Pockenepidemie in Nordhausen
Die letzte Pockenepidemie in Nordhausen grassierte 1871.
Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Das Virus wurde vermutlich durch französische Kriegsgefangene eingeschleppt. Im Gegensatz zum preußischen Militär, wo jeder Rekrut sofort geimpft wurde, kannte Frankreich noch keinen militärischen Impfzwang. So verbreitete sich die Krankheit im Frühjahr 1871 in und um Nordhausen schnell aus.
Bis 10. Juni waren (nur Nordhausen) erkrankt 181 Fälle, danach Neuzugänge:
Juni | 120 |
Juli | 115 |
August | 180 |
September | 99 |
insgesamt | 746 |
Davon starben 49 Erwachsene und 89 Kinder, also 18%. Kein mit Erfolg geimpftes Kind starb.
Vermutlich war die Zahl der Erkrankten und der Todesfälle um ein Vielfaches höher, denn die Bürger scheuten sich, den richtigen Befund anzugeben, weil sie bestraft werden konnten, wenn sie es unterlassen hatten, ihre Kinder rechtzeitig impfen zu lassen. Die Zahl der Beerdigungen war in der gleichen Zeit in einer einzigen Nordhäuser Kirchengemeinde größer, als die in der ganzen Stadt gemeldeten Pockentoten.
Dr. Friedrich Wilhelm Unger, Kreis-Wundarzt des Kreises Nordhausen und der Grafschaft Stolberg, gab zur Verteidigung der Pockenimpfung 1871 eine Schrift heraus. Aus dieser ergibt sich, daß sich eine „Bürgerinitiative“ gegen die Pockenimpfung gebildet hatte. In Wort und Schrift, in Versammlungen und in der Zeitung wurde gegen die Impfung argumentiert und dazu aufgefordert, sich von der Impfung befreien zu lassen, was rechtlich möglich war. Ludwig Belitski inserierte jedes Jahr vor Beginn der Impfzeit in der Nordhäuser Zeitung und ermahnte, sich nicht impfen zu lassen. Fälschlich gab er an, der Impfzwang sei aufgehoben. Impfen, sagte er, sei gemeingefährlich und vor allem nutzlos. Das Impfen nennt er „ekle Eitervergiftung“. Ein Herr Nittinger schrieb, die Menschenpocken seien ein viel kleineres Übel als das große Unheil, welches die Kuhpocken-Impfung über die Welt gebracht habe, und eine weitere Schrift heißt: „Anklageakte wider den Menschenverderber Jenner aus England“ (der Entdecker des Impfschutzes).
Die Folgen blieben nicht aus. Obwohl es in Nordhausen damals einen richtigen „Babyboom“ gab, nahm die Zahl der Impfungen ständig ab.
Jahr | Impfpflichtig waren | geimpft wurden | nicht geimpft |
---|---|---|---|
1868 | 587 | 398 | 190 |
1869 | 782 | 255 | 527 |
1870 | 994 | 181 | 813 |
Für Salza, wo der Ausspruch einer Frau erhalten ist: „Ich lasse mein Kind nicht vergiften!“, liegen ganz ähnliche Zahlen vor: von 192 wurden nur 25 geimpft.
Auch, als die Seuche ausbrach, trat keine Wandlung der Gesinnung ein. Die 10 Nordhäuser Ärzte hatten am 28. Mai 1871 eine Anzeige in der Nordhäuser Zeitung aufgegeben, in der sie ohne Polemik und ohne Statistik auf die Nützlichkeit der Impfung hinwiesen. Daraufhin rief Ludwig Belitski am 6. Juni zu einer Versammlung im Riesenhaus auf. Die Nordhäuser Zeitung berichtete:
- „Gestern hielt Herr Belitski den in der Zeitung mehrfach angekündigten Vortrag gegen die Kuhpocken-Impfung. Der große Saal des Riesenhauses war von Zuhörern ganz angefüllt und auch die daran befindlichen Räume waren zum Teil dicht besetzt. Herr Belitski setzte in lichtvoller mehrstündiger und überzeugender Rede, die mehrfach vom Beifall des Publikums unterbrochen wurde, die Gründe auseinander, weshalb er die Impfung für im hohen Grade gesundheitsgefährlich und ihren Zweck nach keiner Seite hin erfüllend erklären müsse...“
Am nächsten Tag erschien zusätzlich noch eine Anzeige, gerichtet an die hiesigen 10 Ärzte. Vorangestelltes Motto: Ich danke Dir, Gott, daß Du den Unmündigen offenbart hast, was Du den Weisen verborgen hältst! U. a. hieß es darin: „Daß diese Herren ihr bisheriges Schweigen in dieser wichtigen … Sache zu entschuldigen suchen, ist nur ein Beweis dafür, daß sie ihre Schuld wohl fühlen … Und was wird Wichtiges für das Impfen angeführt? Der langen Rede kurzer Sinn ist: kommt alle her, glaubt an uns und laßt Euch impfen! Doch heutzutage ist man nicht mehr so leichtgläubig, weder in geistigen noch in leiblichen Dingen … Wer will beweisen, daß das Einimpfen eines ekelhaften, von der Natur aus dem kranken Körper … ausgestoßenen Eitergiftes dazu geeignet sei, vor einer Krankheit zu schützen? Warum impfen die Herren nicht Masern und Syphilis? Wir Laien wollen Euch sagen, wie man sich vor den Pocken und überhaupt allen Krankheiten hüten kann …, durch frische Luft, gutes Trinkwasser, saubere Schlafstätten, mäßig in allen Genüssen …
Dr. Unger schrieb danach:
- „In den Blättern trat Schweigen ein, aber die beweisenden Tatsachen kamen stärker und stärker heran. Die böse Krankheit griff um sich und sprach selbst mit deutlich weisender, aber auch mit fürchterlicher Stimme, daß die Impfung dennoch nützlich sei. Und dann: Es hieß bei dem Volke sogar, es sei ein Unrecht, daß die Ärzte nicht bekannt machten, womit sie sich schützten; denn diese gingen doch zu allen Pockenkranken und würden nicht ergriffen. Man glaubte, die Ärzte hätten Arzneimittel eingenommen, wodurch sie frei blieben … Sie sind geimpft und wiederholt geimpft, das ist ihr Schutz, weiter haben sie keinen … Hätte ich den Verdacht gehabt, mich selbst zu vergiften, so würde ich mich wohl gehütet haben, es immer wieder zu tun. [...] Es kamen nun gar manche, um sich impfen zu lassen und es ist auch viel geimpft worden, aber es geschah zuweilen verstohlen, man wollte Aufsehen vermeiden. [...] Es gehört ein hartes Herz dazu, wenn man angesichts der traurigen Fälle ruhig bleiben soll, wenn kleine unschuldige Kinder so unsäglich leiden mußten, ehe sie starben. Das Herz hat mir oft genug wehe getan, wenn ich dastand und nicht helfen konnte und mir immer wieder sagen mußte, daß diese Leiden nicht da wären, wenn man die Impfung nicht verdächtigt hätte …“
Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
- Fritz Schmalz: Die letzte Pockenepidemie in Nordhausen. In: Beiträge zur Heimatkunde aus Stadt und Kreis Nordhausen (Heft 9/1984)