Festreden zur Jahrtausendfeier von Nordhausen am 28. Mai 1927: Unterschied zwischen den Versionen

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<center>Deutschland, unser geliebtes Vaterland, hoch, hoch, hoch!</center>
<center>Deutschland, unser geliebtes Vaterland, hoch, hoch, hoch!</center>
== Stadtschulrat Dr. Koch ==
Hoch zu verehrender Herr Staatsminister!
Hochansehnliche Festversammlung!
In dieser Stunde hören wir den Pendelschlag der Ewigkeit!
Nordhausen, du Tausendjährige! Ein Nichts „unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit" — sind doch das Ergebnis einer nicht zu begreifenden Menge von wirkender Menschenkraft! Tausend Jahre ist gedacht, gefühlt, gewollt, gehandelt worden, damit dieser Tag kommen konnte. Generationen um Generationen von Menschen wurden geboren und wurden zu Staub, damit unsere Herzen in dieser feierlichen Stunde schlagen dürfen. Auf tausenden und tausenden von Gräbern steht unser grünendes, blühendes, schaffendes Leben. Hört, wie sie zu uns sprechen, die Toten!
<poem>
„Wir Toten, wir Toten, sind größere Heere
als ihr auf der Erde, als ihr auf dem Meere'
Wir pflügten das Feld mit geduldigen Taten,
ihr schwinget die Sichel und schneidet die Saaten,
und was wir vollendet und was wir begonnen,
das füllt noch dortoben die rauschenden Bronnen,
sind all unser Lieben und Hassen und Hadern,
das klopft noch dort oben in sterblichen Adern,
und was wir an gültigen Sätzen gefunden,
dran bleibt aller irdische Wandel gebunden,
und unsere Töne, Gebilde, Gedichte
erkämpfen den Lorbeer im strahlenden Lichte,
wir suchen noch immer die menschlichen Ziele —
drum ehret und opfert! Denn unser sind viele!"
</poem>
Ja, wir ehren und opfern! Wir ehren Euch, Ihr Vielen, deren Gebilde noch heute im strahlenden Lichte wirken — Hunderte und aberhunderte von Jahren, nachdem Ihr Asche wurdet. Ja, Ihr „sucht noch immer die menschlichen Ziele", denn was wir auch tun und was wir mit stolzer Freude als unsere Taten buchen, Ihr seit es, die irr uns wirken. Eure Taten sind es, die unsere Taten werden lassen!
Es ist, als ob durch diese Stunde die zusammengeballte Lebenskraft dieser Abertausend webte, die einst Menschen waren wie wir, geliebt und gehaßt haben, wie wir lieben und hassen, gewollt und gehandelt haben, wie wir wollen und handeln — dieser Abertausend, ohne die wir nichts sind und weniger als ein Nichts. Eine Stunde wie diese schlägt mit Hammerschlägen, gewaltig wie das Schicksal, in unsere Seele die Erkenntnis der ewigen Zusammenhänge zwischen dem was war, und dem, was ist; die Erkenntnis, daß wirkende Menschenkraft nicht stirbt, wenn der Leib vergeht; die Erkenntnis, daß die Tat unsterblich ist. Nicht nur die heroische Tat, die Staaten schafft und Staaten zerschlägt, nicht nur die Geistestat, die Welten in neue Wege treibt: auch das Handeln in der Beschränkung, die gewissenhafte Arbeit des Alltags, der ist, wie der gestrige war und der morgige sein wird.
So muß, was durch unsere Seele geht, heute, in dieser Stunde, Ehrfurcht sein, endlose Ehrfurcht vor denen, die einst gehandelt haben, wo wir handeln; Ehrfurcht, die unserer Zeit fehlt und ihr nötiger ist als das liebe Brot; Ehrfurcht, die uns klein und demütig macht und als Pflicht erscheinen läßt, was wir zum Verdienst formen möchten. Ehrfurcht vor den Taten der Toten. „Drum ehret und opfert! Denn ihrer sind viele!
Wir neigen uns in dieser Stunde vor Euch, Ihr Großen und Kleinen, Ihr, die Ihr Weltgeschichte gemacht habt und Ihr, die Ihr behaglich am Boden des Geschehens dahinlebtet. Wir neigen uns vor Euch, die wir nicht kennen!
Ehrfurcht geht durch diese Stunde und die Erkenntnis, daß menschliches Handeln nicht verloren ist, mag auch der Leib vergehen und der Name schwinden. Denn „im Anfang war die Tat!" „Nicht zum müßigen Beschauen und Betrachten deiner selbst und zum Brüten über andächtige Empfindungen, nein, zum Handeln bist Du da. Das Handeln und allein das Handeln bestimmt Deinen Wert." Dieses Wort Fichtes — wie klingt es unserer Zeit des Wortemachens, wie klingt es in dieser Stunde, die das Ergebnis von unzähligem Handeln geschaffen hat!
Ja, diese Stadt war eine Kleinstadt und ist eine Mittelstadt, ist eine Stadt in einer preußischen Provinz. Keine abgestempelte Hauptstadt irgendwelcher Art. Kein „Augustisch Alter" hat ihr geblüht, und ihr Leben ist kein Heldenepos, das von heroischer Tat zu heroischer Tat eilt. Kein Name klingt aus unserer Geschichte, dessen Klang ein ganzes Volk erschauern läßt.
Und dennoch! und trotzdem! Nirgends kann der Pulsschlag des ewigen Lebens der Tat klarer gefühlt werden als da, wo in kleinem Kreise, in den engen Schranken der Bevölkerung eines solchen Zwergstaates, wie unsere Stadt einer war, sich Generation auf Generation gebaut hat. Wo all das Schaffen sich übersehen läßt, wo nicht die Gestalt eines Riesen mit magnetischer Kraft alles an sich zieht, wo das Sein des Kleinen nicht unsichtbar wird im Schatten des Großen.
Darum geht durch unsere Seele in dieser Stunde die Ehrfurcht mit allbezwingender Gewalt, darum fühlen wir die Ewigkeit des menschlichen Handelns so unerbittlich klar. Darum kommt es uns mit zwingender Macht zum Bewußtsein, daß wir Glieder einer Kette sind, die uns haltend weit hinaus reicht in Gräber und Asche. Darum erkennen wir mit beglückender Klarheit, daß das tote Kraft ist. Und mit der Gewalt ewig geltender Wahrheit fühlen wir die Pflicht, zu handeln, damit auch aus unserem Staube kraftvolles Leben sich erheben kann. Und ein Hauch jenes Hauptsatzes germanischer Sittenlehre weht uns an: es kommt, was kommen muß; aber der Alaun muß handeln, als ob er das Unabänderliche ändern könnte.
Wir danken Euch, Ihr Unbekannten, in dieser Stunde der Ehrfurcht — wir danken Euch, deren Namen wie leuchtende Banner über den Tagen der Vergangenheit wehen.
Wir wären ein klägliches Geschlecht, unwürdig dieser Stunde, wenn wir nicht Deiner zuerst gedächten, Du großer König Heinrich, der vor tausend Jahren mit Weisheit und geschickter Hand die auseinanderstrebenden deutschen Stämme zusammenzwang, Du wahrer Schöpfer unseres deutschen Vaterlandes. Dein Feldherrnblick schuf auf ragendem Steilhang die Burg, der unsere Stadt entstammt, ein „noli me tangere" dem furchtbaren Erbfeind, dem schweifenden Ungarn! Und die fromme Gemahlin, die treue Gattin und gute Mutter, fügte, fraulich fühlend, die Stätte frommen Lebens dem Steinbau bitterer Notwendigkeit hinzu! Heinrich und Mathilde — Eure Bilder schmücken den Taler, den das Reich uns zu dieser Feier gab: aus tiefer Ehrfurcht vor Euch — dem Walten des Mannes und dem Walten des Weibes — ist der Wunsch erzeugt. Euch als Symbol dieser Feierstunde vor den Lebenden zu erheben und vor denen, die nach uns kommen werden! Unsere Seelen neigen sich Euch in Dank und Gelöbnis!
Ihr ruhtet schon längst in Eurer Gruft in Quitilingaburg, schon längst war Euer herrliches sächsisches Herzogsgeschlecht dahin, als das Walten wirkender Menschenkraft Eure Schöpfung aus Gebundenheit zum Eigenleben wandelte.
Die Stunde der Geburt des Bürgerbewußtseins schlug. Der junge Hohenstaufe Friedrich II. — der im Kampfe gegen eine Welt unterlag wie wir: im weinfrohen Würzburg Unterzeichnete seine jugendliche Hand eine Urkunde, und diese wenigen Striche machten Nordhausen zu einer Stadt des Reiches. Das Jahr 1220 soll jeder Nordhäuser kennen. Denn mit ihm geht die Geschichte eines Staates an.
Männer, zum Herrschen geboren und erzogen, Männer, gleich bereit, den Helm ans das Haupt zu drücken und den Entschluß zu packen, wie den Griff des Schwertes, erheben sich in langer Reihe ans ihren Gräbern. Selbstbewußt, rücksichtslos, gewaltsam: der Tag der Geschlechter" brach an. Dies sind die Jahrzehnte, in denen die Geschichte der Stadt wie Balladen klingt, wo das ratende Wort und das klingende Schwert der herrschenden Familien das Banner der Stadt, das der Reichsadler schmückt, kraftvoll und ruhmvoll aufwärts trägt.
Bis ein Tag kommt, an dem — wie stets in der Geschichte — die Überspannung ihre Rache fordert, bis die Verkennung des richtigen Augenblickes zeigt, daß neue Mächte in verderblicher Niederhaltung zu gewaltsamer Entladung getrieben werden: das ist der Tag des Riesenhaus-Sturmes, das ist das Jahr 1375, das ist der Morgen, der dem kraftvoll erblühten Handwerk gehört.
Und wenn ans der anfänglichen Demokratie sich bald eine neue Aristokratie bildet: das Handwerk, das in Zünften vereinigte, durch Zünfte starke, aber in Zünften gebundene Handwerk herrscht. Roch erheben sich ans dem Geschehen dieser Jahre Balladen. Noch brechen Nordhausens Bürger — eng verbunden mit uns jetzt noch befreundeten Städten — die-Burgen des im individualistischen Herrendaseins lebenden Adels. Aberder Fluß des Geschehens wird ruhiger, der Unterschied zwischen Wellenberg nnd Wellental mindert sich. Und an der anfsteigenden Macht der Fürsten zersplittert der Bürgerstolz des selbstbewußten, wohlhabenden Städters. Mühsamer wird das Suchen der heroischen Höhepunkte, bis die Revolution der Renaissance nnd Reformation wieder Männer emporträgt, deren Namen wehen wie richtunggebende Banner. Michael Meyenburg, der Diplomat im Ratsherrnrock, dessen Hand kraftvoll zufassen kann, dessen Wort gilt, wo deutsche Politik gemacht wird; Johann Spangenberg, der von Luthers Lehe innerlich Erfaßte und Durchleuchtete, der Luthers Evangelium im tiefen Herzen trug.
Mit liebevollem Blick verweilen wir ans diesem Höhepunkt städtischer Geschichte, in dem Persönlichkeiten das Rad des Geschehens drehten, in dem die kleine Reichsstadt mehr war, als ihre Einwohnerzahl. Die Jahre stehen vor uns an, in denen die Großen dieser Zeit sich mit Nordhansen Verbünden fühlten, und gern denken wir daran, daß ein Sohn unserer Stadt, Jodocus Koch, der sich mit seinem Humanistennamen Justus Jonas nannte, ein vertrauter Helfer Luthers war.
Noch einmal klingt die Ballade von» Helden des Schwertes und des Geistes durch die Geschichte unserer Stadt.
Zum letzten Male, denn aller Bürgerstolz und alle gesunde Kraft des Bürgerwollens ist in dieser Zeit der wachsenden Fürstenmacht nun nichts mehr wie ein angenommener Wert. Der „Lebende hat Recht." Und die Macht des Bürgertums ist tot.
Was nun folgt — »»och fast 300 Jahre lang — das ist bei allem Willen, die Geschichte der Stadt in diesem Jahre des Gedenkens im Glanz der Herrlichkeit eines selbständigen Staates erleuchten zu lassen, doch nichts weiter, als das vergebliche Ringen eines Sterbenden gegen lebendige, immer wachsende Mächte. Ehre sei den Kämpfern, die mit Weisheit und Geschick das kleine Schiff hindurch steuerten durch die Scylla und Charybdis der Fürsten, die die reiche Stadt als willkommene Ergänzung ihres Besitzes betrachteten. Ehre sei ihnen, die — in von vornherein verlorener Stellung stehend — die Waffen nicht niederlegten, sondern kämpften: einen Kampf, der »licht heroisch strahlend anzusehen ist, nicht glanzvoll eingestellt auf Sein oder Nichtsein auf des Schwertes Schneide, aber darum nicht minder heldenhaft; Ehre sei Ihnen, die im Bewußtsein ihrer Pflicht ihre Pflicht taten und doch erkannten, daß es eben nichts weiter war, als ihre Pflicht.
Kein Wunder — daß, während die Ströme des Handelns nach außen verstopft wurden, im Innern sich Erscheinungen des Verfalles deutlich erkennen lassen, daß im 18. Jahrhundert dieser Verfall sich zu einer Gefahr für das kleine Gemeinwesen aufwächst. Und hier steigt aus den Niederungen egoistischer Verwaltung eine Persönlichkeit auf, deren Name in dieser Feierstunde genannt werden muß, wenn wir nicht dem Vorwurf der Undankbarkeit auf uns laden wollen: Riemann! Ein Fremdling wie Meyenburg, und gleich ihm ein Mann! Ein Mann, der im letzten Jahrhundert vor dem Ende der Reichsstadtherrlichkeit mit dem Gewissen eines anständigen Menschen und der Gewalt einer kraftvollen Persönlichkeit Ordnung schuf in dem dekadenten Leben, in das er trat.
Aber auch so kam, was kommen mnßte.
Der Genius Napoleon, der wie jeder Genius zerschlug und aufbaute, ging mit hartem, nichtachtendem Schritt auch über diese kleine Stadt. Im Jahre 1802 lösten preußische Soldaten die Nordhäuser Stadtsoldaten der Wache ab.
Die Freie und des Heiligen Römischen Reiches Stadt war gewesen.
Ruhmlos und ohne Sang und Klang, ohne jeden heroischen Unterton endete die Geschichte der Freien Stadt und verlief sich in die Geschichte des Staates der deutschen Zukunft.
Wir aber gedenken der stolzen Geschlechter, die einst die Geschicke der Stadt in die Geschicke des deutschen Reiches verpflochten. Wir gedenken der selbstbewußten Handwerksmeister, die ihre Stadt als einen Staat klug und vorsichtig regierten und wir fühlen die Seelennot des Rates, der die Schlüssel der Stadt von sich gab und sich der preußischen Krone beugte. Und in demselben Augenblick wissen wir, als die später Geborenen, als die Menschen des Jahres 1927: daß die Zeit der Freien Reichsstadt erfüllt war, daß dieses Schicksal gut war.
Und nun? Nun mündet die Geschichte Nordhausens ein in die Geschichte des preußischen Staates. Nun schwingen alle Schwingungen des großen Vatelandes in der Bürgerschaft mit. Und Nordhausen ist nichts mehr wie ein kleiner, ganz keiner Teil eines großen Ganzen, das die Schicksale des deutschen Volkes in seinem Schicksal trägt.
Unter die Geschichte des Staates Nordhausen setzen wir — die Tatsachen nehmend wie sie sind — auch in dieser, dem Andenken an die lange Geschichte unserer Stadt geweihten Stunde — entschlossen einen Punkt. Alle Regungen der Seele schweigen.
Aber: was sich angesammelt hat in Jahrhunderten schaffenden Geistes an Werten, das ist unsterblich. Unsterblich nicht nur insofern, als geschehene Taten unvergänglich sind in ihrem Weiterwirken. Unsterblich auch insofern, als alles das, was freier Bürgersinn in sechs Jahrhunderten geschaffen hat, in seiner Eigenart nicht vergehen kann.
Das ist unser Stolz, heute in dieser Stunde: die Reichsfreiheit ist ein längst ausgeträumter Traum. Aber die Verpflichtungen, die sie auferlegt, sie dürfen nicht vergessen werden, und sie sind nicht vergessen.
Das ist es, was heute uns hinaushebt über die Gedanken, die eine beliebige andere Stadt nach lOOOjährigem Bestehen beseelen: wir waren einmal ein selbständiges Staatswesen, gleich Preußen, das uns ausgenommen hat, und dieser Adel verpflichtet.
So weist die wirkende Vergangenheit uns die Straße der Zukunft. Der alte Roland wacht an unserem Wege, wie er einst die Reichsstadtherrlichkeit schirmte, und der schwarze Adler im goldenen Felde schwebt über uns wie über der alten Reichsstadt. Wir können nicht los von den tausend Jahren, auf denen wir stehen. — Unsere Seelen sind voll von dem Bewußtsein dieser Zusammenhänge. Und wir wissen, daß es Felonie gegen die abertausend Toten wäre, deren Leben in unseren Adern klopft, wollten wir ihren heiligen Gral nicht hüten: Das stolze, selbständige, seiner Verantwortung bewußte Bürgertum. Dein Schwert, du alter Roland, soll nicht erblinden, und unserem Adler sollen die Flügel nicht sinken: wir brechen Dir die Treue nicht, Du Tausendjährige, Du freie und des heiligen Römischen Reiches Stadt!
In dieser Stunde hören wir den Pendelschlag der Ewigkeit.

Version vom 19. März 2019, 17:32 Uhr

Festreden zur Jahrtausendfeier der Stadt Nordhausen am 28. Mai 1927.

Oberbürgermeister Dr. Baller

Hochgeehrte Festversammlung!

Die Zeit und ihre Uhr, die mit Millionen und Milliarden Jahren rechnet, als wären es Stunden oder Tage, geht ihren Lauf unablässig weiter. So unendlich groß wie das Weltall ist, so unendlich ist auch seine Zeitrechnung, und es fehlt uns Menschen das Verständnis diese Unendlichkeit zu begreifen. Deshalb müssen wir uns auf unsere Welt und ihre Zeitrechnung einstellen. Dann schrumpft aber der Begriff „Zeit" auf einen verhältnismäßig kleinen Raum zusammen, denn unsere Kenntnis von geschichlichen Ereignissen aus unserer Welt reicht nicht weiter als wenige Jahrtausende zurück. Und in diesem Rahmen muß uns ein Jahrtausend bereits als eine gewaltige Zeitspanne erscheinen, die es gestattet, mit Bewundern und mit Ehrfurcht darauf zurückzuschauen. Freilich: die Zeit, die ja keinen Stillstand und keine Rast kennt, die unbekümmert und unerbittlich über alles Geschehen, wenn es auch noch so groß und inhaltsschwer ist, hinwegschreitet — die Zeit geht auch in 1000 Jahren, achtlos vorüber. Wir Menschen aber dürfen, das kann uns die Zeit nicht verwehren, in einem bedeutsamen Augenblick einmal für eine kurze Weile Halt machen, um zurückzuschauen auf das, was gewesen ist, aus dem Vergangenen zu erklären, was heute ist, und aus der Vergangenheit heraus, über die Gegenwart hinweg, einen Blick in die Zukunft zu werfen.

Tausend Jahre gehen an einer Stadt nicht spurlos vorüber, sie drücken ihr unerbittlich ihr besonderes Gepräge auf. Das Alter läßt sich eben nicht verleugnen! So ist es auch mit Nordhausen. Der Fremde allerdings wird zunächst kaum den Eindruck gewinnen, in eine tausendjährige Stadt zu kommen. Aber sobald er — durch jüngere Stadtteile mit breiten Straßen und modernen Häusern hindurch — in das Stadtinnere gelangt, wird er das Alter verspüren, dem» zahlreiche schmale und steile Treppen führen ihn, an Nesten alter Stadtmauern mit trotzigen Türmen vorbei, in die alte Stadt hinein, und ist er dann im ältesten Teile, dem ehemals umwehrten Alt-Nordhausen angelangt, dann erfaßt sein Blick enge und schmale Straßen mit kleinen, niedrigen, oft vorn Alter gebeugten Häuschen, im bunten Wechsel und unregelmäßig erbaut von unseren Vorfahren, denen ein Gesetz, das Baufluchten vorschreibt, noch unbekannt war. Zwar hat der Baumeister der Neuzeit schon viele alte, baufällige Häuser niedergelegt und durch moderne Bauten ersetzt; zwar hat eine weitschauende Verwaltung für diese neuen Bauten Baufluchten geschaffen, um dem wachsenden Verkehr allmählich Raum zu geben. Aber noch stehen überall mitten darin — verkehrshindernd und verkehrsfeindlich — die Zeugen aus grauer Vorzeit, noch wird Nordhausen auf lange Zeit hinaus den Charakter der alten, tausendjährigen Stadt nicht verleugnen können. Es will ihn aber auch nicht verleugnen, denn moderne Städte, nach neuen städtebaulichen Grundsätzen erbaut, sind zwar sicherlich um vieles Schöne zu beneiden, aber sie können uns nicht den geheimnisvollen Reiz des Alten geben, sie können nicht die malerischen Winkel schaffen, die uns die bescheidenen Lebensbedingungen unserer Vorfahren als Denkmäler hinterlassen haben. Und gerade darin findet der Fremde, der nach Spuren kulturhistorischer Vergangenheit sucht, in Nordhausen köstliche Quellen, und wer unter sachkundiger Führung in die vielen verschwiegenen Winkel vordringt, die dem oberflächlichen Beschauer verborgen bleiben, der wird und muß zu der Überzeugung kommen, daß Nordhausen einen seltenen Reichtum an Altertumsschätzen und Altertumsreizen besitzt.

Doch die Bedeutung der alten Stadt spiegelt sich nicht nur in ihrer äußerlichen Gestalt wieder, sondern noch viel mehr in ihrem inneren Wesen. Und auch dabei kann — das glaube ich ohne Überheblichkeit behaupten zu können — Nordhausen, vor jedem Kritiker in Ehren bestehen. Es ist hier nicht anders wie bei uns Menschen: wessen Leben im täglichen Einerlei — ohne Abwechslung, ohne Widerstände und ohne Kampf — ruhig dahinfließt, der von Sorgen und Nöten niemals etwas verspürt hat, der wird auch kaum Anspruch darauf erheben können, eine „Persönlichkeit" zu sein, denn er weiß ja nichts von den Kämpfen des Lebens und hat niemals Gelegenheit gehabt, sein „Ich", seine ganze Person einzusetzen und dadurch seinen Charakter zu bilden und zu festigen. Erst kürzlich — bei der Jahrhundertfeier Bremerhavens — bat unser allverehrter Herr Reichsaußenminister diesem Gedanken mit den Worten Ausdruck gegeben: „Ob jemand im Menschenleben sich bewährt, das hängt davon ab, ob er nach Schicksalsschlägen im Charakter stark genug ist, aufs neue zu arbeiten und vorwärts zu kommen ... In die Höhe gekommen sind stets nur Menschen, die Hindernisse zu überwinden hatten." Und wie es bei jedem einzelnen von uns ist, so ist es auch bei einer Gemeinschaft von Menschen, mag diese Gemeinschaft ein ganzes Volk umfassen — diesen Vergleich zog Dr. Stresemann — oder mag sie nur die Bürger einer Stadt in sich vereinen. Auch eine Stadt, verkörpert durch ihr Bürgertum, wird stets in ihrer Entwicklung beeinflußt werden durch den Charakter dieses Bürgertums, und sie wird nur dann in der Geschichte bestehen können, wenn ihr Bürgertum stets Kraft und Stärke bewiesen, wenn es durch Kampf und Not auch in schwerster Zeit sich durchgerungen hat.

Ohne im einzelnen auf die wechselvolle Geschichte Nordhausens einzugehen, glaube ich sagen zu dürfen, daß es diese Voraussetzungen in hohem Maße erfüllt. Die inneren und äußeren Kämpfe, die es im Laufe der Jahrhunderte hat erleben müssen, sind hart und schwer gewesen. Aber beseelt von dem Willen zum Leben, von dem Willen zum Sieg, hat es sie erfolgreich bestanden und ist innerlich gefestigt daraus hervorgegangen. Fast 6 Jahrhunderte hindurch ist Nordhausen eine „Freie Reichsstadt" gewesen und hat so seine Entwickelung — wenigstens innerlich — selbst bestimmen können. Aber auch nach seiner Einverleibung ins Königreich Preußen hat es sich seine Selbständigkeit zu bewahren gewußt, und ein kraftvolles Bürgertum hat stets am Aufbau und Ausbau seines Gemeinwesens gearbeitet. In zäher Arbeit haben Nordhausens Bürger an der wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Vaterstadt geschaffen. Reiche Industrien, lebhafter Handel und ein starkes und gesundes Handwerk haben das Wirtschaftsleben Nordhausens zu ungeahnter Blüte entfaltet. Auch das kulturelle Leben war von jeher besonders reich, denn alle Kreise der Bevölkerung haben die höheren Künste stets besonders gehegt und gepflegt. Die schweren Zeiten des großen Weltkrieges und der folgenden vielleicht noch schlimmeren Jahre haben die weitere Entwickelung nicht aufhalten können. Gewiß gab es in diesen schweren Jahren Zeiten, wo mancher mutlos wurde und verzweifeln wollte, aber der alte Bürgersinn und die alte zähe Bürgerkraft haben auch diese Zeiten überwunden und unser Nordhausen weiter aufwärts geführt. Und heute — nur wenige Jahre nach dem furchtbaren Schlage, der uns getroffen hat — sehen wir wieder die schaffenden Hände der Nordhäuser Bürger in alter Kraft sich regen, um weiter zu arbeiten an dem ferneren Aufstieg ihrer geliebten Vaterstadt, getreu dem Spruche, der an dem Laubengauge unseres Stadthauses mit goldenen Lettern verewigt ist: „Rast' ich, so rost' ich".

So gestattet uns nicht nur die äußere Tatsache der tausendjährigen Vergangenheit Nordhausens, sondern auch der Inhalt seiner tausendjährigen Geschichte, das Jubelfest 1927 besonders festlich zu begehen, und das ist auch der Grund, weswegen wir unserer Feier einen größeren Rahmen gegeben haben, als es vielleicht sonst üblich ist. Seit vielen Monaten schon hat Nordhausem sich zum Empfang der zahlreichen Gäste gerüstet, die es gebeten hat, in diesen Festtagen zu ihm zu kommen und an seiner Jubelfeier teilzunehmen. Festlich hat es sich für ihren Empfang geschmückt: ein altes Stadttor — ein Wahrzeichen ans vergangenen Zeiten — grüßt am Bahnhof den Fremden beim Eintritt in die Stadt, ungezählte Fahnen — meist in den schwarz-gelben Farben der alten Freien Reichsstadt — flattern ihm entgegen, und der würzige Duft herrlicher Harzestannen begleitet ihn an seinem Wege. Eine freudig bewegte, erwartungsvolle Menge durchzieht die Straßen, und lachender Sonnenschein überstrahlt das bunte Bild, das sich unseren Angell darbietet.

Schon gestern ist eine stattliche Anzahl Gäste aus allen Teilen unseres Vaterlandes, besonders aber aus unserer engeren Heimat, angekommen, um bei diesem Feste ein frohes Wiedersehen zu feiern mit der Stadt, um alte liebgewordene Erinnerungen aufzufrischen und alte Bekannte zu begrüßen. Der Auftakt am Abend, das zwanglose Zusammensein in unserer Festhalle, hat ihnen dazu die erste Gelegenheit gegeben, und frohe Gesichter zeugten von ehrlicher Wiedersehensfreude. Wie im Fluge vergingen die Stunden, und nach kurzer Ruhe grüßten uns heute am Festesmorgen Choräle vom altehrwürdigen Petrikirchturm und mahnten uns zugleich an die ernste Bedeutung des heutigen Tages. Dann ertönte der eherne Klang der erst vor welligen Wochen geweihten netten Kirchenglocken, der uns die Erinnerung zurückrief an die schweren Zeiten, wo ihre Vorgänger zur Abwehr gegen unsere Feinde auf dem Altar des Vaterlandes geopfert wurden, und an die vielen Stunden tiefer Trauer, die das gewaltige Völkerringen auch in unsere Stadt brachte, da mehr als 1000 Söhne Nordhausens ihr Leben für das geliebte Vaterland lassen mußten. Beim Festgottesdienste in unserer alten Marktkirche haben wir ihrer in tiefer Dankbarkeit gedacht, haben Gott gedankt, daß er uns durch das Dunkel der vergangenen, schweren Jahre hindurch bis zu dieser Stunde geleitet hat und den Segen von ihm erfleht für die Zukunft unserer geliebten Stadt.

Und nun ist der Höhepunkt der Feier gekommen. Eine festlich gekleidete und festlich gestimmte Menge erfüllt diesen Saal, der sonst der Muse geweiht ist, und ist Zeuge eines denkwürdigen geschichtlichen Augenblicks. Im Namen unserer Stadt entbiete ich Ihnen allen, m. D. u. H., einen herzlichen Willkommensgruß. Insbesondere begrüße ich die Herren Vertreter der Reichs- und Staatsregierung, an der Spitze Herrn Staatsminister Dr. Schreiber, den Präsidenten des Deutschen und des Preußischen Städtetages, Herrn Dr. Mulert, den obersten Beamten unserer Provinzialverwaltung, Herrn Landeshauptmann Dr. Hübener, sowie den Prorektor der Universität Halle-Wittenberg, Herrn Prof. Dr. Fleischmann, ferner die zahlreichen Vertreter von Reichs-, Staats- und Kommunalbehörden, von Industrie, Handel und Handwerk, die Geistlichkeit aller Konfessionen, die vielen Personen, die — durch Abstammung oder Freundschaftsbande mit Nordhausen verbunden — zu uns gekommen sind, und endlich die zahlreichen Vertreter der Presse. Es ist eine große Freude für uns, zu sehen, welches Interesse unsere Jubelfeier in weiten Kreisen unseres Vaterlandes gefunden hat, und wir danken Ihnen Allen herzlich dafür. Besonders dankbar aber würden wir es empfinden, wenn Sie eine freundliche Erinnerung an die in Nordhausen verlebten Stunden mitnehmen und unserer Stadt ein gutes Andenken bewahren würden!

Mein Gruß gilt weiterhin auch allen denen, die außerhalb dieses Saales, sei es in unserer Stadt — vor dem altehrwürdigen Rathause oder im prächtigen Gehege — sei es sonst irgendwo in unserem Vaterlands — an dieser Feier teilnehmen. Ihnen allen, m. D. u. H., mögen Sie Nordhäuser Bürger sein oder Fremde, Ihnen Allen rufe ich im Namen unserer 1000 jährigen Stadt einen aus dem Herzen kommenden Gruß zu und danke Ihnen für Ihre freundliche Anteilnahme an unserem Jubelfeste. Möchten auch Sie, die Sie nicht, wie wir hier im Festsaale, unmittelbare Zeugen dieses feierlichen Aktes sein können, dennoch von dem Geiste dieser Stunde erfüllt werden und mit uns zusammen die Bedeutung dieser Feier empfinden!

So ist es eine große, nach vielen, vielen Tausenden zählende Gemeinde, die in dieser Stunde an das tausendjährige Nordhausen denkt, an seine tausendjährige Geschichte uud seine tausendjährige Kultur, an seine tausendjährige, in Ehren durchlebte Vergangenheit. Mit Blitzesschnelle durcheilen unsere Gedanken diesen gewaltigen Zeitraum, und was tausend Jahre zu seinem Werden bedurfte, zieht heute in ebensoviel Sekunden an uns vorüber. Die Erinnerung an Nordhausens 1000 jährige Vergangenheit und Gegenwart vereinen sich dadurch für uns zu einem einheitlichen Bilde. In diesem Bilde aber sehen wir Nordhausen vor uns als eine alte 1000 jährige und doch wieder jugendfrische Stadt, als eine Stadt, die äußerlich noch sichtbar die Spuren hohen Alters trägt, aber doch die Einwirkungen der neuen Zeit nicht verleugnen kann, als eine Stadt, deren inneres Wesen noch deutlich durch früheres Geschehen beeinflußt ist, sich aber doch den Bedürfnissen und Erfordernissen von heute in hohem Maße angepaßt hat, als eine Stadt, die ihre Bedeutung, die sie sich errungen hat, ihrer Vergangenheit verdankt!

Das ist Vergangenheit und Gegenwart! Und was wird in der Zukunft sein? Wir wissen nicht, was sie uns bringen wird — und das ist gut so —, wir können nur wünschen und hoffen. Aber damit allein ist es nicht getan; wir müssen vielmehr selbst dabei mithelfen. Und das können wir, wenn wir über alles Trennende, das uns täglich und stündlich auseinanderreißt, hinweg uns die Hand reichen und uns zusammenschließen in dem einen Willen, gemeinsam und brüderlich, als Menschen des gleichen Stammes und der gleichen Heimat, zum Wohle der Allgemeinheit, in Freud und Leid, in der Arbeit und im Erfolge, fest zusammenstehen und an der inneren Erstarkung unseres Gemeinwesens mitzuarbeiten und mitzuschaffen. Deshalb wollen wir Alle, die wir Bürger dieser Stadt sind, heute feierlich geloben, unser Bestes hinzugeben, um unsere Vaterstadt weiter vorwärts und aufwärts zu führen. Mag auch der Weg manchmal steinig, der Pfad dornenvoll sein, wir wissen es heute noch nicht, aber wir wollen ihn gehen, unentwegt und voll Zuversicht in dem Glauben an unsere Kraft und an Nordhausens Zukunft.

Damit wollen wir aber auch zugleich auch unserem Vaterlande dienen. So wie Nordhausen in den vergangenen Jahrhunderten alle Zeit, im Glück und im Unglück, treu zum Reiche gestanden hat, so soll es auch weiterhin bleiben. Nennen wir uns auch heute, bei unserer Jubelfeier mit Stolz Nordhäuser Bürger, so wollen wir doch darüber niemals vergessen, daß wir Deutsche sind, und das uns mit allen unseren Brüdern und Schwestern in unserem Vaterlande ein gemeinsames Band umschlingt, das Band heiliger und treuer Vaterlandsliebe. Wir Alle, die wir uns Deutsche nennen dürfen, wollen deshalb in dieser Stunde zuerst gemeinsam unseres Vaterlandes gedenken und wollen geloben, unsere ganze Kraft einzusetzen, ein jeder von uns nach seinem Können und an seinem Patze, um unser Deutschland einer glücklichen und sonnigen Zukunft entgegen zu führen!

Deutschland, unser geliebtes Vaterland, hoch, hoch, hoch!

Stadtschulrat Dr. Koch

Hoch zu verehrender Herr Staatsminister!

Hochansehnliche Festversammlung!

In dieser Stunde hören wir den Pendelschlag der Ewigkeit!

Nordhausen, du Tausendjährige! Ein Nichts „unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit" — sind doch das Ergebnis einer nicht zu begreifenden Menge von wirkender Menschenkraft! Tausend Jahre ist gedacht, gefühlt, gewollt, gehandelt worden, damit dieser Tag kommen konnte. Generationen um Generationen von Menschen wurden geboren und wurden zu Staub, damit unsere Herzen in dieser feierlichen Stunde schlagen dürfen. Auf tausenden und tausenden von Gräbern steht unser grünendes, blühendes, schaffendes Leben. Hört, wie sie zu uns sprechen, die Toten!

„Wir Toten, wir Toten, sind größere Heere
als ihr auf der Erde, als ihr auf dem Meere'
Wir pflügten das Feld mit geduldigen Taten,
ihr schwinget die Sichel und schneidet die Saaten,
und was wir vollendet und was wir begonnen,
das füllt noch dortoben die rauschenden Bronnen,
sind all unser Lieben und Hassen und Hadern,
das klopft noch dort oben in sterblichen Adern,
und was wir an gültigen Sätzen gefunden,
dran bleibt aller irdische Wandel gebunden,
und unsere Töne, Gebilde, Gedichte
erkämpfen den Lorbeer im strahlenden Lichte,
wir suchen noch immer die menschlichen Ziele —
drum ehret und opfert! Denn unser sind viele!"

Ja, wir ehren und opfern! Wir ehren Euch, Ihr Vielen, deren Gebilde noch heute im strahlenden Lichte wirken — Hunderte und aberhunderte von Jahren, nachdem Ihr Asche wurdet. Ja, Ihr „sucht noch immer die menschlichen Ziele", denn was wir auch tun und was wir mit stolzer Freude als unsere Taten buchen, Ihr seit es, die irr uns wirken. Eure Taten sind es, die unsere Taten werden lassen!

Es ist, als ob durch diese Stunde die zusammengeballte Lebenskraft dieser Abertausend webte, die einst Menschen waren wie wir, geliebt und gehaßt haben, wie wir lieben und hassen, gewollt und gehandelt haben, wie wir wollen und handeln — dieser Abertausend, ohne die wir nichts sind und weniger als ein Nichts. Eine Stunde wie diese schlägt mit Hammerschlägen, gewaltig wie das Schicksal, in unsere Seele die Erkenntnis der ewigen Zusammenhänge zwischen dem was war, und dem, was ist; die Erkenntnis, daß wirkende Menschenkraft nicht stirbt, wenn der Leib vergeht; die Erkenntnis, daß die Tat unsterblich ist. Nicht nur die heroische Tat, die Staaten schafft und Staaten zerschlägt, nicht nur die Geistestat, die Welten in neue Wege treibt: auch das Handeln in der Beschränkung, die gewissenhafte Arbeit des Alltags, der ist, wie der gestrige war und der morgige sein wird.

So muß, was durch unsere Seele geht, heute, in dieser Stunde, Ehrfurcht sein, endlose Ehrfurcht vor denen, die einst gehandelt haben, wo wir handeln; Ehrfurcht, die unserer Zeit fehlt und ihr nötiger ist als das liebe Brot; Ehrfurcht, die uns klein und demütig macht und als Pflicht erscheinen läßt, was wir zum Verdienst formen möchten. Ehrfurcht vor den Taten der Toten. „Drum ehret und opfert! Denn ihrer sind viele!

Wir neigen uns in dieser Stunde vor Euch, Ihr Großen und Kleinen, Ihr, die Ihr Weltgeschichte gemacht habt und Ihr, die Ihr behaglich am Boden des Geschehens dahinlebtet. Wir neigen uns vor Euch, die wir nicht kennen!

Ehrfurcht geht durch diese Stunde und die Erkenntnis, daß menschliches Handeln nicht verloren ist, mag auch der Leib vergehen und der Name schwinden. Denn „im Anfang war die Tat!" „Nicht zum müßigen Beschauen und Betrachten deiner selbst und zum Brüten über andächtige Empfindungen, nein, zum Handeln bist Du da. Das Handeln und allein das Handeln bestimmt Deinen Wert." Dieses Wort Fichtes — wie klingt es unserer Zeit des Wortemachens, wie klingt es in dieser Stunde, die das Ergebnis von unzähligem Handeln geschaffen hat!

Ja, diese Stadt war eine Kleinstadt und ist eine Mittelstadt, ist eine Stadt in einer preußischen Provinz. Keine abgestempelte Hauptstadt irgendwelcher Art. Kein „Augustisch Alter" hat ihr geblüht, und ihr Leben ist kein Heldenepos, das von heroischer Tat zu heroischer Tat eilt. Kein Name klingt aus unserer Geschichte, dessen Klang ein ganzes Volk erschauern läßt.

Und dennoch! und trotzdem! Nirgends kann der Pulsschlag des ewigen Lebens der Tat klarer gefühlt werden als da, wo in kleinem Kreise, in den engen Schranken der Bevölkerung eines solchen Zwergstaates, wie unsere Stadt einer war, sich Generation auf Generation gebaut hat. Wo all das Schaffen sich übersehen läßt, wo nicht die Gestalt eines Riesen mit magnetischer Kraft alles an sich zieht, wo das Sein des Kleinen nicht unsichtbar wird im Schatten des Großen.

Darum geht durch unsere Seele in dieser Stunde die Ehrfurcht mit allbezwingender Gewalt, darum fühlen wir die Ewigkeit des menschlichen Handelns so unerbittlich klar. Darum kommt es uns mit zwingender Macht zum Bewußtsein, daß wir Glieder einer Kette sind, die uns haltend weit hinaus reicht in Gräber und Asche. Darum erkennen wir mit beglückender Klarheit, daß das tote Kraft ist. Und mit der Gewalt ewig geltender Wahrheit fühlen wir die Pflicht, zu handeln, damit auch aus unserem Staube kraftvolles Leben sich erheben kann. Und ein Hauch jenes Hauptsatzes germanischer Sittenlehre weht uns an: es kommt, was kommen muß; aber der Alaun muß handeln, als ob er das Unabänderliche ändern könnte.

Wir danken Euch, Ihr Unbekannten, in dieser Stunde der Ehrfurcht — wir danken Euch, deren Namen wie leuchtende Banner über den Tagen der Vergangenheit wehen.

Wir wären ein klägliches Geschlecht, unwürdig dieser Stunde, wenn wir nicht Deiner zuerst gedächten, Du großer König Heinrich, der vor tausend Jahren mit Weisheit und geschickter Hand die auseinanderstrebenden deutschen Stämme zusammenzwang, Du wahrer Schöpfer unseres deutschen Vaterlandes. Dein Feldherrnblick schuf auf ragendem Steilhang die Burg, der unsere Stadt entstammt, ein „noli me tangere" dem furchtbaren Erbfeind, dem schweifenden Ungarn! Und die fromme Gemahlin, die treue Gattin und gute Mutter, fügte, fraulich fühlend, die Stätte frommen Lebens dem Steinbau bitterer Notwendigkeit hinzu! Heinrich und Mathilde — Eure Bilder schmücken den Taler, den das Reich uns zu dieser Feier gab: aus tiefer Ehrfurcht vor Euch — dem Walten des Mannes und dem Walten des Weibes — ist der Wunsch erzeugt. Euch als Symbol dieser Feierstunde vor den Lebenden zu erheben und vor denen, die nach uns kommen werden! Unsere Seelen neigen sich Euch in Dank und Gelöbnis!

Ihr ruhtet schon längst in Eurer Gruft in Quitilingaburg, schon längst war Euer herrliches sächsisches Herzogsgeschlecht dahin, als das Walten wirkender Menschenkraft Eure Schöpfung aus Gebundenheit zum Eigenleben wandelte.

Die Stunde der Geburt des Bürgerbewußtseins schlug. Der junge Hohenstaufe Friedrich II. — der im Kampfe gegen eine Welt unterlag wie wir: im weinfrohen Würzburg Unterzeichnete seine jugendliche Hand eine Urkunde, und diese wenigen Striche machten Nordhausen zu einer Stadt des Reiches. Das Jahr 1220 soll jeder Nordhäuser kennen. Denn mit ihm geht die Geschichte eines Staates an.

Männer, zum Herrschen geboren und erzogen, Männer, gleich bereit, den Helm ans das Haupt zu drücken und den Entschluß zu packen, wie den Griff des Schwertes, erheben sich in langer Reihe ans ihren Gräbern. Selbstbewußt, rücksichtslos, gewaltsam: der Tag der Geschlechter" brach an. Dies sind die Jahrzehnte, in denen die Geschichte der Stadt wie Balladen klingt, wo das ratende Wort und das klingende Schwert der herrschenden Familien das Banner der Stadt, das der Reichsadler schmückt, kraftvoll und ruhmvoll aufwärts trägt.

Bis ein Tag kommt, an dem — wie stets in der Geschichte — die Überspannung ihre Rache fordert, bis die Verkennung des richtigen Augenblickes zeigt, daß neue Mächte in verderblicher Niederhaltung zu gewaltsamer Entladung getrieben werden: das ist der Tag des Riesenhaus-Sturmes, das ist das Jahr 1375, das ist der Morgen, der dem kraftvoll erblühten Handwerk gehört.

Und wenn ans der anfänglichen Demokratie sich bald eine neue Aristokratie bildet: das Handwerk, das in Zünften vereinigte, durch Zünfte starke, aber in Zünften gebundene Handwerk herrscht. Roch erheben sich ans dem Geschehen dieser Jahre Balladen. Noch brechen Nordhausens Bürger — eng verbunden mit uns jetzt noch befreundeten Städten — die-Burgen des im individualistischen Herrendaseins lebenden Adels. Aberder Fluß des Geschehens wird ruhiger, der Unterschied zwischen Wellenberg nnd Wellental mindert sich. Und an der anfsteigenden Macht der Fürsten zersplittert der Bürgerstolz des selbstbewußten, wohlhabenden Städters. Mühsamer wird das Suchen der heroischen Höhepunkte, bis die Revolution der Renaissance nnd Reformation wieder Männer emporträgt, deren Namen wehen wie richtunggebende Banner. Michael Meyenburg, der Diplomat im Ratsherrnrock, dessen Hand kraftvoll zufassen kann, dessen Wort gilt, wo deutsche Politik gemacht wird; Johann Spangenberg, der von Luthers Lehe innerlich Erfaßte und Durchleuchtete, der Luthers Evangelium im tiefen Herzen trug.

Mit liebevollem Blick verweilen wir ans diesem Höhepunkt städtischer Geschichte, in dem Persönlichkeiten das Rad des Geschehens drehten, in dem die kleine Reichsstadt mehr war, als ihre Einwohnerzahl. Die Jahre stehen vor uns an, in denen die Großen dieser Zeit sich mit Nordhansen Verbünden fühlten, und gern denken wir daran, daß ein Sohn unserer Stadt, Jodocus Koch, der sich mit seinem Humanistennamen Justus Jonas nannte, ein vertrauter Helfer Luthers war.

Noch einmal klingt die Ballade von» Helden des Schwertes und des Geistes durch die Geschichte unserer Stadt.

Zum letzten Male, denn aller Bürgerstolz und alle gesunde Kraft des Bürgerwollens ist in dieser Zeit der wachsenden Fürstenmacht nun nichts mehr wie ein angenommener Wert. Der „Lebende hat Recht." Und die Macht des Bürgertums ist tot.

Was nun folgt — »»och fast 300 Jahre lang — das ist bei allem Willen, die Geschichte der Stadt in diesem Jahre des Gedenkens im Glanz der Herrlichkeit eines selbständigen Staates erleuchten zu lassen, doch nichts weiter, als das vergebliche Ringen eines Sterbenden gegen lebendige, immer wachsende Mächte. Ehre sei den Kämpfern, die mit Weisheit und Geschick das kleine Schiff hindurch steuerten durch die Scylla und Charybdis der Fürsten, die die reiche Stadt als willkommene Ergänzung ihres Besitzes betrachteten. Ehre sei ihnen, die — in von vornherein verlorener Stellung stehend — die Waffen nicht niederlegten, sondern kämpften: einen Kampf, der »licht heroisch strahlend anzusehen ist, nicht glanzvoll eingestellt auf Sein oder Nichtsein auf des Schwertes Schneide, aber darum nicht minder heldenhaft; Ehre sei Ihnen, die im Bewußtsein ihrer Pflicht ihre Pflicht taten und doch erkannten, daß es eben nichts weiter war, als ihre Pflicht.

Kein Wunder — daß, während die Ströme des Handelns nach außen verstopft wurden, im Innern sich Erscheinungen des Verfalles deutlich erkennen lassen, daß im 18. Jahrhundert dieser Verfall sich zu einer Gefahr für das kleine Gemeinwesen aufwächst. Und hier steigt aus den Niederungen egoistischer Verwaltung eine Persönlichkeit auf, deren Name in dieser Feierstunde genannt werden muß, wenn wir nicht dem Vorwurf der Undankbarkeit auf uns laden wollen: Riemann! Ein Fremdling wie Meyenburg, und gleich ihm ein Mann! Ein Mann, der im letzten Jahrhundert vor dem Ende der Reichsstadtherrlichkeit mit dem Gewissen eines anständigen Menschen und der Gewalt einer kraftvollen Persönlichkeit Ordnung schuf in dem dekadenten Leben, in das er trat.

Aber auch so kam, was kommen mnßte.

Der Genius Napoleon, der wie jeder Genius zerschlug und aufbaute, ging mit hartem, nichtachtendem Schritt auch über diese kleine Stadt. Im Jahre 1802 lösten preußische Soldaten die Nordhäuser Stadtsoldaten der Wache ab.

Die Freie und des Heiligen Römischen Reiches Stadt war gewesen.

Ruhmlos und ohne Sang und Klang, ohne jeden heroischen Unterton endete die Geschichte der Freien Stadt und verlief sich in die Geschichte des Staates der deutschen Zukunft.

Wir aber gedenken der stolzen Geschlechter, die einst die Geschicke der Stadt in die Geschicke des deutschen Reiches verpflochten. Wir gedenken der selbstbewußten Handwerksmeister, die ihre Stadt als einen Staat klug und vorsichtig regierten und wir fühlen die Seelennot des Rates, der die Schlüssel der Stadt von sich gab und sich der preußischen Krone beugte. Und in demselben Augenblick wissen wir, als die später Geborenen, als die Menschen des Jahres 1927: daß die Zeit der Freien Reichsstadt erfüllt war, daß dieses Schicksal gut war.

Und nun? Nun mündet die Geschichte Nordhausens ein in die Geschichte des preußischen Staates. Nun schwingen alle Schwingungen des großen Vatelandes in der Bürgerschaft mit. Und Nordhausen ist nichts mehr wie ein kleiner, ganz keiner Teil eines großen Ganzen, das die Schicksale des deutschen Volkes in seinem Schicksal trägt.

Unter die Geschichte des Staates Nordhausen setzen wir — die Tatsachen nehmend wie sie sind — auch in dieser, dem Andenken an die lange Geschichte unserer Stadt geweihten Stunde — entschlossen einen Punkt. Alle Regungen der Seele schweigen.

Aber: was sich angesammelt hat in Jahrhunderten schaffenden Geistes an Werten, das ist unsterblich. Unsterblich nicht nur insofern, als geschehene Taten unvergänglich sind in ihrem Weiterwirken. Unsterblich auch insofern, als alles das, was freier Bürgersinn in sechs Jahrhunderten geschaffen hat, in seiner Eigenart nicht vergehen kann.

Das ist unser Stolz, heute in dieser Stunde: die Reichsfreiheit ist ein längst ausgeträumter Traum. Aber die Verpflichtungen, die sie auferlegt, sie dürfen nicht vergessen werden, und sie sind nicht vergessen.

Das ist es, was heute uns hinaushebt über die Gedanken, die eine beliebige andere Stadt nach lOOOjährigem Bestehen beseelen: wir waren einmal ein selbständiges Staatswesen, gleich Preußen, das uns ausgenommen hat, und dieser Adel verpflichtet.

So weist die wirkende Vergangenheit uns die Straße der Zukunft. Der alte Roland wacht an unserem Wege, wie er einst die Reichsstadtherrlichkeit schirmte, und der schwarze Adler im goldenen Felde schwebt über uns wie über der alten Reichsstadt. Wir können nicht los von den tausend Jahren, auf denen wir stehen. — Unsere Seelen sind voll von dem Bewußtsein dieser Zusammenhänge. Und wir wissen, daß es Felonie gegen die abertausend Toten wäre, deren Leben in unseren Adern klopft, wollten wir ihren heiligen Gral nicht hüten: Das stolze, selbständige, seiner Verantwortung bewußte Bürgertum. Dein Schwert, du alter Roland, soll nicht erblinden, und unserem Adler sollen die Flügel nicht sinken: wir brechen Dir die Treue nicht, Du Tausendjährige, Du freie und des heiligen Römischen Reiches Stadt!

In dieser Stunde hören wir den Pendelschlag der Ewigkeit.