoll gelegt, so daß die Abgabe, welche von 7 Oxhoft Wein entrichten werden mußte, 26 Taler betrug.[29] Da suchte nun Nordhausen in seiner Bedrängnis am 30. Dezember 1755 den Kaiser für die Angelegenheit zu interessieren. Aber der Agent Middelburg in Wien konnte nur berichten, daß von Wien keine Hilfe zu erwarten sei; man solle allein mit Preußen weiter verhandeln. Doch dieses Hilfegesuch blieb nicht geheim, und nun schrieb der große König am 3. April 1756 recht bedrohlich: „Solltet Ihr durch jene Einwendungen und daß Ihr vom Kaiserlichen Hof erst Verhaltungsmaße darüber einholen müßtet, etwa die Absicht hegen, daß wir uns dadurch irre machen lassen ..., so versichern wir Euch, daß Ihr Euch deshalb vergeblich flattiert.“ Als aus Wien keine Hilfe zu erwarten stand, wandte sich die Stadt an ihre alten Freunde Hannover und Braunschweig. Doch hier war seit 1715 ein völliger Umschwung eingetreten. Der Siebenjährige Krieg bereitete sich schon lange vor; England, Hannover und Braunschweig waren im Bunde mit Preußen. Daher gab Hannover am 13. September 1756 nur den Rat, nicht auf der Zollrolle von 1735 zu bestehen, sondern die alte von 1703 zu veröffentlichen, und Braunschweig schrieb noch gröber: „ ... Wir haben vielmehr die Ehre zu versichern, daß diesseits ebenso auf sotane Erfüllung in diesem Stück gedrungen werde.“ Damit war für Nordhausen jede Möglichkeit auszuweichen erschöpft. Am 15. Februar 1757 schickte es die verlangte neue Zollrolle nach Berlin ein. Doch schon tobte der Siebenjährige Krieg, und König Friedrich hatte andere Sorgen als die des kleinen Zollstreites mit Nordhausen. Erst am 30. März 1794 knüpfte Preußen an die alten Auseinandersetzungen wieder an, indem es Nordhausen um die alte Zollrolle bat. Daraufhin sandte der Rat die bereits 1757 genehmigte Zollrolle abermals ein; am 31. Januar 1795 erklärte sich Preußen mit den darin aufgeführten Sätzen einverstanden und ersuchte nur, um den Bleicheröder Juden eine Erleichterung zu verschaffen, um die Herabsetzung des Judenzolls. Deswegen machte aber Nordhausen wieder Schwierigkeiten, so daß die Sache nicht vorankam, bis dann die Einverleibung der Stadt in Preußen allem Hader ein Ende machte.[30] Bei den mancherlei Unfreundlichkeiten, mit denen sich Preußen und Nordhausen schon vor dem Siebenjährigen Kriege bedacht hatten, nimmt es nicht wunder, wenn der große König mit einigem Groll an die Reichsstadt dachte. Als er deshalb am 15. Juni 1754 auf einer seiner berühmten Inspektionsreisen auch die Grafschaft Honstein aufsuchte und gezwungen war, Nordhäuser Gebiet zu berühren, ließ er seinen Wagen von der Heerstraße ablenken und in aller Eile am Nordrande der Stadtgrenze durch die Gumpe auf das preußische Schurzfell zuhalten. Nordhausen selbst, gerade im Zollstreit mit Preußen befindlich, hatte auch keinerlei Anstalten gemacht, dem Herrscher ein festliches Geleit bei der Durchfahrt zu geben. So saß der König, nur von kleinstem Gefolge umgeben, mit seinem Adjutanten und dem Landrat der Grafschaft im Wagen, und als er von der Anhöhe südlich Petersdorf der Stadt ansichtig wurde, mag ein mokantes Lächeln die fest aufeinander liegenden Lippen umspielt haben. Vielleicht, daß der Monarch und sein Landrat damals folgende Anmerkungen beim Anblicke der Stadt gemacht haben.[31] – Voilä, Sire, la ville imperiale de Nordhausen! – Dann aber gingen alle kleinen Streitigkeiten unter in der großen weltpolitischen Auseinandersetzung des Siebenjährigen Krieges. Am 29. August 1756 hatte Friedrich II. mit dem Überschreiten der sächsischen Grenze den Krieg eröffnet. Im Frühjahr 1757 erklärten Frankreich, Rußland und Schweden an Preußen den Krieg. Schon vorher, in zwei Sitzungen des Reichstages zu Regensburg am 10. und 17. Januar 1757, hatte sich das Reich mit großer Stimmenmehrheit für den Anschluß an Österreich entschieden. Diese Beschlüsse zwangen auch die Reichsstadt Nordhausen an die Seite ihres Kaisers. Nordhausen mußte sein Kontingent von 45 Mann zur Reichsarmee stoßen lassen oder statt dessen monatlich 315 Gulden bezahlen. Dieses letztere zog die Stadt vor, so daß sie vom Reiche im Laufe der 6V2 Kriegsjahre mit 18742 Gulden Kriegssteuer herangezogen wurde. 3277 Gulden wurden später von dieser Summe gestrichen. Auch sonst kam die Stadt ihren Verpflichtungen dem Reiche gegenüber zunächst durchaus nach. Schon am 22. November 1756, also noch vor der eigentlichen Kriegserklärung des Reiches an Preußen, ließ der Rat Wiener Erlasse, die eine Stellungnahme gegen Preußen verlangten, öffentlich bekanntgeben. Auch im September 1757 zeigte man noch offen diese gegen Preußen gerichtete Einstellung. Dann aber kamen die entscheidenden Siege des Königs vom 5. November und 5. Dezember dieses Jahres, und seitdem wagte Nordhausen nicht mehr, Partei zu ergreifen. Weitere Anordnungen des Kaisers, z. B. im Juni 1759, gingen zu den Akten und blieben unausgeführt. Trotz dieser zunächst gegen Preußen gerichteten Front nahm Nordhausen doch keinen Augenblick aktiv am Kriege teil. Die Stadt war in ihrer Wehrlosigkeit den kriegführenden Parteien vollständig ausgeliefert, mußte, je nachdem Österreich und Frankreich oder Preußen und Hannover am Südharzrande die Oberhand gewannen, bald von dieser, bald von jener Armee geduldig alle mit den Kriegshandlungen verbundenen Plackereien hinnehmen und wurde, besonders von Preußen, mit Kontributionen nicht wenig belastet. Dazu kamen alle die übrigen Nöte eines Krieges. Verwundete und in Nordhausen untergebrachte Soldaten verbreiteten unter der Bevölkerung das Lazarettfieber, Münzverschlechterungen führten Teuerungen herauf, Getreidesperren beeinträchtigten zeitweilig Handel und Gewerbe, eine scharfe Zensur unterband die freie Meinungsäußerung, das „Raisonnieren“. Dennoch brachte der Krieg wenigstens gewissen Kreisen auch wirtschaftliche Vorteile. Mancher Getreidemakler machte ein glänzendes Geschäft, und die Branntweinindustrie gedieh damals zum ersten Male wirklich ins Große, so daß am 19. Januar 1761 die preußisch-hannöversche Armee 1000 Faß Branntwein, das Faß zu 20 Talern gerechnet, anfordem konnte.[32] Für Nordhausen läßt sich der Krieg ziemlich scharf in zwei Abschnitte zerlegen; der erste reichte von 1757-1759, der zweite von 1760-1763. In der ersten Hälfte des Krieges kam die Stadt, ähnlich wie im Dreißigjährigen Kriege, außerordentlich glimpflich davon. Während Sachsen dem preußischen Staate eingegliedert wurde, immer wieder Geld und Truppen stellen mußte und schließlich, nachdem die preußischen Hilfsquellen erschöpft waren, systematisch ausgesogen wurde, spürte Nordhausen zunächst kaum etwas vom kriegerischen Geschehen. Selbst seine beiden in sächsischem Hoheitsgebiete liegenden Güter Bielen und Uthleben wurden erst 1759 von den Preußen zu Abgaben herangezogen. Die ersten kriegsmäßig ausgerüsteten Truppen, die Nordhausen zu sehen bekam, waren Franzosen. Am 14. September 1757 erschien eine Patrouille von sechs französischen Husaren unter einem Rittmeister in der Stadt. Die preußische Grafschaft Honstein war damals von den Franzosen besetzt; der Landrat von Weither war auf seinem Gutshofe in Klein-Werther aufgehoben und als Gefangener nach Goslar gebracht, bald aber wieder freigelassen worden. Im Oktober bezog dann ein Teil der französischen Armee unter dem Herzog von Broglie in Nordhausen selbst Quartier. Als Verbündete des Kaisers behandelten die Franzosen die Reichsstadt ganz manierlich. Kleine Unannehmlichkeiten, wie sie jede Besetzung mit sich bringt, mußte die Stadt natürlich in Kauf nehmen. So errichteten die Franzosen in der Spendekirche ein großes Heu- und Strohmagazin, stapelten im Walkenrieder Hofe Roggen und Weizen, im Ilfelder Hofe Hafer auf und nahmen das Martinihospital als Lazarett in Anspruch. Die Bäcker mußten für die Armee 51787 Brote zu je 3 Pfund backen. Bald darauf war es aber mit der französischen Herrlichkeit vorbei. Am 5. November 1757 zersprengte der große König die Franzosen und Reichstruppen bei Roßbach. In größter Unordnung zog sich die Armee gegen die Weser zurück. Am 9. November langten der Oberbefehlshaber Prinz von Soubise, der General Broglie und der Prinz von Hildburghausen in Nordhausen an. Sie hatten zunächst nur wenige Truppen bei sich; in den Vorstädten konnten sich zunächst nur zwei Regimenter Infanterie und einige Kavallerie einquartieren. Erst in den nächsten Tagen langten immer wieder in völliger Auflösung befindliche kleinere Trupps an. Am 14. November rückten die Überreste der einst so stolzen und übermütigen Armee höchst kümmerlich gen Westen nach Duderstadt ab. Durch diesen Sieg bei Roßbach fiel Nordhausen fast drei Jahre lang ausschließlich in preußische Gewalt. Doch war die Besetzung der Stadt und der Landschaft für die Bevölkerung durchaus erträglich. Abgesehen von kleineren Anforderungen verlangten die Preußen nur zweimal größere Kontributionen: Im März 1758 mußte die Stadt 14000 Taler zahlen und im Oktober desselben Jahres noch einmal 5000 Taler. Wirklich zu leiden begann Nordhausen erst in der zweiten Hälfte des Krieges. Das Jahr 1759 war für Preußen an Mannschaft und Material so verlustreich gewesen, daß der Staat seine Kräfte aufs äußerste anspannen und die Hilfsquellen der Länder, die in seiner Hand waren, rücksichtslos in Anspruch nehmen mußte. Und nicht bloß unter der Höhe der Kontributionen, sondern auch unter der Schärfe, mit der sie nunmehr eingetrieben wurden, hatte die Bevölkerung zu leiden. Dazu kam, daß in dem langen Kriege die Soldaten verrohten und verwilderten. Nach und nach sah mancher von ihnen, Offizier wie Soldat, den Ausnahmezustand des Krieges als normal an und ließ davon seine Haltung und sein Auftreten beeinflussen. Besonders in den Freischaren, welche die preußischen Armeen gebildet hatten, befand sich mancher verwegene Gesell, der seinem Könige größte Dienste leistete, der aber den Krieg nicht mehr um eines höheren Zieles willen, sondern nur um des Krieges selbst willen führte. Die Gegend, die von dergleichen Freischärlern heimgesucht wurde, hatte naturgemäß nicht bloß große materielle Opfer zu bringen, sondern mußte auch nicht geringe seelische Belastungen ertragen. So erhielt gleich zu Beginn des Jahres 1760 auch Nordhausen eine empfindliche Kontribution auferlegt. Am 6. Februar 1760 kam der Befehl, die Stadt solle 40000 Taler bezahlen; und sie mochte sich noch so sehr wehren und winden und die Höhe der Summe für unerträglich halten, - schon am 19. Februar waren die Taler und Louisdor aufgebracht. Während diese Kriegssteuer aber auf Anordnung des Königs eingezogen worden war, wagten in der Gesetzlosigkeit des Krieges Freischarenführer, auf eigene Faust von den friedlichen und wehrlosen Bürgern Gelder zu erpressen. So verlangte der Freischärler von Kovats schon eine Woche, nachdem die Stadt mit Mühe und Not die 40000 Taler zusammengekratzt hatte, nochmals nicht weniger als 100000 Taler, erleichterte die Bürgerschaft tatsächlich wenigstens um 15000 Taler und ließ davon 5000 als „douceur“ für sein Entgegenkommen in die eigenen Taschen wandern. Hier treffen wir also wiederum auf dieses für uns heute gänzlich unbegreifliche Unwesen der Bestechungsgelder, das uns im 17. und 18. Jahrhundert schon so häufig begegnet ist. Alle Welt erscheint damals damit verseucht: Die Bürger lassen einander Bestechungsgelder zufließen, selbst Beisitzer der höchsten Gerichtshöfe, wie des Kaiserlichen Hofrates zu Wien, sind für Bestechungen zugänglich, und hier im Siebenjährigen Kriege beobachten wir, wie Offiziere und Mannschaften sämtlicher kriegführenden Mächte ohne Scham die Situation für sich ausnutzten. Selbst ein Georg von Holstein erhielt am 7. Juni 1760 von Nordhausen ein „douceur“ von 3500 Talern. Erst aus dieser skrupellosen Einstellung der Soldateska wird uns erklärlich, wie auch Lessing sein Schauspiel Minna von Barnhelm sich auf diesen Verhältnissen aufbauen lassen kann. Zugleich erfahren wir hier allerdings auch, daß es, Gott sei dank, genug vornehme und gebildete Männer gab, die der Seuche nicht zum Opfer fielen. So wissen denn auch die Nordhäuser Akten davon zu berichten, daß König Friedrich und Prinz Ferdinand von Braunschweig, so oft sie von dergleichen Übergriffen hörten, die Gauner zur Rechenschaft zogen, und der Oberst von Kleist, an den sich die Stadt mehrfach beschwerdeführend wandte, mißbilligte ausdrücklich das Vorgehen seiner Untergebenen, ohne doch dem Unwesen dauernd Einhalt gebieten zu können. Bei seinem ersten Besuche Ende Februar 1760 nahm der Rittmeister von Kovats auch beinahe sämtliche Nordhäuser Handwerker für Heereslieferungen in Anspruch. Die Schmiede, die Wagner, die Sattler hatten Tag und Nacht für die Ausstattung seiner Truppen zu arbeiten, und die Requierierung mancher Tuchund Lederwaren scheint dabei auch nicht gerade auf höheren Befehl vorgenommen worden zu sein. Eine Belastung seelischer Art war es schließlich, daß Nordhausen jetzt auch eine Reihe treuer und angesehener Bürger hergeben mußte, welche für die loyale Haltung der Stadt während des Krieges bürgen sollten. So wurden denn die Bürgermeister Rennecke und Lange, der Vierherr Feist und die Ratsherrn Arens und Rosenthal als Geiseln nach Magdeburg abgeführt. Bei einem zweiten ungebetenen Besuche im Mai des Jahres 1760 führte Kovats auch Nordhausens wertvollstes Geschütz, den 1519 gegossenen Lindwurm, mit sich fort, und trotz späterer Bemühungen konnte die Stadt dieses ihr Prunkstück nicht wiedererlangen. Vielleicht ist das Geschütz noch während des Krieges in den Schmelzofen gewandert. Die Nordhäuser aber haben seitdem bis in unsere Tage hinein den „ölen Kowatsch“ als Schimpfwort ausgeteilt.[33] Als dann im Sommer und Herbst des Jahres 1760 Prinz Ferdinand alle seine Truppen im Westen, der König selbst im Osten zur Wiedereroberung von Sachsen gebrauchte, machten sich die lästigen preußischen Streifkorps davon. Dafür erschienen aber im August Reichsarmeetruppen, Würtemberger, welche die Bewohner in nicht geringere Bedrängnis brachten. Gleich zu Beginn der Besetzung mußte Nordhausen 34564 Portionen Brot liefern. Außerdem verbrauchten die Truppen Unmengen von Hafer, Mehl, Branntwein, Vieh. An diesen Heereslieferungen verdienten zwar einige wenige Bürger manchen blanken Louisdor; aber die Gesamtheit der Bevölkerung hatte den Schaden. Im übrigen führten die Würtemberger einige Unternehmungen gegen die südlich des Harzes liegenden braunschweigischen und hannöverschen Gebiete durch, vertrieben auch in einem Scharmützel die Braunschweiger, die den Paß von Ilfeld hielten, und ließen aus den friedlichen Ortschaften, besonders aus Ilfeld selbst, manches wertvolle Stück als gute Beute mitgehen. Die Nordhäuser aber fragten nicht lange nach der Herkunft der ihnen von den Soldaten angebotenen Gegenstände, sondern kauften schnell für billiges Geld die teuersten Sachen ein. Am 4. September mußte der Rat diesen Unfug verbieten und zur Herausgabe der eingehandelten Beutestücke auffordem. Wenigstens die Obrigkeit war anständig genug, eine Bereicherung aus der Not der Bevölkerung, mit der man sonst im freundschaftlichsten Verkehr lebte, nicht zuzulassen. Nach der Schlacht bei Torgau war dann die Herrlichkeit vorbei. Preußische Truppen nahmen wieder von der Landschaft Besitz und verlangten sogleich Brot und Branntwein. Ende des Jahres aber überreichte der Major von Prittwitz der Stadt die böse Aufforderung, 50000 Taler zu zahlen und 100 Rekruten zu stellen. Das Geld wurde innerhalb 14 Tage den Preußen zur Verfügung gestellt; den Blutsold aber, den der König, dessen Grenadiere auf den Schlachtfeldern verblutet waren, forderte, zahlte man nicht. So gern sich die Brauer und Brenner von den Kriegslasten gedrückt hätten, - ehe sie ein Nordhäuser Kind die verhaßte preußische Uniform anlegen ließen, griffen sie doch lieber noch einmal tief in die Tasche, den letzten oder auch wohl erst vorletzten Taler zu suchen. Der Rat legte den Bürgern eine doppelte Grund- und Gebäudersteuer auf, erhöhte die Umsatzsteuer und brachte auf diese Weise auch noch weitere 5000 Taler auf, mit denen die Stellung von Rekruten abgewendet wurde. Nicht weniger unruhig als das Jahr 1760 verlief das folgende. Wieder waren die Aue und das Eichsfeld zwar keine im eigentlichen Sinne umkämpften Gebiete, aber sie waren sozusagen „Niemandesland“, das, zwischen den kämpfenden Parteien gelegen, des öfteren vom Westen und Osten her von feindlichen Streifen beunruhigt wurde. Daher kommt es auch, daß die Nordhäuser Kriegsgeschichte dieser Zeit einen recht hübschen Einblick in den Kleinkrieg dieser schlimmen sieben Jahre gewährt. In den ersten Monaten des Jahres war die Stadt in der Hand der Gebrüder Selchow, eines Majors und eines Hauptmanns, die mit ihren preußischen Dragonern die Gegend abstreiften bis weit auf das Eichsfeld hinauf. Doch am 12. März, 4V2 Uhr morgens, überrumpelten Franzosen, Husaren und Infanterie, die sorglose Stadt, zersprengten die Dragoner und nahmen die Selchows selbst gefangen. Ein paar Tage nur sollten sie freilich die verwegenen Haudegen mit sich führen. In abenteuerlicher Flucht entwischten die beiden Freischärler und langten am 16. März schon wieder in Nordhausen an. Und nun sahen sie sich besser vor; leider nicht nur gegen den Feind draußen, sondern auch gegen die Bürger drinnen, die sie wohl im Bunde mit dem Franzmann glaubten. Sie setzten die Stadt in Verteidigungszustand, ließen zahlreiche Patrouillen gegen das Eichsfeld streifen, waren jeden Augenblick auf neue Angriffe gefaßt und jedenfalls bereit, die Stadt bis zum äußersten zu halten. Als einstmals blinder Alarm ertönte, sammelten sie ihre Dragoner auf dem Kommarkte, um die Hauptmacht sofort nach der gefährlichsten Stelle der Stadtbefestigung werfen zu können. Doch begannen die Selchows nun auch, die Bürger zu drangsalieren. Nicht allein, daß die Stadt für den Unterhalt und die Löhnung ihrer Truppen aufkommen mußte, - sie ließen auch die Tore schließen und unterbanden dadurch den Verkehr, sie ließen die Stadtsoldaten entwaffnen und behandelten selbst die ihnen verdächtigen Ratsherrn gar unfein. Voll Kümmernis schickte die Stadt darauf am 16. Juni den Pastor primarius Ostermann an den Prinzen Heinrich von Preußen nach Meißen, der wegen des bösen Treibens der Selchows daselbst vorstellig werden mußte. Irgendeine Erleichterung brachte der geistliche Diplomat nicht; im Gegenteil, die Dragoner machten sich daran, den Stadtsoldaten auf offener Straße auch noch ihre letzte armselige Waffe, das Seitengewehr, abzunehmen. Da aber halfen sich die Bürger selbst. Sie rotteten sich, wie einst im Dreißigjährigen Kriege gegen die Schweden, zusammen und nahmen eine so bedrohliche Haltung an, daß die Selchows befahlen, den Soldaten die Seitengewehre zu lassen. Wie recht im übrigen die Preußen daran getan hatten, auf ihrer Hut zu sein, beweist ein zweiter französischer Angriff, der am 23. August mit überlegenen Streitkräften erfolgte. Morgens um 'M Uhr gelang es dem General Grandmaison, die Stadt abermals zu überrumpeln. Dabei fielen der französischen Streife das gesamte Armeegepäck, die Regimentskasse mit 16000 Talern, 4000 Pferde und viele Gefangene in die Hände. Weiteren Schaden anzurichten, ließ sich der General keine Zeit, sondern zog alsbald wieder gen Westen ab. Doch hatten die Franzosen wohl bemerkt, daß Nordhausen ein nicht unwichtiger vorgeschobener Posten der Preußen war. Sie kehrten daher am 11. September nochmals zurück, um das große Magazin, das die Preußen in der Spendekirche angelegt hatten, zu vernichten. Da sie die Vorräte nicht fortschaffen konnten, streuten sie das Mehl in die Gossen oder schütteten Kalk hinein, um es zu verderben. Auch zeigten sie ein weniger artiges Benehmen gegen die Einwohner als im Jahre 1757. Einige Ausschreitungen, Plünderungsversuche und Gewalttaten kamen vor, so daß sich der Rat beschwerdeführend an Broglie wandte. Nunmehr blieben die Franzosen fast ein Jahr lang, bis in den August des Jahres 1762 hinein, auf dem Eichsfelde und am Südharzrande überlegen. In dieser Zeit gelang ihnen ja auch die Heldentat, die Burg Scharzfels in Trümmer zu legen. Vor allem benutzten sie aber Mühlhausen als Stützpunkt. So kam es, daß auch Nordhausen nach Mühlhausen hin Betten und Bekleidung für die Franzosen liefern mußte. Schließlich wurden sogar für den Ausbau von Verteidigungslinien 400 Schanzer von Nordhausen gefordert. Tatsächlich gingen dann auch an drei verschiedenen Terminen im November und Dezember 1761 wenigstens 171 Nordhäuser Bürger als Schanzarbeiter nach Mühlhausen ab. Bald darauf schied nun aber Rußland aus der Koalition gegen Preußen aus. König Friedrich konnte wieder aufatmen, und schnell war das Übergewicht Preußens in ganz Deutschland nördlich des Mains wiederhergestellt. Während der König selbst vor allem in Schlesien und in der Lausitz gegen die Österreicher kämpfte, deckte sein Bruder Heinrich Sachsen und Thüringen. Im Operationsgebiet dieser Armee lag deshalb auch Nordhausen. So gelangte denn am 14. September 1762 ein Befehl aus Freiberg in Sachsen an Nordhausen, sogleich 50000 Taler bar, für 50000 Taler Furage, 300 Wispel Roggen, 300 Wispel Gerste und 400 Wispel Hafer zur Verfügung zu stellen.[34] Das war die schwerste Kontribution, welche die Stadt während des ganzen Krieges traf. Neue Steuern mußten den Bürgern auferlegt, 20000 Taler mußten von neuem geborgt werden. Bei der unsicheren Haltung der Stadt, die es ein ganzes Jahr lang mit den Franzosen gehalten zu haben schien, mußte man auch fürchten, daß die Preußen abermals Geiseln verlangten. Das greise Stadtoberhaupt Chilian Volkmar Riemann, sein Neffe und der Stadtsekretär Filter als angesehene und ausschlaggebende Persönlichkeiten schwebten dauernd in Gefahr aufgehoben zu werden. Riemann und Filter flüchteten deshalb am 30. Oktober nach Braunschweig, Riemann junior nach Bovenden bei Göttingen, wo ein Verwandter seiner Familie Amtmann war. So mußten denn schließlich andere dran glauben: Der Bürgermeister Lerche, der erst am Weihnachtstage des Vorjahres von den Franzosen mißhandelt worden war, der Syndikus Seidler und der Schuhmachermeister Burchhardt wurden am 12. November als Geiseln nach Leipzig abgeführt und solange recht schnöde behandelt, bis die Preußen sich durch die Lieferungen von Geld und Getreide befriedigt erklärten. Am 17. Dezember kehrten die Geiseln aus Leipzig zurück, so daß sie wenigstens die Genugtuung hatten, zu Weihnachten wieder in der Heimat zu weilen und mit den Ihren in die Christmette gehen zu können. - Mehrfach nach allen Seiten, an den Prinzen Heinrich von Preußen und an den Herzog Ferdinand von Braunschweig gesandte Unterhändler setzten schließlich durch, daß Ferdinand von Braunschweig am 18. Dezember 1762 befahl, keine Truppen mehr in die Stadt zu legen. Doch war Nordhausen deshalb noch nicht sicher vor weiteren Kontributionen. Gleich Anfang Januar 1763 traten die Preußen mit neuen Forderungen an die Stadt heran; abermals sollten 50000 Taler bezahlt werden, und es bedurfte erst langwieriger Unterhandlungen mit dem Obersten Lölhöffel in Langensalza, bis sich die Preußen mit 40000 Talern und einigen Douceurs zufrieden erklärten. Bis zum Februar 1763 war nach mancherlei Drohungen, die Stadt mit Einquartierung zu plagen, auch diese große Summe aufgebracht. – Am 15. Februar war aber schon der Friede zu Hubertusburg geschlossen worden. Kurz darauf verkündete die ungebändigte Freude der Honstein-preußischen Bevölkerung den Nordhäuser Bürgern das Ende des Krieges. Doch erst am 13. März lief die offizielle Nachricht vom Friedensschlüsse aus Regensburg ein. Mit Feuerwerk und Schießen auf den Straßen begrüßten die Nordhäuser die Kunde. Am 31. März kehrten nach dreijährigem Aufenthalt in Magdeburg auch die Nordhäuser Geiseln zurück und wurden mit allen schuldigen Ehrbezeugungen eingeholt. Und nun erst konnte Nordhausen wirklich frohen Herzens an das eigentliche Dank- und Friedensfest gehen. Am 4. April, dem 2. Osterfeiertage, ließ der Rat von den Kanzeln verkünden, daß das Fest am 10. April stattfinden sollte. Doch genügte naturgemäß zu solchem Anlaß ein einziger Festtag und eine einfache Ausgestaltung der Feierlichkeiten nicht, obwohl der Krieg die Stadt 400000 Taler gekostet hatte, wie alle Quellen immer wieder mit Groll anzumerken nicht vergessen. Vom 10.-12. April ward also gefeiert. Umzüge und Illuminationen fanden statt, auf dem Königshofe war ein ganzer Tempel aufgebaut, in dessen Nischen Gruppen von Gymnasiasten höchst sinnreich lebende Bilder stellten. Überhaupt nahm die Schuljugend aufs eifrigste teil an dem Freudenfeste, bändergeschmückt. Und hier, beim Friedensfeste, war der Bevölkerung auch endlich einmal Gelegenheit gegeben, sich kriegerisch zu betätigen. Am zweiten Tage des Festes versammelten sich die Bürgerkompagnien zu Fuß und zu Pferde an einzelnen Punkten in der Stadt, zogen hinaus, vereinigten sich hier und rückten dann im festlichen Zuge ein. Vor dem Rathause wurden drei volle Salven abgegeben, die erste zu Ehren des Kaisers, die zweite zu Ehren der deutschen Fürsten, wobei man in der Freude des Augenblicks selbst Friedrich II. mit einschloß, die dritte zu Ehren des Rates der Stadt; und betrüblich war nur, daß des Lindwurms eherner Mund kein Feuer mehr speien konnte. Der stand leider irgendwo in Magdeburg oder in Potsdam, oder dies schöne Stück Nürnberger Metallgießerei war schon längst eingeschmolzen, zu Granaten gedreht, und sein Erz war irgendeinem braven österreichischen Grenadier ins Gedärm gefahren. Doch zu derlei nachdenklichen Betrachtungen war für die Nordhäuser jetzt keine Zeit. Nach den drei eigentlichen Feiertagen erholte man sich zunächst am 13. April, und dann ging es am 14. und 15. April, zwei Tage lang , mit neuen Kräften an ein großes Festessen mit anschließendem Maskenball. Und der Chronist wird recht behalten, wenn er schreibt: „Es war das schönste Friedensfest, das Nordhausen gefeiert hat, und die späteren erscheinen dagegen matt und farblos.“[35] Bald nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges, der die Preußen in Nordhausen nicht gerade beliebter gemacht hatte, sollte es noch einmal zu einer unerfreulichen Auseinandersetzung zwischen der Stadt und dem Großen Könige kommen. Wieder gab der böse Geist Nordhausens im 18. Jahrhundert, A. S. Wilde, den Anlaß dazu. Wir hatten schon oben gesehen, daß Wilde der Sekte der Separatisten und Abendmahlsverächter nahestand. Mit dem Haupte dieser Sekte, dem Seifensieder Liebenrodt, muß er gute Beziehungen unterhalten haben; denn Liebenrodt hatte ihm 1744 schon 5000 Taler geborgt. 1751 folgte dann, auch um Wilde zu demütigen, der Prozeß gegen die Separatisten, und 1752 mußten 12 Familien, darunter Liebenrodt, Nordhausen räumen. Sie gingen in das freisinnige Königreich Preußen, und zwar wanderte Liebenrodt aus, ohne etwas von den geborgten 5000 Talern wiedergesehen zu haben. Auf spätere Anmahnung gab Wilde gar keine Antwort. Dann wurde aber Liebenrodt, da er „vor dem Rate keine Justiz fand“, bei seinem Könige wegen der Schuld vorstellig, und Friedrich der Große mahnte aus seinem Leipziger Winterquartiere am 7. Januar 1761 den Rat, er solle den Bürgermeister zur Zahlung zwingen, andernfalls er Liebenrodt durch Repressalien bezahlt machen würde. Trotz dieser Drohungen wußte Nordhausen zunächst die Angelegenheit auf die lange Bank zu schieben, bis Liebenrodt im Jahre 1763 dem preußischen Major von Eberstein seine Schuld abtrat. Eberstein strengte nunmehr einen Prozeß gegen die Stadt an und interessierte auch den preußischen Minister Herzberg für sein Kapital. Als dennoch Nordhausen keine Miene machte, Wilden zur Begleichung seiner Schuld anzuhalten, und am 17. Dezember 1765 selbst ein sehr ungnädiges Schreiben des Königs nichts fruchtete, schritt Preußen in den ersten Monaten des Jahres 1766 tatsächlich zu Repressalien. Nordhäuser Fuhrwerk wurde im Preußischen aufgegriffen, und Nordhäuser Kapitalien wurden in der Grafschaft Honstein mit Beschlag belegt. Nun endlich kam es am 2. März 1766 vor dem preußischen Landrat in Klein-Weither zu einem Vergleich. Wilde zahlte, wenn auch nicht 5000, so doch 3500 Taler an den Herrn von Eberstein. - Etwa aus der gleichen Zeit liegt auch ein kaiserliches Schreiben an Preußen vor, daß das Reich das „rechtwidrige Benehmen Nordhausens geahndet hätte“.[36] Damit war auch dieser Zwischenfall aus der Welt geschafft, und bedauerlich war nur, daß sich Nordhausen erst nach Zwangsmaßnahmen entschlossen hatte, nach Recht und Billigkeit zu handeln. In den nächsten Jahrzehnten lebte Nordhausen in ungestörtem Frieden. Einen Brand, der durch den Bairischen Erfolgekrieg 1778 und 1779 bedrohlich im deutschen Vaterlande zu glimmen begann, erstickte Maria Theresias weise Vorsicht, ehe noch die lichten Flammen emporschlugen. Nordhausen verhielt sich bei dem im Juli 1778 ausbrechenden Kriege völlig neutral und verbot am 12. Oktober, um Unheil zu verhüten, auch seinen Bürgern jegliche Stellungnahme. Als am 28. Januar 1779 der preußische Leutnant von Rheinbaben von der Stadt Rekruten verlangte, lehnte diese das Ansinnen unter dem Hinweise auf ihre strenge Neutralität ab. Sonst merkte Nordhausen nichts von dem Kriege, der schon im Mai 1779 ohne ernstliche Kriegshandlung erlosch. Am 30. Mai feierte die Grafschaft Honstein, am 27. Juni Nordhausen das Dankfest für den wiederhergestellten Frieden. Wirklich schwere Wolken zogen erst wieder am Horizont herauf, nachdem die Französische Revolution ausgebrochen war und die Wetterschläge in ihrem Gefolge ganz Europa erbeben ließen. In diesen Zeiten, in denen dem französischen Volke die Befreiungstat gelang, endlich die Schranken der unsinnigen Gliederung nach Ständen niederzulegen, in diesen Zeiten, in denen der große Korse versuchte, endlich die elenden mittelalterlichen Staatsgebilde Europas zeitgemäß umzugestalten, beherrschten alle Kreise des deutschen Volkes die mannigfachsten Stimmungen und Gesinnungen. Und nicht bloß erleuchtete Geister wie Klopstock und Schiller begrüßten die großen Gedanken der Revolution, sondern auch in dem Herzen manches Kleinbürgers und Bauern hallten die Schlagworte von der Gleichheit und Freiheit aller Menschen stark und lange nach. Und wieder einmal, wie einst im Bauernkriege, war es, daß auch in Nordhausen der gedrückte Hintersättier aufhorchte und trotz seiner geistigen Not - er konnte ja weder lesen noch schreiben - begierig die Nachrichten von jenseits des Rheins vernahm. Unterirdisch grollte es und schmollte es, und nur die im eigenen Blute ertrinkende Revolution sowie die bald einsetzenden kriegerischen Ereignisse verhinderten den Ausbruch einer grellen, alles verzehrenden Glut. Der Nordhäuser Rat mußte schon am 23. April 1790 den Erlaß anschlagen lassen, man solle sich „bei den gegenwärtigen so bedenklichen Zeitumständen in öffentlichen Wirtshäusern über die Handlungen und Bewegursachen großer Mächte aller ungebührlichen Reden und vorwitzigen Urteile enthalten“. Verstärkte polizeiliche Überwachung von Worten und Taten schien also zur Unterdrückung freiheitlicher Äußerungen nötig. Wegen dieser Haltung des Nordhäuser Rates konnte 1802 der Magister Ehrhard in seinem Klagelied über die verlorene Selbständigkeit der Stadt auch schreiben: „Weint! Ward gleich bei uns der Jakobiner Doch war der Rat klug genug einzusehen, daß neben der Gewalt auch Versprechungen nötig seien, um das Volk im Zaume zu halten. Daher ließ er am 17. Februar 1791 eine Revision der Wahlstatuten verkünden. Aber diese ersten Ansätze zu einer neuen Ordnung versanken alsbald in dem hereinbrechenden Chaos. Im April 1792 erklärte Frankreich an Österreich den Krieg, im August rückte Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig in Frankreich ein, im Oktober desselben Jahres besetzten jedoch die unausgebildeten, aber begeisterten Bürgeraufgebote Frankreichs schon Mainz. Da erklärte endlich am 25. Oktober 1792 auch das Deutsche Reich an Frankreich den Krieg, und damit trat auch für Nordhausen der Kriegszustand ein. Das Reich schien diesmal Eile zu haben. Schon am 26. November 1792 teilte der Gesandte beim Niedersächsischen Kreise, Freiherr von Binder, der Reichsstadt Nordhausen mit, sie solle ihre Truppen in marschfertigem Zustande erhalten. Doch wieder, wie seit den Zeiten des 15. Jahrhunderts so oft, versagte die Kriegsmaschine dieses jämmerlichen Reichsgebildes vollkommen. Wie alle anderen Reichsstände suchte sich auch Nordhausen sogleich um jede Unterstützung des Reiches zu drücken. Man glaubte schon viel zu tun, wenn man dem Reiche 4000 Gulden jährlich anbot, damit es irgendwoher Söldner anwerben könne. Bezahlte Söldner gegen opferbereite, freiheitsberauschte Mannschaften, bezahlte Söldner, die nur durch den Korporalstock wie eine Herde durch Hund und Hirte zusammengehalten werden konnten! Aber das Reich fand nicht einmal Söldner für Geld. Daher schrieb Freiherr von Binder auch an Nordhausen, die Stadt möchte sich an den Landgrafen von Hessen-Kassel oder an Hannover wenden, die vielleicht bereit seien, für die Stadt Truppen zu stellen. Und als es nicht gelang, die Untertanen anderer Länder für sich bluten zu lassen, als alles nichts half, die und Nordhausen nun wirklich marschieren lassen mußte, da begann das Feilschen um die Anzahl der Truppen. Nordhausen sollte 75 Mann stellen. 75 Mann? War es nicht immer nur zu 45 verpflichtet gewesen, einschließlich des Offiziers? So gingen denn, während draußen die Welt lichterloh brannte und in Frankreich ein Federstrich Camots 100000 Mann auf die Beine brachte, die Verhandlungen während des ganzen Jahres 1793 um ein Dutzend Soldaten. Schließlich sandte Nordhausen am 29. Juli 1793 ganze 2000 Gulden nach Frankfurt - noch lange nicht so viel, wie ein einziger Brenner im Jahre verdiente! Am 7. Januar 1794 schwang man sich sogar zu einer „Kollekte“ von Geld, Branntwein und Räucherwaren für die „kombinierte teutsche Armee“ auf. Doch mit der Lieferung von Branntwein und Speck war der Krieg nicht zu gewinnen. Preußen, das seine Augen in selbstsüchtiger Weise nach Osten, auf Polen, richtete, zeigt sich schon 1793 unlustig zum Kriege; der geniale jugendliche General Hoche war im Elsaß im Vordringen, Belgien ging bald verloren. Da kam endlich am 6. April 1794 der gemessene kaiserliche Befehl, unbedingt Soldaten zu stellen; Geld werde nicht mehr angenommen. Zwei Monate später ließ sich dann auch die Stadt wirklich schon herbei Truppen anzuwerben. Am 17. Juni begann ein eifriges Suchen nach Soldaten. „Die Werbung wurde unter Trommelschlage veranstaltet und denen Angeworbenen wurde jedem nicht nur 5 Taler Handgeld gegeben, sondern ihm auch, wenn er demnächst (sic!) nach Ende des Krieges wieder zurückkäme und sein Betragen gut gewesen sei, nach Befinden der Umstände entweder das freie Bürgerrecht oder 10 Taler Belohnung versprochen.“ Dieser Lohn in klingender Münze und klingenden Worten verfehlte seine Wirkung nicht. Die 75 Mann, die das Reich verlangte, kamen zusammen. Am 9. Februar 1795 stand eine richtige Kompagnie Soldaten von 100 Mann auf dem Markte zwischen Rathaus und Weinkeller bereit. Vor ihr flatterte eine neu beschaffte Fahne, der Vierherr Joh. Chilian August Filter hielt eine prächtige Ansprache, und der Aktuar Riemann verlas die Kriegsartikel. Dann leistete die Truppe den Fahneneid. Am 11. Februar nahmen die Soldaten, die marschieren sollten, das Abendmahl, und am 16. Februar setzten sich 74 Mann zur Reichsarmee nach Mainz hin in Bewegung. Für weiter 50 Mann bezahlte die Stadt je 150 Gulden Kriegsumlage. Wie ungeheuerlich es aber um die Rüstungen des Reiches selbst in dieser höchsten Notzeit bestellt war, ersieht man daraus, daß Nordhausen im ganzen großen Niedersächsischen Kreise, der vom Eichsfelde bis an die Mecklenburgische Küste reichte, die einzige Reichsstadt war, die wirklich Soldaten auf die Beine gebracht hatte. Triumphierend berichtet unser Gewährsmann Filter deshalb: „Dieses Mal hat Nordhausen unter den Niedersächsischen Reichsstädten allein sein Kontingent in natura gestellt.“ Das war im Februar 1795, und im April desselben Jahres schloß Preußen, die deutsche Sache schnöde verratend, mit Frankreich den Separatfrieden von Basel. Es gab das linke Rheinufer dem Erzfeinde preis; dafür wurden Nord- und Mitteldeutschland und damit auch Nordhausen aus dem Kriege herausgenommen. Österreich und Süddeutschland führten allein den ersten Koalitionskrieg weiter. Preußische, hannöversche und braunschweigische Truppen besetzten die sogenannte Demarkationslinie, die das befriedete Deutschland von dem kriegsdurchtobten trennte. Eine Zusammenkunft des Niedersächsischen Kreises in Hildesheim auferlegte für die Unterhaltung der Armee dem Kreise 400000 Taler für ein halbes Jahr; Naturallieferungen, Heu, Stroh, Früchte aller Art, übernahmen die einzelnen Kreisstände. Nordhausen sollte 1796 schon rund 1432 Taler, 138 Wispel 10 Scheffel Hafer, 549 Zentner 64 Pfund Heu, 56 Schock 30 Bund Stroh, 25 Wispel 20 Scheffel Mehl entrichten. Im nächsten Jahre steigerten sich die Lasten bedeutend; sie betrugen für den Kreis vierteljährlich allein an Geld 480000 Taler. Bei diesen hohen Umlagen schnellte natürlich auch der städtische Etat Nordhausens sprunghaft empor. Neue Steuern waren nötig, und die Erhöhung des Schrotgeldes, das die Brenner vor allem zu tragen hatten, erregte böses Blut. Unterdessen war nun aber trotz des Baseler Friedens die Nordhäuser Mannschaft am Rhein zur Reichsarmee gestoßen und lag als Besatzung auf der Festung Königstein bei Frankfurt. Diese Feste kapitulierte aber am 22. Juli 1796, und damit wurden auch die braven Nordhäuser zu Kriegsgefangenen Frankreichs. Doch was sollte die junge Republik mit Gefangenen! So erhielten denn die Truppen freien Abzug auf das Versprechen hin, ein Jahr lang gegen Frankreich nicht zu kämpfen. Die Kompagnie Nordhäuser aber mußte nun mit der Kaiserlichen Armee in die Oberpfalz marschieren und sich dem Erzherzog Karl zu neuen Heldentaten zur Verfügung stellen. Allgemach war jedoch dem Niedersächsischen Kreise bekannt geworden, daß Truppen seines Machtbereichs, der im Frieden mit Frankreich stand, im Begriffe waren, feindliche und verwerfliche Handlungen gegen die Franzmänner vorzunehmen. Es erging daher an Österreich die Aufforderung, die Truppen freizugeben, und Österreich war entgegenkommend genug, den Vorstellungen zu willfahren. Die Nordhäuser wurden also entlassen und langten am 1. Dezember 1796 wohlbehalten in der Heimat an. Im April 1797 erzwang dann der General Bonaparte den Vorfrieden von Leoben, dem bald der Friede von Campo Formio folgte. Am zweiten Koalitionskriege hatte Nordhausen keinerlei Anteil. Nun hatte schon vor dem im Februar 1801 geschlossenen Frieden von Luneville der Schacher der deutschen Fürsten um innerhalb der deutschen Grenzen gelegene Länder begonnen. In glücklichster Lage befand sich Preußen dabei. Es hatte schon im Oktober 1800 den Marquis Lucchesini nach Paris geschickt, der dort die Interessen seines Staates vertreten sollte, und da Preußen mit einem Anschluß an Rußland drohte und England noch immer im Kampfe mit Frankreich stand, kam Napoleon Bonaparte dieser norddeutschen Großmacht weit entgegen. Am 23. Mai 1802 erhielt Preußen alle seine Wünsche erfüllt. Unter den Staaten aber, die damals das Königreich Preußen für die Abtretung von Landstrichen westlich des Rheins entschädigen sollten, befand sich auch Nordhausen. Am 6. Juni 1802 unterschrieb König Friedrich Wilhelm III. von Preußen in Königsberg, wohin er zu einer bevorstehenden Zusammenkunft mit dem russischen Zaren geeilt war, das Patent, das die Einverleibung der Freien Reichsstadt Nordhausen in das Königreich Preußen aussprach. Am 2. August 1802 nahmen die Preußen von Nordhausen Besitz. Nordhausen wurde aus einer Freien Reichsstadt eine preußische Landstadt; seine nahezu neunhundertjährige Selbständigkeit hatte aufgehört. – Der Verlust der Reichsfreiheit bedeutete naturgemäß für Nordhausen die größte politische Umwälzung seit vielen Jahrhunderten. Die Bevölkerungsschichten, die von Urväter Zeiten her in der Stadt Heimat und Herd besaßen und aufs innigste verwachsen waren mit altererbtem Recht und Brauch, die weitblikkenden Männer, die erkannten, daß die Angliederung an Preußen für jeden Nordhäuser in jeder Beziehung ein neues Schicksal bedeuten mußte, und endlich die Kreise, die aus der bisherigen Stellung Nordhausens als einer Freien Reichsstadt ihre persönlichen Vorteile gezogen hatten, - alle diese trauerten ehrlich und redlich dem verlorenen Glücke nach. Ihre Stimmung und Gesinnung brachte in rührendem und unbeholfenem Gedicht der Magister Ehrhardt zum Ausdruck, wenn er seiner Leier über den neuen Gebieter die kummervollen Verse entlockte: „Treu und ganz nach des Allvaters Bilde Anders stand der Einverleibung in Preußen die große Masse der Bevölkerung gegenüber. Diese erlebte zunächst kaum bewußt das ungeheure Geschehen. Denn im Vordergrund des Alltagslebens stehen jederzeit wirtschaftliche und höchstens noch kulturelle Bestrebungen und Aufgaben, und deren Abhängigkeit von der politischen Gestaltung der Dinge, oft erst nach Jahren bemerkbar, tritt selten scharf und klar hervor. Und hier in Nordhausen berührte der neue Zustand die Lebensformen des Augenblickes kaum. Zudem war der Staat, der jetzt von Nordhausen Besitz genommen hatte, ein Nachbar, wohlvertraut seit 150 Jahren, mit dem man, wie es so unter Nachbarn üblich, manches Zerwürfnis wohl erlebt, an dessen Grafschaft Honstein die Stadt seit grauer Vorzeit aber doch gar manches Band der Freundschaft innig knüpfte. So lebte die Einwohnerschaft Nordhausens in ihrem überwiegenden Teile das alte Leben ziemlich ruhig fort. Und dennoch beherrschte ein unbestimmtes Gefühl des Unbehagens auch die große Menge des Volkes, auch den, der nur von Tag zu Tage lebte. Man ahnte wenigstens, daß mit der Aufgabe der politischen Selbständigkeit ein Stück der eigenen Wesensart für immer schwinden mußte. Einmal eingefügt in das Räderwerk eines großen Staates mit anderem Antrieb, mußte fortan die Gangart auch des eigenen kleinen Motors anders werden. Es war doch etwas Unheimliches, daß statt der vertrauten Heimat eine unbekannte Feme jetzt nach ihrem Willen die Zügel führte, die Rosse in ihrem Schritte laufen ließ und den Wagen in demselben Gleis wie hundert andere fuhr. Bisher kannte man nur sich selbst und lebte sich selbst genug; Stand und Meinung waren wohl verschieden, aber das Gefühl, zu einem Körper mit einem Herzschlag zu gehören, war doch lebendig überall. Die liebenswürdige Duldsamkeit, die gemütliche Behäbigkeit, der enge Kreis und der frohe Sinn, - alles das verband jung und alt, arm und reich, vornehm und gering. Und alles das ward nunmehr einem anderen Rhythmus unterworfen. Das persönliche Verhältnis zwischen Herrscher und Beherrschten hörte auf, eine nie gekannte herbe Auffassung von Pünktlichkeit und Pflicht, Ordnung und Gehorsam forderte der neue Staat. Dagegen lehnte auch das Volk sich auf, nicht laut und heftig und bewußt, aber doch fühlbar und mit stummem Eigensinn. Der konservative Geist der Nordhäuser Bevölkerung, der stark und treu im heimatlichen Boden wurzelte, fühlte sein Eigenleben bedroht; und der liberale Geist der Nordhäuser Bevölkerung, der jeden möglichst frei gewähren ließ, fühlte sich beengt durch eine harte Notwendigkeit. Angeborene Wesensart und jahrhundertelange Gewöhnung wehrten fremden Anspruch ab. Wenn so das warme Blut auch vielfach widersprach, so mußte die kühle Überlegung die Entwicklung der Dinge dennoch gutheißen. Die Trauer um den Verlust der Selbständigkeit, betrachtet unter dem Gesichtswinkel der ganzen europäischen Entwicklung jener Zeit, mußte kindisch und kleinlich erscheinen. Die Ideen der Französischen Revolution und in anderer Weise die des deutschen Humanismus hielten die Gemüter gefangen und gaukelten ihnen ein Bild seligen Weltbürgertums vor. Die Nordhäuser damals waren ja doch Zeitgenossen von Bonaparte und Goethe, und deren Taten und Gedankengänge lebten in ihnen und ließen sie hoffen, durch die Aufgabe des Alten und durch das Aufgehen in etwas Neuem in politischer und kultureller Beziehung voranzukommen. Und diejenigen, denen Zweifel kamen an der Erfüllung der neuen Botschaft von der Brüderlichkeit aller Völker, mußten bei kühler Überdenkung des nun geschaffenen Zustandes dennoch einräumen, daß mancherlei Vorteile, besonders wirtschaftlicher Art, mit der Einverleibung in Preußen verbunden waren. Welche Hemmnisse hatten die engen Zollschranken dem Handel und Wandel bisher bereitet! Welch neues Leben mußte die Stadt durchpulsen, wenn sie, ungehindert durch Schlagbäume, ihren Verkehr nicht nur mit Ellrich und Bleicherode aufnehmen konnte, sondern wenn sie auch dem Wirtschaftsorganismus einer weiten Landschaft eingegliedert wurde und mit dem zum größten Teil preußisch gewordenen Eichsfelde, ferner mit Halberstadt und Magdeburg und Halle in nähere Verbindung trat. Das waren doch Erwägungen, die man gelten lassen mußte. So widerstritt denn Herz und Kopf einander. Das Blut und Gefühl lehnte sich auf gegen Preußen, der Verstand aber hieß die Entwicklung der Dinge gut. Und so ist es eigentlich geblieben ein ganzes Jahrhundert hindurch. Was war es denn anders, was den Nordhäuser Freisinn des 19. Jahrhunderts schuf, wenn nicht die gefühlsmäßig bedingte Auflehnung gegen preußische Wesensart! Dieser preußische Militarismus und Staatssozialismus forderte den Widerstand des Nordhäuser liberalen Bürgertums heraus. Jahrzehntelang beherrschte er die Stadt so gut wie allein. Doch dann kam die Einverleibung Hannovers und Hessens in Preußen und die Verbindung mit dem deutschen Westen. Neue Verkehrslinien, neue wirtschaftliehe Möglichkeiten erschlossen sich gerade durch die Zugehörigkeit der Stadt zum preußischen Staatswesen. Die Schöpfung eines einigen deutschen Vaterlandes tat dann weiterhin das ihrige, um die Ansprüche mit Preußen zu versöhnen. Und wenn auch der Groll über die Ansprüche preußischer Beamter und Offiziere nie ganz im Nordhäuser Bürger schwand und das Mißtrauen, das die Knebelung der Geistesfreiheit in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts geschaffen hatte, nie ganz beseitigt ward, - Nordhausen wuchs doch immer mehr in den preußischen Staat hinein und fühlte sein Schicksal immer inniger verbunden mit ihm. Das haben der Weltkrieg gezeigt und die Umwälzung in seinem Gefolge. Als im letzten Jahrzehnt nur von fern einmal der Gedanke auftauchte, die Stadt einem anderen deutschen Staate anzuschließen, fand sich die ganze Bürgerschaft einig in dem Bekenntnis zu Preußen. So lebt denn auch noch die alte Freie Reichsstadt Nordhausen ihr Eigenleben in selbstbewußtem und fortschrittlichem Bürgerstolz und fühlt sich doch als ein treues Glied des preußischen Staates und des großen deutschen Vaterlands.
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