Soziale und kulturelle Strömungen zu Nordhausen im Ausgang des Mittelalters

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Textdaten
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Autor: Hans Silberborth
Titel: Soziale und kulturelle Strömungen zu Nordhausen im Ausgang des Mittelalters
Untertitel:
aus: Geschichte der freien Reichsstadt Nordhausen
Herausgeber: Magistrat
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1927
Verlag: Magistrat der Stadt Nordhausen
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Erscheinungsort:
Quelle: Scan
Kurzbeschreibung: Abschnitt 3,
Kapitel 8
Digitalisat:
Eintrag in der GND: [1]
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Kapitel 8.
Soziale und kulturelle Strömungen
zu Nordhausen im Ausgang des Mittelalters.


Schon in politischer und mehr noch in wirtschaftlicher Beziehung hatten wir im 15. Jahrhundert einen anderen Hauch verspürt als im 13. und 14. Jahrhundert. Der Eindruck davon verstärkt sich noch bei der Betrachtung der gesellschaftlichen Zustände des ausgehenden Mittelalters. Obgleich noch immer und für Jahrhunderte noch große Teile der Bevölkerung mindestens nebenbei Acker- und Gartenbau trieben, Hopfen- und Weinpflanzungen bestellten, ja, die Viehhaltung sogar außerordentlich stark entwickelt war, ging doch ein anderer landfremder, kleinbürgerlicher Atem durch die Stadt. Die Weber-, die Töpfer-, die Bäcker-, die Schuster-, die Krämergasse und ihr Leben beherrschten das Stadtbild. Den Hintergrund dieses Bildes füllt ehrliches Streben, Tages Last und Mühe, Wohlanständigkeit und Genügsamkeit aus.

Freilich, nicht völlig im hellen Grau des behäbigen Alltags gehalten darf man sich die Wand des Bildes denken. Mancherlei Farbenspiele zucken doch auf. Da bricht wohl auch einmal die Spätsommersonne hindurch und beleuchtet das üppige Treiben eines derben, arbeitsschwieligen, gesunden Geschlechts bei tüchtigem Trunk und Gelag; oder aber da zeigt sich die Natur seltsam verzerrt und verbildet, und grelle Blitze beleuchten ihre unerforschlichen Abgründe; die verborgensten Tiefen der menschlichen Seele tun sich auf und zeigen, daß selbst dem scheinbar derbsten und phantasielosesten Leben von irgendeinem Ahnen her die Züge krankhafter Hysterie nicht fehlen. –

Nordhausen mag im 15. Jahrhundert eine Stadt von 5000 bis 5500 Einwohnern gewesen sein; im 16. Jahrhundert zählte die Stadt in der Altstadt 614, in den Vorstädten 588, zusammen 1202 Bürger, so daß man für damals, den Hausstand zu je 5 bis 6 Personen gerechnet, auf 6000 bis 7000 Seelen kommt. Die Stadt war wenig kleiner als die Schwesterstadt Mühlhausen; der Stadt Erfurt dagegen muß man zu Beginn des 15. Jahrhunderts als einer der größten und wohlhabendsten deutschen Städte mehr als die dreifache Bevölkerungszahl zusprechen. Nur wenige deutsche Gemeinwesen wie Frankfurt, Köln oder Nürnberg hatten noch mehr Bewohner; Dresden war mit 5000 Einwohnern eine kleinere Stadt als Nordhausen. Im 16. Jahrhundert verschob sich allerdings das Bild; süddeutsche Städte, wie Augsburg mit 60000 Einwohnern, kamen durch ihre italienischen und überseeischen Verbindungen gewaltig voran, Erfurt ging langsam zurück, und andere Städte lösten es ab: Leipzig beherbergte im 16. Jahrhundert schon 15000 Menschen, Magdeburg beinah doppelt so viel.

War im 13. und noch zu Beginn des 14. Jahrhunderts der Zuzug an Fremden nach Nordhausen hinein kaum geregelt und der Erwerb des Bürgerrechtes gegen Hinterlegung der festgelegten Gebühren ohne weiteres zu erlangen, so hatte man im 15. Jahrhundert aus den Erfahrungen heraus genaue Richtlinien dafür aufgestellt. Hörige Bauern wurden nicht mehr aufgenommen, da die Stadt mehrfach um entlaufener Bauern willen mit adligen Herren in Konflikt geraten sein mag. Um ferner der Stadt Weiterungen zu ersparen, wurde jeder erst dann als Bürger angenommen, wenn es ihm gelungen war, jede Fehde, in die er verwickelt war, beizulegen. Kinder, die geboren waren, ehe ihre Eltern das Bürgerrecht erworben hatten, mußten nachträglich das Bürgerrecht erwerben. Der Bürgerbrief war also eine Urkunde, die etwas zu bedeuten hatte, Rechte verlieh, Pflichten auferlegte, und der Besitzer des Bürgerrechts fühlte sich stolz als Vollbürger des Gemeinwesens.

Deutschland war im Zeichen der Geldwirtschaft im Laufe des 15. Jahrhunderts sehr viel bürgerlicher geworden, als es vordem war. Jede politische Macht mußte nunmehr mit den Städten rechnen; auf dem Reichstage zu Frankfurt vom Jahre 1489, zu dem „alle und jegliche“ Reichs- und Freistädte entboten waren, traten sie endlich zum ersten Male neben den Kurfürsten und Fürsten als dritte Kurie auf und behielten seitdem auf den Reichstagen Sitz und Stimme. Der Bürger, der schon im 14. Jahrhundert etwas bedeutete und sich selbstbewußt als solcher fühlte, hatte sich nun ganz vom Adel und Bauern losgelöst und fühlte sich nur noch als Angehöriger seines Gemeinwesens. Während im Nordhausen des 14. Jahrhunderts noch die meisten Bürger, die sich nach dem Geburtsorte ihres Geschlechts nannten, zwischen Vornamen und Ortsnamen das „von“ führten und damit zum Ausdruck brachten, daß der alte Zusammenhang mit dem Ursprung noch nicht völlig gerissen, nahmen sie im Laufe des 15. Jahrhunderts den Ort nach und nach als einfachen Namen an. Statt der Heinrich von Erfurt, Konrad von Wolkramshausen, Berthold von Weither, Hermann von Stolberg, Kunigunde von Ellrich erscheinen die Christian Ildehausen, Heinrich Schade - aus der Wüstung Schate - , Clawes Rebbening - Röblingen - , Heinrich Weither, Heinrich Urbach. Von 28 Ratsherrn führten 1401 nur noch 7 das „von“, 1421 von 27 nur noch 2, 1484 von 25 kein einziger mehr. Dagegen traten die Bürger, in deren Gedächtnis die Heimat überhaupt nicht mehr lebte und die sich nach ihrem Beruf, nach irgend einer Eigenschaft nannten, oder die ihren Vornamen als Hauptnamen angenommen hatten, immer mehr hervor. Immer häufiger erschienen die Bäcker, die Schuster, die Müller, die Köche, die Krämer, die Münzer, die Färber, die Kürschner oder Kirschner, die Schreiber, die Wagner; die Reiche, die Kahle, die Weiße, die Starke, die Grimme, die Lange, die Strohmann; die Egge oder Ecke, die Schraube, die Stapfe; die Walter, die Simon, die Heyse, die Paul, die Mathys, die Thilmann, die Gottschalks, die Gebhardts, die Lamperts oder Lamprechts, die Hartmanns und viele a.m.[1]

Daher kam es auch, daß die ständischen Unterschiede innerhalb der Stadt im Gegensatz zum 14. Jahrhundert so gut wie ganz fehlten. Nur die aus der Gesellschaft Ausgestoßenen, die Angehörigen unehrlicher Gewerbe und wenige geringe Leute in völliger Armut und untergeordneter Stellung sah man über die Achsel an. Statt des früheren Standesbewußtseins einte jetzt alle das Bürgerbewußtsein; an die Stelle des Stolzes des einzelnen war der Stolz der Zugehörigkeit zu einer Stadt getreten. Im 13. und 14. Jahrhundert vertraute der einzelne auf sich selbst, im 15. Jahrhundert war er untergetaucht in der Masse und traute seiner Kraft nur noch als Angehöriger seines Gemeinwesens. Dem 14. Jahrhundert lebte die Sicherheit in der eigenen Brust, dem 15. Jahrhundert war sie gegeben durch Mauerring und Brustwehr. Stolz war der Bewohner Nordhausens nicht mehr aus seiner Kraft heraus, sondern als Nordhäuser. Stolz war er deshalb auch nicht mehr auf seine persönliche Freiheit, sondern auf die Freiheit seiner Stadt. In der Rolandsfigur schuf er sich das Sinnbild seiner städtischen Hoheitsrechte.

Sicher waren schon sehr früh als äußere Zeichen des Marktfriedens der Stadt Gerichtszeichen auf dem Markte oder in seiner Nähe angebracht. Säulen, Gottesbilder, Kreuze als Zeichen dafür, daß der Markt unter Gottes Hut steht, oder Adler, Löwen, Lanzenträger dafür, daß der Markt den Schutz der höchsten weltlichen Macht genießt, sind vielleicht so alt wie die Märkte selbst; vielleicht z. B. war der Aar, der später als Symbol für die Einigung der Neustadt mit der Altstadt angesehen wurde, ursprünglich das Hoheitszeichen für die Neustadt und stand vor dem Neustädter Rathaus. Doch wirkliche Rolandsbilder, die holz- oder steingehauenen Statuen eines Gewappneten zu Roß oder zu Fuß, gibt es erst aus dem Beginn des 15. Jahrhundert. 1405 erfahren wir zum ersten Male von dem Roland zu Bremen, kurz darauf hatte auch Nordhausen seinen Roland; 1411 wird er zum ersten Male für Nordhausen erwähnt. Er war auch für Nordhausen das Sinnbild der Reichsfreiheit und Gerichtshoheit und wurde deshalb hoch in Ehren gehalten. Vor seiner Statue am Rathause wurden im 15. Jahrhundert die Fehdeankündigungen verlesen; an seinem Schilde ließ der Rat seine Erlasse anschlagen. Um die Frage aber, warum gerade der Held aus der karolingischen Zeit als Hoheitszeichen diente, geht noch immer der Streit. Uns will es am einfachsten erscheinen, man nimmt den Roland als den, der er wirklich ist, als den Paladin Karls des Großen. Von den vielen Großen und Gewaltigen, die über die Erde gefahren sind, bleiben ja nur ganz wenige im Gedächtnis des Volkes leben. Zu ihnen gehört der große Karl, der überall ordnend eingriff und die Gerechtigkeit schützte, - wenigstens im Glauben des Volkes ist es so, wie die hübsche Sage von der bei Karl rechtsuchenden Schlange zu Aachen beweist. Ihn und seine Helfer nahm man also als Gründer des Friedens und des Rechtes an. Von diesen seinen Mannen wiederum lebte im Volksmund und Lied nur noch die sagenhafte Gestalt Rolands. So ward Roland der Hort des Rechts. Wo man fürchtete, daß irgendeine Macht altverbriefte Freiheiten antasten könne, wo man auf uralte Rechte hinweisen wollte, stellte man deshalb ein Rolandsbild auf.[2]

Nun konnte es freilich nicht genügen, auf den Roland hinzuweisen und durch die Gebärde allein Recht und Freiheit zu erlangen. Zu allen Zeiten ist es so gewesen, daß das Recht gänzlich abhängig ist von der Macht. Ganz besonders herrschte in den friedlosen Zeiten des 15. Jahrhunderts nur dort das Recht, wo die Macht es schützte. Deshalb vertrauten auch die Nordhäuser nicht allein ihrem Roland, sondern mehr noch ihren guten Mauern und Wällen.

Es ist ja schon oben gezeigt, daß diese gerade im 15. Jahrhundert und besonders zwischen 1450 und 1480 so geworden sind, wie wir noch heute sie in ihren Resten sehen.[3] Die Befestigungsanlagen besaßen, wie Karl Meyer errechnet hat, 4 große Tore mit 8 Tortürmen, nämlich das Barfüßertor, das Töpfertor, das Rautentor und das Neuewegtor, 2 Pforten, die Kuttelpforte und die Wasserpforte, 25 halbrunde und 4 eckige Türme an der inneren Hauptmauer und davor noch 10 besonders starke Bollwerke, zusammen 49 Türme, welche Mauern und Wälle überragten. Besonders dem vom Süden sich der Stadt Nähernden muß sich allein schon durch diese Zinnen und Türme ein ansehnliches, lustiges und trutziges Bild geboten haben.

Bollwerke und Türme hatten eine ständige Besatzung von einem oder mehreren Mann. Neben den älteren Wippen und Standarmbrüsten waren sie ferner mit allen Arten von Büchsen, Steinbüchsen, Hakenbüchsen, Handbüchsen, ausgestattet. Lunten, Pulver, Geschosse, Steinkugeln und eherne Kugeln, Pfeile und Bolzen, doch auch Leitern, Eimer und andere Geräte wurden zur Verteidigung der Stadt ständig auf ihnen bereitgehalten.

Die größten Belagerungs- und Verteidigungsgeschütze waren in der älteren Zeit im „Blidenhofe“ auf dem Petersberge untergebracht. Hier standen die Sturmböcke und Widder zur Erschütterung der feindlichen Befestigungen, die Standarmbrüste zum Schießen großer Bolzen, die Säulen zum Pfeilschießen und vor allem die schwersten Geschütze, die Bliden und Mangen, welche die Feinde mit schweren Steinen, Balken, glühendgemachten Eisenstücken und ähnlichen nützlichen Gegenständen beglückten. Im 15. Jahrhundert bewahrte der Rat an einer ganzen Anzahl von Stellen in der Stadt und den Vorstädten Pulver und Geschosse auf. Das Hauptzeughaus war damals das alte Georgshospital am Kornmarkte. Hier standen 1484 16 grobe Geschütze, 1514 waren es 18, später 21. Von den Feldschlangen, die Nordhausen in dieser Zeit besaß, mögen nur zwei Erwähnungen finden: die ältere war der Schnellundebaldedavon, die im Jahre 1458 gegossen ward und einen künstlerisch ausgeschmückten Lauf besaß. Am vorderen Teil des Laufes standen die Verse:

Der Adelarn hat mich darczu erkom,
Das ich thu den finden zorn.
Rulande unde dem Riehe bin ich wol bekant.
Mich goss Curd solling med siner hant.

Darunter war der Büffelhomhelm des Stadtwappens und die Jahreszahl 1458 angebracht. Über dem Zündloch aber las man als Namen und Zweck der Kanone:

Ich heise snel unde balde dervon,
Northusen wil ich den pris beholden.

Das zweite und bedeutendste Geschütz aber war der von Andreas Pegnitzer, also wahrscheinlich einem Süddeutschen, 1519 gegossene Lindwurm. Es muß ein sehr schönes Stück Nürnberger Erzgießerei gewesen sein. An seinem Mündungsstück war, erhaben gegossen, ein Kindlein angebracht; auf dem Zapfenstück zeigte sich ein geflügelter Lindwurm, der von reichem Laubwerk und Delphinen umgeben war. Das erhabene Laubwerk wurde zu beiden Seiten von je ’einem sitzenden nackten Mägdlein gehalten. Auf dem Bodenstück war der einfache Stadtadler angebracht, und darüber standen die Worte:

Lindwurm bin ich genant,
der Stadt (n)Orthausen bin ich wol bekannt.

Am 3. Mai 1760, im Siebenjährigen Kriege, wurde der Lindwurm samt anderen Geschützen von den Preußen als gute Beute nach Magdeburg geführt und ward nicht mehr gesehen - trotz späteren eifrigen Nachforschens; vielleicht ist er schon in der Notzeit des Krieges oder kurz danach eingeschmolzen worden.[4]

Neben dem Georgshospital für die Feldschlangen und schweren Stücke diente das „Pfeilhaus“ im Rathause als Aufbewahrungsort für Geschütz und Geschoß. Leichte Karrenbüchsen, d. h. Feuerwaffen, die auf eine Karre gelegt und von einem Pferde gezogen wurden, und Hakenbüchsen, d. h. Handfeuerrohre, die wegen ihrer Schwere auf Gabeln gelegt werden mußten, standen hier bereit. Vor allem lag hier die Munition. 1484 zählte man an Vorrat: 32 neue und 13 alte Mauerspannbüchsen, 6 Richtschwerter, 15 Spieße, 1 Winde zu einer Armbrust, 13 Tonnen und ungefähr 30 Kisten voll Pfeile und Bolzen; - nur gut, daß sie dort größtenteils unbenutzt liegen blieben oder, benutzt, selten Schaden anrichteten! Unter der Kämmerei lagen noch Blei, gestoßener Schwefel, Kohle, 192 Hakenbüchsen und andere Waffen.

Nach den Statuten von 1350 durften die Waffen und Geschütze, die damals also noch im Blidenhause aufbewahrt wurden, nicht verliehen werden. Die Gesetze von 1470 milderten diese Bestimmung, indem sie hinzufügten: „ez enwere dan, ... daz der stat davon merclich nutz undefrome kome unde entstehin mochte.“

Die Beaufsichtigung aller dieser unschätzbaren und menschenfreundlichen Gerätschaften war einigen Ratsherrn, den Pfeilmeistem, anvertraut.

Ihre Handhabung aber lag dem Bürgeraufgebot und den angeworbenen Söldnern ob. Als Rückgrat für Verteidigung und Angriff warb die Stadt ja schon früh Söldner an, die der Stadthauptmann, ein kriegskundiger auswärtiger Adliger, befehligte. Schon die alten Statuten vom Jahre 1308 erwähnen die Söldner, stellen für sie Gesetze auf und bestimmen, daß jeder seine eigenen Waffen haben müsse, die ihm nur ersetzt wurden, wenn er sie im Dienste der Stadt eingebüßt hatte. Gefangene Söldner löste die Stadt aus, doch durfte das Lösegeld einen bestimmten Satz, einen Jahressold, nicht überschreiten. Die Stadtsoldaten schwuren bei ihrem Dienstantritt der Stadt folgenden Eid: daz wir den borgern zu Northusen getruweclichen dinen und der stat schaden warne unde bewaren wollwn und den vynden daz leydeste tun, daz wir mögen, und daz nicht lazen dorch lieb noch dorch leit: daz swe ren wir, daz uns got so helfe un die heilien.

Doch Roß und Reisige allein schützen einen Staat nur schlecht. Für die Verteidigung der Stadt mußte jeder waffenfähige Bürger antreten, mit eigenen Waffen. Die Bürger waren in Rotten, denen die Kirchspieleinteilung zu Grunde lag, zusammengefaßt, und da eine ganze Reihe Gewerbe zusammen in bestimmten Straßen wohnten, standen sie auch im Kampfe nebeneinander; die lustigen und wackeren Schuhmacher genossen ein besonderes Vorrecht. Aus der Zahl des Mannschaftsbestandes ersieht man auch, daß die Größe Nordhausens im Laufe des ganzen 15. Jahrhunderts ungefähr die gleiche geblieben ist. 1430 zählte Nordhausen ein Aufgebot von etwa 575, 1491 ebenso, 1493 von 623 und 1499 von 577 Mann. Auf Ratsgebot mußte sich die waffenfähige Mannschaft versammeln und zum Ausmarsch bereit sein; bei plötzlichen Angriffen, wie sie z. B. in der Berchtenfehde oft genug vorkamen, wurden die Sturmglocken geläutet, und auf ihren Ruf mußte sich jeder Bürger an bestimmtem Orte um seinen Hauptmann und Rottenführer scharen.[5]

Bei der gesellschaftlichen Haltung jeder Zeit aber interessieren uns mehr die friedlichen als die kriegerischen Zustände; und das um so mehr beim 15. Jahrhundert, da wir an ihm am besten beobachten können, wie doch die westeuropäische Menschheit langsam aus dem Mittelalter herauswuchs. Im früheren Mittelalter war die Bedeutung Nordhausens in wirtschaftlicher Beziehung klein, in politischer groß, im späteren ist es umgekehrt: An politischem Ansehen verlor es immer mehr, seinen wirtschaftlichen Aktionsradius aber konnte es zunächst ständig erweitern. Die allmählich besser werdenden Straßen und die technisch vervollkommneten Verkehrsmittel brachten die einzelnen Gegenden einander näher, ein reger Austausch von Waren fand statt, und dadurch steigerten sich wieder die Bedürfnisse, welche ihre Befriedigung suchten. Das Nordhausen des 13. Jahrhunderts sah noch mehrfach die deutschen Kaiser in seinen Mauern; auch das Nordhausen des 14. Jahrhunderts ließ sich noch in weit ausschauende politische Unternehmungen ein, aber wirtschaftlich war das Nordhausen des 13. Jahrhunderts ein Dorf, das des 14. trieb Handel nur mit der nächsten Umgebung. Im 15. Jahrhundert war Nordhausen politisch so gut wie tot, seine wirtschaftlichen Beziehungen spann es aber von Lübeck im Norden bis Augsburg im Süden, von Köln und Frankfurt im Westen bis über die Elbe hinaus im Osten. In ganz Deutschland waren jetzt die Heerstraßen belebt, schwere Warenzüge rollten aus weiter Ferne heran, begleitet von gewappneten Reisigen, die kostbaren Güter vor Überfällen zu sichern.

Für die nähere Umgebung braute Nordhausen nach wie vor besonderes Bier, ein unentbehrliches Nahrungsmittel bis tief ins 18. Jahrhundert hinein, da es zur Morgen- und Abendsuppe benutzt ward. Deshalb war das Privileg Karls IV. vom 28. März 1368, in welchem der Kaiser das Brauen in allen Dörfern eine Meile um Nordhausen herum untersagte, von so großer Bedeutung für den Wohlstand der Stadt. Leider konnte Nordhausen nicht das Rohprodukt, die Gerste, auf eigenem Grund und Boden in genügender Menge anbauen und war zur Einfuhr gezwungen. Hopfen dagegen, der für die Haltbarkeit des Bieres einstmals viel wichtiger war als heutzutage, baute man im Stadtgebiet in ausreichenden Mengen.

Weiter fort führte schon das Heranschaffen von Salz, das man aus den Solen von Frankenhausen gewann. Man zog an der Südseite der Aue entlang, unfern der Numburg ging man dann über die Höhe hinweg nach Süden an den Südrand des Kyffhäusers. Selbst für solchen kleinen Ausflug war es ratsam, die Wagen von Bewaffneten begleiten zu lassen, und doch waren Überfälle besonders in dem hügeligen und unübersichtlichen Gebiete südlich der Numburg nicht selten.

Von größeren Märkten in der Nähe besuchten die Nordhäuser regelmäßig die von Mühlhausen und von Querfurt; ebenso erschienen die Handeltreibenden dieser Städte auf den beiden Nordhäuser Jahrmärkten. Nach Querfurt zogen gern die Wagner, Böttcher und Stellmacher, in Mühlhausen dagegen waren alle Händler vertreten, insbesondere kaufte man Korn und Wolle ein. Nordhausen hatte zwar selbst bedeutende Schafherden, und die Schafzucht des Martini-Vorwerks war berühmt, aber der ganze Bedarf konnte doch noch nicht gedeckt werden. Nach Mühlhausen hin zogen die Nordhäuser Kaufleute auf der alten Kaiserstraße, die sich aus dem Wippertale heraus nach Lohra emporzog und dann über den Muschelkalkrücken der Hainleite über Windeberg und Groß-Keula gerade wegs auf die alte Reichsstadt hinführte.

Doch in Mühlhausen sowohl wie in anderen thüringischen Städten erhandelten die Nordhäuser Großkaufleute auch eine Pflanze, durch die Nordhausen mit den größeren Städten weit im Norden, im norddeutschen Flachlande, in Handelsbeziehungen trat. Das war der heute gänzlich vergessene Waid. Der Waid, von dem schon Caesar im 5. Buche seines gallischen Krieges zu berichten weiß, daß die Briten sich damit blau färbten, war in ganz Westeuropa der wichtigste Farbstoff vor Einführung des Indigo. Noch heute kommt diese Pflanze wildwachsend an Wegrainen und Böschungen in Erfurts Umgebung vor. Da sieht man sie mit ihrem holzigen, ziemlich starken Stengel, der unten von einem dichten Kranze länglieher, blaugrüner Blätter umgeben ist und an dessen oberen Ende zahlreiche gelbe Blütentrauben sitzen. Dieser Waid wurde einst in ganz Thüringen, um Erfurt, Arnstadt, Gotha herum, bei Greußen, Klingen, Tennstädt, Mühlhausen und Langensalza in weiten Feldern angebaut und diente als einziger Farbstoff für Wolle und Leinewand. Der Reichtum der Gegend beruhte auf dieser Pflanze, und im 16. Jahrhundert soll mancher Bauer jährlich 12-16000 Taler aus dem Anbau von Waid gezogen haben. Luther meinte deshalb einst: Die Taler vom Waid täten den Bauern zu wohl, Gott werde sie ihnen nehmen. Frankfurt und Görlitz, Köln und Nürnberg bezogen den Waid aus Thüringen. Und an diesem Handelsprodukt hatte nun auch Nordhausen bescheidenen Anteil. Nordhäuser Kaufleute kauften in Erfurt und Jena, Tennstädt und Mühlhausen den Waid auf und führten ihn in die Hansestädte Norddeutschlands. Der Handel mit dieser Pflanze legte wahrscheinlich den Grundstock zu dem Reichtum einer Nordhäuser Familie, die im 15. Jahrhundert jahrzehntelang eine der ersten in Nordhausen war, die der Swellingrebel oder Schwellengrobel. Nur eine Urkunde vom 1. Juli 1443 beleuchtet diesen Handelsartikel Nordhäuser Kaufleute, zeigt aber doch die Wichtigkeit dieses Farbstoffes. Swellingrebel hatte nach diesem Aktenstücke einen Anteil von 550 Gulden an großen Mengen Waid, die er und ein anderer Nordhäuser Bürger Heinrich Smed in Bremen lagern hatten. Auch ein dritter Nordhäuser, Claus Werd, wird noch als am Waidhandel beteiligt genannt.[6]

So spannten sich die Handelsbeziehungen Nordhausens von Süden aus dem Thüringer Becken heraus nach Norden hin bis an die Gestade der Nordsee. Der Norden aber empfing nicht nur, sondern er gab auch reichlich von der Beute des Meeres. Mehr noch als heute waren im Ausgange des Mittelalters Heringe ein Volksnahrungsmittel. Für den kleinen Bürger waren diese Fische während dreiviertel des Jahres ein beliebtes Zubrot, und alle Bürger aßen sie gern in der Fastenzeit; denn die Karpfen konnten sich nur die Mönchlein vom Walkenried, die reichen Nonnen vom Frauenberge oder vornehme Patrizier als tägliche Speise gestatten. Deshalb rollten die Warenzüge mit den Tonnen voll Heringen von Norden heran. An der Mauer des Friedhofs der Nikolaikirche waren die Verkaufsstände. Da drängten sich die kleinen Leute und erhandelten wohlfeil das willkommene Nahrungsmittel. Aber auch der Rat der Stadt und die Klöster kauften wacker ein, um die Armen und Hospitalinsassen speisen zu können oder um an Festtagen Spenden für das Völk zu haben.

Von femgelegenen Märkten besuchten die Nordhäuser gegen Ausgang des 15. Jahrhunderts Braunschweig und Leipzig regelmäßig, Frankfurt am Main sehr häufig. Besonders mit dem neben Erfurt langsam aufblühenden Leipzig verband Nordhausen regsamer Handelsverkehr. Hierhin zogen die Krämer zum Jahrmarkt und versorgten ihre Kramlade.

Bei diesem ganzen Handel, dem „ehrlichen“ Handel, waren Juden ausgeschlossen, höchstens daß sie durch ein Hinterpförtlein an ihm teilnehmen konnten. Und doch fand sich schon um 1400 wieder eine kleine wohlhabende jüdische Gemeinde, die in der Jüdenstraße und dann in der Kickersgasse, der Neuen Straße, ihr Versammlungshaus hatte. Noch immer verdienten sie besonders durch Ausleihen von Geld, weil Zinsennehmen nach den strengen Gesetzen der Kirche eigentlich jedem Christenmenschen versagt war; auch als Pferdehändler und Hausierer machten sie ihr Geschäftchen. Der Rat von Nordhausen behandelte sie, wie jeder andere Rat auch, mit vollendeter Willkür. Sie wohnten in elenden Wohnungen zu höchstem Mietzins; wenn es aber schien, als ob sie noch weitere Abgaben tragen könnten, wurden sie einfach gesteigert. Beschwerten sie sich schließlich, so wurden sie ohne weiteres aus der Stadt gejagt, wie es 1447 geschah. Nur für die hohe Summe von 200 M Silber wurden sie wieder aufgenommen; sie bezahlten sie aber und ließen sich ruhig weiter schröpfen; wie z. B. ein wohlhabender Jude namens Liebau neben seiner Miete von 40 Gulden noch jährlich 80 Schock Groschen Steuer bezahlen mußte. Der Schutz der Stadt, die zu ihren Geschäften das jüdische Geld dringend bedürfenden Handelsleute und die zu ihrem Vergnügen noch mehr auf klingende Münze angewiesenen adligen Herren ließen die Juden immer wieder ganz leidlich gedeihen. Ob sie schon im 15. Jahrhundert ein bestimmtes Abzeichen an ihrer Kleidung, den gelben Ring, tragen mußten, ist nicht ersichtlich. Wie es scheint, hat ihnen diese weitere Demütigung ein hochwohllöblicher Rat erst in der unduldsamen Reformationszeit auferlegt. Spott und Hohn der Erwachsenen, Rohheit und Gejohl der Straßenjugend verfolgten sie, in den Gaststuben und Herbergen wurden sie geprellt und entehrt, beim Geschäft mit gröbsten Beleidigungen bedacht, aber sie machten das Geschäft, lebten still und ziemlich vergnügt, liebten Weib und Kinder und bauten auf ihren Gott.[7]

Die eigenartigste Note empfing das gesellschaftliche Leben des 15. Jahrhunderts aber weder von der politischen noch wirtschaftlichen Seite her, sondern von der kulturellen, von der katholischen Kirche. Schon seit Jahrhunderten dröhnten wuchtige Schläge gegen das eherne Tor dieses gewaltigsten aller Gebäude, die jemals errichtet worden sind. Doch in solchen Gemeinden wie Nordhausen, in denen sich die Bürger um die Sorgen des Tages kümmern mußten und wenig Zeit zu Gedanken über den Wert und Unwert ehrwürdiger alter Überlieferung hatten, merkte man kaum etwas von dem unterirdischen Grollen. Hatte man Ausstellungen, so hatte man sie an dieser oder jener Einrichtung, dieser oder jener Einzelperson, doch die Ehrfurcht vor der ganzen ecclesia katholica wurde dadurch nicht vermindert. Man mag die Geschichte Nordhausens im 15. Jahrhundert noch so genau durchsuchen, - nirgends findet sich ein Anzeichen, daß diese Stadt als erste am Südharze dem Evangelium zufallen sollte. Die Augustiner Mönche in der Neustadt müssen es im 15. Jahrhundert wohl arg getrieben haben; doch deshalb fiel es keinem ein, an der Notwendigkeit und Gottwohlgefälligkeit des Mönchswesens überhaupt zu zweifeln. Ganz leidenschaftslos wird deshalb zum Jahre 1503 nur berichtet, man habe die Augustiner, die „so wüste Haus gehalten“, hinweggejagt, doch sei nun der Generalvikar des Ordens Dr. Johann de Staupitz dabei, das Kloster zu reformieren. 1516 überzeugte sich der Professor Dr. Martinus Luther aus Wittenberg als Vertreter Staupitzens, welcher von dem eifrigen Reliquiensammler Friedrich dem Weisen auf der Jagd nach Heiligtümern in die Niederlande geschickt worden war, von dem Erfolg der Reform, inspizierte das Kloster, predigte daselbst und wies die Mönche an „zur Lesung Heiliger Schrift und einem heiligen Leben“. Wenige Monate später, am 31. Oktober 1517, stand er vor der Schloßkirche zu Wittenberg, und ein neues Zeitalter begann.

In dem für die ganze Christenheit verkündeten Jubeljahre 1500 waren überall Ablaßkästen aufgestellt, und reichlich hatten auch in Nordhausen fromme Christen geopfert. Im Jahre 1503 kam als Kommissar des Kardinals und Erzbischofs von Mainz Graf Hartmann von Kirchberg, Kanonikus und Doktor zu Mainz, nach Nordhausen, um das gesammelte Ablaßgeld zu übernehmen. Die in der Domkirche aufgestellten, bisher wohlversiegelt gehaltenen Schreine wurden geöffnet. Man fand 1022 Gulden in einem großen, 475 Gulden in einem kleinen Kasten. Von diesem Gelde wurden V3 dem Mainzer Kommissar für seinen Kardinal laut Reichsbeschluß von Nürnberg übergeben, die anderen 2/3 behielt der Rat zur Abführung nach Rom. Kein Wort ward laut gegen den Ablaß; als guter Christ hatte jeder Nordhäuser sein Scherflein für den Heiligen Vater Alexander VI., den Borgia, im Kasten klingen lassen und war sehr erbaut davongegangen. Nordhausen ahnte nichts von der großen Reformation.

Freilich unbequem konnte der gut katholischen Stadt zuweilen doch die Kirche werden, ja, unbequemer noch als diese Kirche ward manchmal sogar die Frömmigkeit der eigenen Bürger. Das geistliche Gericht, dessen Vorsitzender gewöhnlich der Abt des Klosters Jechaburg als Offizial, dessen Beisitzer meist zwei Nordhäuser Domherrn waren, verhängte schnell gar harte geistliche Strafen und ließ sie von Mainz oder gar von Rom bestätigen. Das waren schwerempfundene Eingriffe in die reichsstädtischen Hoheiten. 1367 hatte ein junger Geistlicher namens Heinrich de Erich, der Unterleser an der Domschule war, einen Diebstahl begangen, und die Nordhäuser zogen ihn gefänglich ein, ließen ihn sogar, quod deterius est, was noch schimpflicher ist, in den Block spannen, obgleich das geistliche Gericht sogleich Einspruch erhoben hatte und den Verbrecher vor seinem Tribunal abstrafen wollte. Wegen dieser Antastung geistlicher Hoheitsrechte verhängte am 10. Juli 1367 der Offizial von Jechaburg sogleich den Bann über ganz Nordhausen: Eine böse Strafe, wenn um eines Diebes willen allen Sterbenden in der Stadt die letzte Wegzehrung verweigert wurde und sie um das Heil ihrer Seelen bangen mußten. 1397 war Nordhausen wegen Plünderung des Nonnenklosters Katlenburg im Bann, 1410 traf die Exkommunikation 13 Nordhäuser Bürger, weil sie sich an geistlichem Gute vergangen, Vieh und andere Güter geraubt hatten. 1430 ging die Gefahr schnell vorüber, denn die Schuld des von den Nordhäusern bestraften Geistlichen war zu offenbar. Es handelte sich um den Priester Johannes Schulze, der bei dem berüchtigten Rathausdiebstahle beteiligt und deshalb gefänglich eingezogen war. Das geistliche Gericht in Thüringen hatte sogleich wieder den Bann verfügt, doch Martin V. hob ihn alsbald wieder auf. Viele Verhandlungen und Bittgänge, reuige Worte und gutes Geld kostete es aber jedesmal, ehe die Kirche sich herbeiließ, die Frevler wieder in ihrem Schoße aufzunehmen. Dabei meine man nicht etwa, die Häufigkeit der Strafe hätte die Gemüter gegen sie abgestumpft. Sie wurde immer aufs schwerste empfunden: Kein Kirchengeläut, kein Meßgesang, keine Beichte und kein Begräbnis in heiliger Erde, keine Taufe, keine Eheschließung, keine letzte Oelung; das traf den frommen Christen fürchterlich. Da wird es verständlich, wenn sich der fromme Simon Segemund, sicher mit schweren Opfern, am 5. Juli 1404 von Bonifaz IX. die Erlaubnis erwirkte, daß ihm und seiner Familie auch an Orten, über die das Interdikt verhängt war, bei geschlossenen Türen still die Messe gelesen werden durfte. Ja, dem allmählich bigott Werdenden gestattete der Papst sogar, ständig einen tragbaren Altar mit sich zu führen, an dem er auch auf Reisen jederzeit des Meßopfers teilhaftig werden konnte. Da wird es verständlich, wenn im Jahre 1468 der Altar der Heiligen Drei Könige im Domstifte von den Gläubigen umlagert war, als die Stadt im Banne schmachtete und die Stiftsherrn die Genehmigung zu einer Frühmesse allein an diesem Altar bekommen hatten.

Auch wenn nur einzelne Bürger, wie es 1410 war, der Bannstrahl getroffen hatte, war das für die Gesamtheit verhängnisvoll. Denn unrein und aussätzig war die ganze Stadt, die sie beherbergte. Als ein unschätzbares Privileg sah es die Stadt deshalb an, als am 23. Juni 1421 Martin V. die Exkommunikation über die Stadt aufzuheben willens war, sobald die Betroffenen das Weichbild verlassen hatten. Am 3. März 1478 wiederholte Sixtus IV. diese Begnadung. Auf eine wirkliche Lockerung der geistlichen Aufsicht treffen wir erst am Ausgang des 15. Jahrhunderts, im Jahre 1498, wo Berthold von Mainz Nordhausen auf 6 Jahre vom geistlichen Gerichte befreite, d. h. also viele Zivil- und Strafsachen, die das geistliche Gericht bisher an sich gezogen hatte, dem Rate zur Entscheidung überließ. 1515 gewährte der Erzbischof auf 8 Jahre diese Vergünstigung noch einmal.

Diese ungeheure Bedeutung der Kirche auch für durchaus weltliche Angelegenheiten tritt noch mehr hervor, wenn man bedenkt, daß das gesamte Bildungswesen in den Händen der Geistlichen lag. Die Kinder, welche die Domschule besuchten, waren staatlicher Aufsicht selbstverständlich völlig entzogen. Selbst über rein technische Dinge schloß der Scholaster des Stifts mit der Stadt Verträge ab; irgendwelche Vorschriften durften ihm nicht gemacht werden. So einigte sich 1394 der Scholaster Werner von Kahla mit dem Rate über das Schulgeld, das die Kinder zu zahlen hatten. Es waren jährlich 2 Taler. Nebenbei erfahren wir auch von den Lehrbüchern, welche die Knaben benutzten. Es waren die im Mittelalter allgemein üblichen: Donat, der Cato moralisator und Alexanders Doctrinale. Als arge Beeinträchtigung sah das Domkapitel es an, daß der Rat schon im 14. Jahrhundert eine zweite Schule bei der Jakobikirche unter seiner Aufsicht durchgesetzt hatte. Doch die Zensur der Lektüre unterlag noch 1522 selbst an dieser Schule neben dem Rate der Kirche; und damit die Schüler dieser „weltlichen“ Schule nicht gar zu abweichend von den Domschülern erzogen wurden, traf man ein Abkommen, das unter anderem festsetzte: Es darf in der Schule nur lateinisch gesprochen werden; die Schulmeister dürfen als Strafe kein Geld nehmen, sondern müssen die Rute gebrauchen; die Schüler, welche sich der Zucht nicht fügen, sollen entfernt werden; das Evangelium und die Paulinischen Briefe müssen fleißig gelesen werden. - Das Evangelium und die Paulinischen Briefe; das war im Jahre 1522; 1524 erschien Spangenberg in Nordhausen.

Von Geistlichen wurde die Erziehung in der Schule geleitet, Geistliche verkündeten auch von den Kathedern der Hochschulen die Wissenschaft. Selbstverständlich jeder Lehrer, aber auch jeder Jurist oder Mediziner war zugleich geistlich gebildet. Alle höheren Beamten waren durch die Schule der Theologie gegangen, meist bekleideten sie nebenbei noch immer ein geistliches Amt. Vom Notar am Kaiserlichen Hofgericht herab bis zum Unterschreiber Schulze in Nordhausen, der beim Rathausdiebstahl Schmiere stand, waren sie sämtlich Geistliche. Besonders gern widmeten sie sich der Jurisprudenz, seitdem Westeuropa begann, das Recht Justinians aufzunehmen, und es in Mode kam, an Stelle frischfröhlicher Fehden langwierige und kostspielige Prozesse treten zu lassen. Städte und Fürsten ließen ihre Sachen von Klerikern als Rechtsbeiständen führen. Johannes Schope, der 1455 in Hessen gegen die Femrichter auftreten mußte, war Mainzer Kleriker und Kaiserlicher Schreiber zugleich; ein Geistlicher Johann von Mainz vertrat die Stadt Nordhausen im Jahre 1420 in ihrem Prozeß gegen die Familie Junge; die Grafen von Stolberg und Schwarzburg ließen sich in ihren Fehden um die Nordhäuser Flurgerichtsbarkeit Dr. Georg Strauß und Vinzenz Borgh als besonders tüchtige Rechtsanwälte vom Erzbischof von Mainz verschreiben. Alles also zeigt darauf hin, daß Lehre und Ansehen der katholischen Kirche so gut wie unerschüttert stand. Nicht die weltliche Macht konnte die geistliche, sondern die geistliche die weltliche einschränken. Denn die dürftigen Versuche des Rates, sein Recht zu wahren und die geistliche von der weltlichen Zuständigkeit abzugrenzen, bedeuteten nichts gegenüber dem geistlichen Gericht, gegenüber Bann und Interdikt. So verbot wohl der Rat, Geistliche aufzunehmen, die „der Stadt ungehorsam waren“, d. h. die sich um keinerlei Zucht- und Sittengesetz der Stadt kümmerten; „die sal man der stat wedersetczig kundigen“; oder er legte ebenso wie im 14. Jahrhundert auch im 15. Wert darauf, daß kein städtisches Gut an die Kirche fiel und befahl deshalb, die Kinder, die man ins Kloster zu geben willens war, vor den Rat zu bringen, wo eine Urkunde über den völligen Verzicht des Kindes auf sein späteres Erbe aufgesetzt wurde; oder er versuchte, der vor ihm geschlossenen Zivilehe dadurch Rechtsgültigkeit zu verschaffen, daß er denjenigen mit der hohen Strafe von 15 M Silber und 5 Jahren Verbannung bedrohte, der allein vor dem geistlichen Gericht sein Jawort zurück nahm. Ließ es aber der Rat in solchen Fällen auf den Konflikt ankommen, so zog er doch stets den kürzeren.[8]

Natürlich hätte die Kirche nicht mit diesen Ansprüchen auftreten können, wenn sie nicht tief in den Herzen der Menschen einen sicheren Platz gehabt hätte. Das wird vor allem ersichtlich aus den vielen frommen und milden Stiftungen des Jahrhunderts. Während des ganzen Mittelalters entlud sich ja die Frömmigkeit in der Stiftung guter Werke, unseres Erachtens neben tapferer Arbeit für die Mitmenschen die einzige Möglichkeit überhaupt, fromm zu sein. Ein klarer Unterschied gegen das frühere Mittelalter ist aber dabei doch zu bemerken. Während im 14. Jahrhundert, dem ganzen monumentalen Charakter dieses Jahrhunderts durchaus gemäß, mehr die Allgemeinheit in wuchtigen Bauten die Kirche und ihre Lehre feierte, treffen wir im 15. Jahrhundert mehr auf das Bedürfnis einzelner, durch kleinere Stiftungen sich einen Hort im Himmel zu erwerben. Die tonangebenden Kreise des Bürgertums im 14. Jahrhundert waren auch in ihrer Frömmigkeit selbstsüchtiger, standen der Not der großen Menge verständnisloser gegenüber als die kleinen Gewerbetreibenden im 15. Jahrhundert, in deren milden Stiftungen sich mehr das Mitgefühl mit der leidenden Menschheit äußerte. So finden wir zwar in der ganzen mittelalterlichen Geschichte zNordhausens reiche Vermächtnisse an die Kirche, doch sie häufen sich im 15. Jahrhundert. Unzählig sind die Stiftungen von Altären und Vikarien für die Kirchen, nicht selten die Spenden für die Diener der Gemeinde oder für Arme und Notleidende, großartig die Gründungen von Spitälern für Alte und Sieche. Um aus der Fülle nur einiges wenige herauszugreifen: Der Nikolaikirche wurde 1390 1/2 M Zins von 6 M Kapital vermacht. 1398 stifteten die vornehmen Familien von Weither, Weißensee, Segemund, Kirchhof und Swellingrebel zusammen 50 M Kapital, aus dem der Nikolaikirche jährlich 3 1/2 M Zinsen zuflossen. 1454 überließ Hans Jungemann der Kirche ein schönes Vermächtnis. Auch Priester und auswärtige Adlige waren an den Schenkungen beteiligt: 1507 vermachte der Priester Johann Simon 60 Gulden, die 3 1/2 Gulden Zinsen brachten, 1510 überließ Graf Botho von Stolberg 5 Gulden Zins aus Sachswerfen der Nikolaikirche. Natürlich wollte auch der Rat bei den frommen Stiftungen für seine Marktkirche nicht Zurückbleiben. Seit 1405 unterhielt er eine ewige Lampe in der Kirche und stiftete dafür 23 M Kapital; der Altar des heiligen Jakobus in der Kirche wurde 1419 vom Rate mit 45 M Kapital ausgestattet, von dem die Vikarie 14 Gulden bezog.

Ähnlich wurden andere Kirchen bedacht. Für die Blasiikirche machten die Böttcher 1428 und 1475 Stiftungen; als Wohltäter für St. Petri werden besonders Nikolaus Stockfisch und seine Gemahlin genannt, die 1564, 1467 und 1477 der Kirche reiche Spenden zufließen ließen.

Durch besonders große Vermächtnisse tat sich die schon mehrfach genannte reiche Familie Swellingrebel hervor. Als Heinrich Swellingrebel 1442 seinen Tod herannahen fühlte, bedachte er Kirche und Stadt reich. Er setzte ein Kapital von 300 Gulden in Schuldverschreibungen der Städte Sondershausen, Frankenhausen und Greußen aus; von den Zinsen von 100 Gulden sollte alljährlich für Kranke und Arme eine Tonne Heringe angekauft werden, die Zinsen von weiteren 100 Gulden sollten jedes Jahr am Freitag vor Palmarum beim großen Spendefeste zur Verteilung kommen, die Zinsen der letzten 100 Gulden schließlich sollten an Räte, Schreiber und Stadtknechte verteilt werden. Derselbe Swellingrebel vermachte auch am 24. Januar 1442 der Stadt ein An wesen neben dem Weinkeller, damit dessen Gastzimmer und Lagerräume ausgebaut werden konnten, die in älterer Zeit offenbar sehr eng waren.

Die wertvollste Mildtätigkeit zeigte sich aber in der Stiftung von Hospitälern für Arme, Kranke und alte Leute. Wahrscheinlich das älteste Heim für anstekkende Kranke, die curia leprosum oder leprosorum, war der Raum zwischen Kornmarkt, Töpferstraße und Hundgasse. Hierin verwiesen schon im 13. und 14. Jahrhundert die Nordhäuser ihre unheilbar Kranken, die Aussätzigen und Irren. Für diese Ärmsten stiftete Hartwig von Ellrich 1289 eine Kapelle, die St. Georgskapelle, die damals noch außerhalb der Stadtmauer lag.

Doch kurz vorher war schon eine neue domus leprosorum unten auf dem Sande gegründet worden, das Hospital St. Cyriaci oder der Siechenhof. Schon am 23. Januar 1281 gestattete Erzbischof Werner von Mainz dort ein Bethaus und gewährte den Andächtigen, die dort beteten und spendeten, 40 Tage Ablaß. Die Jahre 1284, 1287, 1289 brachten weitere Ablaßgewährungen, um das gute Werk zu fördern. Als man nun sah, daß der Siechhof und seine Kapelle sich erhielten und als auch schon um 1300 die Stadt sich über den Kornmarkt hinaus nach Osten hin stärker erweiterte, so daß das Georgshospital mitten in menschliche Siedlungen hinein zu liegen kam, duldete man die Aussätzigen daselbst nicht mehr, sondern verlegte sie hinab nach dem Siechhof. Das Georgshospital wurde eine bloße Zuflucht für Arme und Invaliden. Seit dem 14. Jahrhundert war also der dem Dämonenbezwinger Cyriacus geweihte Siechhof das eigentliche Nordhäuser Krankenhaus. In späteren Zeiten diente die Anstalt auch als Verbannungsort der Verseuchten während der Pestjahre oder als Lazarett während der Kriegszeiten. Erst seit dem 18. Jahrhundert wurde der Siechhof auch als Armen- und Altersheim benutzt.

Von der Cyriaci-Kapelle aus scheinen auch alljährlich Prozessionen in die Feldflur, vielleicht nach dem am Wertherschen Wege stehenden Stationskreuze, gemacht worden zu sein. Jedenfalls findet sich nach der Reformationszeit bis ins 19. Jahrhundert der Brauch, im Hofe des Hospitals drei „Flurpredigten“ jährlich zu halten, bei denen der Rat und die Stadtsoldaten zugegen waren.[9]

Doch für diese ältesten Hospitäler finden sich keine privaten Stifter, sie scheinen nur aus Gründen der Zweckmäßigkeit von der Gemeinde angelegt zu sein; nur für die Georgskapelle ist der Stifter nachweisbar. Ganz anders dagegen entstanden die beiden Spitäler des 15. Jahrhunderts. Der Opfersinn einzelner Familien hat sie geschaffen.

Das am reichsten ausgestattete Asyl für alte Leute wurde das 1389 von den Brüdern Segemund gestiftete Martini-Hospital. Die Segemunde müssen sich wohl erst im 14. Jahrhundert vor den Mauern des eigentlichen Nordhausen am Rumbach angesiedelt haben. Es war eine reiche und außerordentlich fromme Familie. Schon der Vater der Stifter, Hans Segemund, der vor 1379 gestorben war, erwies sich dadurch als Wohltäter der Kirche, daß er dem Frauenbergkloster im Eintausch gegen Zinsen an fünf Häusern auf dem Frauenberge einen großen Hof am Rumbach überließ. Seine Witwe und seine Söhne vermachten dann 1379 der Frauenberg-Kirche einen Altar und warfen die Mittel zu einer Pfarrstelle an diesem Altäre aus. Mit nahendem Alter wandten sich die beiden Brüder Johann und Simon Segemund immer mehr von irdischen Dingen ab und göttlichen Dingen zu. So kauften sie denn am 5. November 1389 vom Frauenbergkloster für 40 M eine Stätte vor dem eigentlichen Klosterhofe, dem inneren Sundhäuser Tore gegenüber, am Mühlgraben und gründeten hier ein Spital für arme und alte Leute. Eine Kapelle wurde für diese Zufluchtsstelle der Schwachen und Verlassenen gebaut und ein Priester für ihre Betreuung angestellt. Dieser Priester sollte in gewisser Abhängigkeit vom Propste des Nonnenklosters stehen; die um die neue Gründung schon vorhandene Mauer sollte weiter dem Kloster gehören. Das Recht der Wohltäter an ihrer Stiftung war dadurch gewahrt, daß sie sich vorbehielten, die Stelle des Priesters sowie freigewordene Stellen von Hospitalinsassen neu zu besetzen. Am 31. Dezember 1389 erhielt die Anstalt ihre Bestätigung vom Propste Rüdiger von Hayn in Erfurt als erzbischöflichen Kommissar.

So schien alles aufs beste ausgestattet und besorgt. Doch gerade die Gerechtsame des Frauenbergklosters an der Stiftung sollten bald zum Streite zwischen den Segemunden und dem Kloster führen. Als die Stadt zu Gunsten des Klosters, die Stolberger Grafen zu Gunsten der Gründer in den Konflikt eingriffen, kam es um 1400 sogar zu Gewalttätigkeiten. Der Zwist wurde zwar 1403 beigelegt, flackerte aber um 1410 nochmals auf, und es kam vor dem päpstlichen Stuhl zu Prozessen fast der gesamten Nordhäuser Geistlichkeit, die sich in ihrem Aufsichtsrechte geschmälert fühlte, gegen die Brüder Segemund. Doch behielten die Segemunde das Patronat über ihre Stiftung; die Streitigkeiten hatten aber soviel Verdruß verursacht, daß sich Simon Segemund, als er den Tod herannahen fühlte, entschloß, die Stadt Nordhausen in seine Rechte eintreten zu lassen. Das geschah vor dem Reichsschultheißen der Stadt am 26. und 27. Juli 1421. Ein Jahr darauf starb Simon Segemund, 10 Jahre nach seinem Bruder Johann.

Die Hofstätte, auf der das Hospital und seine Kapelle stand, verband noch Simon Segemund durch einen über die Sundhäuser Straße hinwegführenden, das mittlere Sundhäuser Tor überbrückenden Gang mit einem zweiten Gebäude, das er 1413 seiner ersten Stiftung noch hinzufügte. Dieses Gebäude wurde das Herrenhaus genannt, weil darin in älterer Zeit die geistlichen Herrn und die Aufseher der Anstalt wohnten. Später wurde es das eigentliche Hospital, und in dem 1486 neu aufgeführten Bau auf dem ersten Platze wurden nun verwaiste Kinder untergebracht. Als „Kinderhaus“ ward es dann benutzt, bis Anfang des 18. Jahrhunderts das Waisenhaus in der nach ihm genannten Straße entstand. Schon bald nach seiner Gründung machten sich, abgesehen von den Segemunden, reiche Nordhäuser Geschlechter durch Schenkungen um die neue Stiftung verdient. Insbesondere ließen die Werthers und Urbachs dem Hospital Wohltaten über Wohltaten zufließen. Ein Heinrich von Weither ward geradezu als „erster großer Wohltäter“ des Stifts genannt. In der Stadt erwarb das Hospital eine ganze Anzahl von Häusern am Klosterhofe und im Rumbach. Doch auch stattliche Ländereien, Äcker, Wiesen, Waldungen, Teiche sowie ein großes Vorwerk mit einer großen Schäferei auf der Ostseite der Sundhäuser Straße zwischen den beiden Sundhäuser Toren kamen in den Besitz des Hospitals. Dieser Reichtum gestattete es, täglich eine bedeutende Zahl von Menschen aus den Vorräten der Anstalt zu speisen. Es waren 1523 66, 1597 sogar 107 Stadtarme, die dort ihr täglich’ Brot erhielten.

Die Geräumigkeit der Gebäude und der Wohlstand der Stiftung ließ es auch schon 1428 angezeigt sein, das in der Stadt gelegene Georgshospital mit dem Martinistifte zu verbinden. Seitdem dienten die Räumlichkeiten des alten Stifts am Kornmarkte als Aufbewahrungsort für die Verteidigungs- und Belagerungsmaschinen der Stadt. In seiner Kapelle aber wurde nach wie vor noch zuweilen Gottesdienst abgehalten.

Neben dieser menschenfreundlichen Stiftung errichteten die wohlhabenden und angesehenen Nordhäuser Bürger Hermann von Werther und Hans Swellingrebel ein weiteres mildtätiges Werk, indem sie am 5. Januar 1436 das Elisabeth- Hospital unterhalb des Domes zwischen Altendorf und Grimmei im sogenannten Nydeck gründeten. Das Spital war als Herberge für Pilger und Reisende, Brüder und Schwestern, gedacht, die dort Unterkunft und Wegzehrung erhielten. Jedem, der dort einkehrte, sollten aus der milden Stiftung ein Pfennigbrot und ein Kofent, eine Portion Dünnbier, verabreicht werden. Mit der Herberge wurde eine schon früher hier stehende Kapelle verbunden und in sie hinein zwei Altäre überführt, der eine aus der verlassenen Egidienkapelle über dem Altentor, der andere aus der Wüstung Oberrode im Südwestzipfel der Stadtflur. Eine besondere Anziehungskraft erhielt die Kapelle seit dem Jahre 1430 dadurch, daß ihr ein Bürger namens Konrad von Tannrode und seine Gemahlin Sophie drei Kästchen voll Reliquien schenkten, die ihre Vorfahren einst von einer Pilgerfahrt aus dem Heiligen Lande mitgebracht hatten.

Das Patronat über die Herberge trat nach dem Willen der Stifter sogleich die Stadt Nordhausen an, die seitdem zwei Ratsherrn als „Vormünder“ über die Stiftung ernannte; doch behielten die Gründer besonders an den Altären gewisse Gerechtsame. Als aber die Swellingrebel, wahrscheinlich schon am Ausgang des 15. Jahrhunderts, nach Quedlinburg übersiedelten, versuchte der Rat ihre Rechte am Hospital zu schmälern. Ein dadurch ausbrechender Streit wurde am 27. Januar 1524 beigelegt, indem Hans Swellingrebel für 200 Gulden auf alle seine Rechte zu Gunsten der Stadt verzichtete. Ein ähnlicher Vergleich wurde am 29. Mai 1549 mit der Familie Werther abgeschlossen. Von diesen beiden für die Nordhäuser Geschichte des 15. Jahrhunderts so wichtigen Geschlechtern aber kreist das Blut der Weither noch heute in wohl 100 Gliedern in und um Nordhausen, die Swellingrebel aber leben jetzt in Dänemark.[10]

Doch es ist schon mehrfach erwähnt, daß nicht nur einzelne Bürger ihren wohltätigen Sinn und ihre Teilnahme am kirchlichen Leben bewiesen, sondern daß sich, dem Zuge des 15. Jahrhunderts zu Zusammenschlüssen folgend, auch ganze Korporationen bildeten, um gemeinsam in den Heiligtümern und in der Öffentlichkeit religiöse Feste zu begehen, Altäre zu stiften und mit Kerzen und Leuchtern, Meßgewändern und Fahnen die Kirchen auszustatten. Daß einzelne Innungen neben der Vertretung wirtschaftlicher Interessen auch für ihr Seelenheil besorgt waren, haben wir schon gesehen. Darüber hinaus jedoch, unabhängig von den wirtschaftlichen Vereinigungen, bildeten die Bürger auch Bruderschaften, welche nur als Zusammenfassung aller ihrer Mitglieder zur Begehung von Kulthandlungen dienten. Diese nahmen dann, unter dem Vorantritt ihrer Fahnen, an den festlichen Umzügen zum Spendefest und besonders Fronleichnamsfest teil. So gab es 5 Bruderschaften, die sich allein zur gemeinsamen Begehung des Fronleichnamstages zusammengefunden hatten. 6 andere wiederum, in denen auch Frauen zugelassen waren, hatten sich zu Ehren der Jungfrau Maria gegründet,' Unter ihnen befand sich die Bruder schäft der „Diener“, d. h. des Stadthauptmanns und seiner Söldner. Diese Bruderschaft besuchte gemeinsam die Kirche der Barfüßermönche, die Spendekirche. 1423 stifteten sie hier zu Ehren Gottes und der Mutter Maria, ihrer Patronin, um ihres Seelenheils willen eine ewige Kerze. Um diese Stiftung lebendig zu erhalten, mußte jeder, der in Nordhausen Söldner wurde, „ehe er ein Pferd mit Harnisch ritt“, ein Pfund Wachs stiften. Dafür erteilten die Mönche ihnen „die Bruderschaft ihres Ordens nach des Ordens Würdigkeit und Gerechtigkeit und tun sie teilhaftig allen guten Werken, die uns Gott unser Herrgott gibt zu tun mit den Brüdern unserer Klöster, die in unsere Bruderschaft gehören.“ Auch die Frauen der Söldner gehörten der Bruderschaft an. Die städtischen Söldner waren also den Mönchen als Laienbrüder angeschlossen und hatten als solche eine Reihe von Verpflichtungen und Rechten ähnlich den Mönchen selbst. Ein solcher Anschluß war besonders für die Vertreter rohen Waffenhandwerks außerordentlich segensreich und erzog sie, ihren Blick hin und wieder auch einmal über die Dinge dieser Welt hinaus zu erheben. Wie genau sie es wenigstens in den Anfangsjahren mit ihrem Dienste an der Kirche nahmen, ersieht man aus einer Bestimmung vom Jahre 1426, die ihnen strengen Kirchenbesuch vorschrieb, ihrem „Vormund“, der sie dazu nicht anhielt, eine Strafe von 1 Pfund Wachs auferlegte und sie selbst wegen Fehlens beim Gottesdienste um 6 Pfennige büßte. Außer diesen Vereinigungen bestanden noch 7 weitere Bruderschaften, davon 2 der heiligen Anna geweiht und eine dem heiligen Sebastian. Das war die Sebastianbruderschaft der Pfeilschützen, die eine lange und mannigfache Geschichte aufzuweisen hat.

Zum Dienst mit der Waffe waren ja alle Vollbürger verpflichtet, doch hatte sich unter ihnen wieder eine Anzahl zusammengefunden, die Aug’ und Hand besonders im Bogen- und Armbrustschießen üben wollte. Daß diese Jünger des pfeilgespickten Märtyrers über die ganze Bürgerschaft hin verteilt waren, ist auch daraus ersichtlich, daß sie ihre Bruderschaft nicht bei einer städtischen Kirche, sondern bei den Dominikanermönchen in der Predigerstraße hatten. Hier taten sie sich im Jahre 1420 zur gemeinsamen Begehung des Gottesdienstes und Ausschmückung des Heiligtums zusammen. Die Mönche waren verpflichtet, die Verstorbenen der Schützenbrüder genau so in ihr Gebet einzuschließen wie ihre Konfratres.[11] Durch manche milden Gaben vergalten die offenbar zumeist aus wohlhabenden Kreisen der Bürgerschaft stammenden Schützen den Mönchen ihr Entgegenkommen. Aus dem ganzen 15. Jahrhundert sind die mannigfachsten Stiftungen von ihnen überliefert. Doch nicht nur die gesamte Bruderschaft, sondern auch einzelne spendeten reichlich, wie z. B. der Schützenmeister Kurt Friedrich, der 1428 während einer Krankheit 15 Rheinische Gulden, jährlich 12 Scheffel Komzinsen und 2 Gulden für einen weiteren Marktscheffel stiftete. Dafür sollten für alle diejenigen, welche aus seiner Familie verschieden waren, alle Sonnabend 7 Lichter in der Kirche brennen. Die Bruderschaft besaß zudem unter anderem mehrere Casalen, d. h. Amtsröcke für Priester, mehrere Levitenrökke, d. h. Überröcke für die bei den heiligen Handlungen Bediensteten, zwei Kelche, von denen den einen die ganze Bruderschaft, den anderen Hans Mühlhausen gestiftet hatte, dazu vergoldete Spangen und mehrere kostbare Altartafeln.

Diese Pfeil- und Schützenbrüder hatten sich aber auch zur Ausbildung in der edlen Schießkunst und zur Begehung fröhlicher Schützenfeste zusammengeschlossen. Ihre Übungen stellten sie im „Armbrustgraben“ an, dem Teile des Stadtgrabens, der vom Töpfertor nördlich zog und in der heutigen „Promenade“ noch vorzüglich erhalten ist. Doch auch ihr Schützenfest, den sogenannten Schützenhof, feierten sie alljährlich und nahmen, um ihre Kunst auswärts zu zeigen, auch gern die Einladungen fremder Städte und Schützengesellschaften an. Freilich können wir diese Schützenbrüder, die sich aus den Pfeilschützen entwickelt hatten, nicht mehr völlig mit der alten Bruderschaft und ihren Gewohnheiten gleichsetzen. Doch die Tendenz war dieselbe.

Seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts können wir den Einladungen zu Schützenfesten von beinahe sämtlichen Städten der Umgebung bis weit nach Thüringen und Sachsen hinein nachkommen. 1459 schon lud der Rat zu Erfurt die „Schießgesellen zu Nordhausen zu guter Gesellschaft und zu einem Schießen um 90 Schock alte Groschen“ ein. Und dann traten neben Erfurt auch Mühlhausen, Stolberg, Sangerhausen, Leipzig, Mücheln, Frankenhausen, Langensalza, Kelbra, Kindelbrück, Allstedt, Artem, Eisleben, Pegau u. a. auf. Die Stadt Halle hielt am 30. August bis 7. September 1601 ein Schützenfest ab, zu dem 156 Städte, darunter auch Nordhausen, eingeladen waren. In diesen späteren Jahrhunderten luden wohl auch hohe Herren die Schützen zu ihren Festen ein, wie 1614 Kurfürst Johann Georg die Nordhäuser nach Dresden entbot, wo er am 21. September wegen der Ankunft vornehmer Gäste ein Schießen zu veranstalten gedachte. Ebenso erging auch nach dem Dreißigjährigen Kriege, der ja alle solche Veranstaltungen zeitweilig zum Erliegen brachte, am 25. Juli 1662 von Dresden aus eine Einladung an Nordhausen. Doch konnten dieser Einladung die Nordhäuser nicht nachkommen, da sich die Wunden des Krieges noch nicht völlig geschlossen hatten. Erst am 3. August 1694 wurde der Verein als „Büchsenschützen- Gesellschaft“ von neuem begründet und vom Rate bestätigt. 1695 gab sich diese neue Schützenkompanie eine Schützenordnung mit 28 Artikeln.[12]

Wie es auf solchem alten Schützenhofe zuging, ist aus den Einladungsschreiben recht gut zu ersehen. Meist schrieb die Einladung sogleich die Zahl der Schützen vor, die zu entsenden waren. So wünschten 1460 die Erfurter 6 Nordhäuser Schützen, 1486 die Stolberger 12. Geschossen ward mit der Armbrust, aus dem Stand und im Sitzen, aufgelegt und freihändig. Auch die Zahl der Schüsse wurde vorgeschrieben. So sollte 1477 in Erfurt jeder Schütze 20 Schuß abgeben, 1486 zu Stolberg 8 Schuß, 1500 zu Leipzig 20 Schuß. Zugleich wurde die Entfernung der Scheibe mitgeteilt, die meist 150 Ellen, in Stolberg 1486 aber nur 138 Ellen betrug. Die Scheiben selbst hatten die verschiedensten Formen, 1477 zu Erfurt wurde „nach dem Weibe“ geschossen; seit dem 16. Jahrhundert stellte man gern Türken auf. Doch auch Ringscheiben dienten als Ziel; sie hatten im Zentrum ein enges Loch, und wer den Bolzen hier hindurchzujagen verstand, hatte den „Meisterschuß“ getan. Daneben kam im 16. Jahrhundert auch das Schießen nach einem auf einer Stange sitzenden hölzernen Vogel auf. Für Nordhausen ist ein solches Vogelschießen zum ersten Male am 17. Juni 1588 bezeugt. Als Preise gab es Geld und Kleinodien. Stolberg lockte 1486 die Schützen mit 42 zinnernen Kannen von je 3 Pfund, 42 zinnernen Becken von 3^2 Pfund, 8 silbernen Leuchtern im Werte von je 3 Rheinischen Gulden und 8 silbernen Bechern an. Die schlechtesten Schützen fielen wohl dadurch dem Spotte anheim, daß alle die, welche nichts gewonnen hatten, nach einer Scheibe schießen mußten und für ihre Schüsse je nach dem Sitzen des Schusses ein Filzhütlein mit einer Hahnenfeder oder einen Strohhut mit einer Häherfeder erhielten. Noch böser sollte es 1535 zu Mansfeld dem schlechtesten Schützen ergehen. Dem „Weitesten des Rumpelschusses“ sollten nämlich eine Laute und eine Narrenkappe gegeben werden, welche er vor den Schützen her vom Schießstande bis zu seiner Herberge tragen sollte.

Daß während oder nach dem Schießen auf der Wiese und in den Zelten ein fröhliches Treiben einsetzte und ein tüchtiger Trunk beliebt wurde, ist selbstverständlich. Die Sieger mußten sich freigebig zeigen, und manchem wird sein Meisterschuß schon in jenen Zeiten wohl das Vielfache von dem gekostet haben, was er mit seiner Kunst gewonnen hatte. Das ist nur recht und billig. Aber auch auf Vorschriften, die zu große Ausgelassenheit unterbanden, stoßen wir. So war es streng verboten, „freventlich das Gewehr zu zucken“. Auch alles, wodurch Zank und Streit entstehen konnte, wie Höhnen und Anspielen oder, was gegen die guten Sitten verstieß, das Wetten, war untersagt.[13]

Mit der Schilderung dieser Schützenfeste stehen wir mitten in dem robusten geselligen Treiben des 15. Jahrhunderts. Bürgerlich war die Zeit geworden, und derb bürgerlich waren die Vergnügungen dieses handfesten Geschlechts, das seiner starken Lebenskraft nach den Sorgen des Alltags auch in handfester Fröhlichkeit Ausdruck geben wollte. Daß bei vielen dieser Feste und nicht zuletzt bei den Schützenfesten die Veranstaltungen des Adels als allerdings nie erreichte Vorbilder dienten, leuchtet ein, wenn man auch im 15. und 16. Jahrhundert noch von den vielen Turnieren hört und wenn man sieht, wie es die Bürger als Ehre betrachteten, von einem Adligen um eine Vergünstigung angesprochen zu werden, selbst wenn ein solches Entgegenkommen mit nicht geringen Opfern für die Bürger verbunden war.

Es ist hier nicht der Ort, auf die Turniere jener Zeit einzugehen, da sie die Stadtgeschichte Nordhausens nicht berühren; nur um dem Charakter der Zeit einen weiteren Zug hinzuzufügen und um zu zeigen, daß auch Nordhausen nicht selten festliches Gepränge großer Herrn in seinen Mauern sah, mag darauf hingewiesen werden. So kündeten am 21. April 1456 die Grafen Heinrich von Stolberg und Heinrich von Schwarzburg an, sie wollten im Sommer des Jahres ein „Stechen“ in Nordhausen abhalten, und baten deshalb den Rat, für sie in den Predigern oder am Salzmarkte Quartier bereitzuhalten. Zwei Jahre vorher, im Jahre 1454, hatte Graf Heinrich von Honstein-Klettenberg zu Ellrich Hochzeit mit der Witwe des Grafen Vollrat von Mansfeld gehalten und diesen seinen Ehrentag auch durch ein Turnier festlich zu gestalten gesucht. Doch lief das ritterliche Kampfspiel böse dadurch aus, daß bei dem Speerebrechen Herr Bruno von Querfurt den Grafen Ernst von Honstein so unglücklich traf, daß er kurz danach verstarb. Die Honsteiner hatten damals überhaupt viel Unglück in ihrer Familie. Denn der junge Gatte selbst wurde auch bald nach der Hochzeit zu Grabe getragen: und darnach starp grave Heinrich, der brutegam, uff sime bette, der ettliche tage gesuchet (die Sucht gehabt) hatte.[14]

Viel berühmter als diese Kampfspiele waren die Turniere Ottos des Quaden zu Göttingen im Jahre 1370 und 1376, von denen man noch Jahrzehnte lang erzählte. Doch auch die Herren unserer Umgebung blieben eifrige Freunde dieser Ritterspiele. Wie häufig turnierlustige Herrn Gelegenheit fanden zum Lanzenstechen, zeigt Graf Heinrich von Stolberg am Ausgang des 15. Jahrhunderts. Er trat 1489 zu Leipzig gegen Herzog Johann an, beteiligte sich 1490 an den Stechen zu Torgau und Weimar, 1491 zu Dresden und Torgau und lud selbst 1492 zu einem „Fürstenhofe“ nach Stolberg hin ein, bei dem er wieder dem Herzog Johann von Sachsen gegenübertrat. So ging es Jahr für Jahr: in Erfurt und in Beichlingen und in Torgau, kurz, überall wo der Preis der Tapferkeit aus schöner Frauen Hand zu empfangen war, erschien er, angetan mit dem schweren Stechzeug und geschlossenem Helme, aus dessen Krone der stolbergische Pfauenschweif, von Straußenfedern umrahmt, hervorragte, die schwere Lanze unter den Arm geklemmt, das Roß in die weite Tumierdecke gehüllt und am Halse geschmückt mit einem Schellenkranze. - In wundervollem Holzschnitt hat ja Meister Lukas Kranach ein solches Turnier jener Zeit festgehalten.[15]

Wenn diese hohen Herrn den verachteten und doch häufig genug von ihnen beneideten Bürgern nicht gerade gram waren und in Fehde mit ihnen standen, liebten sie es auch, von ihren ungemütlichen Burgen und Schlössern herabzusteigen in die wohnlichen Städte, dort eine Zusammenkunft abzuhalten und sich danach an allen Schätzen der Kaufleute gütlich zu tun. So kehrten am 12. April 1402 die Landgrafen von Thüringen, die Herzöge von Braunschweig und Lüneburg und der Landgraf von Hessen in Nordhausen ein und berieten hier ein Bündnis, ein „ewiges“ natürlich. Die Mansfelder, Beichlinger, Schwarzburger, Stolberger weilten öfter aus festlichem Anlaß in Nordhausen, und am 3. Juli 1518 konnte die Stadt sogar einen der glänzendsten Fürsten in ihren Mauern sehen: den Kurfürsten und Erzbischof Albrecht von Mainz und Magdeburg, Administrator des Bistums Halberstadt, geborenen Markgrafen von Brandenburg, Primas von Deutschland.

Und nicht nur die guten Herbergen, die treffliche Bewirtung und städtische Annehmlichkeiten jeglicher Art nahmen die hohen Herrn recht gerne in Anspruch, sondern sie verschmähten es auch nicht, sich andere bürgerliche Guttaten gefallen zu lassen. Vor allem interessierte sie der mit tüchtigen Rossen wohlversehene Marstall, den Nordhausen am Hagen unterhielt. Die hier eingestellten städtischen Pferde waren in erster Linie für die Standespersonen der Stadt bestimmt, wenn sie in ihrem Dienste verritten oder bei festlichen Gelegenheiten in großer Aufmachung durch die Stadt kutschierten. Doch muß Nordhausen für gute, glatte Pferde viel Geld ausgegeben haben, denn sie waren auch bei den umliegenden Adligen, welche sich solchen kostbaren Besitz nicht leisten konnten, viel begehrt. Von 1457-1570 liegen zahlreiche Zeugnisse vor für das Ausleihen von schweren Pferden an vornehme Herren der Umgebung, meist zu Turnieren oder zum Besuch von Hoffestlichkeiten; doch auch für die Erzielung kräftiger Nachkommenschaft wurde wohl hin und wieder ein Hengst gefordert. Und immer scheint es sich die Stadt haben angelegen sein lassen, den Wünschen so schnell wie möglich nachzukommen. Am 28. Juli 1547 schenkte die Stadt dem jungen Kurfürsten Moritz von Sachsen sogar einen jungen schwarzen Hengst, allerdings wohl nicht allein aus rein freundnachbarlichem Verhältnis heraus, sondern weil sie nach der für die Protestanten unglücklichen Schlacht bei Mühlberg von dem ehrgeizigen und landgierigen Freunde Kaiser Karls V. Schlimmstes, womöglich den Verlust der Selbständigkeit, zu befahren hatte.

Neben der Entnahme von Rossen stellten die Herren wohl auch andere Ansuchen an die Stadt, um ihren Liebhabereien nachgehen zu können. So teilte am 4. September 1495 Graf Ernst von Honstein den Bürgern mit, seine beiden Jagdhabichte seien gestorben, und er habe Kenntnis, in Nordhausen sei ein Besitzer mehrerer dieser edelen Tiere. Er bäte deshalb den Rat um Fürsprache bei dem Besitzer für sich, damit er die Habichte bekomme. Es war damals die Zeit, wo die Reiherbeizen besonders in Aufnahme gekommen waren, ein Sport auch vornehmer Damen. Daß dieser Sport jedoch gefährlich werden konnte, zeigt das Schicksal der schönen Erbin von Burgund, der Gemahlin des Kaisers Max.

Aus dem allen scheint ein Bildchen hervorzuleuchten, als ob zwischen der Stadt Nordhausen und den umwohnenden Grafen nichts als eitel Friede und Freundschaft geherrscht habe. Und doch haben wir gesehen, wie hart sie nicht selten gegeneinander schlugen! Das war aber damals nicht so ernst gemeint, und wenn es auch schwere Beulen und Wunden, Totschlag und Brand gegeben hatte, - die erbittertsten Feinde von gestern waren die angenehmsten Freunde von heute; um das Morgen aber sorgte man nicht. Wenn wir deshalb auch von der grimmen, sechzig Jahre währenden Feindschaft der Stolberger und Schwarzburger Grafen mit der Stadt Nordhausen um der Stadtflur willen berichtet haben, so waren diese Streitigkeiten doch kein Hindernis, daß man zwischendurch in herzlichstem Einvernehmen stand. Seit den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts bürgerte es sich ein, daß die Grafengeschlechter Jahr für Jahr der Stadt einen auf der Hatz erlegten Hirsch verehrten, und regelmäßig antworteten die Nordhäuser mit einem Fuder Bier auf dieses Zeichen gutnachbarlichen Verkehrs. Ja, die Höflichkeit ging sogar soweit, daß sich die Grafen entschuldigten, wenn sie einmal nicht in der Lage waren, besonders stattliche Tiere zu überreichen, wie am 14. September 1599 Dietrich Speiser, Amtsschösser zu Sondershausen, dem Rate mitteilte, obwohl der Graf Anton Heinrich zu Schwarzburg gehofft habe, es sollte das Glück etwas Sonderliches von Wildbret geben, um den Rat damit zu bedenken, so sei doch bei allem Fleiß nichts als ein Spießhirsch und ein Hirschkalb zu bekommen gewesen. - Wir nehmen nicht an, daß sich daraufhin die Nordhäuser mit einer schlechten Gerstenemte herausredeten und nur ein Fäßchen Dünnbier sandten.

Die Überbringung des Wildbrets gab natürlich in Nordhausen jedesmal Anlaß, ein gewaltiges Essen zu veranstalten. Der Oberförster, der den Hirsch einlieferte, mußte ja doch standesgemäß traktiert werden, und da ließen es sich die Herren Stadtkämmerer nicht nehmen, auf Stadtkosten ihm Gesellschaft zu leisten. Was dabei die Herren an Karpfen, Hühnern, Tauben, Rindfleisch, Schöpsenbraten, Gebackenem, Obst, nicht zu vergessen die erstaunlichen Mengen an Bier und Wein, während zweier Tage vertilgten, ist uns aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts überliefert und muß unsere höchste Bewunderung erregen. Solche gewaltigen Leistungen setzten bestimmt ein langjähriges, voller Hingabe und Selbstentäußerung durchgeführtes Training voraus. Das war allerdings in der Zeit der Heidelberger Fässer, wo wohlhabende Herrn Tag für Tag 5-10 Liter Wein in sich hineinzugießen verstanden. Mit 40 Jahren hatten sie freilich regelmäßig ausgetrunken. - Erst am Anfang des 18. Jahrhunderts, wahrscheinlich mit der preußischen Besetzung der Stadt Nordhausen im Jahre 1703, hörten die Geschenke zwischen der Stadt und den umwohnenden Grafen und damit die Gastereien auf.[16]

Solche Völlerei kam im 15. Jahrhundert jedoch kaum vor, obwohl selbst einfache Bürgersleute bei festlicher Gelegenheit sehr wohl zu leben wußten und manches draufgehen ließen. Deshalb sah sich auch der Rat veranlaßt, wenigstens die ärgsten Mißstände durch Verbot zu beseitigen. Es ist lehrreich, daß in den ältesten Statuten aus dem 14. Jahrhundert nur wenige Vorschriften über die Begehung der Festlichkeiten vorhanden sind, daß aber recht eingehende Artikel der letzten Statuten aus der Zeit um 1470 zeigen, für wie nötig die Behörden die Eindämmung allzu großer Ausschweifungen hielten; kam es doch vor, daß die Eltern bei allzu reichlicher Ausstattung des Hochzeitsmahles ihren Wohlstand gefährdeten und der Tochter nichts mehr in die Ehe mitgeben konnten. Deshalb bestimmten die Statuten immer wieder, daß nur Verwandte eingeladen und Fremde, die sich ungeniert zum Mittafeln einstellten, abgewiesen werden sollten. Daß. es bei einem solchen Anlaß, wie es eine Hochzeit war, in diesen derben und fröhlichen Zeiten nicht mit einem einzigen Festessen abgetan war, ist selbstverständlich. Schon der Polterabend wurde gehörig begangen, dann setzte man sich am Morgen des eigentlichen Hochzeitstages wiederum hin zu löblichem Tun, wobei 30 Schüsseln für die Gäste, 10 Schüsseln für die Aufwärter und 6 für die Spielleute gestattet waren. Eine Nachfeier am dritten Tage beschloß das hohe Fest. Braut und Bräutigam aber mußten es sich angelegen sein lassen, während des Essens die Gäste mit allerhand Geschenken, wie Hemden, Schleiern, Gürteln, Badekappen oder Schuhen, zu bedenken.

Doch auch sonst benutzte man redlich jede Gelegenheit zu wackerem Geschmause. Von den vielen Festtagen, die man beging, seien hier nur noch die bei uns mehr gebräuchlichen Feiern zu Einkleidung von Kindern als Mönche oder Nonnen und die Feier des sogenannten Dreißigsten genannt. Unter letzterem Feste verstand man das Mahl, das die Hinterbliebenen am 30. Tage nach dem Tode des Verstorbenen ihren Angehörigen zu geben hatten. Jedenfalls aber befolgte man im 15. Jahrhundert durchaus den Grundsatz: „Bei der Arbeit tut man, was man kann, bei Tische übertrifft man sich selbst.“

Für die nötige Unterhaltungsmusik sorgten die städtischen Spielleute oder Stadtpfeifer. Als solche sind in der älteren Zeit nur der auf dem Turme der Marktkirche wohnende „Hausmann“ mit seinen drei Gesellen und zwei Lehrlingen nachzuweisen. Häufig mag man auf fahrendes Volk und wandernde Gesellen, die man auch als Sänger und Possenreißer schätzte, angewiesen gewesen sein. Die älteren Schüler der beiden Nordhäuser Schulen wurden in der katholischen Zeit wohl noch nicht zu Unterhaltungen bei Gelagen herangezogen. Das bürgerte sich erst im Laufe des 16. Jahrhunderts ein. Jedenfalls versuchten wenigstens wohlhabende Bürger, auch darin die Sitten des Adels nachzuahmen, daß sie zu Festen Trompeter, Lautenschläger, Pfeifer, Pauker, Sänger und Narren auftreten ließen. Auch Tänze waren beliebt und fanden auf dem Tanzboden des städtischen Wagehauses statt, das mitten auf dem Kornmarkte lag und unten die Ratswage, im oberen Geschoß einen Tanzsaal enthielt. Doch bestanden die Tänze in sittsamen Reigentänzen, das Umdrehen beim Tanze war im 15. Jahrhundert noch bei Strafe verboten.

Wie Fest und Gelag, Essen und Trinken manche Eigentümlichkeiten aufwies, so auch die Kleidung des 15. Jahrhunderts. In der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts hatten die Männer über dem Hemd noch sittsam den langen, bis gegen die Kniee hin reichenden Rock getragen, Unterleib und Beine bedeckte der Bruch, ein an einem Gurt über dem Hemd befestigtes Tuch, und die Strumpfhose, die ebenfalls am Gürtel durch Bänder gehalten wurde. Ältere Leute blieben auch während des 15. Jahrhunderts bei dieser Tracht, verschmähten es aber nicht, ihren Wert durch ganz weite Ärmel und durch die unmöglichsten Verzierungen der Kleidung zu heben. Der den Oberrock zusammenhaltende Gürtel wurde zu einem seltsamen Gestell aus Ketten und Spangen, die sich nicht nur um die Hüfte wanden, sondern auch über Brust und Schulter gingen. Das Feinste aber waren die Schellen von der Größe eines Tee-Eis oder einer kleinen Parlamentsklingel, die von dem Gürtel herabbaumelten und schon von weitem das Nahen das ehrenwerten Herrn verkündeten. Auch die Frauen huldigten dieser Mode, und die Schellen sagten bei jedem Schritt, wie eine alte Chronik uns versichert: Schurr, schurr, schurr, kling, kling, kling.

Mehr aber war an der Tracht der jungen Leute, Männer wie Jungfrauen, auszusetzen. Die Männer begannen seit dem Ausgang des 14. Jahrhunderts den Oberrock so arg zu verkürzen, daß der Bruch sichtbar wurde und Anstößigkeiten unvermeidlich waren. Und doch entwickelte sich aus diesem Ärgernis allmählich unsere Kleidung, indem man den Bruch zur Hose schloß, die bis an die Kniee reichte. Die Mädchen wiederum trugen zwar nach wie vor über dem Hemde statt Oberrock und Bruch den langen Rock, doch schnürten sie das Kleid um die Büste ganz eng, um ihren Wuchs zu zeigen. Auch wurde der ganze Rock immer enger und der Ausschnitt am Hals immer tiefer. Dabei wurde es Sitte, die Ärmel so lang zu tragen und den Stoff in so viele Falten zu legen, daß zuweilen 18 Ellen Stoff zu einem Gewände benötigt wurden. An den Füßen liebten es Männer wie Frauen bei festlichen Gelegenheiten rote Schuhe mit langen, spitzen Schnäbeln zu tragen. Daß übrigens mit dem 15. Jahrhundert in den Städten durch den erwachenden regeren Austausch der Waren Wohlstand und Üppigkeit allgemein stiegen, ersieht man daraus, daß selbst Knechte und Mägde sich dergleichen kostbare Kleidung mit goldenen und silbernen Borten leisteten, so daß der Rat schon Kleidervorschriften für sie erlassen mußte.

Doch lassen wir uns die Kleidung des 15. Jahrhunderts mit den Worten des Thüringer Chronisten Kammermeister selber schildern: Die Männer trugen kurze Kleider mit langen Ärmeln, so das sie eren Schemen kome bedackten, sundern sie hatten zcwene lange ermele; der hingen sie eynen hinden unde den andirn forne ned der, damete sy sich bedacktin, unde die vrouwin unde jungfrawen trugen enge rocke mit grozcin soymen umme den ars, und umbe den hals weren sie bloz, daz sie yre brüste nummer bedackten. –

Mit dem aufblühenden Wohlstand in den Städten wurden also auch die Sitten lockerer, und das umso mehr, als die Kirche seit alters zwar strenge Sittengesetze verkündete, ihre Vertreter selbst aber je länger, je mehr Anlaß zu Ärgernis gaben und die Herde sich deshalb erlaubte, was der Hirte tat. Von merkwürdig freien Sitten hören wir, die auf dem Konstanzer Konzil geherrscht haben, und bei einem Turnier, das Magdeburger Bürger im 15. Jahrhundert veranstalteten, ward gar eine schöne Frau namens Fei, Sophie, als Preis ausgesetzt. Beruhigend wird uns aber versichert, dem Goslaer Kaufmann bejahrteren Alters, der sie gewann, sei es möglich gewesen, sie unter die Haube zu bringen, und sie sei noch „eine ordentliche Wirtin“ geworden.

Bei einer solchen Auffassung außerehelichen Verkehrs, dessen Möglichkeit die Behörden, um ihre Gäste in jeder Weise zu befriedigen, nicht nur duldeten, sondern sogar organisierten, ist es kein Wunder, wenn auch Nordhausen ein „gemeines Haus“ besaß, das unter den Weiden lag, dessen Insassen unter der Aufsicht des unweit davon an der Johannistreppe wohnenden Henkers standen und die wie ihr Zuchtmeister selbst natürlich als unehrlich galten. Das hinderte aber nicht, daß „ehrliche“ Leute daselbst ein- und ausgingen.

Erfreulicher als diese Erscheinungen, die sich nicht mehr ganz mit dem harmlosen und derben Geist des Jahrhunderts entschuldigen lassen, ist das Reinlichkeitsbedürfnis dieser Zeit. Die Notwendigkeit gründlichen Badens für jene Zeit wird freilich niemand ableugnen, wenn man daran denkt, daß die Möglichkeit noch herzlich beschränkt war, sich vor lästigen kleinen Gästen in Bett, in Kleidung, an Wänden, an Haut und an Haar zu schützen. Genug, auch die Nordhäuser Bevölkerung badete eifrig und gern, und der Brauch, daß Braut und Bräutigam bei der Hochzeit an ihre Gäste unter den Geschenken auch Badelappen austeilten, beweist, welche hohe Bedeutung man dem Baden im Mittelalter beimaß. Freilich wird zuweilen bezeugt, daß auch die öffentlichen Badestuben einem anstößigen Lebenswandel Vorschub leisteten, doch gereicht es den Nordhäuser Bürgern zur Ehre, daß sie ihre Badestuben, soweit ersichtlich, nur zu ihrem eigentlichen Zwecke benutzt haben. Daß die älteste bekannte Badestube „unter den Weiden“ lag, wird hoffentlich nur bei Leuten mit abwegigen Gedankengängen Verdacht erwecken. Viel mehr besucht aber ward das zweite Badehaus, das im 15. Jahrhundert zwischen dem Klosterhofe des Frauenbergklosters und der Neustadt am Schackenhofe eröffnet wurde. Nach diesem Bade wurde sogar die Straße die Stuben- oder Badegasse genannt. Weitere Badegelegenheiten besaßen die Bürger in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts unter der Kutteltreppe und am Altentore. Doch wir denken, daß wenigstens die Jugend nicht nur diese geschlossenen Bäder benutzte, sondern nach Urväterweise hinauszog an die Helme, um dort sich zu tummeln. Gewisse Verbote in den Schulgesetzen des 16. Jahrhunderts, nachdem die Luthersche Reformation und im Gefolge davon auch der sich erneuernde Katholizismus manche gesunde Lebensäußerung abgedrosselt hatten, scheinen wenigstens einen Schluß auf das Baden in fließendem kalten Wasser auch in Nordhausen zu gestatten.

So zeigt sich uns in dem Nordhausen des 15. Jahrhunderts ein Leben voll naiver Frömmigkeit, die durch äußerlich gute Werke sich einen gnädigen Gott zu schaffen suchte und die doch durchaus unverächtlich war, da sie dazu beitrug, die Not der Armen und Kranken zu lindem und die Menschen zum Dienste an den Mitmenschen zu erziehen. Neben die Furcht vor der Strafe im Jenseits trat aber bei den Bürgern im Gegensatz zum 14. Jahrhundert die Angst vor dem Alleinsein und Alleinhandeln. Es entwickelte sich daher ein außerordentlich starker Trieb zu gegenseitigem Anlehnen und zu Zusammenschlüssen aller Art. Politisch äußerte sich dieser Drang zur Herde in dem Bündniswesen der Städte, wirtschaftlich in dem die ganze Struktur der städtischen Gesellschaft beherrschenden Zunftwesen. Der einzelne fühlte sich nur noch in der Masse stark und opferte seine Freiheit zu Gunsten größerer politischer Sicherheit. Im übrigen dachte wenigstens die große Masse der städtischen Bevölkerung durchaus gesund und gegenständlich, trug geduldig des Lebens Last, suchte die am Wege liegenden Genüsse unbedenklich auf und stand jedenfalls mit festen Füßen auf der wohlgegründeten Erde. Und dennoch denke man nicht, nur Kraft und Gesundheit in diesen Bürgern des 15. Jahrhunderts zu finden. Schon seit der Mitte des 14. Jahrhunderts traten doch immer häufiger eigenartige Verbildungen im Gefühlsleben auf, die dann in den aufgeregten Zeiten des 16. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichten. Schon das geschlechtliche Treiben der Zeit äußerte sich nicht mehr mit der Selbstverständlichkeit der früheren Jahrhunderte, sondern zeigte hin und wieder Überreizungen und Verirrungen. Dazu kam die sich immer mehr steigende Lust an grausamen Strafen und Hinrichtungen, die in aller Öffentlichkeit vor sich gingen, um die Schaulust des Volkes zu befriedigen. Die Freude an den Qualen anderer aber geht schließlich über in die Wollust, dem eigenen Körper Schmerzen zuzufügen. Auch daß Jahrzehnte größter Sinnenfreude plötzlich Zeiten Platz machten, in denen man sich in der Abtötung des Fleisches nicht genugtun konnte, deutet darauf hin, daß die Menschen ihr Gleichmaß verloren hatten. Kriegsnöte und vor allem Pestzeiten, die ja bis in den Ausgang des 17. Jahrhunderts die europäische Menschheit immer wieder furchtbar dezimierten, dazu gewisse Bußmittel der Kirche und die Vorstellung von den Strafen der Hölle scheinen bei zartnervigen Menschen das ihre zur Auslösung von krankhaften Gefühlswallungen beigetragen zu haben. In anderen Gegenden unseres Vaterlandes mehr als in Nordhausen. Unsere Heimat scheint sich durchaus gesund und unspekulativ, einfach und schlicht im Fühlen und Denken gehalten zu haben.

Ganz verschont von den nervösen Zuckungen des Volkskörpers nach furchtbaren Erlebnissen blieb allerdings auch Nordhausen nicht. Am berühmtesten und berüchtigsten sind ja die Geißlerfährten in und kurz nach der großen Pestzeit der Jahre 1348 bis 1350 geworden. Auch im thüringischen Lande zogen damals die Flagellanten beiderlei Geschlechts herum, zunächst von der Kirche geduldet, bald aber verfolgt. Denn sie achteten ihrer Bußübungen, die sie noch dazu ohne Geheiß der Kirche Vornahmen, mehr als die Gnadenmittel der Kirche, griffen auch wohl Geistliche wegen ihres Lebenswandels an. So wurde ihnen 1364 unter anderem nachgesagt, daß sie die Sakramente verachteten und meinten, die Kirchen seien Räuberhöhlen, speluncae latronum. 1415 bei einem Prozeß gegen Flagellanten in Sondershausen war von 25 Artikeln derselben die Rede, in denen auch stehen sollte, daß die Geistlichen die heiligen Handlungen nur, um sich selbst die Taschen zu füllen, propter avaritiam, vomähmen und daß die Geißler die Ansicht verträten, im Sakrament des Altars sei nicht der wahre Körper und das wahre Blut, sondern höchstens geweihtes Brot.[17]

In der Mitte des 14. Jahrhunderts scheinen die Gegenden zwischen Harz und Hainleite noch nicht von dem Taumel erfaßt worden zu sein. Auch sonst konnte die Bewegung bald erstickt werden. Doch im Verborgenen behielten die Bußübungen der Geißler ihre Anhänger; diese fanden sich immer wieder zusammen, wahrten ihr Geheimnis aufs strengste und sorgten auch dafür, ihre Gewohnheiten fortzuerben. Bleichsüchtige Mädchen, hysterische Frauen, alternde Männer fanden immer wieder Gefallen, ihren Körper durch Geißelhiebe zu zerfleischen.

Aus dem Jahre 1369 haben wir zum ersten Male für Nordhausen eine Nachricht, daß das Treiben von Flagellanten der Öffentlichkeit verraten ward und nun sich ein Inquisitiongericht mit den Ketzern beschäftigte. 40 Geißler beiderlei Geschlechts wurden damals eingezogen, 7 wurden verbrannt, die anderen widerriefen.

Mehr als im 14. Jahrhundert trat im 15. Jahrhundert diese ungesunde Geißlerbewegung in unserer Gegend auf. 1414 fand ein Gerichtsverfahren gegen eine größere Geißlergesellschaft zu Sangerhausen statt, 1446 griff das geistliche Gericht gegen 13 heimliche Geißler in Nordhausen ein. Es waren 5 Männer und 8 Frauen, gegen die der Dominikaner und Professor Friedrich Müller, apostolischer Ketzermeister in der Diözese Mainz, an der Spitze eines aus geistlichen und weltlichen Richtern bestehenden Kollegiums vorging. Die Verhöre fanden an 12. und 13. sowie 20. und 27. Juli in der Konsistoralstube des Heiligen Kreuzstiftes statt. Am 4. August erkannte das Gericht, Glaube und Treiben der Geißler sei ketzerisch, und verurteilte die Schuldigen zum Feuertode. Da uns aus demselben Jahre 1446 eine Nachricht vorliegt, es seien damals 12 Ketzer zu Nordhausen verbrannt worden, werden es wahrscheinlich diese Ketzer sein, die hier auf dem Scheiterhaufen und am Brandpfahl für ihr Vergehen büßten.

In jenen Jahren muß in Thüringen nach den sinnen- und lebensfreudigen ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts ganz allgemein die Sehnsucht nach Bußübungen dieser Art zugenommen haben. Ein Prophet namens Kurt Schmidt muß großen Anhang gefunden haben. 1454 forderte deshalb Herzog Wilhelm von Sachsen auf, gegen die Flagellanten vorzugehen, da sie sich „hiewen mitpitzschin unde gloubeten nicht an die heiligen sacrament“. In unserer Heimat fanden damals in Sangerhausen, Weißensee, Sondershausen, Stolberg und Heringen Verfolgungen statt. Von dem widerlichen Prozeß, den man im März 1454 den Ketzern in Stolberg machte und der mit dem Feuertode von 30 Menschen beiderlei Geschlechts endete, hat unser Chronist Förstemann berichtet. Bei ihm mag nachlesen, wer in die Abgründe menschlichen Seelenlebens, die wahrscheinlich bei den Richtern nicht weniger als bei den Ketzern vorhanden waren, hinabsteigen will. Nordhausen blieb damals von Ketzergerichten verschont.[18]

Derlei seelische Verirrungen im Gefolge des Kultus kommen zwar zu allen Zeiten und überall auf der Erde vor, im allgemeinen führt aber gottlob ein erhöhtes, durch religiöse Übungen angeregtes Gefühlsleben eher dazu, die Menschheit durch edelste Äußerungen andächtigen Versenkens zu beglücken als sie vor religiösem Wahnsinn erschaudern zu lassen. So hat denn auch der fromme Sinn in dem Nordhausen des 15. Jahrhunderts eine ganze Anzahl schöner Kunstwerke erstehen lassen, die uns noch heute erfreuen und erbauen. Hier sieht man, wie durch die Religion die Ausübung mechanischer und schematischer Arbeiten aus dem rein Handwerksmäßigen emporgesteigert werden kann zu künstlerischen Taten.

Die noch am wenigsten geglückte Leistung ist die Gußarbeit des Taufbeckens in der Petrikirche aus dem Jahre 1429. Dieses Becken besitzt eine Höhe von 84 Zentimetern, einen Durchmesser von 68 Zentimetern. Es wird getragen von vier männlichen Gestalten mit Kinnbärten. Die äußere Fläche des eigentlichen Bekkens zeigt nicht ungeschickt ausgeführte Kielbogenwimperge, unter denen 16 Heiligenfiguren stehen. Im ganzen ist die Ausführung besonders der menschlichen Nachbildungen steif und unbeholfen und läßt den lebensvollen Ausdruck der Steinmetzarbeiten des 13. und 14. Jahrhunderts vermissen.

Der Altendorfer Kirche schenkte ein Holzschnitzer in der Mitte des 15. Jahrhunderts das Bild einer sitzenden Maria mit dem Leichnam des Sohnes auf dem Schoße. Die Figuren waren bemalt; die ausdrucksvolle, faltenreiche Gewandung zeigte z. T. goldenen Schmuck. Nicht ohne Eindruck auf den Beschauer bleibt noch heute das schmerzerfüllte Gesicht der Jungfrau mit den herabgezogenen Mundwinkeln und dem traurigen Blick der Augen. Wenig geglückt ist dem Künstler dagegen der Leichnam des Herrn, der auf den Knien Marias liegt; Armund Beinhaltung sind steif, und das Antlitz erscheint zu schmerzverzogen, als daß es rühren könnte. Die Skulptur wird heute im Nordhäuser Museum aufbewahrt.

Ebendort hat eine Kreuztragungsgruppe Aufnahme gefunden, die einst eine Nische des Rondels am Töpfertore zierte. Sie ist gleichzeitig mit dem Bollwerk am Töpfertore im Jahre 1487 entstanden. Die in lange Gewänder gehüllte, überlebensgroße Holzfigur des Herrn wird von einem Söldner an einer Kette geführt; Simon von Kyrene, als Mönch gebildet, folgt dem Leidenszuge. Die Gestalten, die Jahrhunderte lang der Witterung ausgesetzt waren, sind stark mitgenommen. Am eindrucksvollsten wirkt noch der Landsknecht, dessen Schnurrbart und emporgezogene Brauen sowie die den Morgenstern schwingende Hand recht gut die Roheit des Kriegsknechts zum Ausdruck bringen.

Mindestens dieselbe Beachtung verdient eine Reihe eherner Grabplatten, welche aus dem Beginn des 15. Jahrhunderts stammen. Damals hatte in Nordund Westdeutschland bei weiteren Kreisen wohlhabender Familien die Sitte Eingang gefunden, sich an Stelle der älteren Steinplatten gravierte oder in Relief gegossene, aus Messing bestehende Grabplatten anfertigen zu lassen. Daß sich der Brauch auch in Nordhausen findet, beweist, wie Nordhausen allmählich immer mehr Beziehungen zu den Gegenden nördlich des Harzes, zu Goslar, Hildesheim und Braunschweig knüpfte. Die Platten zeigen die Ganzbilder Nordhäuser Patrizier; sie lagen einst auf deren Gräbern im Martinihospital, wurden aber später in der Kapelle des Siechhofes untergebracht. Heute dienen sie den gotischen Räumen des Nordhäuser Museums als vornehmste Schmuckstücke. Künstlerisch am wertvollsten ist die Grabplatte der frommen und wohltätigen Gebrüder Johann und Simon Segemund. Die Figuren stehen unter gotischen Kielbogen Wimpergen, in denen Rauchfässer schwingende Engelein schweben. Die Gestalten der Verstorbenen selbst lassen eine nicht geringe Gravierkunst erkennen.

Daneben befinden sich vier noch heute vorhandene Tafeln vom Grabmale Heinrichs von Werther. Die künstlerische Ausführung ist wenig tüchtig, doch ist die Gewandung des Verstorbenen kulturhistorisch interessant. Unter den üblichen, mit Zinnen überbauten Bogen als Rahmen steht der Patrizier. Er ist mit einem sogenannten langärmeligen Scheckenrocke bekleidet. Den Gürtel des Kleides bilden Homfesseln, die mit Schellen behangen sind. Die mit modischen engen Strumpfhosen bekleideten Beine hat er zum Gebete gebeugt; an den Füßen sitzen lange Schnabelschuhe. Darunter ist das einen Windhund führende Familienwappen der Wertherschen Familie angebracht.

Neben diesen Platten verdienen aus der Kapelle St. Cyriaci noch die Grabplatten zweier Hermann Werther, der Katharina Werther, zweier Urbachs und zweier Priester Erwähnung, heute sämtlich im Museum.

Auf die Blüte der Erzgießerei im 15. und 16. Jahrhundert verweisen, abgesehen von den oben geschilderten Geschützrohren, aber auch noch die im 15. Jahrhundert gegossenen Glocken Nordhäuser Kirchen. Unter anderen erhielt 1413 St. Jakobi eine Glocke, 1440 die Frauenbergskirche, 1470 das Hospital St. Cyriaci von demselben Erzgießer Kurt Solling, der 1458 der Stadt eine Haubitze gegossen hatte, 1488 St. Blasii. Auch in die Türme des Doms ward im Laufe des 15. Jahrhunderts eine neue Glocke gehängt. Den schönsten Spruch weist die Glocke der Blasiikirche auf: Sabbato pango, funera plango, noxia frango, excito lentos, paco cruentos, dissipo ventos; des Herrn Tage künde ich, die Toten betrauere ich, ich wende ab alles Verderbliche, rufe die Saumseligen, bändige die Wütenden, zerstreue die Winde.

Das unseres Erachtens wertvollste Denkmal mittelalterlicher Kunst jedoch enthält die Domkirche in den Holzschnitzereien ihres Chorgestühls. Die dargestellten Szenen selbst zwar zeigen wenig Originales, sondern illustrieren, wie allgemein üblich war, nur die Geschichte des Gotteshauses und eine Reihe biblischer Erzählungen. So sehen wir Heinrich I. und seine Gemahlin Mathilde, die Gründer Nordhausens und des Stiftes, dargestellt, so finden wir die beliebten Szenen von Samson und Delila, von dem aus dem Rachen des Walfisches ausgespienen Jonas u. a. wieder. Doch die Ausführung selbst besitzt einen hohen Kunstwert. Überall finden sich drastische und charakteristische Züge, nirgends ist nach einem Schema gearbeitet, immer wieder entzückt geistvoll nachgebildetes Leben. Und doch hebt eine gewisse Stilisierung die Darstellung aus der bloßen Natumachahmung heraus. Reiches Rankenwerk von sauberster Arbeit umgibt die figürlichen Bilder. Die Rückwände des Chorgestühls weisen Blendarkaden auf, die Bögen sind mit immer neue Formen zeigendem Maßwerk reich gefüllt. Der Stil der mittleren Gotik verweist die Arbeit in die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts. Wir haben hier reifste Kunst des ausgehenden Mittelalters vor uns. –

15. Jahrhundert! Was weiß die Menschheit von ihm, und was braucht sie von ihm zu wissen! Heldenzeit und Heldensinn waren vorüber, große Taten und große Ideen, welche die Menschheit vorwärts geführt hätten, finden sich wenig im 15. Jahrhundert. Doch gelebt und geliebt und gelitten und sich als Angelpunkt des Weltalls gedacht hat auch damals die Menschheit; und Bausteine zu dem großen Dome der westeuropäischen Menschheit herbeigeschafft, wenn auch nur als Kärrner und nicht als Könige, haben damals die Menschen auch. Doch der nach und nach immer höher herauswachsende Bau regte auch zu neuen, schöpferischen Gedanken an. In Italien hatte es schon längst begonnen, und mit dem ausgehenden Jahrhundert spritzten die ersten glänzenden Schaumkronen über das Alpengebirge nach Deutschland. Und dann folgte Flut auf Flut, und es ward eine Lust zu leben.




  1. Vergl. Förstemann, Kleine Schriften, 57 ff.
  2. Abgesehen von den zahlreichen Abhandlungen, welche die Frage der Rolandsbilder allgemein erörtert, sei verwiesen auf Förstemann, Kleine Schriften, 157. K. Meyer, Zeitschrift des Harzvereins, 32. Jahrgang, 625 ff. Meyer, Allg. Zeitung, 28. August 1925. Heineck, Nordh. Familienblätter der Nordh. Zeitung, 12. Sept. 1925.
  3. Siehe oben Kapitel 4.
  4. Siehe unten Kapitel 15.
  5. Vergl. K. Meyer, Die Reichsstadt Nordhausen als Festung, 24 ff. Nordhausen, 1887.
  6. Vergl. Caesar, De bello Gallico, Com. V. 14: Omnes vero se Britanni vitro inficiunt, quod caeruleum efficit colorem, atque hoc horridiores sunt in pugna aspectu. - Urk.-Buch der Stadt Jena, Bd. II. ed. Devrient, 1903, Urkunde vom 1. Juli 1443. - Der Chronist Bohne berichtet um 1700: Der W eid,... wird vor und in unserer Stadt nicht mehr gezeuget... Denn nachdem der Engländer aus Thüringen den Samen bekommen und der Indich (Indigo) in dieses Land gebracht, ist der Ruhm des Weids wegen ziemlich gefallen.
  7. Die wirtschaftlichen Verhältnisse des 15. Jahrhunderts sind bisher überhaupt noch nicht behandelt worden. Sie dürften ein dankbares Objekt für weitere Untersuchungen sein.
  8. Das Verhältnis des mittelalterlichen Nordhausen zur Kirche ist bisher noch gar nicht behandelt. Auch hier wäre noch manche Einzeluntersuchung recht verdienstlich.
  9. Von solchen Flurpredigten haben wir drei gedruckt erhalten, die der Chronist Lesser in den Jahren 1741, 1747 und 1750 im Hof des Hospitals gehalten hat. Vergl. unten Kapitel 14
  10. Vergi. Förstemann, Chronik. Schmidt, Bau- und Kunstdenkmäler.
  11. 1420 schreibt Frater Robertas aus Marburg: volo insuper et ordino. ut animae vestrae post decessus vestros recommendentur fratrum nostrorum orationibus in nostro capitulo, si vestri obitus ibidem fuerint nunciati.
  12. Vergl. unten Kapitel 13.
  13. Förstemann, Kl. Schriften 110 ff. Heineck, Die Nordh. Schützenkompanie, Festzeitung der Schützenkompanie zu Nordhausen 1908. Heineck, Urk. Gesch. der Schützenkompanie zu Nordh. 1896, Selbstverlag des Museums.
  14. Hartung Cammermeisters Chronik, 149.
  15. Vergl. Botho von Stolberg, a. a. O., 528 ff.
  16. Förstemann, Kleine Schriften, 118 ff.
  17. Vergl. Neue Mitteilungen des Th.-Sächs. Vereins II. 1 ff. Stumpf, Historia flagellantium praecipue in Thuringia, mitget. von Ehrhard, Münster. Artikel 16: Credunt, quod in sacramento Altaris non sit verum corpus Christi et sanguis, sed simplex panis benedictus duntaxat.
  18. Vergl. Förstemann, Neue Mitteilungen VII, 397 ff. Hartung Kammermeister, 136.