Diskussion:Heinz Sting

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Erinnerungen von Horst Köhler (1979)[Quelltext bearbeiten]

Man erzählte sich, daß Vater Sting am Tage der Wahl seines Sohnes in der Aufregung der sein Vaterherz in besonderem Maße bewegenden Stunden mit einem braunen und einem schwarzen Schuh an den Füßen aus seiner Wohnung am Neumarkt hinaus auf die Straße getreten sei. Das ist gewiß nicht mehr als eine Anekdote, an deren Wahrheitsgehalt man berechtigte Zweifel hegen darf, aber sie beschreibt auf das Trefflichste die Begeisterung — nicht nur des stolzen Vaters, sondern eines breiten Teiles der Nordhäuser Bevölkerung, denn eines ist sicher: Wohl kaum ist einem jungen Bürgermeister von den Bürgern seiner Stadt mehr offene, warmherzige Zuneigung zuteil geworden als Heinz Sting. Als er im Juli 1933 sein Amt antrat, war er 29 Jahre alt, geliebt von seinen Freunden, verehrt von seinen Anhängern, nach erbittertem Kampf schließlich anerkannt und geachtet selbst von seinen politischen Gegnern. Seine Feinde aber erwuchsen ihm aus den eigenen Reihen.

Vor ihm lag ein aufgewühlter, steiniger Acker, den es neu zu bestellen galt. Unterstützt von einer Zahl erfahrener, ehrlicher Männer aus verschiedenen, selbst ehedem gegnerischen politischen Lagern, die sich ihm bereitwillig zur Verfügung stellten, schickte er sich an, die mannigfaltigen kommunalen und sozialen Probleme des in schweren Jahren erschütterten Gemeinwesens mit dem ihm eigenen Eifer und Geschick anzupacken. Die Erfolge blieben nicht aus, zumal freier Bürgerwille Gemeinnutz vor Eigennutz stellte und alle erforderlichen Maßnahmen aus vollem Herzen und guter Überzeugung mittrug. Mit der Amtsübernahme durch Heinz Sting schien eine gute, neue Zeit in der alten Stadt angebrochen zu sein.

Was sich dann in der Folgezeit im Einzelnen abspielte, ist von berufenerer Feder festgehalten worden — von Heinz Sting selbst. Seine objektive, von jedem persönlichen Groll freie Darstellung der Geschehnisse in dem Buch „Das 1000-jährige Nordhausen und der schöne Südharz“ sei den Lesern dieser Zeilen auf das Wärmste empfohlen. Ich selbst habe die sich überschlagenden Ereignisse als zehnjähriger Junge ohne Kenntnis der tieferen Zusammenhänge erlebt. Über allem sah ich nur den Mann, der — durch fatale Entwicklungen in den Konflikt zwischen Parteidiktat und ethischer Pflicht gestürzt — sich und seinem Gewissen treu blieb. Unbewußt erkannte ich, daß hier etwas außergewöhnlich Großes vor sich ging, auch wenn mein jungbrauner Geist es nicht recht in sein Weltbild einzuordnen vermochte. Der Name Heinz Sting, mit dem ich vor gar nicht langer Zeit noch nichts anzufangen wußte, grub sich mir nun ein wie ein lichtes Symbol wahrhaften Mannesmutes.

Sein Antipode war der Kreisleiter der NSDAP Heinrich Keiser. Man kann des turbulenten Jahres 1934 in Nordhausen nicht gedenken, ohne sich auch dieses Mannes zu erinnern, der seinerseits auszog, um Geschichte zu machen, in seinem verkannten Mittelmaß und seiner menschlichen Unzulänglichkeit jedoch nur zur kläglichen Karikatur des Systems absank, das er zu verkörpern hatte. Er war es, an dem sich das Feuer des Widerstandes in der Freien Reichsstadt entzündete. Es flackerte so hell auf, daß die mächtig gewordene Partei bis hin nach München und Berlin alle Hände voll zu tun hatte, es zu löschen. Dabei lag wohl — wenigstens anfänglich — mehr Zündstoff in seiner Person als in seiner politischen Mission. Der Zufall wollte es — Gott weiß, wer es sonst so gefügt haben könnte —, daß in den aufgeheizten Monaten im „Capitol“ in der Schreiberstraße der auch ohne den sich aufdrängenden Bezug unvergeßliche Film „Krach um Jolanthe“ lief. Wer die geistige Verbindung zwischen der wohlgemästeten vierbeinigen Heldin des köstlichen Flimmerschwanks und der gewaltigen Körperfülle des Kreisleiters hergestellt hat, wird uns wohl für immer verborgen bleiben. Für solche Fälle hält man seit alters her den Anonymus „Volksmund“ parat. Den Spitznamen Jolanthe hatte der Kreisleiter jedenfalls weg. Für den dazugehörigen Krach hatte er selbst hinreichend gesorgt. Der in dem an und für sich so unverfänglichen Filmstreifen vorkommende Schlager „Hein spielt abends so schön auf dem Schifferklavier“ entwickelte sich in Nordhausen kurzfristig zu einer Art politischer Manifestation unter Gleichgesinnten, gewissermaßen in Konkurrenz zum Horst-Wessel-Lied. Und noch eines bemächtigte sich der Straßen und wurde offen herausgejubelt, der abgewandelte Spottvers: „Da kann kein Keiser und kein Sauckel was dran machen, ’s ist zum Lachen, holla heh!“ Hie Sting — hie Keiser. Der für die Stadt historisch gewordene Fackelzug zu Ehren des Oberbürgermeisters Heinz Sting wurde zum Fanal, das weit über die Stadtmauern hinausdrang.

Auf einem Foto in dem bereits erwähnten Buch „Das 1000-jährige Nordhausen und der schöne Südharz“ meine ich mich wiederzuerkennen, die unvermeidliche Schülermütze auf dem Kopf, inmitten einer wartenden Menschenmenge vor dem Gerichtsgebäude in der Sedanstraße, wo der aufsehenerregende Prozeß stattfand. Die Petersbergschule befand sich ja in unmittelbarer Nachbarschaft, und der Unterricht begann doch wohl ein wenig unter den unruhigen Zeitläuften zu leiden. In der Turnhalle waren sogar zwei Kompanien Schutzpolizei zusammengezogen worden, um „die unter ihrem Oberbürgermeister rebellierende Bevölkerung niederzuhalten“. Die Schupos brauchten nicht einzugreifen. Die Menschen verharrten in drohendem Schweigen, das sich als eindrucksvoller erwies als Rebellion — es war der erschütternde, wenngleich ohnmächtige Ausdruck abgrundtiefer Verachtung für die in Eile angereisten Parteimächtigen.

Wegen Nötigung in zwei Fällen, Beleidigung, Beamtennötigung, versuchter Erpressung und fahrlässiger Körperverletzung wurde Kreisleiter Keiser zu einer Gesamtstrafe von 21 Monaten Gefängnis verurteilt, von denen er nicht eine einzige Minute zu verbüßen hatte. Die Strafe wurde ihm vom damaligen preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring im Gnadenwege erlassen. Zur gleichen Zeit wurde Heinz Sting verhaftet. Die Geschichte hatte wieder Tritt gefaßt.

An einem schwülen Sommertag verfinsterte sich der Himmel über dem ganzen Land noch aus einem anderen Grunde. Die dunkle Wolke dieses Ereignisses fügte sich fast gespenstisch in die Kulissen der Nordhäuser Vorgänge. Am 2. August 1934 starb Paul von Hindenburg. Meine Mutter, die wohl weniger Sinn für politische Realitäten hatte, dafür aber ein geradezu mystisches Gespür für eigentümliche Vorzeichen besaß, weinte an diesem Tage immer wieder leise vor sich hin. Die wegen der Schwüle zum Mittagessen angerichtete Kaltschale, auf die ich mich so gefreut hatte, mochte mir nicht mehr schmecken. Das sind freilich zwei Dinge, die so gar nicht zusammen passen, aber ich erzähle dies, um zu sagen, wie lebhaft mir der Tag noch im Gedächtnis steht. Ich habe noch viele bedrückende Tage erlebt, aber nur wenige davon so bedrückend empfunden wie diesen.

Was dann in Nordhausen weiter geschah, hatte die Partei bereits so fest im Griff, daß kaum noch etwas in die Öffentlichkeit drang. Der Oberbürgermeister Heinz Sting mußte wieder freigelassen werden, doch die Enthebung aus allen Parteiämtern und schließlich die Verdrängung aus dem mit so vielen Hoffnungen und Plänen angetretenen Amt schoben ihn ins gesellschaftliche Abseits. Dennoch — sein Kampf ging weiter, und der aus dem Hinterhalt gegen ihn geführte Kampf der Partei nicht minder. Er hat ihn bestanden. Allen Demütigungen zum Trotz blieb er, als was er uns Nordhäusern immer gegolten hatte: Das Vorbild eines mutigen, in seinem Gewissen freien deutschen Mannes. Er blieb es als Offizier der deutschen Wehrmacht, er blieb es, als er nach dem Kriege die in die westlichen Landesteile verschlagenen Landsleute um sich scharte und die ganze Kraft seines Wesens und Wirkens dem Gedanken an die Einheit Deutschlands widmete.

--Chronist (Diskussion) 14:23, 12. Nov. 2020 (CET)Beantworten

In der Liste der Bürgermeister von Nordhausen u. der Navileiste ist vermerkt, Sting sei von 1933-1935 Bürgermeister von Nordhausen gewesen. Gleichzeitig heisst es in seiner Bio, er wäre am 19. Oktober 1934 (?) als Oberbürgermeister beurlaubt worden. --Lutz Jödicke (Diskussion) 08:20, 14. Mai 2021 (CEST)Beantworten