Wilhelm Gesenius, der Theologe und Orientalist (1786–1842)

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Autor: Karl Benkenstein
Titel: Wilhelm Gesenius, der Theologe und Orientalist (1786–1842)
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aus: Zur Feier des vierhundertjährigen Bestehens des Gymnasiums zu Nordhausen
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Erscheinungsdatum: 1924
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Wilhelm Gesenius,
der Theologe und Orientalist
(1786–1842).


Von Pastor Dr. Karl Benkenstein.


Heinrich Friedrich Wilhelm Gesenius, mit dem Rufnamen Wilhelm genannt, wurde zu Nordhausen im Hause Baltzer-Straße 20 am 3. Februar 1786 geboren.

Sein Vater war der wegen seiner Kenntnisse und seines Charakters hochgeschätzte Arzt Dr. med. Wilhelm Gesenius. Seine Mutter war eine Tochter des „Juris Considtus“ und „Aktua- rius“ Gangloff. In dieser Ehe wurden noch zwei Töchter geboren, Julie Johanne Karoline (geb. am 9. Juni 1790, getraut am 5. Oktober 1808 mit dem Königlichen Westfälischen Friedensrichter Elias Wilhelm Friedrich Saalfeld, gest. als Witwe am 3. Juli 1854) und Friederike Louise Antoinette (geb. am 27. Juni 1795, gestorben am 7. März 1797).

Das Glück, ihrer Eltern sich zu erfreuen, haben die beiden überlebenden Kinder nicht lange genossen, denn schon am 1. April 1801 starb der Vater, kaum 40 Jahre alt; am 22. August 1809, kurz vor ihrem 52. Geburtstage, folgte ihm die Mutter nach, nachdem sie noch den Eintritt ihres Sohnes in die akademische Laufbahn erlebt hatte. Alle diese Nachrichten finden sich in den Kirchenbüchern der hiesigen St. Blasii-Gemeinde, der auch Friedrich August Wolf, der geniale Philologe, als Schüler des Gymnasiums bis zum Jahre 1777 angehört hatte. Der Name Gesenius erfreute sich bereits in Kirche und Wissenschaft eines guten Rufes. Justus Gesenius († 1673 als Generalsuperintendent in Hannover) hat als Dichter religiöser Lieder (vgl. die Nummern 65, 79, 118, 126, 382 des provinzial-sächsischen Gesangbuches) den Anspruch auf ein bleibendes Gedächtnis erworben. Zu lichtestem Glanze sollte der Name indessen erst durch unsern Wilhelm gelangen.

Der Knabe empfing zunächst Privatunterricht, trat dann in die Tertia des Gymnasiums ein und besuchte diese Anstalt bis zum Herbste 1803. Heber das Gymnasium berichtet anschaulich Dr. Hans Silberborth in seiner frisch und lebensvoll geschriebenen „Geschichte des Nordhäuser Gymnasiums“, Nordhausen. 1922. Seine Stätte war an der Stelle der jetzigen Mädchen- Mittelschule in der Predigerstraße. Es war die nach dem großen Brande der Oberstadt 1710 auf der Stelle des früheren Dominikanerklosters 1711 aufgeführte Schule, die im Jahre 1866 teilweise nach der Straße hin durch einen massiven Neubau mit Aula ersetzt und im Jahre 1884 durch den noch fehlenden Flügel nach der anderen Seite ergänzt wurde. Der im Hintergründe des Platzes nach dem Primariusgraben hin noch verbleibende Rest, der schon bisher in seinem Obergeschoß zur Wohnung des Direktors gedient hatte, wurde gleichzeitig 1884 umgebaut und diente in verbesserter Gestalt noch weiterhin zunächst dem gleichen Zwecke, hernach, als das Gymnasium, infolge Ueberganges der Anstalt an den Staat, in die bisherige Volksschule an der Morgenröte verlegt wurde (Juli 1891), zur Wohnung der evangelischen Schwestern. Auch dieser Rest mußte im Jahre 1913 weichen, um für den Neubau der an der Mittelschule fehlenden Turnanstalt Raum zu schaffen. Seitdem ist, abgesehen von einigen Grenzmauem nach benachbarten Grundstücken, auch die letzte äußere Spur jenes altehrwürdigen Gebäudes geschwunden, in dessen Räumen Wolf und Gesenius so oftmals ein- und ausgingen. Aeltere Schüler werden sich noch seiner klosterartig altertümlichen, in eine geheimnisvolle Dämmerung gehüllten Gänge und Klassenzimmer erinnern.

Im Gymnasium genoß der junge Schüler u. a. den Unterricht der beiden Rektoren Poppe († 1801), dessen Zögling schon Wolf gewesen war, und Lenz. Lenz war Anhänger der Philanthropen, jener neuen, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufgekommenen pädagogischen Richtung; zu ihren Hauptvertretern Basedow und Salzmann hatte er vielfache, zu dem letztgenannten, wohl edelsten Vertreter († 1811 in Schnepfenthal), auch nahe verwandtschaftliche Beziehungen als Schwiegersohn (vgl. Silber- borth „Gesch. d. Nordh. Gymn.“, S. 112...). Die philanthropische Methode suchte er auch in seinem hiesigen Wirkungskreise, vornehmlich aber auf dem Gebiete der lateinischen und der griechischen Sprache, deren warmer Freund er war, durchzuführen. Selber durchglüht von Begeisterung für das Bildungsideal der Antike, als dessen Herold damals von Halle aus unser Wolf weithin seine gewichtige Stimme erhob, strebte er, die gleichen Gefühle in den Herzen seiner Schüler zu entzünden. Für unsern Gesenius bekam nun Lenz noch dadurch eine ganz besondere Bedeutung, daß er nach seines Vaters frühem Tode ganz in das Haus des Rektors übersiedelte und dort für die weitere Dauer seiner Schulzeit verblieb. Unmittelbar im Umgänge mit seinem tüchtigen Erzieher leben, unter seinen Augen gleichsam heranreifen, — welches Gück für einen strebsamen Jüngling! Gesenius hat diese günstige Fügung- wahrgenommen und aus dem unmittelbaren Verkehr mit dem hochverehrten Manne, den er je länger je mehr als väterlichen Freund schätzen lernte und bis an sein eigenes Ende in dankbarster Erinnerung behielt, mannigfachste Förderung geschöpft, besonders wohl auf dem Gebiete der alten Sprachen. Jene ausgezeichnete Kenntnis der lateinischen Sprache, die er später in seinen Werken bekundet, wird er in der Hauptsache schon dem Lenz verdanken. Auch Hebräisch hat er gern getrieben und war unter seinen Mitschülern der beste in diesem Fache. Wie der Primaner von berufener Stelle beurteilt wurde, das erhellt klar aus einem Schreiben, das Lenz im April 1803 an „die Herren Bürgermeister, Scholarchen und Senioren zu Nordhausen“ richtet. Darin heißt es: „Gesenius ist der fähigste, allumfassendste Kopf unter den Primanern, dem auch von Seiten der drei toten Sprachen (Lat., Griech., Hebr.), wie der französischen und englischen, nicht minder seiner vielerlei wissenschaftlichen und Sachkenntnisse kein einziger unserer jetzigen Gymnasiasten gleich oder auch nur sehr nahe kommt. Er ist überhaupt die jetzt leider einzige Zierde derselben und unseres Gymnasiums. Am meisten zeichnet er sich durch eine seit langen Jahren unter den Nordhäuser Gymnasiasten vielleicht beispiellose Stärke im Griechischen und durch eine gleiche Tüchtigkeit, die griechischen und römischen Dichter in allen ihren verschiedenen Versmaßen wiederzugeben, aus.“ So war er denn aufs beste vorgebildet, als er im Herbste 1803 — ein Abiturium gab es damals noch nicht — unsere Stadt verließ, um sich auf der Hochschule dem theologischen Studium zu widmen. Aller Voraussicht nach mußte ihn dieses Studium dereinst ins Schulamt oder Pfarramt führen. Die Vorbildung für beide Berufe war damals noch wesentlich einheitlich. Auch Fr. A. Wolfs Bestallung zum „Collaborator bei dem Paedagogio zu Ilfeld“ (21. 10. 1779) war unter dem Titel eines Kandidaten der Theologie erfolgt.

Das geistige Leben auf den deutschen Hochschulen stand damals noch völlig unter dem Zeichen des Rationalismus. Begründet vor allem durch den Hallischen Philosophen Christian Wolff († 1754), vielfach beeinflußt durch englischen Deismus und französischen Naturalismus, alles Erkennen auf den natürlichen Verstand stellend, je länger je kühler und kritischer sich zur überkommenen Lehre und zu aller Ueberlieferung stellend, hat diese sogenannte Aufklärungsperiode zweifelsohne in mehrfacher Hinsicht auf der einen Seite ebenso befruchtend gewirkt, indem sie die natürlichen Bedingungen des Erkennens, die gegebenen Zusammenhänge des Geschehens nachdrücklich betonte und die Traditionen unter das prüfende Auge nahm, wie sie auf der anderen Seite durch ausschließliche Hervorhebung des Rationalen, Nützlichen und Zweckmäßigen verdünnend, verflachend wirkte, indem sie dem Gefühle, der Phantasie, der Geschichte zu wenig Rechnung trug. Zwar die Religion, geläutert im Feuer kritischer Prüfung, sollte bleiben, aber ihre Mysterien entfielen bei solcher Grundanschauung von ganz allein. Die Hauptvertreter dieser Geistesrichtung auf dem Gebiete der Theologie (Ernesti in Leipzig, † 1781, Joh. David Michaelis in Göttingen, 11791, Semler in Halle, † 1791, u. a.) haben, persönlich fromm und ein gewisses Maß des Offenbarungsglaubens für sich noch festhaltend, doch die neue Methode in ihr Fach eingeführt. Ihre überaus zahlreichen Schüler wirkten, an Radikalismus die Meister zum Teil weit überbietend, jahrzehntelang in Schul- und Pfarrämtern und Universitäten. Der Rationalismus, über den schon Kant und mehr noch die nachfolgende deutsche Philosophie in Jakobi, Fichte, Schelling und Hegel weit hinausgeführt hat, kann heutzutage als wissenschaftlich erledigt gelten, seine Spuren aber treten dem, der die Entwickelung der geistigen Strömungen kennt, noch in der Gegenwart deutlich vor Augen.

Solcher Art war die Bildungssphäre, die damals, getragen von der vollen Gunst des Zeitgeistes, auf unseren deutschen Hochschulen fast ausschließlich herrschte. So war sie auch in Helmstedt, der damaligen braunschweigischen Landesuniversität, wohin sich unser junger Studiosus im Herbste 1803 wandte, um sich, wie schon gesagt, der Theologie zu widmen, aber nicht nur im Sinne des sogenannten Fachstudiums. Die Grenzlinien zwischen Theologie und Philologie, zwischen dem theologischen und dem philologischen Studium, die Fr. A. Wolf hernach gezogen hat, waren damals noch nicht vorhanden. Beide Stände hatten, wie schon bemerkt wurde, die gleiche Vorbildung. Die Professoren lasen zumeist aus beiden Fächern. Das kann uns nicht weiter wunder nehmen. Zwischen beiden Fächern bestehen ungesucht überaus zahlreiche Berührungspunkte, sodaß selbst in der Gegenwart der Uebergang vom einen zum andern nicht ganz selten ist. Ist doch das theologische Studium, ganz abgesehen von dem natürlichen Interesse des Theologen für alles mit der Erziehung der Jugend Zusammenhängende, besonders geeignet, in der glücklichsten Verbindung mit den mannigfachen Gebieten der philologisch-philosophischen Disziplinen zu erhalten! Der Alttestamentler findet vielseitige Anregung zum Studium der semitischen Sprachen, eine der wichtigsten Ueber- setzungen des A. T., die Septuaginta, ist griechisch geschrieben; der Neutestamentler tut wohl daran, seine griechischen und lateinischen Kenntnisse zu bewahren, wenn möglich zu erweitern; der Kirchengeschichtler kann von der allgemeinen Weltgeschichte, mit der die Kirchengeschichte durch tausend Fäden verbunden ist, nicht Abstand nehmen; der Systematiker muß in der Philosophie zu Hause sein, um sich mit den in Psychologie und Logik behandelten Grundfragen des Erkennens und mit den jeweiligen Zeitströmungen auseinanderzusetzen usw. So können wir auch von vornherein bei einem begabten und lerneifrigen Jünglinge von der Art unseres Gesenius annehmen, daß er den Kreis seiner Studien nicht zu eng gezogen habe. Die schon von der Schule her vorhandene Neigung zum Hebräischen wurde gefördert durch Pott und Lichtenstein, und es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß er hier den Grund zu jener für seine Zeit universalen, fast beispiellosen, später so viel bewunderten Kenntnis der semitischen Sprachen, also der dein Hebräischen verwandten Sprachidiome, insbesondere des Aramäisch-Syrischen, des Arabischen und des Geez (der alten äthiopischen Sprache), gelegt hat. Eifrig trieb er auch unter Bredows Leitung klassisch-philologische Studien, griechischen und lateinischen Schriftstellern widmete er größten Fleiß. Sein Interesse für Kirchengeschichte wurde geweckt durch Henke. Letzterer, bekannt besonders durch seine sechsbändige „Allgemeine Geschichte der Kirche“ (1788 ...), deren frischer, lebensvoller Ton auch von gegnerischer Seite anerkannt wurde, lehrte in durchaus rationalistischem Sinne, ziemlich pietätlos, was ihm den gerechten Tadel „eines genialen und oft bodenlosen Absprechens“ zugezogen hat. Seinem Einflüsse ist es wohl zuzuschreiben, daß unser Gesenius selber hernach als Professor wiederholt kirchengeschichtliche Vorlesungen gehalten hat. Berühmt waren Henkes öffentliche Disputationen, und der tiefe Eindruck, den sie auf ihn machten, erweckte in dem Studenten — laut eigenen Zeugnisses — frühzeitig das Verlangen, selber einmal die akademische Laufbahn einzuschlagen. 1806, 20jährig, verließ er Helmstedt und siedelte nach Göttingen über. Hier bot sich ihm willkommene Gelegenheit, unter den Theologen Eichhorn († 1827) und Tychsen († 1834, Vater der durch Ernst Schulzes gleichnamigen Epos verherrlichten Cäcilie Tychsen) seine Studien hauptsächlich in der orientalisch-philologischen Richtung noch zu vertiefen. Hier machte er auch die Bekanntschaft jenes Dr. Jul. Aug. Ludwig Wegscheider († 1849), der hernach in Halle als Hauptvertreter des sogenannten Vulgärrationalismus mehrere Jahrzehnte hindurch eine weitreichende Wirksamkeit entfaltete und mit ihm durch Gesinnung, Freundschaft und Verwandtschaft zeitlebens eng verbunden blieb. In Göttingen hielt er sodann, nachdem er am 19. August 1806 zum Dr. phil. promoviert war, in den folgenden 5 Semestern Repetitorien und Vorlesungen aus den verschiedenen Gebieten der klassichen und semitischen Philologie und der Theologie. U. a. wurden Homer und Hesiod, Juvenal, hebräische und arabische Grammatik, das 1. Buch Mose, Einleitung ins Alte Testament behandelt. Sein Wirken, soviel Anklang es auch fand, wurde indessen nachhaltig erschwert durch den berühmten Altphilologen Heyne († 1812), der, ähnlich wie er seinerzeit schon unserm Landsmann Wolf kühl begegnete, so auch unserm Gesenius keinerlei Gunst entgegenbrachte, wobei das gleiche Geschick unserer beiden Landsleute letzthin wohl auf die gleiche Ursache zurückging. Heyne, unbestrittener Diktator, anerkannte Autorität in seinem Gebiete, empfand es im einen Falle übel, daß Wolf ihm gegenüber von Anfang an in Methode und Betrieb seiner Studien seine volle, bewußte Selbständigkeit bewahrte, im anderen Falle, daß Gesenius nicht aus seiner Schule hervorgegangen war. In beiden Fällen freilich erlebte Heyne noch den Aufstieg der beiden jungen Gelehrten zur vollen Höhe der akademischen Laufbahn. Unzweifelhaft aber war jene Gegnerschaft Heynes der Grund für unseren Gesenius, seit dem Herbst 1808 sich von der klassischen Philologie zurückzuziehen und sich, wenigstens amtlich, ausschließlich der Theologie und der hebräisch-semitischen Sprachforschung zuzuwenden, also jenes Sonderfach zu seiner Domäne zu wählen, auf dem er später nimmer welkenden Lorbeer ernten sollte.

Dem festen Willen folgte rasch die Tat, indem er nun zuerst sich an eine größere Aufgabe wagte, die er im Gedanken bereits seit einiger Zeit mit sich trug, zu deren Bewältigung ihm die Göttinger Universitätsbibliothek, deren große Bücherschätze schon Wolf mit glühendem Eifer ausgeschöpft hatte, reiche Fundgruben darbot. Es war die Ausarbeitung eines großen hebräischdeutschen Handwörterbuches über das Alte Testament. Das Werk, für das er durch den Professor Joh. Sev. Vater (namhaften Alttestamentler, bekannt insbesondere durch seine Fragmenten-Hypothese über die Entstehung des Pentateuchs und durch seinen Kommentar darüber, † 182G) einen Verleger in F. C. W. Vogel-Leipzig, der auch die meisten seiner sonstigen Werke übernahm, gefunden hatte, erschien in 2 Bänden in den Jahren 1810 und 1812. Mit allem Eifer hatte er daran in Heiligenstadt gearbeitet, wohin er 1809, und zwar als Professor am dortigen Gymnasium, berufen war. Er hatte dieses Amt, obgleich es ihn zunächst der Hochschule entrückte, aus finanziellen Gründen angenommen, denn in Göttingen waren seine Einnahmen, da er fast ausschließlich auf den Ertrag seiner Vorlesungen und des Privatunterrichts angewiesen war, zu dürftig, auch die Aussichten auf Beförderung an Ort und Stelle zu gering, als daß seines Bleibens hier dauernd gewesen wäre. In der freundlichen, anmutig gelegenen Stadt hat er sich wohlgefühlt, auch mit seinen an der Anstalt wirkenden Kollegen, zum großen Teile katholischen Priestern, sich gut gestanden. Das Amt ließ ihm die willkommene Muße zur Fortsetzung seiner Arbeiten, als deren Früchte sein Versuch über die maltesiche Sprache (den interessanten arabisch-italienischen Dialekt der Insel Malta) und der 1. Band des bereits erwähnten Lexikons 1810 erschienen.

Doch war sein Bleiben hier nur vorübergehend. Aehnlich wie der junge Wolf während seiner kurzen Tätigkeit als Kollaborator am Gymnasium zu Ilfeld und als Rektor des Gymnasiums zu Osterode am Harz durch seine Erstlingswerke sich den Weg zur Professur in Halle bereitete, so auch unser Gesenius während seines Aufenthaltes in Heiligenstadt. Maßgebende Kreise in Preußen waren auf ihn aufmerksam geworden und beeilten sich, den jungen Schulmann für die akademische Laufbahn zu gewinnen. Bereits am 9. Februar 1810 erfolgte seine Berufung zum außerordentlichen Professor der Theologie in Halle; die Beförderung in eine ordentliche Professur folgte schon am 16. Juni 1811, nachdem er das angebotene Ordinariat in Breslau abgelehnt hatte; dazu kam als äußere Ehrung 1827 der Titel eines Konsistorialrates, als er die Berufung nach Göttingen zur Nachfolge des großen Eichhorn (Theologe und Orientalist, † 1827) ausschlug. Schon 1813, bei Wiedereröffnung der zeitweilig geschlossenen Halleschen Universität, war ihm die Würde eines Dr. theol. verliehen.

So hatte er in Halle in schnellem Lauf alle Stufen akademischer Würden erklommen. Und seiner heimatlichen Universität ist er treu geblieben, so oft auch ehrenvolle Anerbietungen von auswärts — die letzte kam 1832 von Oxford — an ihn herantraten. Hier in Halle hat er seitdem als Gelehrter, als Forscher und Lehrer in fast 33jähriger Tätigkeit jenes Wirken entfaltet, das den Ruf seines Namens und den Ruhm deutscher Wissenschaft durch die gelehrte Welt aller Länder verbreitete. Seinem Namen war es wesentlich mit zu danken, daß der Hörerkreis der theologischen Fakultät in Halle jahrzehntelang Zahlen aufwies, wie keine andere deutsche Universität. Die theologische Fakultät in Halle hat durch ihre ausgezeichneten Mitglieder jederzeit bis in die jüngste Gegenwart auf die angehenden Theologen eine starke Anziehung ausgeübt und hat demgemäß auch immer zu den bestbesuchten Fakultäten Deutschlands und des deutschen Sprachgebiets überhaupt gehört. Aber die Zahl von rund 900 Studierenden der Theologie, die Halle in den 20er und 30er Jahren des 19. Jahrhunderts aufwies, hat doch hernach keine Universität, auch Halle nicht, jemals wieder erreicht. Gesenius und der ihm bereits von Göttingen her befreundete Wegscheider (Dogmatiker, † 1849) waren zu ihrer Zeit die Leuchten theologischer Wissenschaft in Halle. Und der Glanz ihres Namens, insbesondere des Gesenius, verblich auch dann nicht, als ihnen seit 1826 in dem geistesmächtigen Tholuck (Neutestamentler, Universitätsprediger, † 1877), sehr gegen ihren Willen, ein Kollege zur Seite trat, der die theologische, noch völlig im Rationalismus wurzelnde Richtung jener Männer grundsätzlich bekämpfte und mit der Macht seiner Persönlichkeit in langer Arbeit das religiöse Fühlen, das theologische Denken je länger je mehr in andere Bahnen hinüberleitete. Die Tätigkeit des Universitätsprofessors hat vornehmlich 2 Felder der Wirksamkeit. Er als Fachgelehrter ist auch in erster Linie zum Forscher auf seinem Gebiete berufen, als dessen wissenschaftliche Autorität, als dessen kundiger Vertreter er vor allen mit Recht angesehen wird. Er soll aber auch die zu seinen Füßen sitzende akademische Jugend in die Wissenschaft einführen, sie darin heimisch machen, sie anleiten zu selbständiger Erfassung und Behandlung der Probleme und zu eigener Geistesarbeit befähigen. So wird der Gelehrte zum Lehrer, der Besitzende zum Gebenden, und es erblüht eine wundervolle Verbindung zweifachen Schaffens, das aus der Stille der Gelehrtenstube von ganz allein in die vielbewegte Welt hineinführt, sodaß wir jenes oft gefällte Werturteil wohl verstehen können, daß unter allen Berufen, bei voller Würdigung jedes einzelnen, doch vielleicht das Amt des akademischen Lehrers, alles in allem, ein besonderes Ideal darstelle.

Und wenn nun naturgemäß beide Befähigungen, die des Gelehrten und die des Lehrers, nur selten in gleicher Höhe in der Einzelpersönlichkeit sich vermählen,— bekanntlich gehen Gelehrsamkeit und Lehrbegabung nicht immer Hand in Hand, — in unserem Gesenius waren beide Gaben im vollsten Umfange vorhanden.

Er war Gelehrter in höchster Potenz. Seine zahlreichen Leistungen beweisen das. Sie zeigen zugleich, wie er in steigendem Maße sich seines Faches bemächtigt. Er hat als Forscher die theologische und die mit ihr vermöge des Alten Testaments eng zusammenhängende semitische Sprachwissenschaft durch bahnbrechende Werke bereichert und gefördert, hat in allen seinen Werken, seiner fortschreitenden Erkenntnis entsprechend, von Auflage zu Auflage — und kaum jemals haben die Schriften eines wissenschaftlichen Autors so viele Auflagen erlebt wie die seinen — gefeilt und gebessert, getreu dem Grundsätze, den er in allem Schaffen unwandelbar befolgte: „Dies diem docet.“ Er war einer der größten Hebräer aller Zeiten, zu seiner Zeit unbestritten der gründlichste Kenner der hebräischen und der ihr verwandten Sprachen. Es darf in diesem Zusammenhänge einmal darauf hingewiesen werden, daß unter diesen Sprachkennern und -forschem deutsche Theologen — wir nennen aus dem 19. und dem 20. Jahrhundert nur Ewald, Stade, Dillmann, König, Kautzsch, Merx, Strack, Steuernagel — eine Ehrenstellung einnehmen. Aber unter diesen Männern steht Gesenius in vorderster Reihe. Sein schon erwähntes „Hebräisch-deutsches Wörterbuch über das A.T.,“ 1810—1812, erbringt dafür den vollgültigen Beweis. Einen kleineren, an Umfang nicht wesentlich dahinter zurückbleibenden, Auszug aus dem eben genannten 2bändigen Werke stellt sein 1815 erschienenes „Neues hebräischdeutsches Handwörterbuch über die Schriften des Alten Testaments“ dar, das seit der 2. Auflage, 1823, den Titel „Hebräisches und Chaldäisches Handwörterbuch über das A. T.“ führte (das Wort „chaldäisch“ hier in herkömmlicher Weise noch gebraucht für den in einigen Büchern des A. T. vorkommenden west-aramäischen Dialekt; vgl. Kautzsch, „Grammatik des Biblisch- Aramäischen, 1884, § 6). In zahlreichen Auflagen, nach des Verfassers Tode von tüchtigen Gelehrten bearbeitet, fand es weite Verbreitung und erfreut sich in beteiligten Kreisen bis zur Stunde andauernder Beliebtheit. Die Behandlung der einzelnen Vokabeln ist gründlich, die Anlage in der Entwickelung und Reihenfolge der Bedeutungen übersichtlich, sodaß auch der Anfänger vor dem umfangreichen Bande nicht zu erschrecken braucht, auf zahlreiche Textstellen des A. T. wird erläuternd eingegangen, verwandte Erscheinungen, besonders aus dem Aramäisch-Syrischen und Arabischen, aber auch aus dem Sainarita- nischen und Aethiopischen (Geez), Analogien aus dem Griechischen und Lateinischen, werden reichhaltig herangezogen. Sein Bestreben war (2. Aufl., Vorrede S. IV), „die vorgefundenen Spracherscheinungen in einen organischen Zusammenhang zu bringen und sie zu erklären.“ Die Sprache des Buches ist flüssig und klar, was bekanntlich (man denke nur an die Kommentare des berühmten Alttestamentlers Hitzig in Heidelberg, † 1875) nicht von jedem Gelehrten behauptet werden kann. Wer dieses Buch für seine Studien benutzt, der wird auch jetzt noch die anerkennenden Worte gern unterschreiben, mit denen seiner schon 1842 Erwähnung geschieht: „Wie ein geordnetes Hauswesen uns freundlich und wohltuend anspricht, so auch, wenn wir von der Heerstraße der Lektüre ab- und in dem Wörterbuche einkehren müssen; so freundlich, reinlich und ordentlich tritt uns hier alles entgegen, wir werden so rasch und richtig bedient und erlangen leicht obendrein für unser Gedächtnis noch einen Zehrpfennig mit auf den Weg.“ („Gesenius. Eine Erinnerung für seine Freunde,“ von R. H. S. [Robert Haym?], Berlin 1842, S. 20). So war es in der Tat ein rechtes Handwörterbuch, für den gereiften Kenner und nicht minder auch schon für die Hand des jungen Anfängers geeignet, ein Lexikon, das auf allen Stufen aufsteigender Erkenntnis nützliche Dienste leistet. Die 2. Auflage bringt, worauf Verfasser (S. VII der Vorrede) besonders hinweist, eine „gedrängte Abhandlung über die Quellen der hebräischen Wortforschung nebst einigen Regeln und Beobachtungen über den Gebrauch derselben.“ In diesem Aufsatz, den er „besonders für Lehrer des Hebräischen und angehende Sprachforscher“ geschrieben hat, bietet er u. a., nach dem Maße und Umfange der ihm vorliegenden Sprachdenkmäler, einen kurzen, aber gehaltvollen, interessanten Ueberblick über die Eigenart, Geschichte und Verbreitung der semitischen Sprachen, der, neben Th. Nöldekes Skizze „Die semitischen Sprachen“ (Leipzig, 1887) und C. Brockeimanns Abriß „Semitische Sprachwissenschaft“ (Leipzig, 1906), auch heutzutage noch lesenswert ist und das gewährt, -was er nach des Verfassers Absicht gewähren soll, nämlich einen kurzen, lehrreichen Einblick in die semitische Sprachengruppe, die, einst so weit verbreitet, im Laufe der Zeiten mehr als einmal das Absterben blühender Zweige erlebte. So war der allmähliche Untergang des dem Hebräischen aufs nächste verwandten Phönizisch-Punischen mit der Eroberung von Tyrus durch Alexander den Großen (332) und mehr noch mit der barbarischen Zerstörung Karthagos durch die Römer (146) besiegelt; von seinem einstmals ansehnlichen Schrifttum sind nur dürftige Reste erhalten. In der Anfangszeit der Makkabäer (c. 165) ist auch das Hebräische ausgestorben und im Volksmunde durch das Aramäische ersetzt. Das Syrische (so die allgemeine Benennung des Aramäischen in christlicher Zeit) ist, nachdem es jahrhundertelang den Orient zum großen Teile beherrscht und eine reiche Literatur geschaffen hatte, durch das mit dem Islam hereindringende Arabische mehr und mehr aus seiner einstigen Machtstellung verdrängt und fristet nur noch in einigen kleinen Bezirken ein kümmerliches Dasein. Seit dem 13. Jahrhundert mag auch die äthiopische Sprache (Geez-Sprache im aksumitischen Königreiche Abessyniens) im Volksgebrauche erloschen sein.

Doch zurück zu Gesenius! Mit den erwähnten Werken war seine Arbeit auf lexikalischem Gebiete keineswegs abgetan. In einer Zeit, wo die gründliche Kenntnis der lateinischen Sprache noch ein Gemeingut der Gelehrtenwelt darstellte, lag es nahe, diese internationale Sprache für gelehrte Werke zu gebrauchen, um so die in das lateinische Gewand gekleidete Wissenschaft über die Landesgrenzen hinaus unmittelbar auch anderen Völkern zu vermitteln. So ließ denn Gesenius, wesentlich bestimmt durch die Anregungen ausländischer Kreise (er erwähnt in der Vorrede England, Holland, Nord-Amerika) im Jahre 1832 das „Lexicon manuale Hebraicum et Chaldaicum in Veteris Testament! libros“ erscheinen, einen stattlichen Band, zugleich eine selbständige neue Schöpfung, nicht etwa nur eine Uebersetzung oder Bearbeitung des hebräisch-deutschen Handwörterbuches, wie eine Vergleichung der einzelnen Artikel zur Genüge zeigt. Sein Hauptwerk und wohl seine bedeutendste Leistung überhaupt, gleichfalls lateinisch geschrieben, wurde der „Thesaurus philologicus criticus linguae hebraicae et chaldaicae Veteris Testamenti,“ das unübertroffene „standard-work der hebräischen Lexikographie“ (Artikel „Gesenius“ der Realencyklopädie für protestantische Theol. u. Kirche, 3. Aufl.). Der Thesaurus, dem er lange Jahre angestrengten Fleißes widmete, erschien in 5 Heften von 1829 bis 1842. Die Vollendung sollte er nicht mehr schauen, da er noch vor Abschluß des letzten Heftes vom Tode ereilt wurde. Erst sein Schüler und Freund Rüdiger (Prof, in Berlin, † 1874) hat es ganz im Sinne und Geiste des Meisters 1858 abgeschlossen.

Andere Arbeiten, mehr auf rein grammatischem Gebiete sich bewegend, gingen nebenher. An die „Geschichte der hebräischen Sprache und Schrift. Eine philologisch-historische Einleitung in die Sprachlehren und Wörterbücher der hebräischen Sprache“ (Leipzig, 1815, 232 S.) schloß er als Fortsetzung sein „Ausführliches grammatisch-kritisches Lehrgebäude der hebräischen Sprache, mit Vergleichung der verwandten Dialekte“ (Leipzig, 1817, 908 S.) an, eine erschöpfende, wohlgeordnete Schatzkammer des gesamten grammatischen Stoffes. Vornehmlich verdient hier sein „Hebräisches Elementarbuch,“ 1. Teil „Hebräische Grammatik“, 2. Teil „Hebräisches Lesebuch,“ Erwähnung. Die genannte Grammatik kam heraus 1813; sie ist die verbreitetste aller seiner Schriften, mannigfach auch in fremde Sprachen übersetzt. Vielmal schon zu Lebzeiten des Verfassers aufgelegt, nach seinem Heimgange durch tüchtige Hebraisten bearbeitet, erschien sie 1909 in 28. Auflage unter der Doppelbezeichnung Gesenius-Kautzsch. Kautzsch, der bekannte Herausgeber einer neuen Uebersetzung des A. T. und berühmte Grammatiker († als Professor der alttestamentlichen Wissenschaft in Halle 1910), beschreibt (§ 3 der Grammatik) die Verdienste des Gesenius um die grammatische Bearbeitung der hebräischen Sprache mit den genug sagenden Worten, daß er vor allem auf die umfassende Beobachtung und lichtvolle Darstellung der empirisch vorliegenden Spracherscheinungen ausgegangen sei. Das Buch erfreute sich von Anfang an wegen der klaren Behandlung des oft so spröden Stoffes größter Beliebtheit und behauptet sie, vielgebraucht wie kein anderes Lehrbuch, bis zur Gegenwart. Ob es diese beispiellose Gunst auch weiterhin bewahren wird? Fast, so leid es uns tut, möchten wir es bezweifeln. Unsere Zeit ist jener gründlichen grammatischen Schulung, die einst mit der gelehrten Schule aufs engste verbunden war, längst nicht mehr im gleichen Grade hold. Die Zeit des Zumpt fürs Lateinische, des Buttmann fürs Griechische ist vorüber; kleinere, auf das Notwendigste sich beschränkende Lehrbücher und Kompendien treten auf den Plan und erobern das Feld. Auch im Hebräischen machen wir dieselbe Erfahrung. Und doch sind die größeren Werke unentbehrlich für jeden, der tiefer eindringen will. So mag denn auch die Gesenius-Kautzsch’sche Grammatik vielleicht künftig das gleiche Schicksal erfahren, — sie wird doch immer ihre Bedeutung für die Jünger der orientalischen Muse behalten.

„Discite Donatum, pueri, puerilibus annis!“ d. i. lernt Grammatik, ihr Knaben, schon in jungen Jahren! Dieses alte Wort hat seine Gültigkeit auch für die Erlernung der hebräischen Sprache und bekommt seine besondere Note durch die Verhältnisse der Gegenwart. Das Hebräische, das so lange unbestrittenes Heimatrecht auf unseren Gymnasien besessen hat, schwebt neuerdings in Gefahr, aus unserem Schulbetriebe zu verschwinden. Die Stimmen mehren sich, die es aus dem gymnasialen Lehrplan ganz herausnehmen wollen. Wir stehen keinen Augenblick an, diese Auffassung zu beklagen. Warum? Es sei uns gestattet, gewiß im Sinne eines Gesenius, nur ein paar Gesichtspunkte ins Feld zu führen. Da behaupten wir denn: Die etwaige z\usscheidung des Hebräischen aus unseren Gymnasien bedeutet den Verzicht auf eine in geschichtlicher Hinsicht hochwichtige, in philologischer Hinsicht hochinteressante Sprache. Wer sich einmal durch das anfangs so spröde Gestein und dichte Gestrüpp der zunächst recht fremdartigen Formenlehre hindurchgerungen hat, der wird ihr Freund für immer bleiben.

Es würde aber auch unverkennbar eine schwere Schädigung der ganzen orientalisch-semitischen Sprachwissenschaft auf unseren Universitäten die unvermeidbare Folge sein. Denn bisher liegt die Sache doch meistens so, daß der Student, der sich jener Wissenschaft zu widmen gedenkt, schon von der Schule her gründliche Kenntnisse wenigstens in einer der semitischen Sprachen mitbringt, nämlich in der hebräischen. Diese Kenntnisse, die ihm eine gewisse Einsicht in den semitischen Wortschatz und Sprachbau verschaffen, befähigen ihn dann, auf der Hochschule nun auch die anderen Zweige jener Sprachengruppe — wir fügen zu den bereits früher genannten noch das neuerdings immer mehr an Bedeutung und Interesse gewinnende Assyrische hinzu — in den Bereich seiner Studien zu ziehen. Unsere bahnbrechenden Orientalisten sind fast ausnahmslos diesen Weg gegangen. Einzelne Ausnahmen wollen da nichts beweisen. Mit dem Hebräischen aber die semitischen Sprachstudien zu beginnen, empfiehlt sich vielleicht schon aus einem rein äußerlichen Grunde, insofern nämlich diese Sprache den andern semitischen Sprachen, der syrischen, vornehmlich aber der arabischen und äthiopischen gegenüber, die weitaus einfachsten Schriftzeichen besitzt, — ein zwar nicht in die Tiefe gehender, aber für den Anfänger gewiß nicht nebensächlicher Gesichtspunkt!

Wir dürfen endlich darauf hinweisen, daß auch die christliche Kirche und ihre Theologie an jener Frage hervorragend beteiligt sind. Die Kirche fordert von ihren Dienern mit Recht ein volles, reifes Verständnis des Neuen Testaments. Dieses Verständnis aber ist, angesichts der unzerreißbar dichten Beziehungen zwischen dem Neuen und dem Alten Testament, ohne ein geschichtliches, religiöses Verständnis des letzteren nicht möglich. Dieses Verständnis ist an die Kenntnis der hebräischen Sprache gebunden. Keine noch so gute Uebersetzung kann hier wie irgend sonstwo den Urtext ersetzen. Je gründlicher diese Kenntnis, desto besser.

So möchten wir an dieser Stelle eine Lanze für das Hebräische brechen, aber, damit nicht einseitig das rein Sprachliche allzusehr betont ■werde, in diesem Zusammenhänge auch ein kurzes Wort über die hebräische Literatur überhaupt einschalten. Sie ist uns bekanntlich fast ausschließlich im Alten Testament erhalten. Von dem einst so reichen Schrifttum in hebräischer Sprache, und zwar reich in Poesie wie in Prosa — das Alte Testament nennt selber zahlreiche Namen solcher Werke, beruft sich auf sie und bringt an einigen Stellen noch Proben daraus, vgl. die Liedersammlungcn „Das Buch des Redlichen“ (Jos. 10,13 und 2. Sam. 1,18) und „Das Buch der Kriege Jahves“ (4. Buch Mose 21,14) — ist nur verhältnismäßig weniges auf uns gekommen. Die unaufhörlichen Kriege, die zum Teil mit zermalmender Wucht über das Land dahin brausten, mußten der Erhaltung abträglich wirken; auch die nach dem Exile erfolgende Umstellung der politischen zur Kultusgemeinde minderte leider, aber begreiflicherweise, das Interesse an der Rettung der weltlichen Literaturdenkmäler. Aber wie reich, wie vielseitig, wie schön sind bei alledem die Reste jener Literatur! Sie umspannt einen Zeitraum von mehr als 1000 Jahren von der Einbürgerung Israels in Kanaan bis in die Makkabäerzeit. Sie hat, wie jede irgend bedeutsame Literatur-, ihre klassischen Vertreter, sie hat auch ihre Epigonen, ein goldenes und ein silbernes Zeitalter. Neben vielem Mittelgut bietet sie Meisterwerke in Poesie und Prosa, die wir unbedenklich den edelsten Schöpfungen anderer Völker als ebenbürtig, ja zum Teil, was die Erhabenheit des Gegenstandes anbelangt, als überragend an die Seite stellen können. Vgl. das prachtvolle Deborahlied. Richter 5, mit seinem dithyrambisch ausströmenden Jubel über die Besiegung des Erbfeindes, ferner und vor allem die Psalmen, die — zum Teil Perlen der Lyrik — seitdem für alle religiöse Dichtung nie versagendes Vorbild, nie versiegender Quell geblieben sind!

Wer könnte ohne Rührung Psalmen wie den 1., 8., 23., 90. und dann die Wallfahrtslieder 120 bis 134 lesen! Um die hohe dich- derische Schönheit solcher Lieder voll und ganz zu würdigen, bedarf es keiner Uebertragung in deutsche Reime, so meisterhaft auch z. B. die beiden derartigen Versuche von Gustav Biebeler „Die Psalmen Davids in freier poetischer Uebertragung“ (Halle a. S., 1889) und von August Schwartzkopff ..Psalmenklänge“ (Leipzig, 1883) geraten sind. Und dann die Propheten! Welch ein Reichtum erschütternder Predigt, erhabener Anschauungen! Nicht zu vergessen Hiob, eine der tiefsinnigsten, genialsten Dichtungen aller Zeiten! In der Prosa aber könnten wir auch noch besonders hinweisen auf die Jo- sephsgeschichte (1. Mose 37 . . . .), auf 2. Samuelis 1............ (Davids erste Königszeit), auf die Schicksale des Propheten Elias (1. Kön. 17 . . . .) Das sind Muster feinster Erzählungskunst. In der sogenannten Weisheitsliteratur endlich (auch das Buch Hiob gehört dazu) tritt uns die zum großen Teile in Form des Sprichworts, der Sentenz gekleidete Volksweisheit, aber auch eine im kühnsten Adlerfluge zu den höchsten Gedanken emporsteigende philosophisch-theologische Spekulation entgegen. Und das alles ist durchflutet, getränkt, beseelt vom religiösen Gefühl und ist daher, bei aller Eigenart der einzelnen Autoren, doch eine einheitliche, geschlossene Welt. Es ist hier nicht die Stätte, dabei länger zu verweilen, aber wir möchten alle, die, vielleicht auch in der Würdigung des großen Gesenius, ein gewisses Interesse neu- oder wiedergewinnen für diese Dinge, aus der großen Fülle einschlägiger wissenschaftlicher Werke verweisen u. a. auf

Kautzsch, „Die heilige Schrift des A. T............übersetzt
und herausgegeben,“ besonders auch den dazu gehörigen Band „Beilagen“, 1894 und öfters,
Steuernagel, „Einleitung in das A. T.,“ 1912, Gunkel, „Die Israelitische Literatur,“ im Sammelwerke „Die orientalischen Literaturen,“ 1906,
Gunkel, „Ausgewählte Psalmen übersetzt und erklärt“ 4. Auflage, 1917.
Meinhold, „Die Weisheit Israels . . . .,“ 1908.
Meinhold, „Einführung in das Alte Testament,“ 1919.

Welch weites Arbeitsfeld erschloß sich also unserem Gesenius! Welch volle Genüge mußte er finden! Das bleibt ja auch ein Quell süßester Freude für den Gelehrten und Forscher, daß der Brunnen der Wissenschaft, je tiefer er erschlossen wird, desto reicher strömt. Auch unserm Landsmann erging es so. Neue Aufgaben, neue Ziele lockten ihn. Indessen eilen wir hiermit zum Schluß. Wir übergehen darum seine mehrfachen Forschungen zur phönizisch-punischen Philologie und nennen nur noch seinen großen dreibändigen Kommentar zum Propheten Jesaja „Der Prophet Jesaja. Uebersetzt und mit einem vollständigen philologisch-kritischen und historischen Kommentar begleitet,“ Leipzig, 1820—21. Er stellte seinerzeit unbestritten die bedeutendste Leistung auf dem Gebiete der alt- testamentlichen Schriftauslegung dar. Mit scharfem Auge sind, ganz der Eigenart des Verfassers entsprechend, die sprachlichen und geschichtlichen Seiten der Erklärung betrachtet. Er sagt selber (S. 14 der Vorrede): „Mit besonderer Vorliebe habe ich mich des historischen und antiquarischen Teiles der Erklärung beflissen.“ Die Exegese bewegt sich in den Bahnen der historisch-kritischen Richtung. Verhältnismäßig kurz allerdings werden die biblisch-theologischen Fragen behandelt. Wir empfinden das heutzutage als unverkennbaren Mangel, dürfen aber dabei doch nicht vergessen, daß die biblische Theologie, d. i. die Herausarbeitung und Darstellung des biblischen Lehrgehaltes in seiner geschichtlichen Entwickelung, erst im weiteren Verlaufe des 19. Jahrhunderts zu jener Höhe entwickelt ist, auf der wir sie nunmehr in der Gegenwart freudig schauen. So hat auch dieses Werk die theologische Wissenschaft wertvoll gefördert. Der bekannte Kirchenhistoriker Kurtz in Dorpat († 1890), selber theologisch auf völlig anderem Boden stehend, urteilt darüber: „Tüchtige geschichtliche Studien enthält sein Kommentar zum Jesaja“. Wir ergänzen diese Bemerkung und fügen die Titel einiger dem Kommentar zugesellten Beilagen an:

  1. „Vom Götterberge im Norden“ (Jesaja 14, 13),
  2. „lieber die Astrologie und das Religionssystem der Chaldäer (Jes. 46, 1; 47, 12—15; 65, 11, 12),
  3. „Zeittafeln über die Begebenheiten der israelitischen und benachbarten Reiche, auf welche im Buche Jesaja Bezug genommen wird“.

Den interessanten Titeln der Beilagen entspricht der Inhalt voll und ganz.

Angesichts dieser Schöpfung müssen wir es lebhaft bedauern, daß er nicht mehr Zeit und Muße fand, noch andere Teile des Alten Testamentes — er selber dachte u. a. an die kleinen Propheten und die Psalmen — in den Bereich seiner besonderen Forschung zu ziehen. Wenn irgend einer, dann wäre er wohl auch der rechte Mann zu einer neuen kritischen Ausgabe des alttestamentlichen Textes gewesen. Sein früher Tod begrub leider so viele Pläne, mit denen der Lebens- und Schaffensfrohe sich trug. Alte Klage, doch nie veraltend:

„Vitae summa brevis spem nos vetat inchoare longam.
Jam te premet nox.“

Und wie stand es mit seiner Lehrbegabung, mit seiner pädagogischen Kunst? Er war, wenn anders wir den übereinstimmenden Zeugnissen seiner Schlier Glauben beimessen dürfen, ein geborener Lehrer, ein Pädagog von Gottes Gnaden, der die goldenen Früchte in der silbernen Schale bot. Wie schon zuletzt in Göttingen, so auch in Halle beschränkte er sieh auf das theologische und das orientalistiche Fach. In der von altersher üblichen Weise, die im großen und ganzen noch jetzt besteht, hielt er eine Reihe Vorlesungen aus dem Alten Testamente, so über das 1. Buch Mose, Jesaja, Psalmen, Hiob, biblische Archäologie, Einleitung ins A. T., von Anfang auch eine Reihe von Jahren über Kirchengeschichte (letzteres in 2 Semestern). Auch die semitische Philologie zog er ausgiebig in den Bereich seiner Lehrtätigkeit. Wie in seinen Büchern, so auf dem Katheder wirkte er durch die Anschaulichkeit des Vortrags, durch die Klarheit des Ausdrucks, durch die Fähigkeit, seine Hörer für den vorliegenden Gegenstand zu interessieren und zur Mitarbeit zu erwärmen. Allem Gesuchten abhold, die Anwendung philosophischer Theorieen grundsätzlich ablehnend, das Ideal seiner Arbeit nur darin erkennend, auf dem Wege der grammatischen, kritisch-historischen Methode den einfachen Wortsinn, den wirklichen Tatbestand zu ermitteln, strebte er, den lauteren Sinn für unbestechliche Wahrheit zu wecken. Nachsichtig gegenüber dem Minderbegabten, wenn er nur den guten Willen sah, wurde er umsomehr für begabte Studierende der allzeit treue Freund, der unermüdliche Förderer ihres Strebens. In der richtigen Erkenntnis, daß die einseitige Vortragsmethode (akroamatische Methode) nicht genüge, vielmehr einer Ergänzung durch die in Frage und Antwort sich auswirkende Lehrweise bedürfe, begründete er 1813 die sogenannte exegetische Gesellschaft, die hernach 1820 in das alttestament- üche Seminar sich verwandelte. Da saß der Meister inmitten seiner Jünger, eine bestimmte Frage, einen Text u. dergl. mit ihnen erörternd, ihre Meinungen ergänzend, berichtigend, auch, wo es ging, gern anerkennend, kein strenger Richter, sondern ein väterlicher Berater. Dabei kam ihm, um den rechten Ton zur lernenden Jugend zu finden, ein glückliches Temperament in seiner angeborenen Gemütlichkeit und Liebenswürdigkeit zustatten; reichlich strömte der Born seines goldenen Humors. Er liebte es, den gleichmäßig dahin fließenden Vortrag wie auch die Besprechung durch einen munteren Scherz zu beleben. Wer da weiß, wie dankbar gerade die Jugend ist, wenn die ernste Würde des Lehrers, die dignitas cum gravitate, einmal vorübergehend schwindet und gelegentlich einem fröhlichen Lachen Raum verstattet, der kann leicht ermessen, -wie überaus volkstümlich Gesenius in den Kreisen der Studierenden, ja weit darüber hinaus, werden mußte. Er war aber nicht nur der Urheber, das Subjekt, er war auch das Ziel, das Objekt, in diesem Falle. Wenn seine Scherze bald von Mund zu Mund gingen, so war er auch bald der Mittelpunkt zahlreicher Anekdoten, die den verehrten Mann breitesten Kreisen menschlich näher brachten. Eine Reihe solcher Scherze und Geschichten lebt noch jetzt, fast 100 Jahre nach seinem Tode, in der Musenstadt Halle, wie in der akademischen, besonders in der theologischen, Welt weiter fort. Bekannt z. B. sind die Anekdoten vom Dagesch forte, d. i. von dem Punkte, der in hebräischen Konsonanten die Verdoppelung anzeigt (ein Musensohn will für eine Vorlesung anstatt zweier Friedrichsdors nur einen zahlen und rechtfertigt sich damit,daß er auf den Friedrichsdor ein Dagesch forte gezeichnet habe), und von den 5 Töchtern des Professors, die er selbst daheim, bald aber auch die Studentenschaft draußen, nach den 5 Büchern Mose in der Reihenfolge Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri, Deuteronomium benannte (der Professor beginnt eine neue Vorlesung über die Genesis mit den Worten: „Die Genesis ist viel jünger, als Sie denken“, — ungeheure Heiterkeit im ganzen Auditorium, da die mutwilligen Hörer den Ausspruch auf die älteste Tochter beziehen —; Gesenius merkt die Ursache und lacht mit). Wie sehr sich die Hallesche Studentenschaft gerade seiner Person bemächtigte, zeigt ein Vorfall aus dem Jahre 1831. Die asiatische Cholera war aus Asien über Rußland nach Deutschland vorgedrungen und wütete bereits in Berlin, wo sie den großen Philosophen Hegel auf das Sterbelager streckte. Als sie auch in Halle eindrang, ging Gesenius mit seiner Familie vorübergehend in seine Heimat Nordhausen. Die Studenten, scheinbar erbost über das zuviel gezahlte Honorar, fordern nun sein Bleiben in Halle oder Rückzahlung. Er lehnt beides als untunlich ab. Auf dieses Ereignis bezieht sich ein scherzhaftes Gedicht: „Als Gesenius von Halle nach Nordhausen floh“ (vgl. H. Heine „Heimatbuch für Nordhausen ....“, S. 109). Das Gedicht stellt in seiner ganzen Anlage eine burleske Parodie auf „Hektors Abschied“ von Schiller dar und bringt eine derbe, ergötzliche Probe urwüchsigen deutschen Humors aus jenen Tagen. Wie dort Andro- inache im Wechselgespräche mit Hektor erscheint, so unterhalten sich hier die Studenten mit ihrem Professor. Gegenstand der Unterredung ist seine Abreise nach Nordhausen und ihr Anspruch auf das zuviel gezahlte Vorlesungshonorar. Wir lassen zur Kennzeichnung der launigen Stimmung an dieser Stelle einige Zeilen folgen:

Studenten: „Willst Dich, Doktor, ewig von uns wenden, Weil die Cholera mit gierigen Händen Zum Cocytus starre Opfer schickt? Wer wird künftig Exegese lehren, Hiob lesen, Genesis erklären, Wenn Du mit Manschetten Dich gedrückt?“

Professor: „Teure Freunde, stillt nur Eure Tränen! Nach Nordhausen steht mein feurig Sehnen, Heißt’s doch: Weit davon ist gut vorm Schuß! Nichtansteckend ist sie, Schrein die Spötter! — Ach, nicht Tee, Flanell und Chlor sind Retter, Reißt sie mich hinab zum stygschen Fluß.“

Es folgen dann in gleichem Geiste zwei weitere Strophen. Die letzte Zeile des Gedichts bringt die Versicherung des schon zur Abfahrt Gerüsteten:
„Der Professor stirbt in Halle nicht!“

Solcher Scherze und Schwänke besann sich noch mit dem lebhaften Vergnügen des Augen- und Ohrenzeugen mein Vorgänger im Pfarramt der hiesigen Frauenberger Gemeinde, Pastor Graeger († fast 90jährig im Dezember 1910), und hat mir mehrere erzählt. Er hatte die Vorlesungen unseres Landsmannes in den Jahren 1841 und 42 besucht und war so einer seiner letzten Hörer gewesen.

Tat aber diese Eigenart des Gesenius seiner Achtung Abbruch? Störte sie etwa die Weihe seiner ernsten Wissenschaft, die fast immer im Vorhofe und im Heiligtume der Religion sich bewegt? Wir müssen immerhin zugeben, daß es mit dem munteren Spiele des Witzes in Sachen der Religion ein eigenes Ding ist — der eine lacht, der andere nimmt Anstoß —, wir halten es auch für möglich, ja für sicher, — denn bekanntlich verleitet das Bewußtsein des Humors leicht zu freigebiger Spende des attischen Salzes —, daß er gelegentlich doch das rechte Maß, die goldene Mitte, überschritten habe. Vom Scherz zum Witz, vom Witz zur Satire ist kein weiter Weg. Aber, und das bleibt entscheidend, in den Augen seiner Studenten tat ihm jene witzige, gelegentlich auch burschikose Art keinerlei Schaden. Sie haben ihn verehrt und geliebt, wie selten ein Gelehrter verehrt und geliebt wurde. Es gibt viele Zeugnisse dafür. Wohl mit das schönste, weil noch unmittelbar unter dem frischen Eindrücke seines Todes geschrieben, ist das schon genannte Büchlein „Gesenius. Eine Erinnerung für seine Freunde.“ Den vollgültigen Erweis bringt die unwandelbare Verehrung so vieler tüchtiger Schüler. Sie gedachten alle seiner mit innigstem Danke, die Männer, die, von ihm gelehrt und begeistert für alttestamentliche und orientalische Wissenschaft, hernach selbständig, aber in seinen Bahnen weiterarbeiteten. Wir nennen nur Peter v. Bohlen (in Königsberg, † 1840), Knobel (in Gießen, † 1863), Hoffmann (in Jena, † 1864), Hupfeld (in Halle, † 1866), Tuch (in Leipzig, † 1867), der übrigens gleich Gesenius Schüler unseres Gymnasiums (und zwar unter Krafts Leitung) gewesen ist und als solcher einen begründeten Anspruch auf ehrende Erwähnung bei Gelegenheit des Jubiläums hat, Vatke (in Berlin, † 1882).

Und zu alledem hatte unser Gesenius noch eine Begabung, die nicht allen Gelehrten eignet, nämlich für die Praxis des Lebens und Amtes. Dieselbe durchsichtige Klarheit, die aus seinen Büchern und Vorlesungen und nicht minder aus seinen Briefen uns bekannt ist, zeichnete ihn in dei- Behandlung praktischer Fragen aus, mochten es nun Dinge persönlicher oder beruflicher Art sein. Er hatte einen starken Sinn für Ordnung und stellte solcherart ein schönes Talent in den Dienst der Verwaltung. Eine angenehme Zugabe war die Friedfertigkeit seines Wesens im Verkehr, seine Duldsamkeit gegenüber fremden Meinungen, auch wo er sie, nach seiner rationalistischen Einstellung, nicht teilen konnte. So hatte er die Fähigkeit, Gegensätze auszugleichen, sie wenigstens zu mildern, nach dem alten Grundsätze „fortiter in re, suaviter in modo.“ Man lese nur seine Schriften! Selbstverständlich ist er da oft in der Lage, andere Auffassungen abzulehnen, aber die Polemik ist stets auf einen anständigen, versöhnlichen Ton gestimmt. Den Segen jenes Talentes hat die Universität in mehrfachen schwierigen Fragen wiederholt erfahren, wovon die Verwaltungsakten Zeugnis ablegen.

Und nun im persönlichen, im häuslichen Leben, wie sah es da aus? Auch hier läßt sich viel Gutes sagen. Er lebte in einer glücklichen Ehe, frei von finanziellen Sorgen, die so oft den kühnen Adlerflug des Genius durch die Wucht kleiner, alltäglicher Beschwerden zur Erde niederzwingen; er war seinen Kindern, die ihm in stattlicher Zahl erblühten, ein liebreicher, am Scherz und Ernst ihrer Jugend teilnehmender Vater; er erlebte auch die Freude, daß seine beiden überlebenden Töchter sich mit angesehenen Männern verheirateten, die ältere mit dem Direktor Dr. Peter in Meiningen, die jüngere mit dem Kirchenrat und Professor Dr. Schwarz in Jena. Sein Haus Große Ulrich- Straße 12 (jetzt Große Ulrich-Straße 10; das Haus ist im Jahre 1887 abgebrochen und durch einen Neubau ersetzt) war die Stätte gemütlicher, geistvoller Geselligkeit. Selber ein Freund anregenden Verkehrs, liebte er es, Gäste in seinem Hause zu sehen, und verstand es mit seiner Gattin, ihnen den Aufenthalt in der „Gesepei“ — so wurde sein Heim von den Studenten scherzhafterweise genannt — angenehm zu machen. Unter diesen Gästen waren seine lieben Nordhäuser Landsleute, Verwandte, Freunde, Bekannte bald längere, bald kürzere Zeit des öfteren vertreten. Treue war, wie in der überaus gewissenhaften Ausnutzung seiner Zeit zur Arbeit, so auch im persönlichen Verkehr der Grundton seines Wesens. Diese Treue bewahrte er unserem, seinem, Gymnasium. Als dieses im Jahre 1824 sein 300jähriges Jubiläum feierte, stiftete er ihm seine Werke mit eigenhändiger Widmung, in der er dem Gefühle dankbarer, pietätvoller Gesinnung („pia mente“) Ausdruck verlieh. Dieselbe Anhänglichkeit bewahrte er unserer Stadt, seiner Vaterstadt. Das Nordhäuser Kind hat er nie verleugnet, allem Anscheine nach auch in seiner Sprechweise nicht. Wir haben da einen kleinen, aber interessanten Beweis in den Worten, mit denen er im Jahre 1824 den zum ersten Male in seinem Hause einkehrenden und sich vorstellenden Tholuck begrüßte: „Nu Herr Jes., seien Sie's? Nu da kommen Sie ja noch viel früher, als ich mers dachte!“ (Mitgeteilt in Witte „Das Leben Tholuck’s ...Bd. 1, S. 353). Welcher Nordhäuser erlauschte nicht aus dieser Anrede die wohlbekannten, vertrauten Klänge der heimatlichen Mundart! Teils allein, teils mit seiner Familie hat er wiederholt bald kürzere, bald längere Zeit in den Mauern unserer Stadt geweilt, mit der ihn so viele teure Erinnerungen und wertvolle Beziehungen verknüpften. Mit namhaften hiesigen Familien war er verwandt Familie seines Schwagers, des späteren Kreisjustizrats Saalfeld († 1849), und die noch jetzt hier blühende Familie Mylius. In den noch vorhandenen Briefschaften der letzteren aus den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, die mir samt einer vortrefflich geratenen, gut erhaltenen Silhouette unseres Gelehrten durch die Güte der Frl. Mylius zur Verfügung gestellt wurden, geschieht seiner vielfach Erwähnung, zumeist durch seinen alten Freund, den 1829 verstorbenen ehemaligen reichsstädtischen Senator Friedrich Mylius. Wir vernehmen da im Plauderton des Briefschreibers mancherlei ganz interessante Dinge und lernen so manchen Zug aus dem Charakter unseres Landsmanns in unmittelbarer Frische kennen. Wir hören, wie der Dr. — so wird er durchweg genannt — die studierenden Söhne der Myliusschen Familie, insbesondere Fritz (seit 1825 Pastor in Jeetze) und Günther († 1883 als Kreisgerichtsrat i. R.) in ihren Studien usw. berät, wie er bei der Geburt seines 6. Kindes den Senator M. zum Gevatter bittet, wir hören von kleinen Erholungsfahrten und Ferienreisen, z. B. nach Naumburg, und von seinen beiden großen Reisen ins Ausland, über die er dann im Nordhäuser Freundeskreise fesselnd erzählt, selber ganz begeistert von der Aufnahme, die er in England gefunden hatte, und von den Eindrücken, die er dort empfangen hatte; wir erfahren hinsichtlich seines äußeren Befindens in einem Briefe aus dem Jahre 1823: „Er befindet sich sehr wohl; er ist gesund und stark,“ und, was uns fast wunder nehmen wird: „Er reitet wie (ein) Husar und gelernter Reiter.“ Wir lauschen auch mit Spannung der Nachricht (Brief vom 27. April 1822), daß der schwerkranke Goethe unsern Gesenius durchaus habe sprechen wollen und ihn daher zu sich nach Weimar gebeten habe. Welch eine Unterhaltung mag sich da zwischen dem Dichterfürsten, dessen Interesse und Verständnis für das Alte Testament über jedem Zweifel steht, und dem Gelehrten abgespielt haben! Wir möchten diesen Abschnitt schließen mit den kurzen, aber vielsagenden Charakteristiken, die sich in diesen Briefen finden. Fritz M. (der spätere Pastor) sagt: „Er (G.) sieht nur auf den inneren Wert des Menschen.“ Der Senator Friedrich M. aber rühmt seine aufgeklärte Denkungsart und nennt ihn einen „herzlichen guten Mann.“ Wer denkt da nicht, angesichts solcher Neigung und Liebe zur Vaterstadt, an das Dichterwort:

„Der ist in tiefster Seele treu,
Wer die Heimat liebt wie du!“

Ueberblicken wir an dieser Stelle noch einmal das Leben des Mannes, so dürfen wir wohl ohne Uebertreibung sagen: Er war ein gesegnetes Menschenkind; die gütige Vorsehung hatte ihm in Amt und Haus, in Beruf und Familie die schönsten Gaben in seltener Fülle gespendet. Er hat seines glücklichen Familienlebens sich immer gefreut, aber daneben, als Gelehrter auf weithin ragender Höhe stehend, hat er auch die Ehrungen dankbar genossen, die ihm von den verschiedensten Seiten zu teil wurden. Zahlreiche gelehrte Vereinigungen und Akademien des In- und des Auslandes wetteiferten, durch Ernennung zum Ehrenmitgliede ihn in ihre Reihen aufzunehmen und dadurch sich selber zu ehren. Als er sein 50. Lebensjahr vollendete, überraschte ihn seine Vaterstadt durch die Ueberreichung des Ehrenbürgerbriefes. Diese Ehrungen folgten auch dem Heimgegangenen nach. In Nordhausen fand am 3. Februar 188G eine stimmungsvolle Erinnerungsfeier des Gymnasiums aus Anlaß seines 100. Geburtstages statt. Im geschlossenen Zuge, nachdem die Schulfeier vorüber war, bewegten sich die Reihen der Schüler zum Geburtshause, Balt zer-Straße 20, und umkränzten die dort angebrachte Erinnerungstafel. In Nordhausen wie in Halle führt eine Straße seinen Namen. In der Aula der Halleschen Universität, neben unserem Landsmann Wolf und anderen Leuchten Hallescher Wissenschaft, prangt seine Marmorbüste.

Und doch hat auch der Reichbegnadete den Kummer des Lebens kosten müssen, denn die göttliche Vorsehung liebt es nicht, das Füllhorn ungetrübter Freude über den Erdenpilger auszugießen. Bitteres Leid erlebte er durch den frühen Heimgang mehrerer Kinder. Herben Schmerz erfuhr er durch Anfeindungen, die nicht minder gegen seine wissenschaftliche Arbeit als gegen seine Person sich richteten. Heinrich Ewald (seit 1824 Repetent in Göttingen, hernach Professor ebenda, † 1875), Verfasser namhafter Werke aus dem Gebiete der biblischen, besonders der alttestamentlichen, Wissenschaft, aber auch der hebräisch-semitischen Philologie, hat ihn wiederholt zum Ziele scharfer Angriffe gemacht, seine Leistungen herabgesetzt und dadurch noch seine letzten Lebenswochen getrübt. Diese bedauerliche Tatsache kann doch den nicht weiter befremden, der den hochbedeutenden, aber über alles erlaubte Maß selbstbewußten Göttinger Gelehrten aus den Vorreden seiner zahlreichen Schriften oder aus seinem alljährlich erscheinenden ,,Jahrbuche der theologischen Wissenschaft“ kennen gelernt hat. Hier steht soviel jedenfalls endgültig fest, daß Ewald seinem sonst wohlverdienten Ruhmeskranze durch die in der Sache grundlosen, in der Form gehässigen Anfeindungen keinen neuen Lorbeer eingefügt hat. Schwerer vielleicht noch wogen die Verdächtigungen, die Gesenius wegen seiner religiösen Richtung erlebte. In der „Evangl. Kirchenztg.“ erschien im Jahre 1830 ein anonymer Artikel, der sich gegen den Halleschen Rationalismus und gegen Gesenius und Wegscheider als seine Bannerträger wandte. So entbrannte jener berüchtigte Universitätsstreit, der für und wider aufs lebhafteste mit scharfen Waffen geführt wurde. Was man beiden Professoren zum Vorwurf machte, war nicht mehr und nicht weniger als die Zerstörung der Religion, Verführung der akademischen Jugend zum Unglauben. Unserem Gesenius wurde außerdem noch unwürdiger Ton in seinen Vorträgen und exegetischen Hebungen, frivole Behandlung der heiligen Schrift vorgehalten. Zur Begründung dieser Verdächtigungen mußten u. a. auch Kolleghefte aus seinen Vorlesungen herhalten. Das Körnchen Wahrheit, das diesen Anklagen gegen ihn zu Grunde lag, können wir wohl in seiner schon erwähnten Neigung zu Scherz, Satire und Anekdote erblicken, unter deren Nachwirkung wohl manchmal das Auditorium widerhallte. Kein Zweifel, die Angreifer gingen aufs ganze und legten es auf die Entfernung jener beiden aus ihren Aemtern an. Die aus dem Hinterhalt Angegriffenen wehrten sich ihrer Haut. Die Studenten nahmen überwiegend für sie Partei und betätigten das in oft lärmenden Kundgebungen. Aber auch die Vertreter der Wissenschaft traten auf den Plan, um die bedrohte Lehrfreiheit zu schützen, darunter Männer von durchaus anders gearteter und dem Rationalismus abholder Geistesrichtung, z. B. Neander, der fromme, tiefgründige Kirchenhistoriker der Berliner Universität, seinerzeit einer der ersten Hörer des jungen Dozenten in Göttingen († 1850). Gesenius aber eilte nach Berlin, um in Wegscheiders und in seinem eigenen Namen den Schutz des Kultusministers Freiherrn v. Altenstein anzurufen. Der Minister, dessen eingehende, seine Auffassung deutlich spiegelnde Darlegung der ganzen unliebsamen Angelegenheit in seiner unmittelbar an den König gerichteten, auch jetzt noch hochinteressanten, lesenswerten Eingabe „Einige Betrachtungen über den Zustand der evangelischen Kirche...........“ (abgedruckt S. 403—415 in der Luthardtschen „Zeitschrift für kirchl. Wissenschaft und kirchliches Leben“, Jahrgang 1888) wohl als ein Meisterwerk bezeichnet werden kann, stand mit dem Herzen ganz gewiß ebenso auf Seite der Halleschen Professoren, wie Friedrich Wilhelm III. selber gegen den Halleschen Rationalismus, vornehmlich aber gegen Gesenius, eingenommen war. Der unerquickliche Fall wurde endlich abgetan durch den kurz darauf erfolgenden Bescheid Altensteins, „daß kein Grund vorhanden sei, gegen die denunzierten Professoren einzuschreiten, und daß der König, ohne auf die Verschiedenheit dogmatischer Systeme in der Theologie einwirken zu wollen, von allen Lehrern derselben auch ferner eine würdige Behandlung des Gegenstandes erwarte.“ Wir gehen wohl nicht fehl in der Annahme, daß einerseits die Niederschlagung der Sache das Verdienst des Ministers sei, daß andererseits aber der angezogene Schlußsatz („würdige Behandlung“!) die andauernde unverhohlene Abneigung des Monarchen als des Summus episcopus gegen die Beschuldigten zum Ausdruck bringe. Diese Abneigung galt in erster Linie dem Gesenius; zum Erweise sei an diesei’ Stelle der Nachsatz der Kabinettsorder vom 23. September 1830 wiedergegeben. Er lautet, mit deutlicher Beziehung auf den 1827 ergangenen Ruf nach Göttingen (zur Nachfolge in der durch Eichhorns Tod erledigten Professur): „Es bleibt unverantwortlich, wie man den Einen dieser vorbenannten Männer, dem vor einigen Jahren ein Ruf nach Göttingen zu teil ward, durch Gehaltserhöhung zum Bleiben vermocht hat.“ Der Dank, den daraufhin Gesenius in seinem und seines Freundes Namen dem Minister am 26. Dezember 1830 durch besonderes Schreiben aussprach, war also wohlverdient. Für die glimpfliche Behandlung der heiklen Angelegenheit hatte wohl auch die ganze damalige politische Lage insofern eine nicht geringe Bedeutung, als durch die Julirevolution in Frankreich (1830) und den gleichzeitigen polnischen Aufstand das Hauptinteresse Friedrich Wilhelms den politischen Sorgen sich zuwenden mußte.

Ob er überhaupt in Regierungskreisen sehr angesehen war? Fast möchte man es bezweifeln, wenn man bedenkt, daß ihm das Prorektorat der Universität, das er im Jahre 1823 bekleidete, noch vor Ablauf seines Amtsjahres entzogen wurde, weil er durch sein energisches Eintreten für einen „wegen des Verdachtes demagogischer Umtriebe verhafteten Studenten“ sich mißliebig gemacht hatte. Und bemerkenswert für die Stimmung jener Kreise bleibt doch auch die Tatsache, daß er, trotz seiner hohen Verdienste um die Wissenschaft, abgesehen von der schon erwähnten Ernennung zum Konsistorialrat, mit keiner weiteren Auszeichnung jemals regierungsseitig bedacht wurde. Den Patriotismus aber sollte niemand ihm absprechen, der nach der am 30. November 1813 in festlicher Weise erfolgten Wiedereröffnung der Universität seine Vorlesung über Jesaja mit dem 12. Verse des 14. Kapitels wieder aufnahm:

„Ach! wie bist du vom Himmel gefallen, Glanzstern, Sohn der Morgenröte, zu Boden geschmettert, der du die Völker niederstrecktest!“

und mit dieser, dort auf den König von Babel gemünzten Dro- lung ungeheure Begeisterung in den Herzen seiner Hörer entzündete, die ganz nach der Absicht ihres Lehrers, noch unter dem frischen Eindrücke der Leipziger Schlacht, jenes weissagende Wort auf den korsischen Eroberer beziehen mußten. Und die Religion sollte niemand ihm aberkennen, der sein hebräisch-lateinisches Wörterbuch hinausschickte mit dem frommen Wunsche: „Faxit autem Deus 0. M., ut hic quique stu- diorum, in quibus per quinque fere lustra habitavimus, fructus in litterarum sacrarum et ecclesiae christianae commodum cedat!“

Er hat schließlich auch der Gebrechlichkeit alles Irdischen seinen Zoll in wiederholten, zum Teil schweren Erkrankungen entrichtet. Schon in den Myliusschen Briefen lesen wir mehrfach davon. Von Haus aus mit einer kernigen Natur ausgestattet, deren starke, Leib und Geist durchdringende Kraft in seiner kleinen, gedrungenen Gestalt, nicht minder aber auch in seinem klaren Auge und in der hohen Stirn deutlich zum Ausdruck kam, nahm er doch zu wenig Rücksicht auf seine Gesundheit. Er war ein Heros der Arbeit wie wenige, aber die gewaltige Arbeitslast, die nur der Genius im Bunde mit eiserner Willensmacht und nie ermattender Schaffensfreude auf sich nehmen konnte, und sein beispielloser Fleiß mußten mit der Zeit auch seinen starken Körper zermürben. Im Unterschiede von seinem Kollegen Tholuck, den man fast täglich zur gewohnten Zeit um die Saalestadt wandern sah, ging er fast nie spazieren. Er gönnte sich diese Muße nicht. Selbst seine größeren, in der Hauptsache allerdings zu wissenschaftlichen Zwecken unternommenen Reisen brachten ihm unter diesen Umständen keine wirkliche Entspannung, da er sie zu sehr mit dem Besuche fremder Bibliotheken und mit gelehrten Forschungen belud. Er gehörte eben zu jenen seltenen gottbegnadeten Naturen, denen die Arbeit selber, das Bewußtsein des Fortschritts in der Arbeit, alle gewünschte Erfrischung und Erholung bedeutet. Die Krankheit, der er zuletzt erliegen sollte, war ein Magenleiden, das, mit seinen ersten Spuren ins Jahr 1836 zurückreichend, scheinbar mehrfach geheilt, doch immer wiederkehrte, bis es ihn am 11. September 1842 dauernd auf das Krankenlager bettete. Er schloß seine Augen am Sonntage, den 23. Oktober desselben Jahres. Ueber die näheren Umstände seines Todes gibt die schon erwähnte Schrift „Gesenius . . .“ (S. 26) eine Auskunft, die uns zeigt, wie er auch im Sterben die Eigenart seines Lebens bewahrte: „Noch in der letzten Krankheit hat er jeden Augenblick, in dem er sich wohler fühlte, am Arbeitstisch zugebracht, oft so lange, bis ihm der kalte Schweiß vor der Stirne stand. Wenige Tage vor dem Tode hat er sein Bett in seine Bibliothek tragen lassen: unter seinen Büchern ist er gestorben.“

Die Wehmut, die sein Tod auslöste, war allgemein. Nicht nur seine Angehörigen und näheren Freunde, — auch die akademische Jugend, die theologische Fakultät, die Universität trauerten um ihn. Weit hinaus über das Weichbild seines langjährigen engeren Wirkungskreises reichte die Anteilnahme des In- und des Auslandes. Das glänzende Leichenbegängnis, das am Mittwoch, den 26. Oktober, von der Universität aus zum Gottesacker erfolgte, gestaltete sich noch einmal zu einer ergreifenden Huldigung für den nun Verewigten. Studierende, wie er selbst es gewünscht hatte, darunter mein schon erwähnter Vorgänger Pastor Graeger, trugen ihn zu Grabe. Dort weihte ihm sein langjähriger Freund und Kollege Professor Marks den letzten ehrenden Nachruf. Auch Tholuck, sein großer theologischer Gegner, mit dem er so manches Mal die Klinge gekreuzt hatte, gedachte des Entschlafenen in würdigster Weise, als er mit dem sonntäglichen Gottesdienste am 13. November die Reihe der akademischen Andachten für das neue Winterhalbjahr eröffnete.

Er starb, noch nicht 57 Jahre alt, menschlich geredet zu früh, aber alt genug, um ein unvergängliches Gedächtnis zu hinterlassen. Wie schade, daß er keinen Biographen großen Stils gefunden hat, der sein Leben und Wirken beschrieben hätte, etwa in der Weise, wie Arnoldt und Körte es mit unserem Nordhäuser Wolf, wie Witte es mit Tholuck, wie dankbare Söhne es mit Jakobi und Cremer getan haben! Es lag ja zum Teil in der Entwicklung der zeitlichen und geistigen Strömungen begründet. Denn so allgemeiner Gunst auch unser Gesenius zu Lebzeiten sich erfreute, so läßt sich doch die Tatsache nicht verkennen, daß die Zeit des Rationalismus abgelaufen war, als jener vom Felde seiner Mühen und Erfolge schied. Mir selber kam, während ich an der Hand der nicht eben reichlich fließenden Quellen diese Skizze niederschrieb und den immer verehrten Landsmann noch lieber gewinnen lernte, zeitweilig der Gedanke, seinem Andenken eine größere Studie zu widmen. Ob es aber dazu kommen wird, will mir fraglich scheinen, denn: „Ehen fugaces, Postume, Postume, labuntur anni.“

Aber am Ende bedarf er dessen auch gar nicht, denn er lebt weiter in der Erinnerung, ein guter Mensch, der, bei all der Unvollkommenheit, die auch ihm, wie allem Irdisch-Vergänglichen eignete, doch allzeit seinem Grundsätze treu blieb (Brief Pauli an die Epheser 4,15), ein liebenswürdiger und liebenswerter Mann, ein Unsterblicher in der Geschichte, ein strahlender, nie verlöschender Stern am Sternenhimmel der Wissenschaft.

„Denn wer den Besten seiner Zeit genug getan, Der hat gelebt für alle Zeiten.“

Und er hat genug getan in einem Leben, das test- und rastlos hohen Idealen zugekehrt war, in einem Leben, von dem das schöne Wort des frommen Sängers im 90. Psalm gilt: „Wenn unser Leben köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.“ Mag seine theologische Richtung nunmehr der Vergangenheit angehören, mag manches, mag vieles in seinen Werken nunmehr veraltet scheinen, — das ist mm einmal das Los alles Forschens, durch Selbstentwicklung sich selbst auf den vorangegangenen Stufen zu überholen — er bleibt groß genug für gerechte Würdigung und dankbare Anerkennung. Die Schlakken fallen wohl, aber das Gold muß bleiben. Die Spuren seines Wirkens gehen weiter und werden ihre Kreise noch lange ziehen.

Darum Ehre unserem Vaterlande, das dieses tüchtigen Deutschen sich rühmen, und Ehre unserer Wissenschaft, die in ihm einen ihrer glänzendsten Meister preisen darf, Ehre aber auch unserer Vaterstadt Nordhausen, die ihn neben Justus Jonas, Fr. A. Wolf und so vielen anderen wackeren Männern aus alter und neuer Zeit unter ihre edelsten Söhne rechnen, und Ehre unserem Gymnasium Nordhusanum, das ihn allzeit mit berechtigtem Stolze zu seinen größten Schülern zählen wird!