Das Nordhäuser Gehege und der Nordhäuser Korn
Von Dr. Silberborth
Eine Plauderei über Nordhausens nächste Umgebung und seine Gewerbe
Dem Fremden ist von Nordhausen im allgemeinen nur zweierlei bekannt: das Nordhäuser Gehege und der Nordhäuser Korn. Wenn man nun diese Kenntnis auch als einigermaßen rudimentär ansprechen muß, so ist doch nicht zu leugnen, daß sie bei einer gewissen Dehnung der Begriffe „Gehege“ und „Korn“ nicht völlig unzulänglich ist. Der großen Menge des Volkes geht ja gottlob die erstaunliche Vielwissenheit des Allerweltsweisen ab, und sie hat sich gerade deshalb den unbefangenen, wir können sagen künstlerischen Blick auf das Wesen der Dinge bewahrt, mit dem sie aus dem Durcheinander von Dingen und Begriffen jedesmal die Hauptsache klar erkannt und richtig erfaßt. So setzt das Volk und der Fremdling auch das Gehege und den Nordhäuser Korn als bestimmte, anschauliche, äußerst schmackhafte Teile für ein unbestimmtes, unanschauliches und gänzlich unschmackhaftes Ganzes, und wenn der große Anempfinder Heinrich Heine bekanntlich von der Musenstadt an der Leine schreibt, sie sei berühmt durch ihre Universität und ihre Mettwurst, so ist er genau solch großer Künstler wie Herr Hinz oder Kunz, die über Nordhausen äußern, es sei berühmt durch sein Gehege und seinen Schnaps.
Wenn der Fremde nach Nordhausen kommt, um Geschäfte zu erledigen, und er will für einen Augenblick der Arbeit oder den Straßen der Stadt entrinnen, dann eilt er in den nächsten Park Nordhausens, in das Gehege; und wenn der Nordhäuser Besuch empfängt, und es ist gerade Alltags und viel zu tun, so daß für weitere Besichtigungen und Ausflüge keine Zeit bleibt, so führt er den Besuch ins Gehege. Das erste, worauf man immer verfällt, ist diese städtische waldige Anlage. Die Warnungstafel: „Komm mir nichts ins Gehege!“ ist von keinem Nordhäuser aufgestellt worden, er „kommt“ gern ins Gehege und läßt gern ins Gehege kommen. So kennt und liebt denn der Nordhäuser sein Gehege, und alle Welt kennt und liebt es auch; und wenn der eilige Besucher vielleicht auch die vielen schönen anderen städtischen Anlagen und waldigen Hügel in Nordhausens nächster Umgebung schnell durchwandert hat, - das erste war doch das Gehege, der erste Eindruck aber soll ja der nachhaltigste sein, und so werden ihm dann alle die anderen flüchtig berührten Naturschönheiten zum „Gehege“. Bei diesem Namen föllt ihm ein, wie er voll Staunen aus der schönen Gartenstadt des Geiersberges mit ihren schmucken Häusern und Villen an den Westhang des Bergrückens getreten ist und ihn mit herrlichstem Buchenwald bestanden gefunden hat. Er wird sich an die sauberen Fußpfade erinnern, die sich durch diesen Buchenhain dahinwinden, an die mancherlei hübschen Ausblicke hinab ins Zorgetal und auf das Dorf Salza sowie in die Ferne gegen das Eichsfeld zu, an den stattlichen Gehegeplatz mit seinen Wirtschaften, Erholungsplätzen, Tonhallen und Konzerten, an die tausendjährige Märwigslinde und die schlanken Säulen der Buchen, und er wird sich endlich daran erinnern, wie er befriedigt am Kützingdenkmal vorbei wieder der Stadt zugestrebt ist.
Freilich, er wird bei seinen Steifzügen durch das Gehege solches Gefallen an Nordhausens waldigen Anlagen gefunden haben, daß er das nächste Mal seine Forschungsreisen etwas weiter ausdehnen und durch das Gehege an den Mühlgraben und in das Zorgetal hinabeilen wird. Da wird er dann die schattige Kastanienallee entdecken sowie den prächtigen Stadtpark mit seinen Erinnerungsstätten an Deutschlands geistige Führer, mit seinen Weihern, seinen Baumgruppen und Wiesenflächen. – Doch wer kann die Namen aller dieser Wege und Anlagen behalten! – Ist auch gar nicht nötig; der Besucher hat ja schon einen: das schöne Nordhäuser Gehege, – in einem paßt er doch wieder: er charakterisiert die Schönheit der nächsten Umgebung Nordhausens.
Sollte unser Wandersmann und Freund aber nicht für die Luft in Tälern und Niederungen sein, oder sollte er eine etwas urwüchsigere Natur derjenigen vorziehen, in welcher die pflegende und ordnende Hand des Gärtners schon etwas reichlich eingegriffen hat, – sollte der Wanderer Höhenluft, weite Fernsichten, wunderliebliche Talblicke, wohlgepflegte, aber nicht nach kunstgärtnerischen Gesichtspunkten angelegte Wege und Wälder aufzusuchen wünschen, dann wird es ihn nicht hinunterziehen an den Stadtpark, sondern er wird auf dem Geiersberge bleiben, hinauswandern aufs Feld und hier den ersten von Ost nach West ziehenden, mit Kirschbäumen bepflanzten Fußweg einschlagen, der ihm ein mitteldeutsches Landschaftsbild enthüllt, wie er es, fünf Minuten vom Rande einer stattlichen Mittelstadt entfernt, selbst im ausblickreichen Thüringer- und Hessenland so leicht nicht wiederfinden wird. Im Norden erscheint über das wellige rot- und weißsteinige Vorland hinweg der Harz, wuchtig ansteigend im Poppenberg, dem Bergrevier von Ellrich, dem Ravensberge; davor erglänzen im Sonnenstrahle die alten Porphyr- und Melaphyrgemäuer des Hohnsteins und der Ebersburg. Im Westen bauen sich die eigenartig geformten Muschelkalkberge des Eichsfeldes auf, und im Süden umfaßt der Blick über Nordhausen hinweg die Goldene Aue mit ihrem fruchtbaren Gefilde, der glänzenden Zorge und Helme und den schmucken Dörfern sowie die Hainleite und den Kyffhäuser, den wir diesmal zur Abwechslung nicht „sagenumwoben“ sein lassen wollen, sondern dessen jäh aus der Aue herausragenden, vielzertalten Horst wir in der Ferne umwoben sehen von seinem feinen, blaugrauen Dunstschleier.
Der Wanderer merkt: Dieser Blick ist viel überwältigender, umfassender als der von irgendeinem Punkte des Geheges aus, und dennoch erscheinen vor dem geistigen Auge die Erinnerungsbilder, ungezwungen stellen sich Vergleiche ein, und selbst diese Umschau bringt unser Freund in späterem Gedenken deshalb vielleicht mit dem Nordhäuser „Gehege“ in Verbindung. Und wenn er dann weiter gen Westen wandert und das „Wilde Hölzchen“ betritt oder den „Kuhberg“ emporsteigt, alles Gegenden voller landschaftlicher Reize, die in weniger als einer halben Stunde von Nordhausen aus zu erreichen sind, so mag ihn auch bei diesen östlichen Hängen des Zorgetales manches an das geliebte Gehege gemahnen, obwohl wenigstens der Kuhberg mit seinen Kieferwaldungen ganz anderen Charakter trägt und obwohl sich von „Wildes Hölzchen“ und dem aus dem Winkel zwischen ihm und dem Bergrücken Hohenrodes herausführenden Hermann-Schmidt-Weg so einzig schöne Ausgucke in das in der Ferne rechts und links von weißen Gipsfelsen eingefaßte und im Hintergrunde vom dunkelen Harz abgeschlossene Zorgetal auftun, wie sie das Gehege nirgends aufzuweisen hat, Blicke, die einmal wieder beweisen, daß trotz des von den armseligen Menschlein konstruierten Gegensatzes zwischen Natur und Kunst die Natur doch die größte Künstlerin bleibt.
Das wäre in aller Kürze einiges vom Nordhäuser „Gehege“. Doch haben wir ja am Anfang unserer Betrachtungen ausdrücklich darauf hingewiesen, daß Nordhausen durch zweierlei bekannt sei: durch sein Gehege und durch seinen Korn, und der geneigte Leser wird uns keine derartige Böswilligkeit zutrauen, daß wir nur die einen der Nordhäuser Genüsse hervorheben, während wir die anderen ganz unterschlagen. Auch der Herr Herausgeber des „Harzes“, auf dessen Veranlassung wir uns von Nordhausen und seiner Landschaft ein Bildchen zu zeichnen erkühnt haben, würde sicher unser Opus zu blaß und farblos finden, wenn wir dem Antlitze Nordhausens nicht eine leicht, vom „Korn“ hervorgerufene Röte auflegten. Frische Kraft, Sinn für die Realitäten des Lebens gehören nun einmal zu diesem Gesicht, und die Bedenken, die bei der Schriftleitung wegen vielleicht allzu großen Naturalismus und Materialismus aufkommen könnten, hoffen wir dadurch leicht zu zerstreuen, da0 wir den Nordhäuser Korn ganz nur als herrliches Produkt der herrlichen Nordhäuser Landschaft aufzufallen gewillt sind, und daß wir auch in diesem Falle den Schnaps, ebenso wie Heinrich Heine seine Göttinger Mettwurst pars pro toto nennt, nur als das dem Fremden geläufige bodenständige Gewächs Nordhausens für alle die anderen mitansehen.