Nordhausen April 1945: Hintergründe, Opfer, Erinnerung

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Nordhausen April 1945: Hintergründe, Opfer, Erinnerung ist der Name eines Forschungsprojektes, dass seit 2019 die Luftangriffe auf Nordhausen am 3. und 4. April 1945 untersucht und 2023 abgeschlossen sein soll.

Vorbereitung

Seit 2019 hat ein Team unter der Leitung von Jens Schley im Auftrag der Stadt Nordhausen bzw. nach Stadtratsbeschluss die Geschichte der Luftangriffe auf Nordhausen während des Zweiten Weltkriegs untersucht. Erste Ergebnisse wurde 2022 präsentiert.

Ziele

Das Forschungsteam verfolgte drei Hauptziele: die Rekonstruktion der Planung und Durchführung der Luftangriffe aus der Perspektive der Alliierten, die Überprüfung der Anzahl der Opfer dieser Luftangriffe auf Basis aller verfügbaren Dokumente und die Analyse der städtischen Erinnerungskultur an diese Ereignisse seit 1945.

Die Ergebnisse dieser Studie sollen dazu beitragen, einen Neuanfang in der Erinnerungskultur der Stadt an die Luftangriffe zu ermöglichen. Die Notwendigkeit dafür zeige sich in den Mythen, die sich um die Angriffe ranken und die Frage, warum die Stadt rund eine Woche vor ihrer Besetzung durch US-Truppen Ziel von zwei Großangriffen war, die tausende Menschenleben kosteten.

Die Studie will auch die individuellen und sehr unterschiedlichen Erinnerungen an die Luftangriffe dar. Die Schicksale der Betroffenen unterscheiden sich stark: Einige der Opfer waren zuvor als Bombenopfer aus anderen Städten nach Nordhausen evakuiert worden, während für Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge die Luftangriffe bzw. der Einmarsch der US-Amerikaner in vielen Fällen auch Befreiung bedeuteten. Die Forschung will darauf abzielen, diese vielfältigen Schicksale und das Bewusstsein für die eigene Verantwortung wieder sichtbar zu machen.

Nach Kriegsende positionierte sich Nordhausen als die am meisten zerstörte Stadt mit der höchsten Todeszahl unter den thüringischen Städten. Diese Superlative prägten die Erinnerungskultur der Stadt und verhinderten oftmals eine differenziertere Auseinandersetzung mit den Ereignissen. Das Forschungsteam um Schley strebt an, diese Superlative nicht zu negieren, sondern ihre Funktion in der Erinnerungskultur zu hinterfragen und sie zumindest teilweise in den Hintergrund zu rücken.

Opferzahl

Die Untersuchung der Luftangriffe auf Nordhausen durch Jens Schley und sein Team beinhaltete auch eine Überprüfung der berichteten Zahl von 8.800 Todesopfern, was in den letzten Jahren in der Stadt Gegenstand von Diskussionen war. Bei der Durchsicht der im Stadtarchiv vorhandenen Dokumente fanden die Forscher Anhaltspunkte dafür, dass diese Zahl eher eine Schätzung sein könnte und nicht unbedingt mit den vorhandenen Unterlagen übereinstimmt.

Es existiert eine allgemeine Annahme in der Stadt, dass eine genaue Zahl der Opfer aufgrund der Zerstörung vieler Dokumente durch die Luftangriffe schwer zu bestimmen ist. Während diese Aussage einen gewissen Wahrheitsgehalt hat, bezögen sie sich nicht auf die Dokumente, die im Anschluss an die Angriffe zur Registrierung und Beisetzung der Verstorbenen erstellt wurden. Diese Unterlagen, die über viele Jahre hinweg unberücksichtigt blieben, wurden im Rahmen dieser Studie erstmals umfassend bewertet.

Die genaue Zahl der Todesopfer durch die Luftangriffe auf Nordhausen ist weiterhin umstritten. Jens Schley und sein Forschungsteam wollen die oft zitierte Zahl von 8.800 Toten aufgrund der von ihnen geprüften Unterlagen aus Nordhausen und anderen Archiven nicht bestätigen. Ihre Recherchen deuten darauf hin, dass bei der ursprünglichen Schätzung, die später so einflussreich wurde, möglicherweise Fehler gemacht wurden.

Die Schätzung von 8.800 Todesopfern durch die Luftangriffe auf Nordhausen stammt aus dem Jahr 1948, als das Land Thüringen eine allgemeine Statistik zu den Bevölkerungsverlusten während des Zweiten Weltkriegs veranlasste. Nach Jens Schley's Forschungsergebnissen hatte Nordhausen zu diesem Zeitpunkt bereits eine Registrierung der Toten abgeschlossen und die Ergebnisse veröffentlicht, die deutlich unter der heute oft zitierten Zahl lagen. Allerdings zeigten Bevölkerungsstatistiken vor und nach Kriegsende eine deutlich höhere Differenz.

Laut Schley versuchte die Stadtverwaltung, diesen Unterschied durch Schätzungen zu erklären. Was ursprünglich als interner Vermerk gedacht war, erlangte politische Bedeutung, als die geschätzte Zahl in den nachfolgenden Jahren zur Begründung für die Verteilung knapper Arbeits- und Bauressourcen für den Wiederaufbau herangezogen wurde. So fand sie Eingang in das öffentliche Gedenken an den Luftkrieg.

Schley betont jedoch, dass es nicht das Ziel seiner Forschung war, eine neue absolute Zahl vorzulegen. Vielmehr ging es darum, transparent darzustellen, wie die Zahlen nach 1945 entstanden und welche Funktion sie im städtischen und staatlichen Gedenken hatten, welches stark vom Kalten Krieg geprägt war.

Aspekte des Gedenkens

Das Forschungsprojekt stellt fest, dass es in den 1980er Jahren in der Stadtgesellschaft Widerstand gegen die Instrumentalisierung des Gedenkens gab. Der Fokus lag dabei auf der Tatsache, dass Nordhausen nicht von „anglo-amerikanischen“, sondern ausschließlich von britischen Bomberverbänden (Royal Air Force) angegriffen wurde. Diese Korrektur in der Darstellung wurde in den letzten Jahren der DDR erreicht, ein Aspekt, den Schley als wichtigen Schritt zur Emanzipation der Stadt sieht. Nach 1990 wurde diese kritische Hinterfragung laut Schley jedoch nicht auf die Zahl der Luftkriegstoten und das genaue Geschehen ausgeweitet, sodass die alten Sichtweisen vorherrschten.

Jens Schley vertritt die Ansicht, dass es verschiedene Gründe für die Festhaltung an den alten Sichtweisen gibt. Zum einen führt er an, dass nach der Wiedervereinigung das Augenmerk auf das Leiden der Nordhäuser im April 1945 gelenkt und gleichzeitig die Verantwortung für den Krieg relativieren werden würde. Zum anderen würde das Festhalten an den Superlativen vor der Auseinandersetzung mit unangenehmen Fragen schützten. Wer sich mit den Luftangriffen auf Nordhausen beschäftigt, muss sich nach Schleys Meinung auch mit der Tatsache auseinandersetzen, dass nach der Besetzung der Stadt durch US-Soldaten am 11. April 1945 über 2.000 tote Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge auf dem Gelände der Boelcke-Kaserne gefunden wurden.

In den ersten Tagen nach den Luftangriffen betrat die Bevölkerung von Nordhausen dieses Gelände nicht und ließ die Verwundeten und Toten sich selbst überlassen. Viele der Toten in der Boelcke-Kaserne wären nicht durch die Luftangriffe gestorben, sondern waren bereits tot oder wurden von der Wachmannschaft sterbend zurückgelassen. Schley weist darauf hin, dass die hier gestorbenen Zwangsarbeiter zu den Tausenden Menschen gehören, die in Nordhausen Zwangsarbeit leisten mussten, und betont, dass dies Teil der Vergangenheit der Stadt im Nationalsozialismus ist.

Nach Schleys Meinung ist die Stadt den damit verbundenen Fragen nach eigener Verantwortung und dem Verhalten der Stadtgesellschaft vielfach aus dem Weg gegangen. So gibt es zum Beispiel am Ort der Boelcke-Kaserne heute nur einen kleinen Gedenkstein und der Ort ist weitgehend in Vergessenheit geraten.

Gründe für die Bombardierung

Jens Schley erklärt, dass es bei den Luftangriffen auf Nordhausen zwei Hauptziele gab. Einerseits sollte Nordhausen als Verkehrsknotenpunkt der Wehrmacht unbrauchbar gemacht werden. Andererseits wurde die Boelcke-Kaserne als potenzieller Evakuierungs- oder Fluchtort für Befehlsstellen der Wehrmacht und hohe Funktionäre eingestuft.

Laut Schley ging die alliierte Militärführung ab Mitte März 1945 davon aus, dass die Wehrmachts- und Parteiführung versuchen würde, Berlin zu verlassen und die vermeintliche Alpenfestung zu erreichen. Sie vermuteten, dass diese auf ihrem Weg eine Zwischenstation in Mitteldeutschland einlegen würden. Daher wurden in Nordhausen und anderen Städten in Thüringen und Sachsen-Anhalt vermutete Standorte bombardiert.

Die Angriffe erfolgten laut Schley unter den Bedingungen einer kaum mehr vorhandenen deutschen Luftverteidigung und mit der von den Briten zu dieser Zeit bevorzugten Methode des Flächenbombardements. Dies erklärt ihre hohe Zerstörungswirkung. Schley weist darauf hin, dass diese Methode im Frühjahr 1945 in der Royal Air Force selbst umstritten war, da ihre militärische Wirkung nicht überzeugte.

Schley stellt klar, dass den Briten unbekannt war, dass sich in der Kasernenanlage ein Sterbelager beziehungsweise ein Lazarett befand. Es war auch nicht als solches gekennzeichnet.

Das Team weist dabei auf die Komplexität und den Kontext der Luftangriffe auf Nordhausen hin. Nach persönlichen Erfahrungen von Krieg und Bombardierung wird die Bombardierung oft als sinnlos gesehen, was durch die traumatischen Erlebnisse verstärkt wird. Schley betont jedoch, dass sie aus der damaligen Perspektive in einen Kontext von Kriegsaktivitäten und -verbrechen eingebettet waren, einschließlich Todesmärschen von KZ-Häftlingen und militärischen Auseinandersetzungen. Diese Angriffe reiht Schley in den Kontext eines Krieges ein, der bis zur bitteren Konsequenz geführt wurde, und dass sie keine unberührte, am Krieg unbeteiligte Stadt trafen.

Externe Verweise