Die rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse Nordhausens im Zeitalter der Reformation und der Religionskriege

Aus NordhausenWiki
Version vom 10. Februar 2021, 17:58 Uhr von Vincent Eisfeld (Diskussion | Beiträge) (Die Seite wurde neu angelegt: „{{SEITENTITEL:''Die rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse Nordhausens im Zeitalter der Reformation und der Religionskriege''}} {{Textdaten |…“)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)
Textdaten
<<< >>>
Autor: Hans Silberborth
Titel: Die rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse Nordhausens im Zeitalter der Reformation und der Religionskriege
Untertitel:
aus: Geschichte der freien Reichsstadt Nordhausen
Herausgeber: Magistrat
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1927
Verlag: Magistrat der Stadt Nordhausen
Drucker:
Erscheinungsort:
Quelle: Scan
Kurzbeschreibung: Abschnitt 4,
Kapitel 11
Digitalisat:
Eintrag in der GND: [1]
Bild
[[Bild:|250px]]
Bild


Kapitel 11.
Die rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen
Verhältnisse Nordhausens im Zeitalter
der Reformation und der Religionskriege.


Die religiösen Strömungen waren in dem Meere, das alle Ereignisse des 16. Jahrhunderts umflutete, die wesentlichen Erscheinungen; alles andere war von ihnen abhängig und irgendwie bedingt. Das war in Nordhausen so, und das war in der ganzen westeuropäischen Welt genau so. So eigenartig also diese Zustände und Vorgänge kultureller Art in Nordhausen auch sein mochten, so weisen sie doch mit denen des übrigen Deutschland überall durchaus ähnliche Züge auf. Will man deshalb die für Nordhausen in diesem Zeitabschnitt allein geltenden Verhältnisse kennen lernen, so muß man von seinen kulturellen Lebensformen absehen und nach den übrigen fragen. Hier wird sich dann zeigen, daß die Stadt Nordhausen, so sehr sie auch im 16. Jahrhundert eine Gestalt unter allen anderen war, doch ihr eigenes Gewand trug und in eigenem Schnitt und Tritt einherwandelte.

Eine ganz eigenartige Stellung nahm Nordhausen seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts im Verbände des Reiches ein. Es gehörte seit den Reichsreformen Kaiser Maximilians zum Niedersächsischen Kreise. Damit mußte sich seine Bindung nach Thüringen und den Thüringer Städten hin, die dem Obersächsischen Kreise zugeteilt waren, nach und nach lockern. Insbesondere wurde Nordhausens Verhältnis zu Erfurt davon betroffen. Noch hatte die Geistesbewegung des Humanismus gemeinsame starke Bande um beide Städte geschlungen; auch protestantisch war Erfurt ebenso wie Nordhausen großenteils geworden. Dennoch besaß Erfurt auch weiterhin eine starke katholische Gemeinde und mußte wider Willen Rücksicht auf seinen Landesfürsten, den Erzbischof von Mainz, nehmen. Schon dadurch entfremdete es sich dem rein lutherischen Nordhausen. Ferner hatte Erfurt seinen politischen und wirtschaftlichen Höhepunkt überschritten, sein Einfluß konnte sich in dieser Beziehung nicht mehr wie früher geltend machen. Die Städte in Norddeutschland, die nach Holland hin oder übers Meer ihre Fäden spannen, die Städte in Süddeutschland, die mit Italien und der Levante in Verbindung standen, überflügelten es bald. Nordhausen, politisch an Niederdeutschland gefesselt, hatte auch wirtschaftlich nicht mehr so lebhaftes Interesse an der Stadt im Herzen Thüringens, sondern neigte allmählich immer mehr den Städten nördlich des Harzes zu. Braunschweig und Lüneburg, trotzdem sie schwieriger zu erreichen waren, spielten politisch und wirtschaftlich bald ebensolche und eine wichtigere Rolle für Nordhausen wie Erfurt. Auf den Kreistagen, welche Nordhausen mit den Städten Niederdeutschlands besuchte, wurden wichtigste, das Leben der Stadt im Kem berührende Angelegenheiten verhandelt. Die Reichsumlagen, das Münzwesen, wirtschaftliche Zusammenschlüsse, rechtliche Fragen, kurz, alles was Nordhausens wirtschaftliches und soziales Leben berührte, kam hier zur Sprache und schuf nach Norden hin Bindungen.

Andererseits war aber Nordhausen auch an Kursachsen, das wiederum dem Obersächsischen Kreise angehörte, stark interessiert. Die sächsischen Kurfürsten, im 16. Jahrhundert also vor allem Moritz und August I., waren Inhaber des Schultheißenamtes, nach dem Aus sterben der Honsteiner auch der Vogtei in Nordhausen; zugleich übten sie über Nordhausen die Schutzherrschaft aus. Dazu kam, daß Sachsen mit seinem Sangerhäuser Bezirke von Osten her in der Goldenen Aue Fuß faßte, daß es vielleicht sogar hoffte, einmal die Reichsstadt Nordhausen selbst erwerben und seinen Landen einverleiben zu können. Auch kulturelle Beziehungen wiesen nach Sachsen. Die Universitäten Wittenberg, Jena und Leipzig übten nachhaltigsten Einfluß auf Nordhausen aus. In Wittenberg wirkte Luther, in allen drei Städten studierte in erster Linie die Nordhäuser Jugend.

Und doch war selbst in dieser Beziehung bei Nordhausen das Bestreben vorhanden, sich möglichst nicht von Sachsen seine Wege vorschreiben zu lassen. 1576 lehnte es die von Sachsen ihm anempfohlene Konkordienformel ab und unterzeichnete das braunschweigische corpus Julium.

So stand Nordhausen in seltsamer Zwitterstellung zwischen Ober- und Niedersachsen. Politisch gehörte es zu Niedersachsen, die auswärtige Macht aber, die politisch den größten Einfluß auf die Stadt besaß, gehörte zum Obersächsischen Kreise. Wirtschaftlich neigte es nach Norddeutschland hin, doch konnte es sich dem Einflüsse des Südens und Ostens, besonders Leipzigs, nicht entziehen. Kulturell empfing es gar das meiste aus Sachsen. In dieser merkwürdigen Lage begrüßte Nordhausen jedesmal ein gemeinsames Vorgehen beider Kreise, wie es 1550 in Jüterbog geschah, wo der Obersächsische und Niedersächsische Kreis unter der Teilnahme Nordhausens es ablehnte, die Belagerung Magdeburgs zu unterstützen. Leider blieb ein derartiges Zusammengehen vereinzelt.

Mußte aber die Stadt bekennen, wohin sie gehörte, so entschied sie sich immer für Niedersachsen, nicht aus Pflicht allein, sondern aus Neigung. So kam es vor, daß bei Behörden in fremden Landen wegen der dort weilenden Nordhäuser Zweifel entstanden, zu welcher „Nation“ sie zu rechnen seien. Ein Hermann Böttcher aus Nordhausen beispielsweise mußte als Student in Leipzig bei der Erlangung der Magisterwürde im Jahre 1549 seine Nationalität angeben, und die Universitätsbehörden wollten ihn trotz seines Einspruchs ad nationem Misnicam rechnen. Erst der Nordhäuser Rat mußte dem Jüngling bestätigen, daß er ad nationem Saxonicam gehöre.

Bei einer solchen Betonung der politischen Zugehörigkeit spielte berechtigtes Mißtrauen gegen die sächsischen Absichten mit; denn beide sächsische Linien, die emestinische wie die albertinische, ließen es an Äußerungen und Maßnahmen nicht fehlen, immer wieder ein solches Mißtrauen aufkommen zu lassen. So versuchte Kurfürst Johann Friedrich im Jahre 1542, den Rat von Nordhausen „gleich andere seiner Untertanen wegen des grausamen Türkenkrieges“ nach Weimar einzuberufen. Der Rat lehnte jedoch die Teilnahme an der Tagung ab; wie er dem Fürsten schrieb, weil die unglückliche Lage der Stadt nach dem furchtbaren Brande des Jahres 1540 eine Beteiligung nicht zulasse, in der Tat aber, weil er als Folge der Mitwirkung in Weimar eine gesteigerte politische Abhängigkeit von Sachsen fürchtete.

Deutlicher wurde Nordhausen 1569, als Herzog Wilhelm wieder zu einem sächsischen Landtage einlud. Damals lautete die Antwort: „Sie seien Ihre Kurfürstlichen Gnaden Schutzverwandte; allein, da selbiger (Schutz) sich soweit nicht erstrecke, wie Ihre Kurfürstliche Gnade solchen extendieren wollte, indem sie niemand als Ihrer Kaiserlichen Majestät mit Eidespflichten zugetan, als wollten sie bitten, sie mit dergleichen Schreiben zu verschonen und auch hinkünftig dergleichen (nicht) tun.“

Wie nötig es tatsächlich war, daß Nordhausen sich vor Sachsen hütete, zeigte sich besonders deutlich im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts. Sachsen war es natürlich nicht entgangen, daß sich die Stadt bei ihrer niedersächsischen Zugehörigkeit immer mehr den mitteldeutschen Staaten entfremdete. Da suchte es denn durch seinen Einfluß auf das Schulzenamt und die zu diesem gehörige Nordhäuser Münze einen Druck auf die Stadt auszuüben und Nordhausen auch wirtschaftlich wieder mehr an Sachsen heranzuziehen. Es war nämlich bei der Stadt in Brauch gekommen, die Münze einem Privatunternehmer zu verpachten. Aus diesem Verfahren suchte nun Nordhausen besonders nach 1612, wo die halbe Stadt abermals einem großen Brande zum Opfer gefallen und Nordhausen dadurch in größter pekuniärer Notlage war, Kapital zu schlagen. Als Ersatz für den erlittenen Schaden sollten möglichst große Überschüsse aus der Münze dienen, und um eine recht stattliche Pachtsumme für die Erteilung des Schlagrechts zu erhalten, willigte wohl die Stadt den Pächtern gegenüber in eine zeitweilige Münzverschlechterung. Dieses Vorgehen lieferte aber naturgemäß die Stadt den Pächtern aus, welche immer schlechtere Münze prägten, um bei der hohen Pacht nicht zu kurz zu kommen. Dem trat nun Sachsen entgegen und verlangte zugleich, Nordhausen solle nicht nach der Münzordnung des Niedersächsischen, sondern des Obersächsischen Kreises münzen. Dadurch suchte Sachsen Nordhausen vom niedersächsischen Wirtschaftsverbande abzuziehen und für den eigenen zu gewinnen. Wie die Stadt dieser Gefahr begegnete, soll unten gezeigt werden.

Jedenfalls tat Nordhausen alles, um bei den für die kleine Reichsstadt immer schwieriger werdenden Verhältnissen seine Selbständigkeit zu wahren. Deshalb betonte es jederzeit seine Reichsfreiheit, nur vorsichtiger als früher, wo der Kaiser noch eine reale Macht bedeutete. Deshalb ließ es auch bald nach dem Jahre 1533, in welchem Karls V. peinliche Halsgerichtsordnung veröffentlicht wurde, diese und kein anderes Strafrecht für seine Strafprozesse in Kraft treten. Und deshalb faßte es auch 1567 den Beschluß, daß in solchen Fällen, wo das Stadtrecht versagte, nach keinem Landrecht, sondern allein nach kaiserlichem Rechte geurteilt werden solle.

Auf jede Weise sollte der von Sachsen ausgeübte Druck paralysiert werden. Sachsens Einfluß blieb dennoch stark genug. Das zeigt die Geschichte der Vogtei und des Schultheißenamtes im 16. und 17. Jahrhundert.

Die Vogtei über Nordhausen war ja seit Jahrhunderten im Besitze der Grafen von Honstein; doch hatten diese sie während des größten Teiles des 16. Jahrhunderts an Nordhausen verpfändet. Nun starb im Jahre 1593 das alte, ruhmreiche Grafengeschlecht mit dem Grafen Emst von Honstein aus. Das Anrecht Honsteins an der Nordhäuser Vogtei konnte also vom Reiche anderweit vergeben werden. Am meisten Hoffnung auf das Amt machte sich Kursachsen, welches ja das wichtige Schultheißenamt über Nordhausen schon besaß. Die Entwicklung ging nun folgendermaßen:

Schon am 10. Juli 1593 wandte sich Friedrich Wilhelm von Sachsen mit einer Anfrage wegen der Vogtei an den damaligen Syndikus Nordhausens Georg Wilde. Ehe jedoch das Reich, ehe Kaiser Rudolf II. die Wünsche Sachsens, mit der Vogtei belehnt zu werden, befriedigte, suchte man sich in Wien über die Bedeutung des Amtes zu informieren. Der Kaiser ließ am 6. August 1593 der Stadt mitteilen, er werde einen Kammerboten entsenden, dem Nordhausen für seinen Bericht über die Vogtei die nötigen Unterlagen zu geben habe. Auf dieses Schreiben hin richtete Nordhausen unter dem 25. August ein Gesuch an den Kaiser, er möchte Nordhausen selbst mit der Vogtei belehnen, damit „allerhand Unrichtigkeit und Zwiespalte unterbleibe und die peinliche wie die bürgerliche Gerichtsbarkeit desto mehr befördert werden möge“. Sollte aber, so fuhr das Gesuch fort, das Amt weiter verliehen werden, so solle der Kaiser bei dem damit Belehnten darauf dringen, daß die im Jahre 1546 an Honstein gezahlte Pfandsumme wenigstens an Nordhausen zurückerstattet werde. Eine ganze Reihe Anlagen zu dem Schriftstück sollte dazu dienen, dem Kaiser die Gerechtsame Nordhausens zu beweisen und die Befugnisse der Vogtei so eng begrenzt wie möglich hinzustellen.

Unterdessen verhandelte auch Sachsen weiter sowohl mit dem Kaiser wie mit der Stadt Nordhausen und erreichte schließlich sein Ziel. Der Kaiser übertrug ihm die Vogtei. Schon am 7. Januar 1594 schrieb Friedrich Wilhelm der Stadt: „... Ihr wollet hinfür solche kostbare Gerechtigkeit der Obergerichte vor des Churfürstlichen und Fürstlichen Hauses Eigentumb, auch Euch an niemand anders mit denselben denn uns ... halten, dagegen wir uns gnädigst erklären, daß Ihr hierinnen an Euren Pfandrechten wider die Billigkeit nicht beschwert werden sollet.“

Damit war denn die Vogtei über Nordhausen von den Honsteinem auf das Kurfürstentum Sachsen übergegangen, und dieses besaß nun beide Reichsämter über die Stadt, die Vogtei und das Schulzenamt.

Doch war die Frage noch nicht geklärt, ob die Stadt, welche das Amt augenblicklich als Pfand innehatte, auch weiterhin dasselbe führen oder ob es Sachsen als Rechtsnachfolger der Honsteiner nach Auszahlung der von Nordhausen an Honstein gezahlten Summe an sich ziehen sollte. Darüber fanden weitere Verhandlungen statt, die für Sachsen Ludwig Wurm und zwei sächsische Räte in Wolkramshausen mit mehreren Vertretern Nordhausens führten. Es handelte sich vor allem um zwei Punkte. Zunächst kam der Anspruch Nordhausens auf Rückzahlung der 1500 Gulden, die die Stadt einst an Honstein bezahlt hatte, zur Sprache.[1] Auf diese Auszahlung ging Sachsen nicht ein. Deshalb machte Nordhausen am 31. März 1595 den Vorschlag, Sachsen solle die Vogtei zunächst noch auf 30 oder 40 Jahre der Stadt überlassen, dann brauche es die Summe nicht zurückzuerstatten, und nach Ablauf der Zeit falle das Amt ohne weiteres an Sachsen, wenn es nicht von neuem durch Nordhausen eingelöst werde.

Zweitens kam es aber auch noch zu lebhaftem Meinungsaustausch darüber, in wessen Namen in Nordhausen Recht gesprochen werden solle. Nordhausen vertrat die Ansicht, daß allein im Namen des Reiches das Urteil verkündet werden dürfe, da die Vogtei ein Reichsamt in einer Freien Reichsstadt sei. Sachsen dagegen verlangte, die Rechtsprechung solle auch im Namen des Kurfürsten erfolgen.

Schließlich kam über beide strittige Punkte am 13. Dezember 1595 ein allerdings für Nordhausen nicht günstiger Vergleich zustande: Das Gericht wurde gehegt im Namen des Kaisers, des Kurfürsten und des Rates. Die Stadt behielt die Vogtei auf zunächst 20 Jahre; die 1500 Gulden übernahm Sachsen von den Honsteinem und willigte in ihre Zahlung bei eigener Übernahme des Amtes. Der jedesmaligen Exekution nach Verurteilungen sollte ein Abgesandter Sachsens beiwohnen.

Ein kleines unbedeutendes Zwischenspiel erlebte Nordhausen wegen seiner Vogtei noch im Jahre 1596. Es wurde veranlaßt durch das Herzogtum Braunschweig. Am 26. Oktober 1573 hatte nämlich das Bistum Halberstadt auf dem Wege des Tausches die Herrschaft Lohra und das Amt Bodungen erhalten. Für diese Herrschaften gingen also die Honsteiner Grafen fortan bei Halberstadt zu Lehen. Darauf stützte das Stift Halberstadt seine Ansprüche auf die Nordhäuser Vogtei, die ja ihre Lehnsleute in Besitz gehabt hatten. So verlangte denn Heinrich Julius von Braunschweig als postulierter Bischof von Halberstadt auf Grund dieses Tausches die Vogtei, da sie „zu unserer Grafschaft Honstein gehört“. Am 20. Dezember 1596 schrieb Heinrich Julius ohne Verhandlung und deshalb offenbar völlig im unklaren über das bereits Geschehene, er werde die Vogtei Ostern 1597 übernehmen. Der Rat bedauerte am 3. Januar 1597 mit dem Hinweis, daß die Vögtei schon in den Händen Sachsens sei.

Während des ganzen 17. Jahrhunderts stand nun die Vogtei pfandweise unter Nordhäuser Verwaltung; allerdings ließ sich Sachsen sein Anrecht auf das Amt von Zeit zu Zeit teuer genug bezahlen. Doch fällt diese fernere Geschichte der Vogtei durchaus zusammen mit der des weit wichtigeren Schulzenamtes. Mit diesem Schulzenamt zusammen verkaufte Sachsen die Vogtei Ausgang des 17. Jahrhunderts an Kurbrandenburg, und von Preußen ging sie schließlich 1715 durch Kauf an die Reichsstadt Nordhausen über.

Ähnlich verlief die Entwicklung bei dem Schulzenamt.

Wir hatten gesehen, daß während der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts Sachsen der Stadt Nordhausen ziemliche Bewegungsfreiheit gelassen, später aber seine Rechte in Nordhausen wieder kräftiger geltend gemacht hatte. Besonders nachdrücklich betonte Georg von Sachsen 1538 seine Gerechtsame dadurch, daß er durch eine Kommission das alte Schulzenbuch aus dem 14. Jahrhundert revidieren und auf diese Weise seine fast in Vergessenheit geratenen Bestimmungen den Nordhäusern erneut einschärfen ließ. Alle in jahrhundertelangem, zähem Kampfe abgerungenen Vorteile schienen damit dem Ansturm des erstarkenden Fürstentums zum Opfer gefallen zu sein. Da rettete dieselbe Entwicklung, die Nordhausen fast seiner Freiheit beraubte, die Stadt und bereitete sogar das volle Hoheitsrecht in ihrem Gebiete vor. Denn gerade für den Aufbau und Ausbau des Absolutismus hatten die Fürsten bedeutende Mittel nötig, und sie waren daher geneigt, um in den Hauptgebieten ihres Machtbereiches ihre Herrschaft fest zu begründen, in nur mittelbaren Einflußsphären Rechte wenigstens auf Zeit abzutreten, um Geld zu erlangen.

Dem Sachsen der jüngeren, der albertinischen Linie waren schon 1538 und noch mehr in den folgenden Jahrzehnten durch den Ehrgeiz seiner Fürsten eine Unmenge innen- und außenpolitische Ziele gesteckt, die seine ganze Tätigkeit in Anspruch nahmen, die es darauf bedacht sein ließen, Geldmittel, woher es auch sei, zu bekommen, und die es abseits liegende Aufgaben venachlässigen ließen. Das Jahr 1538 hatte durch Aufsetzung einer neuen Schulzenordnung die Souveränität Nordhausens vernichtet, aber nur scheinbar vernichtet, denn in demselben Jahre brachte sich Sachsen, was Nordhausen betrifft, selbst um alle Erfolge, indem es sein Schulzenamt für 100 Gulden auf drei Jahre an die Stadt verpfändete.[2] Damit hatte Sachsen zwar seine Rechte über Nordhausen neu festgestellt, dieselben Rechte aber sogleich an Nordhausen übertragen. So gingen, wenigstens für kurze Zeit von Sachsen erkauft, die Zivilgerichtsbarkeit, die Erhebung der Zölle, das Geleitrecht und das wichtige Münzrecht auf Nordhausen über. Sachsen mahnte in dem Pfändungsbriefe nur, Nordhausen solle einen „Bürger aus seiner Mitte nehmen, der die Gerichte ordentlich weiß, daß jedermann Recht geschehe“. Und Nordhausen war wenigstens damals selbst rechtlich genug, die Satzung zu treffen, daß kein Schultheiß aus der Mitte des Rates genommen werden dürfe, um möglichste Unabhängigkeiten des Schulzen zu gewährleisten. 1540 wurde die Verpfändung auf drei weitere Jahre verlängert, und 1541 setzte Meyenburg bei Karl V. durch, daß dieser das Geleitrecht vom Schulzenamt abtrennte und der Stadt verlieh. Damit war ein wichtiges Hoheitsrecht gewonnen, und Sachsen hat fernerhin das Geleit auf Nordhäuser Gebiet auch nicht mehr beansprucht.

Von größter Bedeutung für die Territorialherrschaft Nordhausens war die Regierungszeit des ehrgeizigen Moritz von Sachsen. Hatte nämlich Georg immer nur für kurze Zeit seine Rechte an Nordhausen preisgegeben, so verkaufte Moritz, um Geld zu gewinnen und seine großen Pläne auszuführen, das Schultheißenamt an die Stadt für 2000 Taler auf unbestimmte Zeit und behielt sich nur das Rückkaufsrecht vor. Die Kündigung des Vertrages sollte von jedem Kontrahenten ein Jahr vor der Auflassung geschehen. Seitdem, seit dem Jahre 1542 ist Nordhausen dauernd im Besitz des Schultheißenamtes gewesen und war damit, wenn auch rechtlich noch nicht völlig, so doch tatsächlich anderen deutschen Staaten in seinen Hoheitsrechten gleichgestellt.

Hier ist es am Platze in aller Kürze darzustellen, wie die Stadt nunmehr bis zum Jahre 1802, bis zu ihrem Übergang an Preußen, das Schulzenamt ansah und wie sie es ausüben ließ. Am besten lernt man die Stellung der Stadt zu ihrem Schulzenamte kennen aus einer Darlegung Meyenburgs aus dem Jahre 1542, die grundlegend für die Auffassung des Amtes geworden ist. Auch der recht instruktive Bericht vom Jahre 1617, wo Nürnberg bei Nordhausen anfragte, welche Befugnisse Vogt und Schultheiß in Nordhausen hätten, enthält nichts wesentlich Anderes als die Meyenburgsche Darstellung.

Danach hegte der vom Rate ernannte Schultheiß das Gericht im Beisein zweier Schöffen. Auch diese wurden vom Rate ernannt, und diese Schöffen, nicht der Schulze, sprachen das Urteil. Doch waren selbst sie dabei nur Strohmänner des Rates. Denn der Rat ging vor der Gerichtssitzung den Rechtsfall durch und gab danach den Schöffen Richtlinien für ihren Urteilsspruch. Das ging so weit, daß das Gericht neue Verhaltungsmaßregeln vom Rate einfordem mußte, wenn sich durch die Verhandlung neue Momente ergeben sollten. Auf jeden Fall mußte beim Rat das Urteil „geborgt“ werden. Sollte es wirklich vorkommen, daß die Schöffen wagten, ein anderes Urteil, als vom Rate vorgeschlagen war, zu sprechen, so konnte der Rat als Appellationsinstanz die Verhandlung noch einmal eröffnen. Die Vollziehung des Urteilsspruchs hatte der Rat jedesmal in der Hand, weil er in den Polizeibeamten der Stadt allein die Organe dazu besaß. Der Schultheiß hatte den Auftrag, sich bei Pfändungen, Verfolgung von in Zahlungsschwierigkeiten Geratenen und dergl. mehr an den Rat zwecks Veranlassung des weiteren zu wenden. Dem Herzog von Sachsen stand nur die Bestätigung des vom Rate ernannten Schulzen zu.

Das war aus dem alten Schultheißenamte geworden, nachdem es von Sachsen an Nordhausen verpfändet worden war. Es bestanden nach dem Gesetz der Beharrung nur noch die alten Formen, tatsächlich war das Amt aufgelöst, und alle seine Befugnisse waren auf den Rat übergegangen.

Bis auf ein kleines Zwischenspiel im Jahre 1567 blieb nun Nordhausen unangefochten im Besitze des Schultheißenamtes. Damals hätten die religiösen Streitigkeiten Nordhausen beinahe um diese Gerechtsame dadurch gebracht, daß trotz des kurfürstlichen Einspruchs die Stadt zunächst für den Pfarrer Fabricius, den „aufrührerischen, giftigen Buben“, wie ihn August von Sachsen nannte, eintrat. Erst als Sachsen die Absicht aussprach, zu Ostern 1569 das Schulzenamt für die einst gezahlten 2000 Taler zurückzunehmen, entließ die Stadt Fabricius und mit ihm Antonius Otto. Damit war die Gefahr gebannt.[3]

Das Schlimmste aber war, daß ein recht starker Prozentsatz der Bürger gar nicht ungern gesehen hätte, wenn das Amt, ausgestattet mit seinen alten Befugnissen, wieder an Sachsen gefallen wäre. Wie nämlich überall in kleinen Staaten, wo eine Clique von wenigen einflußreichen Geschlechtern das Heft in der Hand hat, so war es auch in Nordhausen. Und diese allgemeine Vetternwirtschaft hatte sich nach Übergang der Zivilgerichtsbarkeit an Nordhausen auch auf die Handhabung der Rechtspflege ausgedehnt. Diese korrupten Verhältnisse hofften viele Bürger durch einen Übergang des Amtes an Sachsen zu beseitigen, und es war ärgerlich genug für den Rat, daß mehrfach, nachdem das Amt doch bei Nordhausen geblieben war, Bürger sich bei Sachsen über die Rechtsprechung beschwerten.

Dadurch erhielt Sachsen aber auch immer wieder Kenntnis von dem Werte des Gerichts und nutzte nun von Zeit zu Zeit diese seine Wissenschaft weidlich aus. So reklamierte es in den folgenden Jahrzehnten noch zweimal, 1609 und 1619 das Amt und machte Anstalten, die dafür von Nordhausen erlegte Summe zurückzuzahlen. 1619 kam es sogar tatsächlich zum Rückkauf, und selbst ein sächsischer Schultheiß, Simon Reinhardt, wurde von Sachsen ernannt. Dabei zeigte sich nun allerdings, wieviel Schwierigkeiten die Stadt einem solchen Beamten machen konnte, und deshalb war schließlich Sachsen doch genötigt, wieder in Verhandlung mit Nordhausen zu treten. Diese kamen erst am 8. Februar 1621 unter schwersten Opfern für die Stadt zum Abschluß. Nordhausen mußte sogleich 6000 Taler zahlen, dazu auf 5 Jahre noch jährlich 300 Taler. Außerdem übernahm es von neuem die Verpflichtung, den von ihm ernannten Schulzen dem Kurfürsten jedesmal zu benennen und nach der obersächsischen Kreisordnung zu münzen. Ostern 1626 sollte Nordhausen weitere 9000 Taler auszahlen und dafür das Amt endgültig erwerben.

Diese letzte Bestimmung kam unter den Ereignissen des Dreißigjährigen Krieges nicht zur Durchführung. Erst 1643 konnte Sachsen Nordhausen wieder an die eingegangenen Verpflichtungen erinnern. Damals mußte sich Nordhausen dazu verstehen, 10000 Taler zu 21 Groschen an Sachsen zu entrichten. Dafür war es auf 15 Jahre im Besitze des Amtes.

In den Folgejahren benutzte dann Sachsen seine Rechte in Nordhausen immer wieder dazu, von Zeit zu Zeit, man ist versucht zu sagen, wahre Erpressungen vorzunehmen, vor denen sich Nordhausen nicht retten konnte, wenn es seine Souveränität nicht einbüßen wollte.

Pünktlich nach 15 Jahren, am 15. November 1658, kam Nordhausen um Verlängerung der Verpfändung bei Sachsen ein; doch diese erfolgte nicht, da Sachsen, das ja auch das Schutzrecht über Nordhausen hatte, für diesen Schutz 5700 Taler von Nordhausen haben wollte. Mit Recht konnte Nordhausens Syndikus Johannes Titius Sachsen fragen, worin denn der Schutz Sachsens für Nordhausen während des Dreißigjährigen Krieges bestanden habe, da Sachsen der „Kriegsfurie“ ja ebenso hilflos preisgegeben gewesen sei wie Nordhausen selbst. Doch Sachsen drohte nun kurzerhand, das Schulzenamt „als fürnehmes Regal“ einzuziehen, und erst nach längeren Verhandlungen gelang es Johann Titius und Johann Christoph Ernst im Februar 1660, den einst geschlossenen Vertrag auf weitere 15 Jahre bis 1675 für abermals 10000 Taler zu prolongieren.

Bei solchen hohen Summen war freilich das Amt kaum noch rentabel; Nordhausen brachte eben mehr für seine Reichsfreiheit das Geld auf, als daß es aus dem Amte einen materiellen Vorteil herausgeschlagen hätte. Immerhin versuchte es, aus den Gerechtsamen herauszuwirtschaften, was nur möglich war. Besonders benutzte es, um seine Einnahmen zu erhöhen, die Zölle, und es ging notgedrungen dazu über, allen Ortschaften der Grafschaft Honstein, von denen bisher viele zollfrei ihre Waren nach Nordhausen hatten einführen dürfen, den üblichen Zoll aufzuerlegen. Darüber führte 1689 das Amt Honstein Beschwerde, drohte schließlich mit Repressalien, und da Nordhausen selbstverständlich vom flachen Lande abhängig war, setzt die Grafschaft ihre Wünsche durch.

Unter diesen Verhältnissen erlebte das Schulzenamt dann zu Beginn des 18. Jahrhunderts das preußische Zwischenspiel.[4]

Alle diese Darlegungen lassen die nicht rechtlich, aber faktisch völlig veränderte Stellung Nordhausens im Reichsverbande erkennen. Die kleinen und kleinsten staatlichen Gebilde konnten sich gegenüber der Fürstenmacht nicht mehr durchsetzen und mußten ihr früher oder später zum Opfer fallen. Diese Entwicklung kann man weder bedauern noch gutheißen, sondern kann sie einfach nur als schicksalsmäßige Notwendigkeit feststellen.

So war es denn auch ein Zeichen der Zeit, daß die größeren Staaten allmählich einen immer stärkeren Willen zur Macht zeigten und daher auch alle Sorgfalt anwandten, die Mittel zur Erringung bedeutenderer Machtfülle auszubauen, daß dagegen die kleineren Reichsgebilde im Gefühl ihrer Ohnmacht bald ganz auf eine selbständige Politik verzichteten und ihre Wehrfähigkeit immer mehr abnahm. Hier schwand der Wille sich kraftvoll durchzusetzen oder auch nur ehrenvoll zu verteidigen nach und nach ganz, bis schließlich im 18. Jahrhundert die Reichsarmee ihre ganze Lächerlichkeit während des Siebenjährigen Krieges offenbarte.

Im Mittelalter war ja in Nordhausen jeder Bürger verpflichtet gewesen, die Vaterstadt mit der Waffe zu verteidigen, und geschart um einen kleinen Kem geworbener Söldner, hatte das Bürgeraufgebot es oft genug mit Grafen und Fürsten aufgenommen. Das war möglich zu einer Zeit, wo in den Fehden wenige hundert Mann gegeneinander scharmützelten. Seit aber die Fürsten ihren widerhaarigen kleinen Adel und ihre stolzen Städte gedemütigt hatten und ihnen große Mittel für ein ganzes Heer Reisiger zur Verfügung standen, konnte es keine ungeübte Stadtmannschaft mehr wagen, sich mit ihren Truppen zu messen.

So hielt denn auch Nordhausen im 16. Jahrhundert noch eine kleine Anzahl Söldner, es stand auch noch die Wehrpflicht aller Bürger auf dem Papier, aber für den Ernstfall kam diese „Armee“ nicht in Betracht. Sie war nur noch gut, bei Schaustellungen, Aufzügen und Schützenfesten eine martialische und etwas komische Folie abzugeben.

Wenn auch die Zeit voller Kriegslärm war, so fühlte man doch die Ohnmacht und verlor die Lust, sich einzusetzen. Man hörte und sah noch die vielen Händel, in denen die Großen gegeneinander kriegten, man legte selbst aber die Hände dabei in den Schoß. In keiner der vielen Kriegshandlungen des 16. Jahrhunderts hat Nordhausen bestimmend eingreifen, an keiner tatkräftig teilnehmen können, wie es in den vorhergehenden Jahrhunderten geschah. So war es, als die Fürsten 1542 Heinrich von Braunschweig züchtigten, so war es, als sich 1547 der Schmalkaldische Krieg der Stadt näherte, so war es 1551 beim Abzüge des Kriegsvolkes von Magdeburg, so war es 1553 bei der Fehde Moritz’ von Sachsen gegen Albrecht Alcibiades, so war es bei den Grumbachschen Wirren des Jahres 1567. Jahrzehntelang wurden die Aue und das Eichsfeld nicht frei von abgedankten, entlaufenen und versprengten Kriegsknechten. 1552 hausten Marodeure auf dem Eichsfelde, 1557 und 1560 mußte die Stadt vor „gardenden Landsknechten“ ihre Tore schließen. Alles zeigte, daß man in einer wildbewegten Zeit lebte, aber nichts half, die Unlust am Waffenhandwerk zu bannen. Ja, selbst der Türkenzug vom Jahre 1532, an dem aus Mangel an städtischen Söldnern auch Bürgersöhne teilnahmen, vermochte den kleinen Reichsstädter für die Anstrengungen und Gefahren eines Feldzuges nicht zu begeistern.

Bei der allgemeinen Resignation, welche die Bürger allmählich ganz entnervte, wird es auch verständlich, daß die Stadt ihre Befestigungswerke immer mehr verfallen ließ. Die Berechtigung dafür kann man noch nicht in der Überlegenheit der Angriffswaffen suchen, denn eine Stadt wie Magdeburg hatte der elfmonatigen Belagerung durch ein großes Heer mit Erfolg getrotzt; sondern das Erlahmen jeglichen Interesses ist dafür verantwortlich zu machen.

Schon zu Anfang des 16. Jahrhunderts ließ der Rat die Befestigungen verkommen, indem er den Stadtgraben abschnittsweise als Weidennutzung verpachtete. Die dem Schmalkaldischen Bunde drohenden Gefahren lenkten dann wohl zeitweilig die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung von Mauern und Wall. Hie und da ward gebessert und geflickt, wie z.B. die Instandsetzung des schönen, noch heute erhaltenen Oßwaldschen Turmes im Bering der Außenbefestigungen zeigte, der 1589 neu errichtet wurde. Im allgemeinen geschah aber wenig, und ernsthaft trat keiner der Wehrlosigkeit entgegen. Den Verfall beleuchtet ein Ratserlaß vom Jahre 1539 recht gut, in welchem es heißt: „A Senatu ist resolvieret, daß hinfür keiner, der den Stadtgraben um Zins innehat, sein Vieh, es mag wenig oder viel, klein oder groß sein, auf denselben Stadtgraben gehen lassen soll, heimlich oder öffentlich, und wer dawider handelt, soll dem Rate, so oft er es tut, 4 M zur Buße geben. Desgleichen daß auch niemand kein Reisholz oder Brennholz darin von altem oder jungem Holz oder Bäumen mehr holen, sondern was das (in dieser Beziehung) gemachet, soll durch den Rat geschehen und auf dem Weinkeller (als Ofenfeuerung) verbrannt werden, bei voriger Buße.“

Genützt hat dieser Erlaß nichts. Und so erhalten wir denn den erbaulichsten Einblick in ein geruhsames Stadtidyll durch eine Gerichtsverhandlung aus dem Jahre 1590. Damals mußte ein Mann mit dem Schwerte hingerichtet werden, der als tüchtiger Fassadenkletterer die Stadttürme von außen erstiegen und die in den Türmen aufgestellten Büchsen und Geschütze gestohlen und zu Geld gemacht hatte. 26 Büchsen, darunter eine ganze Reihe schwere, und mehrere Hakenbüchsen, die nur auf Karren wegzuschaffen waren, hatte der Mann ungehindert nach und nach verschwinden lassen können.

Dennoch wäre es falsch, den leitenden Männern jener Zeit Initiative absprechen zu wollen. Nur die seelische Gesamthaltung der Bürgerschaft verlangte nach Ruhe und Behagen oder war durch andere Interessen, insbesondere religiöse, in Anspruch genommen. Die bedeutenden Führerpersönlichkeiten, die Nordhausen im 16. Jahrhundert ganz im Gegensatz zum 15. in großer Zahl aufzuweisen hatte, suchten durchaus ein Feld für ihren Tätigkeitsdrang. Nur mußten sie auf die gewaltsame Lösung ihrer Aufgaben verzichten und auf friedlichem Wege mit diplomatischem Geschick zum Ziele zu gelangen suchen. In dieser Beziehung ist trotz Mangels an kriegerischer Gesinnung im 16. Jahrhundert doch durchaus ein Rücklenken zu den Bestrebungen des 14. Jahrhunderts zu bemerken. Mehrfach und nicht ohne Erfolg bemühten sich die leitenden Männer, zu Landbesitz für die Stadt und zur Ausdehnung ihrer Hoheitsrechte zu kommen.

Schon oben ist davon die Rede gewesen, daß, wie in anderen Staaten, so auch in Nordhausen die Reformation die politische Begehrlichkeit beförderte. So eignete sich auch Nordhausen während und nach den Bauernstürmen des Jahres 1525 viele Liegenschaften der toten Hand an oder besteuerte sie wenigstens später. Völlig nachzukommen ist den Verschiebungen der Besitzverhältnisse jener Zeit nicht. Denn da diese Aneignungen offenbar rechtlich z.T. anfechtbar waren, wurden so schnell wie möglich die Spuren von dergleichen Säkularisierungen verwischt. Eine gewisse Rechtsgrundlage erhielten diese allerdings am 10. Juni 1544 durch den Reichsabschied von Speyer, der den einzelnen deutschen Ländern gestattete, eingezogenes Kirchengut zum Unterhalt von Kirchen und Schulen zu verwenden.

Schon mit diesem Erwerb von früher geistlichem Besitz war eine Ausdehnung städtischen Besitzes in den umliegenden Fluren eingeleitet. Die Tatkraft hervorragender Männer und die richtige Erkenntnis, daß die Stadtflur Nordhausens für eine selbständige Reichsstadt viel zu klein sei, führten dann aber auch trotz der schlimmen finanziellen Lage der Stadt durch Kauf und Vertrag zu weiteren kleinen Landerwerbungen.

Kaum nennenswert waren allerdings die Besitz Verschiebungen zu Gunsten Nordhausens im Westen und Süden seiner Flur. Hier gingen 1574 nicht an die Stadt selbst, wohl aber an einige Nordhäuser Bürger die 120 Morgen Land über, welche noch immer der deutsche Orden, Ballei Mühlhausen, auf Nordhäuser Boden besessen hatte. Die Bürger, die das Land bisher in Pacht gehabt hatten, kauften es jetzt dem Orden ab.

Ferner versuchte die Stadt selbst westlich des Dorfes Salza im sogenannten Lindei Fuß zu fassen. Hier und auf dem Holungsbügel gelang es 1559, aus Privathand für 180 Taler Landbesitz zu erwerben. 1568 wurde dann das Anrecht Nordhausens am Holungsbügel noch erweitert durch einen Vertrag mit dem Dorfe Hesserode. Die den Hesserödem dort gehörigen 30 Morgen Land durften die Nordhäuser fortan als Koppelweide benutzen. Sehr wertvoll waren diese Ländereien nicht, und da die Stadt in dauernden Geldschwierigkeiten war, wurden die Äcker schon 1570 wieder aufgegeben.

Viel bedeutender waren die Erwerbungen Nordhausens von der Grafschaft Stolberg im Osten der Stadt.

Hier hatte seit dem Bauernkriege das Kloster Himmelgarten verödet dagestanden. Der letzte Prior Johann Hüter hatte die Besitzungen des Klosters auf 12 Jahre dem Nordhäuser Schultheißen Leonhard Busch und seinem Sohne Ludwig übertragen. Gegen diese Übereignung erhob aber damals Graf Botho von Stolberg Einspruch, setzte seinen Willen durch und übergab Himmelgarten seinem getreuen Hauptmanne Wolf von Rabyl, der ja ebenso wie Hüter ein alter Bekannter von uns aus der Reformationszeit ist.[5] Später bewirtschaftete der stolbergsche Lehnsmann Heinrich von Rüxleben das Gut.

Dieser Rüxleben aber war für Nordhausen ein recht ungebärdiger Nachbar. Ein leidenschaftlicher Freund von Jagd und Hatz, setzte er sich, wenn er einmal eine Sau oder ein Stück Rotwild verfolgte, über alle privaten und staatlichen Gerechtsame hinweg und schonte wie der Wilde Jäger nicht Feld und Flur, nicht Hirt und Herde. Mehrfach ritt er auf Nordhäuser Grund und Boden die Saat nieder und spielte den Nordhäuser Schäfern übel mit. Deshalb ging am 29. April 1562 eine lange, 17 Beschwerdepunkte umfassende Klageschrift der Stadt an den Grafen von Stolberg. Als dieses Schreiben völlig erfolglos blieb, sah sich der Rat sogar genötigt, Kaiser Ferdinand I. um des bösen Rüxleben willen zu bemühen. Dieser trat dann am 1. Oktober 1562 für Nordhausen ein.

Kurze Zeit darauf mußten die Rüxleben Himmelgarten aufgeben. Wie viele Grafengeschlechter jener Zeit, so hatten auch die Stolberger sich mit mancherlei Schulden belasten müssen. So war auch Wilhelm von Hopfgarten zu Mülverstedt Gläubiger Stolbergs geworden, und die Rüxleben hatten sich als getreue Vasallen für sie verbürgt. Als nun die Hopfgarten nicht zu ihrem Gelde kommen konnten, beklagten sie sich bei Kurfürst August I. von Sachsen über Heinrich von Rüxleben, und der Kurfürst sprach am 10. Januar 1564 den Hopfgarten das Klostergut Himmelgarten zu.

Diesen neuen Herren aber, die ihre Hauptbesitzungen mehrere Meilen südlich von Nordhausen hatten, war an solchem Außenbesitz nicht viel gelegen. Deshalb verkauften sie ihn schon 1567 für 3432 Gulden 11 Groschen an Nordhausen. Dadurch fielen der Stadt etwa 250 Morgen Land, 7 Teiche und eine Schäferei mit 337 Schafen und 212 Lämmern zu. Das war eine recht ansehnliche Erwerbung. Nordhausen gab das Gut an Pächter aus, geriet aber mehrfach über Weidegerechtsame, Holzschlag und dergl. mehr mit den anliegenden Ortschaften Bielen, Leimbach und Steigertal in Konflikt. Doch konnten die kleinen Reibereien immer schnell beigelegt werden. Für die Weide auf der Hardt, dem nördlich Himmelgarten gelegenen, langsam ansteigenden Höhenrücken, erhielten die Steigertaler jährlich ½ Schock Käse. Dafür durfte die Weide bis an den „Mannsbaum“, noch heute eines der Wahrzeichen im Nordhäuser Landschaftsbilde, benutzt werden. Zum Zeichen, daß der Himmelgarten unter sächsischer Lehnshoheit stand und nunmehr im Besitze Nordhausens war, heftete Sachsen im März 1565 sein Wappen an den Gutshof; daneben prangte das Nordhäuser Stadtwappen, der schwarze Adler im gelben Felde.[6]

Noch wichtiger war die Erwerbung des Dorfes Stempeda durch Nordhausen, des einzigen selbständigen Dorfes, das Nordhausen je besessen hat. Auch diese wurde durch die schwierige pekuniäre Lage, in der sich die Stolberger Grafen zeitweilig befanden, veranlaßt. Die Stolberger hatten nämlich nach und nach von Nordhausen mehr als 20000 Gulden geborgt, saßen aber außerdem noch bei Nordhäuser Privatleuten in der Kreide. So hatten die Grafen Ludwig, Heinrich und Albrecht Georg im Jahre 1555 von dem Nordhäuser Bürgermeister Johann Schultheiß 1000 Gulden zu 5 % aufgenommen. Die Zinsen wurden in 30 Marktscheffeln[7] Gerste, Roggen und Hafer im Werte von 50 Gulden bezahlt. Im Vertrage war ferner vorgesehen, daß das Dorf Stempeda für die Zinsen aufzukommen hatte und im Falle, daß die Grafen das Kapital nicht zurückzahlten, für die Familie Schultheiß als Pfandobjekt diente.

Nun waren die Grafen in der Tat nicht in der Lage, ihre Schulden abzustoßen, und so erhielten denn die Schultheißschen Erben 1592 das Dorf Stempeda samt allen Rechten darin. Doch da es für Privatleute schlecht möglich war, das Dorf zu verwalten, verkauften die Schultheiß, wohl den Wünschen Nordhausens damit entgegenkommend, ihr Besitztum am 15. Juli 1594 für 1187 Gulden 13 Groschen 4 Pfennige weiter an ihre Vaterstadt Nordhausen. Der Kurfürst von Sachsen als Oberlehnsherr erteilte die Erlaubnis dazu.

Damit war ein wertvoller Besitz, waren Bauern, die zinsen mußten, war die Gerichtsbarkeit über das Dorf, die Jagd, die Fischerei, der Holzschlag für Nordhausen gewonnen worden. Doch mußte Nordhausen erst den Widerstand der eigenwilligen Bauern brechen. Offenbar hatte sich das Dorf unter den Stolbergern und im Besitz der Schultheißschen Familie sehr wohl befunden. Als nun das Nordhäuser Regiment mit Steuern und Naturallieferungen einsetzte, wurden die Bauern widerspenstig und verweigerten ihre Abgaben. Doch Nordhausen ließ nicht mit sich spaßen. Nach mehrfachen vergeblichen Drohungen befahl der Rat im September 1596, Scheunen und Ställe zu vernageln, den Hirten von Stempeda gefänglich einzuziehen und eine Reihe von Bauern an den Pranger zu stellen.

Wahrscheinlich hätten die Bauern den Widerstand nicht gewagt, wenn sie nicht geglaubt hätten, an ihrem alten Grundherrn in Stolberg einen Rückhalt zu haben. Jedenfalls wandten sie sich alsbald an die Grafen, und diese schickten in der Tat am 2. Oktober 1596 zwei ihrer Beamten, Johann Rentwig und Joachim Schwalbe, nach Nordhausen. Hier kam es zu Verhandlungen, bei denen die Stolberger auch mit des Kaisers Gericht drohten. Doch die Nordhäuser blieben fest und drangen schließlich auch durch, da Stolberg offenbar einen zu starken Druck auf die Stadt nicht wagte; waren doch seine Schulden bei Nordhausen 1597 auf nicht weniger als 21559 Gulden 4 Groschen angelaufen. So mußten die Grafen sich wohl oder übel dazu verstehen, das Dorf Stempeda aus ihrer Untertänigkeit zu entlassen. Herzog Friedrich Wilhelm von Sachsen als Vormund für den Kurfürsten Johann Christian bestätigte als Oberlehnsherr den Übergang des Dorfes in Nordhäuser Besitz. Die Bauern mußten sich fügen. Nur die Wildbahn Stempedas ging bald wieder, im Jahre 1612, an einen stolbergschen Oberförster über. Gegen Ablieferung von 1 Wildschwein, 4 Rehen und 8 Hasen durfte er seit Michaelis 1612 die Jagd auf der Stempedaer Flur allein ausüben.[8]

Mehr als 100 Jahre sollte das Dorf nun in Nordhäuser Händen bleiben. Erst am 23. Dezember 1720 gelang es den Grafen von Stolberg, zugleich mit dem Wiedererwerb von Himmelgarten, auch Stempeda für zusammen 15559 Gulden einzulösen.

Schließlich glückte den Nordhäusern auch noch im Norden der Stadt bei Petersdorf eine kleine Erwerbung. Hier gehörte ja das Kirchhofholz, das allerdings stolbergisches Lehen war, zum Besitze der Stadt. Diesen Besitz erweiterte der Rat 1564 dadurch, daß er ein Wäldchen zwischen dem Kirchhofholze und Rüdigsdorfer Besitz für 110 Taler kaufte; dieser Wald hatte einst dem Franziskanerkloster zu Nordhausen gehört. Wie damals in der Reformationszeit die Liegenschaften ihren Besitzer wechselten, erhellt recht hübsch aus den Quellen, in denen es heißt: „Dieses Holz ist ehedem dem Barfüßer- oder Franziskanerkloster allhier erblich gewesen, und in dem Bauemaufruhr solches von der Herrschaft Stolberg an sich gezogen, hernach aber Emst von Germarshausen von den Grafen wiederum wegen seiner Dienste verehrt worden nebst der Konzession derer Herrn Grafen von Stolberg, so dem von Germarshausen wegen dieses Holzfleckes gegeben worden, solches anderwärts zu verkaufen.“

Von diesem Rechte machten die Germarshäuser also Gebrauch, und so kam das Holz in die Hand Nordhausens. Daß übrigens ein derartiger Waldbesitz für die Stadt nicht bedeutungslos war, sieht man daraus, daß im Jahre 1612 das Kirchhofholz auf 12000 Bäume geschätzt wurde. Da damals Nordhausen zum großen Teil abgebrannt war, konnte der Rat, ohne den Wald gar zu stark durchforsten zu müssen, seinen Bürgern freies Bauholz zum Wiederaufbau ihrer Häuser zur Verfügung stellen. Jedem Brauherm fielen, je nach der Größe seines Hauses, 9-16, den kleineren Hausbesitzern 4-8 „Baustücke“ zu.

Der Umstand, daß das Kirchhofholz zwar Nordhäuser Besitz war, aber in Stolberger Herrschaft gelegen, führte freilich auch zu manchen Scherereien mit Stolberg und seinen Feldhütern. So nahm der Petersdorfer Flurschütz 1589 den im Kirchhofholze jagenden Nordhäusern Garn und Lappen für die Vogelstellerei weg, was zu Weiterungen führte. Aber auch die Berechtigung, Holz, Eicheln, Bucheckern und dergl. im Walde zu lesen, wurde den Nordhäusern zeitweilig bestritten, so daß es deshalb 1649 und 1664 zu Auseinandersetzungen mit Stolberg kam.

Waren diese Erwerbungen von Außenbesitz auch nur klein, und zeigten sie mehr ein gelegentliches Zugreifen als einen bestimmten Plan, wie ihn das Vorgehen der Geschlechter im 14. Jahrhundert aufwies, so war doch die Initiative des Rates erfreulich und von Erfolg begleitet. Auch muß man bedenken, daß im 16. Jahrhundert sich alle Verhältnisse schon viel mehr gefestigt hatten und unsere kleine Reichsstadt zwischen den Herrschaften der Großen bei weitem nicht mehr solche Geltung beanspruchen konnte wie einst, daß es also für sie viel schwerer geworden war, sich zu erweitern und Landbesitz zu erwerben. Dazu kamen noch die dauernden außerordentlichen Geldverlegenheiten, in denen die Stadt im 16. Jahrhundert steckte und die es nötig machten, mit dem Pfennig zu rechnen.

Um die Finanzen der Stadt war es nämlich im 16. Jahrhundert traurig bestellt. In erster Linie stellte das Reich in jener Zeit erhöhte Anforderungen. Dabei waren die Ausgaben für das Kammergericht und die Reichstage, die gerade damals sehr häufig zu beschicken waren, noch gering. Viel schwerer hatte die Stadt an den dauernden Umlagen für die vielen Kriege der Kaiser zu tragen. Im Westen waren die Franzosen, im Osten die Türken zu bekämpfen, und welche Opfer gerade die Abwehr der Türkeneinfälle immer wieder erforderte, ist ja schon oben klargestellt worden. Da gingen bald die Gelder, welche die Stadt aus dem Verkauf der Kirchenkleinodien gelöst hatte, drauf, und vieles andere dazu.

Dazu kamen die Unruhen im eigenen Lande, die Anforderungen an Proviant und Gespannen, die Verpflegung von durchmarschierenden Truppen in Nordhausen selbst, die Zufriedenstellung hoher Herren, um sie sich geneigt zu halten oder Unheil von der wehrlosen Stadt abzuwenden.

Besonders aber nahmen auch zwei Brände, welche Nordhausen in den Jahren 1540 und 1612 heimsuchten, die Stadt furchtbar mit. Bei der Bauart der Häuser und Straßenzeilen jener Zeit sowie den dürftigen und primitiven Beleuchtungsmöglichkeiten, bei denen nur Kerzen oder Öllampen mit ungeschützter Flamme Verwendung fanden, waren in früheren Jahrhunderten ausgedehnte Brände keine Seltenheit. So brannte z.B. in dem hier in Betracht kommenden Zeiträume, im Jahre 1590, auch das benachbarte Heringen so gut wie völlig nieder. Aber so oft und so schrecklich wie Nordhausen ist doch selten eine Stadt von Brandschaden befallen worden.

Am 19. August 1540 nachmittags 4 Uhr brach das Feuer am Königshof aus und ergriff alsbald den größten Teil des Rauten-und Neuewegs-Viertels. Damals sank das ehemalige Dominikanerkloster, das seit Einführung der Reformation als Schule benutzt wurde, in Asche, damals brannte der Walkenrieder Hof ab, damals ward die Ratsapotheke, die ehrwürdige Anfangsstätte der Reformation am Holzmarkte, vom Feuer ergriffen. „Der vierte und beste Teil Nordhausens brannte ab“, berichten die Quellen. Das Feuer sollte übrigens von Brandstiftern, Männern und Frauen, angelegt worden sein, die dann auf entsetzliche Weise gefoltert und hingerichtet wurden.

Noch schlimmer wütete der Brand, der am 21. August 1612, nachts zwischen 11 und 12 in der Bäckerstraße ausbrach, sich von dort verbreitete und 2 Kirchen, 3 Türme, 106 Brauhäuser sowie 141 Hintersättierhäuser einäscherte. Besonders arg wurde damals die Kranichstraße, Gumpertgasse, Engelsburg, der Pferdemarkt, die Töpferstraße, Hundgasse, der Kommarkt und die Krämerstraße mitgenommen. Die Nikolaikirche selbst stand in einem Meer von Flammen und brannte vollständigt aus. Als ihr Dach zusammenbrach, stürzten auch die beiden schönen Türme herab, und die Glocken, die innere Ausstattung, die Orgel, die Kanzel und der Altar wurden vernichtet. 1613 und 1614 wurden Dachstuhl und Türme wiederaufgebaut.

Das waren furchtbare Verluste zu all’ den übrigen Lasten, an denen Nordhausen schon zu tragen hatte. Viele der Abgebrannten waren völlig verarmt. Allen vom Feuer Betroffenen mußte die Stadt im Jahre 1540 acht Jahre lang die Steuern erlassen und sprang ihnen auch dadurch bei, daß sie jedem abgebrannten Brauherm 50 Gulden, jedem Hintersättier 25 Gulden Beihilfe zum Neubau ihrer Häuser gab. Und doch blieb noch manche Wohnstätte lange Zeit wüst liegen. Ein Glück, daß Meyenburg gute Fürsprecher beim Kaiser hatte. Dieser gewährte wegen des Brandunglückes mehrere Jahre hindurch Erleichterungen bei den Reichssteuem und erteilte auf Meyenburgs Vorstellungen der Stadt im Jahre 1541 sogar die Erlaubnis zur Erhebung eines besonderen Wegegeldes, das 12 Pfennige für den Wagen, 6 Pfennig für die Karre betragen sollte.

Alles das konnte aber die Stadt nicht vor großen Schulden bewahren. 1540-1553 liefen diese auf 37000 Gulden an. Bei dieser Notlage mußte der Rat daran denken, weitere Geldquellen zu erschließen. Die alte Georgskapelle wurde verkauft und das Geld, das zunächst zum besten der Schule Verwendung finden sollte, in den großen Stadtsäckel gesteckt. 90 Morgen Acker, die dem Kloster im Altendorfe einst gehört hatten, brachten 1050 Gulden ein. Alles Kirchensilber, das der Türkenkrieg im Jahre 1532 noch nicht verschlungen hatte oder sonst noch nicht veräußert war, wurde nun für 2290 Gulden 6 Groschen verkauft; doch verzinste die Stadt den Kirchen die Summe. Ja, schließlich griff Meyenburg zu einer verzweifelten Maßnahme, dem Anfang jeder Bankrotterklärung: er ließ geringwertige Münzen ausprägen. 1556 wandte sich deshalb der Rat von Nürnberg beschwerdeführend an die Stadt und klagte, „daß die Taler, so in Nordhausen geschlagen worden, gar gering seien“. Daneben traf man einschneidendste Sparmaßnahmen. Für öffentliche Bauten war kein Geld vorhanden, sie wurden auf bessere Zeiten verschoben. Die Befestigungsanlagen ließ man verfallen, die Zorge konnte nicht reguliert werden. Endlich setzte man auch die Bezüge der städtischen Beamten und Geistlichen auf ein Minimum herab. In den siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts klagten deshalb die Pfarrer, sie könnten mit ihrem Gehalte nicht das Leben fristen; das Jahrgehalt des Rektors der Schule setzte der Rat schon 1554 auf 70 Gulden fest und traf die Bestimmung, daß es auf keinen Fall mehr betragen solle.

Unter diesen Umständen wagte man selbst nicht an den Umbau des alten baufälligen Rathauses aus dem Ende des 13. Jahrhunderts zu gehen. Dieser alte Bau hatte schon im 15. Jahrhundert manche Schäden gezeigt; am Anfang des 16. Jahrhunderts hatte er eine gründlichere Umgestaltung und verschiedene Ausbesserungen über sich ergehen lassen müssen. Damals war die bisher offene Bogenhalle an der Südfront des Gebäudes zu einem Gange ausgestaltet worden, der an beiden Seiten durch Freitreppen zugänglich war. Die Gewölbe unter diesem Gange wurden nun als Gefängnis benutzt; es sind die seitdem immer mit dem „Gefängnis hinter dem Rolande“ bezeichneten Kammern. Im übrigen war aber am Hauptbau nichts Gründliches geschehen. So kam es, daß dieser in den folgenden Jahrzehnten ganz baufällig wurde und seine Benutzung lebensgefährlich erschien. Deshalb wurde endlich am 3. August 1562 der Neubau beschlossen. Doch die große Geldnot der Stadt, die nicht bloß durch Unglücksfälle aller Art und durch Kriege, sondern auch durch die damaligen wirtschaftlichen Verhältnisse heraufbeschworen war, ließen den Beschluß vom Jahre 1562 nicht zur Ausführung kommen. Da aber Tagungen in dem alten Gebäude nicht mehr möglich waren, räumte der Rat „umb Verhütung willen höchster leibesgefahr“ im Jahre 1565 die ungastliche Stätte und verlegte seine Sitzungen in den nach dem Brande des Jahres 1540 vom Abte Holtegel prächtig wiederaufgebauten Walkenrieder Hof. Hier fanden nun von Dezember 1565 bis November 1569 die Ratssitzungen statt.

Unterdessen aber war das Rathaus nicht wohnlicher geworden, Ausbesserungen blieben Flickwerk. So hatte der Rat eigentlich kein Heim; er tagte hin und wieder in der Ratswage auf dem Kornmarkte, um 1600 wohl auch im Riesenhause. Das waren aber so unhaltbare Zustände, daß man im Jahre 1608 doch an einen wirklichen Neubau ging. 1610 konnte dieses neue Rathaus bezogen werden. In seiner Notlage hatte der Rat selbst für einen solchen Bau private Hilfe angenommen. Die Witwe des Nordhäuser Bürgers Martin Schieferdecker hatte die beträchtliche Summe von 1500 Gulden für den Rathausbau gestiftet.[9]

Trotz der finanziellen Schwierigkeiten der Stadt ließ sie es sich aber doch angelegen sein, einigermaßen mit der Zeit mitzugehen. So entstanden denn im 16. Jahrhundert zwei für die Stadt wichtige Werke, welche die Versorgung der Stadt mit Wasser ganz neu gestalteten.

Im Mittelalter hatte die Oberstadt ihren Wasserbedarf aus Brunnen bezogen. Die bekanntesten waren der Bäckerbom, der an der Ecke der Bäckerstraße und der Kalten Gasse lag, der Frankenbom in der oberen Barfüßerstraße, von dem die Sage schon im Jahre 1329 bei dem Sturme auf die Stadt erzählt, der Rautenbom, der an der Stelle sprudelte, wo die Kickersgasse, die jetzige Neue Straße, in die Rautenstraße mündet. Auch auf dem Kommarkte stand ein Brunnen, und auf dem Königshofe war 1434 ein großer, wahrscheinlich mit schönem Zierrat geschmückter Brunnen erbaut worden. Weniger bekannte Brunnen waren der Petersborn vor der Hundgasse, der Töpferbrunnen an der Ecke der Töpferund Schreibergasse und der Judenbom am westlichen Ausgang der Jüdenstraße. Im 15. Jahrhundert hatte man auch schon einmal daran gedacht, das Wasser der Zorge für die Stadt nutzbar zu machen. Ein Hildburghäuser namens Mülich verpflichtete sich, das Zorgewasser oberhalb der Kaisermühle in kupfernen Röhren in die Stadt emporzupressen. Doch kam der Plan nicht zur Ausführung.

Jetzt, im 16. Jahrhundert, beschloß der Rat, die Straßen dadurch ausgiebiger und zu bequemerem Gebrauch mit Wasser zu versehen, daß er allen Teilen der Stadt Wasser durch unterirdische Röhren zuführte. Im Jahre 1546 erhielt Hans Laxner, ein Techniker aus Sachswerfen, den Auftrag, ein Druckwerk anzulegen, welches das Wasser aus dem Mühlgraben im Altendorfe auf den Geiersberg emportrieb, wo es in einem Wasserbehälter gesammelt und von dort durch Röhren in der ganzen Stadt verteilt wurde. Doch hatte Laxner offenbar den Röhren vom Geiersberg nach der Stadt zu ein zu geringes Gefälle gegeben, so daß 1598 Peter Günther aus Halle den Auftrag erhielt, das Werk zu verbessern. Dieser drückte nun das Wasser 52 Meter hoch in ein Häuschen am Geiersberg, das sogenannte Schöpfmännchen, leitete es von hier aus nach dem städtischen Marstall und führte es von dort, in 1100 Röhren verteilt, der ganzen Stadt zu. Das war die sogenannte Oberkunst der Stadt Nordhausen.

Zu gleicher Zeit legte derselbe Peter Günther noch die weniger wichtige Unterkunst an. Bei dieser wurde das Wasser dem Mühlgraben am Fuße der Johannistreppe entnommen und in einen großen Trog emporgedrückt, der im Neuen-Wegstore stand. Von dort leiteten dann 543 Röhren das Wasser in die Stadt.[10]

Diese Anlagen hatten natürlich beträchtliche Kosten verursacht; sie waren aber nötig gewesen. Daß dennoch der Rat mehr mit dem Pfennig rechnen mußte als der anderer Städte, sieht man daran, daß das Stadtbild im 16. Jahrhundert durchaus nüchtern blieb. Andere Städte bauten gerade am Ausgang des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts wundervolle Brunnen, die uns noch heute entzücken. Nordhausen hat dergleichen nicht aufzuweisen. Es wird aus dem 16. Jahrhundert auch nur von der Anlage eines Brunnens berichtet: Im Jahre 1583 wurde ein Brunnen, der wohl auch Zierrat besessen hat, auf dem Holzmarkte erbaut. Andere Brunnen oder „Künste“, wie man sie nannte, legte erst das 18. Jahrhundert an.

Für die ziemlich engen und dürftigen Verhältnisse, in denen Nordhausen im 16. und 17. Jahrhundert leben mußte, liegen nun aber in erster Linie doch innere Gründe vor. Denn Unglücksfälle und Kriege haben die Stadt auch in früheren Jahrhunderten betroffen, nicht weniger als in jener Zeit, und doch konnte sie sich immer wieder schnell und leicht zu neuer Blüte emporschwingen. Im 16. Jahrhundert bereitete sich aber in wirtschaftlicher Beziehung ein Wandel vor, der die Stadt aufs schwerste betraf. Verbunden mit der politischen Bedeutungslosigkeit, in welche die Stadt allmählich hinabsank, waren es die veränderten wirtschaftlichen Verhältnisse, die Nordhausen für lange Zeit von einstiger, immerhin achtbarer Höhe zu einer kleineren deutschen Mittelstadt herabdrückten.

Seit dem 16. Jahrhundert geriet Nordhausen in eine ähnliche Krisis hinein, wie wir sie bei Erfurt schon angedeutet haben. An den Verbindungen nach den Handelszentren, denen der Hanse im Norden, denen der süddeutschen und oberitalienischen Städte im Süden, hatte ja Nordhausen immer nur geringen Anteil genommen. Denn die bis ins 19. Jahrhundert hinein in der Hauptsache nordsüdwärts gerichteten Handelsstraßen umgingen die im Winkel zwischen Harz und Hainleite und Eichsfeld gelegene Stadt. In dieser Beziehung kam ihr erst die Ost-Westorientierung Preußens, besonders seit dem Jahre 1866, zugute. Aber Nordhausen hatte doch, eigentlich seit der Gründung durch Heinrich I., für eine weite und aufnahmefähige Landschaft eine zentrale Stellung gehabt. Diese behielt es ja auch seit dem 16. Jahrhundert, aber doch mehr für den Handwerker als für den Kaufmann. Damit blieb also für die Stadt wohl eine leidliche Durchschnittserwerbsmöglichkeit; aber die größeren Kapitalien, die sich in anderen Städten gerade damals bildeten, schwanden dahin. Schuld daran war vor allem, daß das bisher blühende Nordhäuser Braugewerbe schwere Schläge erlitt.

Die Grundlage für den Wohlstand des Braugewerbes, das in mehr als 200 Privathäusem, also in einem Drittel aller Häuser Nordhausens, betrieben wurde, war ja das alte Privilegium Karls IV. vom 28. März 1368 gewesen, welches das Brauen allen Dörfern in einem Umkreise von einer Meile um Nordhausen verboten hatte. Davon waren natürlich nicht nur diese Dörfer beeinflußt worden, sondern auch die weitere Umgebung, so daß die Nordhäuser tatsächlich von Heringen im Osten bis weit auf das Eichsfeld im Westen für ihr Bier Abnahme fanden.

Dieses kaiserliche Privilegium war nun in Vergessenheit geraten, und wenn die Nordhäuser es hervorzogen, kehrte sich keiner mehr daran. So gingen die Absatzgebiete verloren, und die Bevölkerung wurde offensichtlich ärmer. Dazu kam noch die Zerstörung der reichen Klöster in der Reformationszeit. Der Walkenrieder Klosterhof z.B., in dem das alte Kloster die Kornfrucht aller seiner reichen Liegenschaften in der Aue aufgespeichert hatte, verödete; die Bauern kamen mit ihrem Getreide nicht mehr in die Stadt und zum Markte, der Getreidehandel stockte. Kein Wunder, wenn man jetzt selbst in Nordhausen, das an schwerere Sachen gewöhnt war, wie in anderen Städten zum Brauen von leichterem Bier überging und sich mit diesem begnügte. Im Jahre 1602 wurde zum ersten Male im St. Martini-Hospital Broihan gebraut und auf dem Ratskeller verschenkt, und 300 Jahre lang sollte nun dieses dünnere Bier neben dem anderen seine Stellung behalten.

Daß die geringere Anfuhr von Getreide und der Verlust des Absatzmarktes für das Bier in der Tat ganz neue wirtschaftliche Verhältnisse schuf, lernt man am besten aus Verhandlungen kennen, die Nordhausen in den Jahren 1609 und 1610 mit Kursachsen über das Schulzenamt führen mußte. In einem dieser damals gewechselten Schriftstücke führte Nordhausen aus: Am Zoll werde nichts versäumt, und wenn das geschehen, so trage ja weiter keiner Schaden als der Rat zu Nordhausen selbst. Tatsächlich aber seien die Einnahmen zurückgegangen. Die Fuhrleute suchten jetzt andere Wege und mieden Nordhausen. Der früher billige Wein sei teuer geworden; er werde im Harze kaum noch getrunken. Die vornehmste Hantierung der Nordhäuser aber, das Bierbrauen, liege ganz danieder. Vor wenigen Jahren hätten die Bürger noch sieben- und mehrmals brauen können, jetzt genügten drei- oder viermal. Denn die Bauern in den Ortschaften brauten jetzt selbst, und vielfach sei es ihnen auch verboten worden, Nordhäuser Bier zu kaufen. Dadurch sei die Zufuhr von Getreide und die Ausfuhr von Bier zurückgegangen und damit die Zolleinnahmen.

Daß diese wirtschaftliche Notlage auch während des ganzen 17. Jahrhunderts anhielt, geht aus Verhandlungen hervor, die Nordhausen im Jahre 1666 mit dem inzwischen preußisch gewordenen Amte Klettenberg führte. Hieraus erfahren wir, daß Nordhausen ständig krampfhaft versuchte, seinen ländlichen Absatzmarkt wiederzugewinnen, daß ihm das aber nur in ganz bescheidenem Umfange gelang. Damals ließ sich das Amt Klettenberg zwar nicht dazu herbei, seinen Bauern das Brauen ganz zu verbieten, auferlegte ihnen aber wenigstens, zunächst 3 Jahre lang ihr Bier bei außergewöhnlichen Veranstaltungen wie Hochzeiten, Kindtaufen und dergl. aus Nordhausen zu beziehen.[11]

Für diesen Rückgang des einst so blühenden Braugewerbes bot die seit dem Ausgang des 15. Jahrhunderts in Nordhausen heimische Branntweinbrennerei nur schwachen Ersatz.

In der Nordhäuser Flur, besonders an den Südhängen der Hügel, war ja Wein angepflanzt; Nordhausen besaß mehr als 400 Morgen Rebenbestand. Aus den Trauben wurde ein Wein hergestellt, der ein vielleicht ganz wohlbekömmliches, aber wahrscheinlich nicht ganz wohlschmeckendes Getränk darstellte. Die verwöhnten Mönche aus Walkenried zogen jedenfalls den Wein aus ihren eigenen Weinbergen bei Würzburg vor, weshalb wir sie gewiß nicht tadeln wollen. Häufig reiften die Beeren in Nordhausen überhaupt nicht aus, so daß ein Keltern unmöglich war.

Nun kannte man schon seit Jahrhunderten das Brennen der Weinbeeren und ihrer Hülsen, um durch das Destillat ein Arzneimittel herzustellen. Auch das Fälschen des Weines durch Zusatz von Branntwein kannte man schon, wie aus einer Nürnberger Polizeiverordnung aus dem 14. Jahrhundert hervorgeht. Seit dem 15. Jahrhundert aber kam es besonders in Norddeutschland in Gebrauch, den Branntwein, den man bisher nur äußerlich zur Einreibung bei Gicht und Rheumatismus gebraucht hatte, auch innerlich zu nehmen, und diese Arznei schien so heilsam und köstlich, daß sie bald bei Kranken und Gesunden ein beliebtes Genußmittel wurde. Um 1500 muß das Branntweinbrennen und der Branntweingenuß auch in Nordhausen bekannt gewesen sein.

Jedenfalls lag schon eine wahrscheinlich mindestens ein Jahrzehnt währende Entwicklung vor, als der Rat im Jahre 1507 den Branntwein zu besteuern beschloß. In dem Vermerk heißt es nur: „Desgleichen wie ess mit dem bome wynne hinfuhr, eyne zinss darujf zcu setze, gehaltenn sul werden.“ Es ist also nicht einmal ersichtlich, ob das Brennen oder der Ausschank besteuert werden sollte. Doch ist die Urkunde als erste Nachricht von dieser Industrie, die für Nordhausen so wichtig werden sollte, immerhin nicht ohne Bedeutung.[12]

Der Branntwein wurde zunächst nur aus Weinresten, aus Wein- und Obstträbem hergestellt. Bald begann man aber auch, schon aus Korn „Branntwein“ zu brennen; doch wurde das im Jahre 1545 streng verboten. Einem solchen Brenner sollten die Branntweinblasen zerstört und ihm die Erlaubnis zu brennen für immer entzogen werden. 1574 wurde dieses Verbot des Kornbrennens nochmals wiederholt. Auch hierin kommt zum Ausdruck, daß der Rat keine unnütze Verschwendung von Roggen oder Gerste gestatten und alles nicht zur menschlichen Nahrung notwendige Getreide der notleidenden Bierbrauerei zukommen lassen wollte.

Doch stand die Brennerei noch ganz in ihren Anfängen, und nur kleine Leute betrieben sie als Hausindustrie. Das Fabrikat war keineswegs angesehen; nur der Hintersättier, der sich nichts Besseres leisten konnte, trank den Schnaps aus Obstund Weintrestern. Der Ausschank von Branntwein im städtischen Weinkeller war zunächst untersagt.

Dennoch versuchte der Rat natürlich, die Brennerei für sich zu einer kleinen Einnahmequelle zu machen, und erhob seit 1528 deshalb auch eine Umsatzsteuer vom Branntwein.[13] Da diese Steuer aber bei dem kümmerlichen Betrieb und dem unkontrollierbaren Ausschank leicht zu hinterziehen war, erließ der Rat schon 1533 ein Gebot, welches das Verschenken von Branntwein, ganz im Gegensatz zu der früheren Maßnahme, gerade nur auf dem Weinkeller erlaubte. Erst durch diese Einschränkung scheint der Branntweingenuß mehr in Aufnahme gekommen zu sein. Auf dem Weinkeller tranken den Branntwein nun hin und wieder auch wohlhabendere Leute; und für den Hintersättier taten sich, da der freie Vertrieb innerhalb der Stadt verboten war, vor den Toren eine Reihe von Schenken auf. Jedenfalls mußte sich die Polizeiordnung vom Jahre 1549 mit dem Branntweintrinken außerhalb der Stadt beschäftigen, indem sie bestimmte, zur Zeit des Gottesdienstes solle sich keiner „vor denfrithoren zum Bornewyn odder anderer ende und anderst den in den Kirchen finden lassen“, widrigenfalls er mit Gefängnis oder sonst „allen Ernstes“ bestraft werde.

Jedoch kann während des 16. Jahrhunderts die Brennerei in Nordhausen nicht erheblich gewesen sein. 1574 werden nur 11 Namen von Brennern genannt, und 1586 flössen der Stadtkasse aus dem Umsatz von Branntwein auf dem Weinkeller nur 100 Gulden 18 Groschen 9 Pfennig zu. 1591 kaufte der Weinkeller für 237 Gulden 4 Groschen 3 Pfennig Branntwein ein und erlöste daraus 239 Gulden 11 Groschen, so daß ein Überschuß von 152 Gulden 6 Groschen 9 Pfennigen, also ein nicht unerheblicher Reingewinn von 60 %, vorhanden war.

Die Tendenz der Stadt ging aber noch immer dahin, das Brennen zu Gunsten des Brauens niederzuhalten. Kein Brenner durfte eine eigene Gaststube haben, und doch mußte er noch 1627 von seinem Hause ebenso 1 Taler Steuer bezahlen wie der Bierbrauer, obwohl gewiß die Brauhäuser stattlichere Gebäude waren.[14]

Das sind die Anfänge der Branntweinindustrie in Nordhausen. Ein neues Gewerbe war begründet, doch damit noch kein neuer Wohlstand.

Im Gegensatz zum Branntwein, der zwar im 16. und 17. Jahrhundert noch keinen größeren Gewinn abwarf, aber im 18. Jahrhundert die Wohlhabenheit Nordhausens begründete, gelang es einem anderen Erwerbszweig in Nordhausen niemals, zur Entfaltung zu kommen, da einfach die natürlichen Bedingungen für ihn fehlten. Das war der Bergbau, den man besonders im 16. Jahrhundert zu treiben begann.

Die Nordhäuser Flur hat an der Oberfläche diluviale Schotter und Buntsandsteine aufzuweisen, in einiger Tiefe darunter lagern die Schichten des Zechsteins, die ja für unsere heutige Wirtschaft von großer Bedeutung sind, da sie das kostbare Kali bergen, die man aber früher nur nach Kupferschiefer durchsuchte. Doch haben gerade die Schiefergänge auf Nordhäuser Boden nie viel Kupfer geführt. Es bestanden zwar schon im 15. Jahrhundert einige Gruben am Eichenberge bei Petersdorf, an denen auch der Rat von Nordhausen mit 8 Kuxen beteiligt war; doch war die Ausbeute so gering, daß man sie 1538 eingehen ließ. Private Unternehmungslust versuchte dann den Abbau nochmals zu beleben, und einigen Nordhäusern erteilte der Rat im Jahre 1544 und im Jahre 1557 die Erlaubnis, in der Gumpe und am Ortbache nach „Schiefem“, d.h. also nach Kupfer, zu suchen, doch gingen die Gruben bald ein. Wenn überhaupt eine Ausbeute vorhanden war, so war sie so gering, daß sie die Mühe nicht lohnte.

Ähnlich erging es den Schürfungen nach Eisenstein. Am Südrande des Harzes bei Nordhausen führen die dort hervorgebrochenen Melaphyre und Porphyrite Brauneisenstein in solcher Menge, daß er noch im 19. Jahrhundert abbauwürdig erschien. Auf dergleichen Erzgänge glaubte man nun auch im Harzvorlande, auf Nordhäuser Flur stoßen zu können. Seit den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts fanden sich immer wieder Unternehmungslustige, welche die Ausbeute lockte, und der Rat erteilte gern die Konzession zum Abbau, um eine neue Industrie in Nordhausen heimisch zu machen, das Schlagen von Münzen zu rechtfertigen und selber dabei zu Geld zu kommen. Doch die Hoffnungen erwiesen sich auch hier als trügerisch. Weder am Geiersberge, wo man 1522 und 1523, noch in der Gumpe, wo man 1529, oder am Tütcheröder Berg, wo man 1544 grub, stieß man auf Eisen und Erz. Alle Wünsche, dem Boden durch Bergbau Schätze abzuringen, blieben vergeblich, und nur einige dürftige Alaunschürfen in der Gumpe blieben in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bestehen.

Also auch durch den Bergbau konnte der Wohlstand der Bevölkerung nicht gesteigert werden.[15] Bei dieser wirtschaftlichen Not, die sich gegen Ausgang des 16. Jahrhunderts immer mehr verschärfte, wird es verständlich, daß nur noch wenige Familien Mittel besaßen, Stiftungen und Vermächtnisse für das allgemeine Wohl zu gründen. Eine Zeit, in der jeder sich selbst nur mit Mühe durchs Leben schlagen kann, ist nicht dazu angetan, durch Werke der Barmherzigkeit und der Großmut der Allgemeinheit zu dienen. Doch auch die katholische Kirche und ihre Erziehung zur Werktätigkeit fehlte. Denn unzweifelhaft hatte der Protestantismus den Wert und das Ansehen guter Werke herabgesetzt und damit den Anreiz vermindert. Die großartige Liebestätigkeit, die einzelne in früherer Zeit entfaltet hatten, hörte auf und wurde erst wieder im 18. Jahrhundert durch den von der Lutherschen Orthodoxie bekämpften Pietismus belebt. Alles, was im 16. und 17. Jahrhundert an sozialer Fürsorge erforderlich war, suchte man, gezwungen durch die wirtschaftliche Not, aber auch veranlaßt durch falsch verstandene und falsch ausgelegte Luthersche Lehren, auf den Staat abzuwälzen mit dem Hinweis, daß die Behörde mit der Übernahme des höchsten Episkopats und mit der Einziehung der Kirchengüter auch die Verpflichtung übernommen habe, die charitativen Bedürfnisse zu befriedigen. Durch die Reformation hatte sich gewissermaßen ein Sozialisierungsprozeß vollzogen, und solche Experimente übertragen jedesmal dem Staate alle Verantwortung und entlasten den einzelnen. Das „Noblesse oblige“ geriet in Vergessenheit, nicht bloß weil keine Noblesse mehr vorhanden war, sondern auch weil die noch vorhandene sich nicht mehr obligiert, sich nicht mehr verpflichtet fühlte.

Gottlob hat es aber zu allen Zeiten, auch denen wirtschaftlichen Tiefstandes und sozialer Verantwortungslosigkeit, Menschen gegeben, deren Brust neben der natürlichen menschlichen Selbstsucht auch tiefes Mitgefühl mit dem Nächsten und Bruder beherbergte. Edle Menschlichkeit überwindet alle wirklichen und eingebildeten Hemmungen. Durch solchen wahrhaften Dienst an Gott und den Menschen zeichnete sich im 16. Jahrhundert vor allem die Familie Ernst in Nordhausen aus.

So stiftete Cyriax Ernst 1520 ein Legat von 125 Goldgulden, dessen Zinsen dazu verwandt werden sollte, an drei bedürftige und würdige Mitbürger alle Freitage eine kleine Geldspende auszuteilen. Bis 1585 kam das Geld unter Aufsicht des Rates zur Verteilung.

Ein anderer Ernst gründete 1578 für seine Familie ein Vermächtnis von 600 Gulden. Ein solches Familienstipendium würde uns nicht interessieren, da es nicht der Allgemeinheit zugute kommt, wenn derselbe Emst nicht auch der Blasiikirche 100, der Schule 50, dem Siechhofe 30 Gulden u.s.f. vermacht hätte. Dieselbe Familie Emst betätigte ihren frommen Sinn auch dadurch, daß sie mehrere Kirchen reich bedachte.

Neben der Familie Emst ist Georg Blesse zu nennen, der 1550 der Blasiikirche 200 Gulden vermachte, Leonhard Thomas, der 1563 ein Stipendium von 200 Talern auswarf, Heinrich Hom, der in demselben Jahre für Studenten eine mildtätige Stiftung errichtete, die Witwe des Bürgermeisters Siegold, die 1604 für arme Schüler 100 Gulden spendete. Die schönsten Legate aber setzte u.E. der Bürgermeister Andreas Wende aus. Er stiftete schon 1556 nicht weniger als 600 Gulden; die Zinsen von 150 Gulden davon sollten 3 Armen zugute kommen, die Zinsen der übrigen 450 Gulden sollten Studenten der Theologie unterstützen. Von edelster Gesinnung aber zeugt seine Stiftung über 190 Gulden, deren Zinsen als Beihilfe zur Ausstattung von Dienstmädchen oder armen Bürgerstöchtem, die in die Ehe treten wollten, bestimmt waren.

Die veränderte Zeit und die veränderten religiösen Anschauungen treten natürlich besonders bei den Vermächtnissen für die Kirche zu Tage. In der katholischen Zeit wurden Altäre, Vikarien, Heiligenbilder gestiftet; jetzt, wo die Predigt und die beiden allein noch übrig gebliebenen Sakramente der Taufe und des Abendmahls im Mittelpunkte des Gottesdienstes standen, treffen wir auf Stiftungen von Taufsteinen, Kanzeln, wohl auch Orgeln. Nötig war es jedenfalls, daß private Liebestätigkeit die Kirchen unterstützte und für sie eine neue würdige Ausstattung schuf, seitdem sie z.T. ihres katholischen Prunkes beraubt waren, teilweise auch durch Bauernkrieg und Brand gelitten hatten und viele von ihnen bedenkliche Alterserscheinungen zeigten. Die Altendorfer Kirche z.B. war 1577 so baufällig, daß der Gottesdienst aus ihr in das St. Elisabeth-Hospital verlegt werden mußte.

Die Nikolaikirche erhielt 1585 auf Kosten des Bürgermeisters Andreas Michael einen Taufstein, 1589 eine neue Kanzel, die auf dem Standbilde Simsons ruhte, welcher einem Bären den Rachen aufreißt. Nach dem Brande vom Jahre 1612 wurde die Kirche schnell wiederhergestellt; ihre neue Orgel baute Ezechiel Greutscher aus Eisleben im Jahre 1619.

Für die Blasiikirche sorgte die oben erwähnte Familie Emst. 1591 stiftete Ottilie Ernst das Taufbecken, 1592 Bürgermeister Emst die Kanzel. Dem Künstler, der sie angefertigt hatte, konnte als erstem von ihr herab die Hochzeitspredigt gehalten werden. Und während des Dreißgjährigen Krieges, im Jahre 1627, brachte noch Nikolaus Helbig 200 Gulden für eine neue Orgel auf.

Andere Gemeinden, die nicht so wohlhabende Mitglieder aufzuweisen hatten, mußten sich selber helfen. So erhielt die Petrikirche 1597 eine neue Orgel; 1612 fanden sich in Bürgermeister Christoph Emst und seiner Gattin Ursula Stifter für eine Kanzel.

Damit sind aber auch die namhaften Vermächtnisse erschöpft. Im allgemeinen reizte die wirtschaftliche Not die Besitzenden eher zum Ausbeuten als zum Opfern. Die in der Bedrängnis und in der Angst vor dem Proletariat im Jahre 1525 gegebenen Versprechungen waren bald vergessen, und vergessen waren auch die guten Vorsätze, durch Beseitigung wirklicher Mißstände dem Volke gerecht zu werden. Im Gegenteil, die eigene wirtschaftliche Lage verführte die Sieger bald zu schmählicher Unterdrückung der wirtschaftlich Schwächsten. Gewiß, die Brauherm hatten damals schwere Zeiten durchzumachen, und der Verdienst war gering; dennoch hätten sie nicht schon ein Jahr nach dem Bauernaufstände, als sie die Macht wieder in der Hand hatten, zu beschließen brauchen, daß niemals ein Hintersättierhaus zum Brauhaus werden dürfe. 1557 wurde derselbe Beschluß noch einmal wiederholt.

Trotz dieser rücksichtslosen Niederhaltung der wirtschaftlich Schwachen scheute man sich nicht, die Armen über Gebühr zu den öffentlichen Lasten heranzuziehen. So wurde z.B. 1531 das „Grabengeld“, d.h. die Steuer für die von Zeit zu Zeit notwendige Säuberung des Mühlgrabens, für ein Brauhaus auf 8 Pfennig, für ein Hintersättierhaus, das man im allgemeinen zum halben Werte eines Brauhauses veranschlagte, auf 7 Pfennig festgesetzt.

Gesinde und Tagelöhner, die schon immer in strengster Abhängigkeit gestanden hatten, wurden in den Zeiten des Niedergangs zu noch größerer Fron angehalten. So erließ der Rat 1569 ein Mandat wegen der Tagelöhner und Drescher. Keiner sollte ihnen neben freier Kost mehr als 15 Pfennig Tagelohn geben, und „welcher sich solches zu nehmen weigert, der soll hinter dem Rolande - d.h. also unter dem Rathause in das Gefängnis - gesteckt und demach in der Stadt nicht mehr gelitten werden“. Ebenso wurde bestimmt, daß Dienstboten, die ihre Stellung vor Ablauf des eingegangenen Vertrages verlassen hatten, drei Jahre lang ohne Verdienstmöglichkeit bleiben sollten.

Fehlte den Besitzenden jener Zeit zumeist jegliches soziales Gewissen und jegliches Verständnis für die Not des Proletariats, klaffte mehr als im 14. und 15. Jahrhundert ein Riß zwischen den wirtschaftlich Starken und wirtschaftlich Schwachen, so war beiden, Herren und Entrechteten, gemeinsam ein außerordentlicher Hang zu Unordnung und Unfläterei, zu Sittenlosigkeit und Verderbtheit.

Gewiß, die Verwilderung hatte schon gegen Ausgang des 15. Jahrhunderts begonnen; die neue und falsch verstandene Auffassung vom Werte des diesseitigen Lebens sowie die Entartung der katholischen Kirche hatten der allgemeinen Lasterhaftigkeit Vorschub geleistet. Im 16. Jahrhundert kam aber noch die größere Freiheit auf allen Lebensgebieten, die der Protestantismus gewährte, hinzu. Denn wenn auch die evangelische Kirche ein gewisses Aufsichtsrecht über die Sitten behielt und die Kirchenzucht auch Eingriffe in das Privatleben vorsah, so entsprach weder eine zu starke Gängelung dem Geiste des Protestantismus, noch standen ihm die alten Strafmittel der katholischen Kirche zu Gebote, sich Geltung zu verschaffen. Seitdem Luther zu Worms vor Kaiser und Reich gestanden und sein Bekenntnis abgelegt hatte, war die Mentalität der Menschheit eine andere geworden; sie war freier geworden in politischer, in wirtschaftlicher, in kultureller Beziehung. Carlyle hat recht, wenn er sagt: „Es ist der größte Augenblick in der modernen Geschichte der Menschheit. Englischer Puritanismus, England und seine Parlamente, die Amerikas und die großen Werke dieser beiden Jahrhunderte, die französische Revolution, Europa und seine jetzige Arbeit überall: von dem allen lag der Keim dort.“[16]

Die Welt war freier geworden, aber sie war noch nicht mündiger geworden. Wenn man die Geschichte des 16. und 17. Jahrhunderts betrachtet, scheint es fast so, als ob Luther zu früh gekommen sei, als ob er zu hohe Anforderungen an die Menschheit gestellt habe, als ob sie die ihr geschenkte Freiheit noch nicht ertragen konnte, als ob erst seit dem 18. Jahrhundert langsam die Menschheit zu der schon von Luther geforderten Freiheit des Christenmenschen reif geworden wäre. Es scheint fast so, als ob die Menschen des 16. und 17. Jahrhunderts die vielen Bußübungen, Messen, Wallfahrten, Andachten noch nötig gehabt hätten. Übten sie auch nur einen ganz äußerlichen Einfluß aus, so wirkten sie doch mäßigend. Jedenfalls nahm die Sittenlosigkeit zunächst nicht ab, sondern verschärfte sich noch, als der Protestantismus seine Anhänger aus der strengen Schule des Katholizismus entließ. Die Menschen lebten eben noch ganz naiv in den Tag hinein, und nur die Furcht vor den Höllenstrafen hatte sie in Schranken gehalten. Seitdem aber das Fegefeuer beseitigt war und die Hölle einen Teil ihrer Schrecken eingebüßt hatte, lebte man ganz nur dem Augenblick.

Kriege und Krankheiten taten ein Übriges. Die Kriege mit ihren Plünderungen und Brandschatzungen nahmen den Menschen den Wunsch zu sparen; der Feind konnte ja jeden Augenblick die Frucht eines ganzen arbeitsreichen Lebens vernichten. Das Söldnerwesen hatte einen neuen Stand von herumschweifenden, nichtstuenden Menschen geschaffen. Die übelsten Gewohnheiten der Landsknechte nahmen aber Bauern und Bürger an.

Zu den Kriegen traten die Krankheiten. Durch die Kriegszüge war aus Italien und Frankreich zu Beginn des 16. Jahrhunderts zum ersten Male die Syphilis nach Deutschland eingeschleppt worden; sie wurde zunächst als Franzosenkrankheit gar leicht genommen und ward doch bald eine furchtbare Geißel. Dazu verfiel das von allen Seiten bedrängte und bedrückte Volk nicht nur einer zunehmenden geistigen, sondern auch körperlichen Unsauberkeit. Das einst so reinliche Volk der Deutschen, dem im kleinsten Dorfe die „Badestube“ nicht gefehlt hatte, wurde unreinlich. Und diese Unsauberkeit ließ wiederum die Volksseuchen entsetzliche Verheerungen anrichten. Niemals hat so oft wie von 1500-1648 die Pest unser Vaterland heimgesucht. In Nordhausen wütete sie nachweisbar 1484, 1500, 1527, 1550/51, 1556, 1565, 1582, 1597/98. Zum Jahre 1550 erzählen die Annalen: „Dieses Jahr und das folgende ist das große Sterben dahier gewesen, welches 2 Jahre und 12 Wochen angehalten, worin 2500 Menschen - also etwa 40 % der Nordhäuser Einwohnerschaft - gestorben.“ - Zu 1565 heißt es : „Da die Pestilenz fast die ganze Welt durchzogen, hat man durch gewisse Ausrechnungen festgestellt, daß in Thüringen und angrenzenden Städten Sangerhausen, Mansfeld, Nordhausen und Mühlhausen 253000 Menschen gestorben.“

Auch solche Seuchen rissen die Gemüter der Menschen hin und her, trieben sie bald in Gebet und Demut zu Gott, bald verführten sie zu Verjubeln und Verprassen, da man anderntags tot sein konnte.

Unordnung, Unsauberkeit, Vergnügungssucht machten sich auch in Nordhausen allenthalben breit. Als 1540 Nordhausen z.T. abgebrannt war, ließen die Bewohner trotz Vergünstigungen durch das Reich und trotz Hilfeleistung durch die Stadt die Brandstätten Jahre lang wüst liegen. Manchem fiel wohl der Neubau schwer, aber viele, die hätten bauen können, verpraßten auch lieber ihr Gut, als daß sie sich wieder an ehrliche Nahrung und Hantierung auf eigener Scholle gewöhnten. Anders ist die Ratsverfügung aus dem Jahre 1550 nicht denkbar, die verordnete, „daß ein jeder, so eine wüste Stätte habe, worauf vorher ein Haus gestanden, den rückständigen Schoß (Steuer), so darauf gelaufen, abtragen und die Stätte binnen einer gewissen Zeit wieder bebauen oder gewärtigen solle, daß alsdann solche dem Rat anheimgefallen sein solle“. Aus demselben Jahre 1550 beleuchten zwei weitere Verordnungen die Verwilderung und Verantwortungslosigkeit der Zeit. In der einen mußte der Rat gegen die Spielwut auftreten und gebieten, daß niemand höher als um 1 Schilling spielen dürfe; in der anderen kündigte er denen, die Schulden halber unter Polizeiaufsicht gestellt waren, diese aber mißachteten, an, sie könnten in der Stadt nicht mehr geduldet werden. Die ganze Entsittlichung und die ganze Unreife der Nordhäuser Bevölkerung für Luthers Werk geht aus der merkwürdigen Polizeiordnung vom Jahre 1549 hervor, die gar keine Polizeiordnung ist, sondern nur eine Ergänzung der Sittengesetze der alten Statuten.[17] Da mußten Strafen angedroht werden wegen Gotteslästerung und Versäumnis des Kirchganges, wegen Unzucht und Ehebruchs, da mußte das übermäßige Schwelgen, Feiern und der Kleiderluxus verboten werden. Was für unsinnige Verschwendung trotz der Verarmung der Stadt Platz gegriffen hatte, ersieht man aus den Hochzeitsvorschriften der Ordnung. Es wurde festgesetzt, daß zu einer Hochzeit nicht mehr als 100 verheiratete und 40 unverheiratete Männer und Frauen eingeladen werden durften. Um aber den Wohlhabenden entgegenzukommen, wurde diese Bestimmung zu Gunsten des Stadtsäckels sogleich eingeschränkt durch eine weitere: „Wollte aber jemand mehr Gäste einladen, so soll er dem Rat 10 Gulden entrichten, dann kann er noch einmal soviel einladen.“ Also 280 Personen waren zu einer Hochzeit immerhin gestattet, und wir können der Polizeiordnung nicht den Vorwurf machen, daß sie zu engherzig gewesen sei.[18]

Auch gegen den Kleiderluxus und die blöde Unsitte, jemanden durch dauerndes Zutrinken unter den Tisch zu trinken, mußte der Rat einschreiten. Über Essen und Trinken wurde verfügt: „Und so der Misbrauch mit übrigem essen und trincken, davor uns gott der herr warnt, als vor dem ende der weit, uberhandt nimpt, viel unser burger ihr habe und gut verschlemmen, mit mussigangk und Seufferey zubringen, wollen wir einen iddern (jeden) vor solchem Mißbrauch vorwarnt haben, und die wir hinfurder desselben misbrauchs befinden, ernstlichen Straffen.“

Wie die Alten, so die Jungen. Wo sich das Elternhaus solcher Gewohnheiten befleißigte, konnte aus der Erziehung der Kinder nichts werden, hatten ja doch Knaben und Mädchen das schlimmste Beispiel täglich vor Augen. Dazu kamen die Schulverhältnisse der Zeit. Die große Menge der Jugend ging naturgemäß überhaupt durch keine Schule. Aber auch die gebildeten und gutsituierten Kreise, die bei Beginn der Reformation ein außerordentliches Interesse an Bildung und Gesittung gezeigt hatten, ließen seit den fünfziger Jahren eine Teilnahme für die Erziehung der Jugend durchaus vermissen.

Die beiden alten Schulen, die Domschule und die Jakobsschule in der Neustadt, waren eingegangen; eine neue Schule hatte Spangenberg gegründet. Doch sie blühte nur, solange der Gründer selbst in Nordhausen weilte. Dann erlosch die Anteilnahme der Bevölkerung an ihr fast ganz. Die Räumlichkeiten an der Predigerstraße ließ man verfallen, die Besoldung der Lehrer war kläglich, so daß sich außer jungen Studenten kaum Lehrkräfte fanden. Mit der 1557 aus den Mitteln des aufgehobenen Frauenbergsklosters ausgestatteten Mädchenschule ging es nicht besser. Kursachsen hatte die Umwandlung des Klosters in eine Mädchenschule genehmigt unter der Voraussetzung, daß das alte Kirchengut für die Schule Verwendung finde. Doch Nordhausen richtete sich nur in den ersten Jahren nach dieser auf dem Reichstag von Speyer im Jahre 1544 getroffenen Bestimmung. Bald ging der Rat daran, die Klosterländereien zu verkaufen, um sich Geld zu machen und die Erziehung im Argen liegen zu lassen. Am 25. März 1587 publizierte er die öffentliche Versteigerung der Güter, und da er, wahrscheinlich wegen Mangels an Privatkapital, die gesamten Äcker noch nicht hatte losschlagen können, bot er den Rest am 21. April 1598 nochmals zu billigem Verkaufe an.

Man kann sich denken, wie es bei einer derartigen Einstellung der Eltern zur Schule um die Zucht der Kinder aussah. Die Schulordnung für das Gymnasium vom Jahre 1583, vom Pastor primarius Lucas Martini aufgestellt, gewährt uns geradezu entsetzliche Einblicke in die Verwilderung des heranwachsenden Geschlechts. Ohne Ehrfurcht vor den Eltern, ohne Achtung vor den Lehrern besuchten die Schüler jener Zeit die Schule, wann es ihnen gerade beliebte. Ihren Eltern hatten sie die auffällige Tracht, die geschlitzten, mit Seide gefütterten Hosen sowie die breitkrempigen Federhüte, abgesehen. An der Seite trugen die Gesitteteren den kurzen Dolch, die Gröberen den langen Raufdegen. Während die Lehrer, unlustig solche Gesellschaft zu unterrichten, ihrer eigenen Beschäftigung nachgingen, „spielten die Schüler Karte oder fröhnten dem Würfelspiel, wie sie es bei den Vätern sahen“.

Wenn die besseren Kreise solche Gesittung zeigten, was war da von dem Volke zu erwarten! Und in der Tat muß auch hier der Höhepunkt der Verwilderung, die um 1450 begann, um 1600 erreicht worden sein. Wie die Klage des Frauenbergs- Pfarrers im Jahre 1607 über die Verrohung seiner Pfarrkinder ertönte, so tönte sie wieder aus allen Gemeinden.

Wahrlich, das entsetzliche Treiben des Dreißigjährigen Krieges wird erst ganz verständlich, wenn man die Gesinnung und Gesittung des deutschen Volkes vor dieser großen Katastrophe kennt. Mit der Lust zu höherer Bildung und verfeinerter Kultur wenigstens einiger Kreise des deutschen Volkes durch den Humanismus hatte das 16. Jahrhundert eingesetzt, mit der Befreiungstat Luthers war der ganzen Menschheit ein großes Gut gewonnen, aber Westeuropa war weder für den Individualismus der Renaissance noch für den Protestantismus Luthers reif. Überall, ob in der katholischen, ob in der evangelischen Welt, in Italien, in Frankreich, in Holland, in England, in Deutschland tritt uns dasselbe Bild entgegen. Wer zuerst aus dieser Verwilderung wieder herausfand durch eine dem damaligen Kulturstande angemessene Bindung der Geister, mußte vor der übrigen abendländischen Welt einen gewaltigen Vorsprung gewinnen. Diese neue, vom Katholizismus gänzlich verschiedene Bindung schuf der Puritanismus Calvins, und Staaten wie Holland und Britannien kamen dadurch der übrigen Welt in jeder Beziehung voran.

Nirgends aber verrät sich der Charakter des Menschen mehr als durch seine Haltung beim Anblick menschlichen Elends und fremder Leiden sowie bei Vergeltungsmaßregeln für erlittene Unbill. Daß auch hier die Verrohung um 1600 auf ihrem Höhepunkt angelangt war, bewiesen die Strafprozesse jener Tage.

Es kann hier nicht der Ort sein, über die Strafjustiz Nordhausens eingehend zu sprechen, dazu fehlt der Raum und die Lust; einige Betrachtungen werden aber doch allerhand Schlaglichter auf die Kultur der Zeit werfen. Die Handhabung der Strafgerichtsbarkeit im Nordhausen des 18. Jahrhunderts aber mag zugleich hier ihre Erledigung finden.

Die Strafgerichtsbarkeit nannte man in Nordhausen, wie es meistens in früheren Jahrhunderten geschah, die peinliche oder die Hals-Gerichtsbarkeit. Sie lag seit alters in den Händen des Reichsvogts. Doch waren alle Rechte dieses Vogtes seit 1290 auf den Rat übergegangen.

Zu Richtern bestellte der Rat im allgemeinen drei der vier aus den Vierteln der Stadt gewählten Quatuorvim. Auf diese griff er gerade bei der Strafgerichtsbarkeit besonders gern zurück, weil sich seit dem 16. Jahrhundert der Brauch herausgebildet hatte, zu Vertrauensleuten der Viertel so gut wie immer nur Akademiker, sogenannte homines litterati, zu wählen, um dadurch ein Gegengewicht gegen die übrigen nur aus den Zünften genommenen Ratsmitglieder zu schaffen. Diese akademisch vorgebildeten Männer, meistens Juristen, waren für die Bildung des Straftribunals naturgemäß am geeignetsten. Einer der drei Vierherrn, der dann Jurist sein mußte, war Vorsitzender des Gerichts, der eigentliche Gerichtsvogt, die anderen beiden amtierten als Skabini, als Schöffen. Der Stadtsekretär als Protokollführer vervollständigte die Gerichtsbank.

Kläger war der Geschädigte. Dieser hatte für die Unterhaltung des Angeklagten während der Dauer des Prozesses aufzukommen. Damit aber wegen dieser Belastung des Klägers Verbrechen nicht etwa verschwiegen und ungesühnt blieben, bestimmte die Halsgerichtsordnung Karls V.: Es soll eyn anklager für eyns beklagten atzung und wartgelt dem büttel tag und nacht über sieben kreutzer zu geben nit schuldig sein. (Artikel 204.) Natürlich war häufig die Stadt selbst Kläger oder machte die Sache des Klägers zu der ihren und ließ die Klage durch einen ihrer Beamten, den Syndikus oder einen der beiden Sekretäre, vorbringen.

Gerichtet wurde in Nordhausen nach der „Bürger-Einung“ oder, wie diese mittelalterliche Gesetzsammlung gewöhnlich genannt wird, nach den Nordhäuser Statuten. Doch holte sich der Rat, wie es auch in anderen Städten allgemein üblich war, in Fällen, wo die Statuten versagten, auch Belehrung und Urteil, Weistümer, wie man sie nannte, von anderen Städten und ihren altberühmten Schöppenstühlen. Seit dem 16. Jahrhundert spielten die Nordhäuser Statuten in strafrechtlicher Beziehung kaum noch eine Rolle; man verwies wohl hie und da noch einmal auf sie, doch fanden sie praktisch keine Verwendung mehr.

An ihre Stelle trat die 1533 erschienene „Hals- oder Peinliche Gerichtsordnung Karls V ‘. Diese setzte sich im Laufe des 16. Jahrhunderts in fast allen Teilen Deutschland als Strafrechtsnorm durch, besonders unter dem Einfluß der deutschen Universitäten, deren Juristenfakultäten dieses von einem deutschen Kaiser geschaffene Strafrecht in erster Linie lehrten und verbreiteten. Nordhausen aber, das immer Wert auf seine Selbständigkeit und Unabhängigkeit legte, mußte schon als Reichsstadt die Karolina als einziges in Betracht kommendes Strafgesetz ansehen. Daneben erschienen im Laufe des 16. Jahrhunderts freilich auch andere, von den einzelnen deutschen Ländern herausgegebene Strafgesetze, z.B. auch ein von Kursachsen aufgestelltes Strafrecht, das sogenannte Sachsenrecht. Und da Nordhausen sächsischen Gebietsteilen benachbart war, unter sächsischer Schutzherrlichkeit stand und einige sächsische Hoheitsrechte anerkennen mußte, so fanden Strafprozesse mehrfach auch nach Sachsenrecht ihre Erledigung.

Doch dieser Brauch, bald nach der Karolina, bald nach dem Sachsenrecht zu richten, verhinderte eine gleichmäßige Rechtsprechung und führte zu einer ganzen Reihe von Unzuträglichkeiten. Richtete man sich bei dem Prozeßgang nach der Karolina, so beriefen sich die Verteidiger für ihre Klienten auf das Sachsenrecht. Einsprüche und Verzögerungen aller Art waren unausbleiblich. Um diese Mißhelligkeiten zu vermeiden, führte der Rat 1567 einen Beschluß herbei, daß nach „Keyser Recht in defectu Statuti soll gesprochen werden“. Die ehrbaren Räte erklären einmütig, „daß in Sachen und Fällen, so in Statutis eigentlich nicht vorgesehen, die gemeinen beschriebenen Kaiserlichen Rechte gehalten werden sollen, demnach die Stadt Nordhausen dem Heiligen Reiche ohne Mittel (unmittelbar) unterworfen und sich nach desselbigen Rechten billig zu richten habe“.

Seitdem wurde also in Nordhausen allein nach der Karolina Recht gesprochen. Auch die häufigen Anfragen bei den Universitäten, die in erster Linie Verfahren und Urteil auf die Karolina gründeten, bestätigen, daß dieses Strafrecht mindestens seit 1567 für Nordhausen allein maßgebend war. Dabei blieb Nordhausen, bis es im Jahre 1802 preußisch wurde. Allerdings wurde die Karolina wie überall in Deutschland, so auch in Nordhausen während des 18. Jahrhunderts, besonders aber in der zweiten Hälfte desselben, nur noch ganz äußerlich zu Grunde gelegt. Der ganzen Zeit und ihren Anschauungen war dieses alte Rechtsbuch mit seinen ungeheuerlichen Strafbestimmungen fremd geworden, und man richtete nur noch danach, weil ein anderes, modernes Strafgesetzbuch dem Heiligen Reiche fehlte. Die Artikel der Karolina, besonders wo sie das Strafmaß festsetzten, wurden ganz willkürlich ausgelegt.

Aber nicht nur die Anschauungen wandelten sich im Laufe der Zeit, sondern auch das Verfahren wurde allmählich ein anderes. Noch im 16. Jahrhundert traute man in Nordhausen meist allein seiner Urteilskraft. Man legte wohlgemut die Karolina zu Grunde und urteilte dann darauflos. Nach und nach wurde es aber immer mehr üblich, nicht mehr ganz so leichtfertig zu verfahren, wo es sich um Glück und Gesundheit und Leben von Menschen handelte. Es wurde deshalb üblich, die Rechtsgutachten von Juristenfakultäten einzuholen. Bei schweren Fällen tat man das seit dem Ausgange des Dreißigjährigen Krieges stets. So war man vor einem Fehlspruch doch sicherer, wenn auch das naturgemäß schriftliche Verfahren außerordentliche Nachteile aufwies. Hunderte von solchen Gutachten der meisten deutschen Universitäten wurden im Laufe der Zeit angefordert; sehr viele liegen uns noch heute, wenn auch oft nur auszugsweise, vor. Die häufigsten Gutachten gab das benachbarte Erfurt ab; 22 sind noch heute nachweisbar. Dann folgte Halle mit 12 Sprüchen der Juristenfakultät und mit 10 des berühmten Hallenser Schöppenstuhls. Jenas Universität urteilte sechzehnmal, sein Schöppenstuhl dreimal, einmal wurde ein medizinisches Gutachten verlangt. Von weiter entfernten Universitäten wurde ziemlich häufig bei Frankfurt a. O. und bei Marburg angefragt; und so geht es fort bis zu dem einen Gutachten, das von Rinteln erbeten ward.

Die gesamte Voruntersuchung leitete das Richterkollegium unter Ausschluß der Öffentlichkeit in einem Zimmer des Rathauses. Schien es nötig, zur „peinlichen“ Frage zu schreiten, so begab man sich im 15. und 16. Jahrhundert in den Marterturm am Primariusgraben, wo Meister Hans, der Scharfrichter, und seine Gehilfen mit ihren Instrumenten dem Inquirierten aufwarteten. Seit dem 17. Jahrhundert wurde die Folterung auf dem Rathause in der sogenannten Aktenstube vorgenommen.

Die Anwendung der Folter wird verständlich durch die Mangelhaftigkeit des Beweisverfahrens jener Zeiten und durch den Grundsatz, daß keine Verurteilung vor dem Eingeständnis des Angeklagten erfolgen konnte; im 16. Jahrhundert ist man aber leider berechtigt, zuweilen anzunehmen, daß die Tortur nur aus Lust am Quälen Anwendung gefunden hat.

Mit aller Scheußlichkeit und all’ ihren Schrecken wurde die Folter im 16. und 17. Jahrhundert gebraucht. Nirgends ist ein so großer Unterschied zwischen diesen Jahrhunderten und dem gesitteteren 18. Jahrhundert festzustellen als bei der Anwendung der Folter. Tür und Tor für willkürliche Folterungen war geöffnet durch Artikel 58 der Karolina: die peinliche frag soll nach gelegenheyt des argkwons der person vil, offt oder wenig, hart oder linder nach ermessung eyns guten vernünfftigen richters fürgenommen werden, und soll die sag des gefragten nit angenommen oder auffgeschriben werden, so er inn der marter, sondern soll sein sag thun, so er von der marter gelassen ist. -Die Folter konnte also „viel, oft oder wenig, hart oder linder“ vorgenommen werden; die Anordnung des Foltergrades war ganz in das Belieben des Richters gestellt, und die Mahnung, der Richter solle bei Verhängung der Folter „vernünftig“ sein, beweist nichts gegen ihren unvernünftigen Gebrauch.

Auf die Arten der Folterung in Nordhausen einzugehen, liegt kein Grund vor; wir begnügen uns mit der Feststellung, daß die schwereren Foltergrade Körper und Nerven völlig zerrütteten. So erfahren wir 1584 von einem Manne, der des Diebstahls angeklagt und gefoltert, aber nicht überführt worden war, daß er um Erlaß der Gebühren für die Verleihung des Bürgerrechts einkam, gewissermaßen als Entschädigung dafür, daß er durch die ungerechtfertigte Folterung so mitgenommen sei, daß „er sein Leben lang kein gerader Mensch mehr werden würde“. 1586 starb eine der Hexerei beschuldigte Frau nach der Tortur im Haftlokal, und 1616 wurden zwei wegen Hexerei angeklagte Frauen kurz nacheinander so furchtbar gefoltert, daß sie bald darauf im Gefängnis verstarben.

Nicht ohne Interesse ist die Wirkung der Marter auf das seelische Verhalten der Gepeinigten. So wird zu 1540 von einer Frau, die wegen Teilnahme an einer Brandstiftung gefoltert wurde, berichtet: „Als sie im allerhöchsten Lärmen angeredet worden, da hat sie geantwortet, wenn die Stadt in Pulver sollte bömen (brennen), sie wollte nicht einen Eimer angreifen.“ Die furchtbare Qual hatte hier also nur den Widerstand, die Hartnäckigkeit und den Haß gegen die Peiniger gesteigert.

Noch beachtenswerter ist das Verhalten zweier weiblicher Angeklagten aus dem 18. Jahrhundert, die wegen Kindesmordverdachts gefoltert wurden. Beide hielten standhaft die geringeren Foltergrade, die im 18. Jahrhundert nur noch zur Anwendung kamen, aus und bekannten nichts, ließen dann aber, jede völlig unbeeinflußt voneinander, einige Tage später aus der Haft heraus durch den Gefängnisdiener den Richtern mitteilen, sie hätten wichtige Aussagen zu machen und wollten gestehen. Eine mißtraute nämlich der anderen, schrieb ihre Qualen den Aussagen der Mitangeklagten zu und wünschte dieser nun ein gleiches oder noch härteres Schicksal als das eigene, selbst auf die Gefahr hin, nunmehr verurteilt zu werden. Solche Geständnisse erst Tage lang nach der Folter aus dem Mißtrauen gegen die Aussagen der Mitbeschuldigten kommen öfter vor.

Während aus dem 16. und 17. Jahrhundert eine Unzahl von schwersten Folterungen bekannt ist, wurde die Tortur im 18. Jahrhundert milder und seltener. Mehr als 20 Fälle ihrer Anwendung werden im 18. Jahrhundert kaum noch vorgekommen sein. Oft hoffte man damals schon allein durch die Einschüchterung zum Ziele zu gelangen, namentlich bei Frauen. Mehrfach, z.B. 1696 und 1754, wurde bei einem angeklagten Ehepaar der Mann mit den Daumschrauben gefoltert, während man sich bei der Frau mit der Territion, der Entkleidung durch den Scharfrichter und dem Vörzeigen der Folterwerkzeuge, begnügte.

Auch vermied man es im 18. Jahrhundert, Folterungen anzuwenden, die schwere körperliche Schädigungen im Gefolge haben mußten, und endlich brach sich die Erkenntnis Bahn, daß die Folter ein „hartes und trügliches Mittel“ sei. Schon 1737 nannte eine Universität in einem Gutachten an Nordhausen die Tortur eine res fragilis et periculosa, quae veritatem fallit. Auch die Gründe wurden angeführt, weshalb durch die Tortur keine einwandfreien Geständnisse zu erreichen seien. Die augenblickliche Marter beherrsche den Gequälten so, daß sie viel schreckhafter erscheine als die spätere Strafe, und wenn es die Todesstrafe sei. Die Gemarterten erdichteten eigene Verbrechen und schuldigten andere an, nur um von der Folter loszukommen.

Daß die Tortur tatsächlich häufig den wahren Sachverhalt durchaus unaufgeklärt ließ, konnten alle Strafrichter oft genug beobachten. So gab z.B. die Zimmermann, eine Mitangeklagte in einem Kindesmordprozesse vom Jahre 1737, sowie sie entkleidet war und die Instrumente des Henkers sah, alles zu, wessen man sie beschuldigte. Drei Tage später widerrief sie, fügte aber hinzu, wenn man sie foltere, würde sie wiederum alles gestehen, was man verlange. Solche und ähnliche Vorgänge ließen die Bedenken gegen die Tortur nach und nach immer größer werden; man entschloß sich nur noch in den seltensten Fällen zu ihrem Gebrauch. - Im 16. und 17. Jahrhundert folterte man sogleich bei leisestem Verdacht und bei leichten Vergehen drauflos, im 18. Jahrhundert mied man die Folter nach Möglichkeit. Wie leichtfertig man noch im 17. Jahrhundert mit Menschenglück und Menschenleben umging, zeigt ein Fall vom Jahre 1641. Damals war eines Tages einem Bürger die Frau krank geworden; man sollte meinen, das sei nicht ganz außergewöhnlich. Der Mann aber war der Ansicht, bei der Krankheit gehe es nicht mit rechten Dingen zu, und auch der hinzugezogene Arzt, sicher ein Muster seiner Zunft, kam zu der Ansicht, daß Einwirkungen böser Kräfte im Spiele seien. Daraufhin beschuldigte der Ehegatte frischweg eine Frau aus Sülzhayn, sie habe seine Frau behext. Das arme Weib wurde nun schwer gefoltert, hatte allerdings so viel Nerven, nichts zu gestehen, wurde aber dennoch auf Grund anderer Vergehen mit einer halben Stunde Prangerstehens und ewiger Landesverweisung bestraft.

Im 18. Jahrhundert fielen unter dem Einfluß der Aufklärung ohne weiteres alle diese unsinnigen Beschuldigungen wegen Hexerei und Buhlschaft mit dem Teufel weg. Schon damit war viel gewonnen. Ferner wurde die Tortur im 18. Jahrhundert durch den Grundsatz eingeschränkt, daß sie nie schwerer sein dürfe als die eigentliche Strafe für das Verbrechen. Da sie aber mit dem Abhauen einer Hand, zuweilen sogar mit der Todesstrafe durch das Schwert gleichgeachtet wurde, wandte man sie nur noch bei dringendstem Verdacht der schwersten Verbrechen an. Auch wurde es schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts Brauch, daß nicht nur eine „halbe Beweisung“ (Karolina, Artikel 30), d.h. die Aussage eines einzigen „guten, tugendlichen“ Zeugen zur Anwendung der Folter genügte, sondern daß zwei einwandfreie Zeugen vorhanden sein mußten. Schließlich wurde sogar vollste Klarheit des Verbrechens verlangt, so daß die Folter nur noch das zur Verurteilung nötige Geständnis aus dem leugnenden Verbrecher herausholen sollte.

In Nordhausen war die Folter rechtlich möglich bis zum Jahre 1802. Wirklich von ihr Gebrauch gemacht worden ist wohl das letzte Mal im Jahre 1766. 1768 wurde sie einem Giftmörder noch angedroht, er gestand aber vorher. Immerhin zeigt sich sowohl ihre tatsächliche Anwendung als auch deren bloße Möglichkeit, wie lange sich dieses barbarische Rechtsmittel selbst gegen den Geist der Zeit durchgesetzt und gehalten hat. Wenn man dies erwägt, kann man erst die sittliche Größe und Bedeutsamkeit der Anordnung Friedrich des Großen begreifen, der die Folter für seine brandenburgisch-preußischen Lande schon 1740 aufgehoben hatte.

Nach altem Brauch konnte die Verurteilung im Gegensatz zu unseren Rechtsgewohnheiten nur nach völligem Geständnis des Angeklagten erfolgen. Legte dieser das Geständnis trotz der „peinlichen“ Frage nicht ab, so mußte er freigesprochen werden, selbst wenn sein Verbrechen ganz offensichtlich war. Diesen Rechtsgrundsatz hielt auch Karls V. Gerichtsordnung in Artikel 22 fest. So gestanden 1584 ein wegen Diebstahls angeklagter Mann, 1586 eine wegen Zauberei angeklagte Frau trotz Anwendung der Tortur nicht; sie wurden deshalb freigesprochen. Im 18. Jahrhundert, wo die Angeklagten nur noch den leichteren Graden der Folter unterworfen wurden, häuften sich natürlich diese Fälle. 1719 mußten ein Mann und eine Frau, bei denen die Daumschrauben vergeblich angewandt worden waren, von der Falschmünzerei freigesprochen werden, und ebenso legte 1722 ein Mann trotz Daumen- und Beinschrauben kein Schuldbekenntnis ab und wurde deshalb aus der Haft entlassen.

War die Untersuchung abgeschlossen und hatte der Verbrecher gestanden, dann beraumte man nach altem germanischem Brauche unter offenem Himmel die Gerichtsverhandlung an. In Nordhausen wurde die „Gerichtsbank“ vor dem Weinkeller, gegenüber dem Rathause und dem Rolande, „gehegt“. Hier ließ sich der Gerichtsvogt, der einen Stab in der Hand hielt, mit den Schöffen nieder und forderte den „Fiskal“ auf, seine Anklage vorzubringen. Nach der Anklage wandte sich der Vogt an den Beklagten, legte ihm die Schuldfragen vor und ließ sie öffentlich von ihm beantworten. Meist erfolgte von dem Beklagten, der durch Haft oder Folter mürbe gemacht worden war, das Schuldbekenntnis; widerrief aber der Angeklagte, so mußte die Verhandlung abgebrochen und die Untersuchung von neuem begonnen werden. War aber das Geständnis erfolgt, so standen die drei Richter auf, begaben sich in das Rathaus, wo alle drei Ratsregimenter versammelt waren, und holten von diesen das Urteil. Erst danach verkündete der Vogt von der gehegten Gerichtsbank aus den Urteilsspruch, der mit den Worten endete: „Die Exekution wird dem gegenwärtigen Nachrichter N. N. anbefohlen.“ Auch der Scharfrichter mußte nunmehr in ganz bestimmten formelhaften Wendungen von dem, was seines Amtes war, sprechen und den Rat laut Artikel 97 der Karolina um „sicheres Geleit“ bitten, d.h. wenn etwa Verwandte des Verurteilten an ihm Rache üben wollten, so stand er unter dem Schutze des Rates. Danach wurde der Delinquent zur Aburteilung abgeführt.

Selten wurde in früheren Jahrhunderten auf eine Freiheitsstrafe erkannt. In den Nordhäuser Statuten wird sie zwar für eine Anzahl Vergehen angedroht, viel häufiger wurden aber doch andere Strafen verhängt. Im allgemeinen erscheint die Gefangensetzung nicht als Bestrafung, sondern als Untersuchungshaft. Deshalb besaß Nordhausen auch kein eigentliches Gefängnis; eine Anzahl fester und ungemütlicher Räumlichkeiten dienten nur als Haftlokale. Kirchentürme, Tortürme, unterirdische Gewölbe wurden dazu benutzt, meist von Schmutz starrend und voll Ungeziefer, ungedielt, ohne Möglichkeit sie zu heizen, mit dürftiger Ausstattung. Für irgendwelche geistige Beschäftigung oder körperliche Bewegung war nicht gesorgt; Schwerverbrecher wurden nicht selten gar in den Block geschlossen. Die langen seelischen und körperlichen Qualen in diesen Gefängnissen mögen die Gefangenen oft mehr zermürbt haben als selbst die Folter. Noch das humanere 18. Jahrhundert war in dieser Beziehung so ohne jedes Verständnis für die Bedürfnisse der Inhaftierten, daß z.B. ein Mann namens Gründler, der aus angesehener Familie stammte, aber wegen Kindesmordverdachts 1736 lange Zeit in Untersuchungshaft gesessen hatte, sich danach sehnte, hingerichtet zu werden, nur um dem Ungeziefer, der Kälte und der seelischen Not seines Gefängnisses zu entfliehen.

Als einfache Haftlokale, auch zur Absitzung von Polizeistrafen, kamen die Haupttortürme der Stadt in Betracht. 1572 wird der Altenturm erwähnt, aus dem durch ein Loch „gegen der Badstuben über“ eine Diebin entwischte. Zum Jahre 1624 werden die „Gruben“ des Barfüßertores als Gefängnis erwähnt. Im 18. Jahrhundert erscheinen besonders das Töpfertor und das Barfüßertor als Gewahrsame. Untersuchungsgefangene brachte man in älterer Zeit gern im Petersturme, seit dem 16. Jahrhundert aber meist „hinter dem Rolande“ in den Gewölben des Rathauses unter. 1563 versuchte sogar ein Mörder und Dieb sich „aus dem Rulande“ durchzugraben und ins Freie zu gelangen. Die Räumlichkeiten unter dem Rathause empfahlen sich jedenfalls deshalb besonders zur Inhaftierung von Untersuchungsgefangenen, weil man sie dann für die Verhandlung auf dem Rathause am besten zur Hand hatte.

Wenn nun auch im Mittelalter und in der frühen Neuzeit die Verhängung von Gefängnisstrafen möglich war, so wurde doch erst seit dem 18. Jahrhundert eigentlich öfter auf diese Strafform zurückgegriffen. Dieselben Zeiten, welche begannen, sich gegen die Tortur aufzulehnen, ließen allmählich auch die Festungs-, Gefängnis- und Zuchthausstrafe immer mehr in den Vordergrund treten. Die Juristenfakultäten jener Zeit empfahlen sie in ihren Gutachten immer häufiger mit der ausdrücklichen Motivierung, daß die Gefängnisstrafe oder die Strafarbeit zur Besserung dienlicher sei als die Staupe, der Pranger und die Landesverweisung, welche die Verbrecher völlig aus der menschlichen Gesellschaft aus stoße und sie dadurch auch weiterhin auf den Weg des Verbrechens treibe. Diese Ansicht findet sich z.B. 1740 bei einem Urteil ausgesprochen, das über eine Dienstmagd, die eine Reihe kleinerer Diebstähle begangen hatte, 6 Jahre Zuchthaus verhängte, eine Strafe, die besser sei als die sonst gebräuchliche Staupe und ewige Verweisung. Seitdem wurden Freiheitsstrafen öfter ausgesprochen. Allerdings gerieten die Städte, und nicht zuletzt Nordhausen, durch dergleichen Urteile nicht selten in einige Verlegenheit, da sie für solche lange Haft keine Räumlichkeiten und für die Beschäftigung der Gefangenen keine Gelegenheit besaßen. Man behalf sich deshalb wohl damit, daß man zwar eine längere Freiheitsstrafe aussprach, diese aber auf eine kürzere Haft herabsetzte, die Zeit jedoch, während welcher der Verbrecher gefangengehalten wurde, durch allerhand Zusatzstrafen für den Gefangenen möglichst unerfreulich zu gestalten suchte. So bekamen 1745 drei Diebinnen V2 Jahr Zuchthaus, „in Ermangelung der Gelegenheit“ aber begnügte man sich mit 6 Wochen Gefängnis, doch mußten die Sünderinnen wöchentlich 2 Tage bei Wasser und Brot sitzen.

Mußten jedoch über Schwerverbrecher längere Zuchthausstrafen verhängt werden, so blieb der Stadt Nordhausen nichts anderes übrig, als ihre Sträflinge anderen Staaten, die dergleichen Wohlfahrtseinrichtungen zur Verbüßung der Strafe aufzuweisen hatten, zu übergeben und für den Unterhalt aufzukommen, soweit ihn die Gefangenen nicht durch Zwangsarbeit abverdienten. Ein Straßenräuber namens Fultsch z.B. wurde 1768, nachdem er schon 3 Jahre lang in den Kellerräumen des Rathauses in Untersuchungshaft gesessen hatte, zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt und der hannöverschen Festung Nienburg als Gefangener zugeführt. Der Aufenthalt hier scheint ihm zwar nicht recht zugesagt zu haben, denn er unternahm einen Fluchtversuch, doch war die Luft von Nienburg seiner Gesundheit derart förderlich, daß er ein hohes Alter erreichte und, wie anzumerken nicht vergessen wird, „seine vieljährige Unterhaltung der Stadt eine ziemliche Summe gekostet“. Ebenso brachte Nordhausen 1792 einen Einbrecher als Baugefangenen nach Lüneburg und später nach Heiligenstadt.

Die gewöhnlichen Strafen des Mittelalters und des 16. und 17. Jahrhunderts waren aber die Geldstrafe, die zeitliche und ewige Verweisung, die Körperstrafe und Verstümmelung sowie endlich die Todesstrafe.

Die Geldstrafe ist ja eine echt germanische Strafe. Sie wurde im Mittelalter häufig verhängt; für den angerichteten Schaden mußte der doppelte Ersatz geleistet werden. Das 16. und 17. Jahrhundert aber waren so harte Zeiten und hatten eine solche Freude an der körperlichen Züchtigung, daß damals Geldstrafen nur als Konventionalstrafen vorkamen. Erst im 18. Jahrhundert konnten geringere Vergehen wieder durch Geld gesühnt werden.

Zu Beginn der Neuzeit kannte man für kleinere Übertretungen der gesellschaftlichen Ordnung fast nur die zeitliche und „ewige“ Verweisung. Landstreicher, Falschspieler, Diebe, die nur kleine Diebstähle begangen hatten, Unfriedenstifter wurden aus der Stadt gewiesen. War über sie die ewige Verweisung verhängt worden, so mußten sie Urfehde schwören und geloben, nie wieder die Stadt zu betreten. Brachen sie ihr Gelübde, so wurden ihnen die zwei Finger, mit denen sie geschworen hatten, abgeschlagen.

Eine Verschärfung der Landesverweisung bedeutete es, wenn zugleich die besonders ehrenrührigen Strafen des Prangerstehens und des Staupenschlages ausgesprochen wurden. Das geschah im 16. und 17. Jahrhundert sehr häufig, im 18. Jahrhundert selten.

Der Pranger, oder wie er in Nordhausen meistens heißt, der Gack oder Schandpfahl, stand auf dem Kornmarkte neben dem Brunnen. Er wurde 1528 neu errichtet, wie aus der Nachricht hervorgeht: „1528 haben E. E. Rath einen neuen Gack bey dem Kornmarcksbrunnen machen lassen uff des Raths Lohn und Bezahlung, auch ohne Jemandes Insage“ Der Verbrecher wurde an das Halseisen dieses Schandpfahles angeschlossen, eine Zeit lang dem Gespött der Menge preisgegeben und schließlich vom Scharfrichter vor die Tore der Stadt zur Verweisung geführt.

Zuweilen verzichtete man auf ein längeres Prangerstehen, schlug aber den armen Sünder am Schandpfahl öffentlich zur Staupe, ja diese Bestrafung scheint häufiger vorgekommen zu sein als das bloße Prangerstehen, bei dem man der Ausgelassenheit des Volkes, die allerhand Auflauf und Unruhe mit sich brachte, keine Schranken setzen konnte. So erfahren wir 1541,1551,1552 von verurteilten Dieben nur, daß sie zur Staupe geschlagen wurden, 1558 wurden ein Mann und ein Weib wegen Unzucht in derselben Weise bestraft, 1559 eine Zauberin. Diese wurde vom Scharfrichter zur Belustigung des Publikums auf einem Karren zum Gack gefahren. Dagegen wird zu 1562 bezeugt, daß ein Dieb eine Stunde im Halseisen gestanden habe und dann erst zur Staupe geschlagen worden sei. Auch 1624 wurde ein Mann auf die Anklage seiner Ehefrau hin, er habe mehrfach mit Dienstmädchen Unzucht getrieben, an den Pranger gestellt und dann der Stadt verwiesen.

Meist waren es wirklich rechte Schelme und Verbrecher, die man auf diese Weise dem Volke preisgab, doch kamen auch Fälle vor, wo diese furchtbaren Ehrenstrafen, die dem Menschen jede Würde nahmen, auch wegen ganz geringer Vergehen und an Menschen vollzogen wurden, die sich nur einen Schritt vom rechten Wege entfernt hatten, denen man aber durch die öffentliche Preisgebung und Auspeitschung einen unvertilgbaren Makel anhaftete und die dadurch geradezu auf die Verbrecherlaufbahn gedrängt wurden. So wurde 1557 ein dreizehn- bis vierzehnjähriges Mädchen, das ganz offenbar von seiner Stiefmutter zu kleineren Diebstählen angestiftet war, gemeinsam mit dieser zur Staupe geschlagen und verwiesen.

Neben diesen oft verhängten ehrenrührigen Strafen teilt Frommann nur ein einziges Mal eine andere mit, die sonst in Deutschland öfter vorkommt: Das „Durch den Korb fallen“, eine Strafe, bei der der Delinquent in einen Korb gesetzt wurde, welcher über einem Wassertümpel hing. Ihm wurde in diesem Korbe keine Speise gereicht, er wurde überhaupt in dem Korbe so lange sitzen gelassen, bis er sich einen Mut faßte, das ihm in den Korb gelegte Messer nahm und die Stricke, an denen der Korb hing, durchschnitt. Dieser fiel dann mit dem armen Sünder ins Wasser. - Mit diesem Bade wurde 1586 eine Diebin gesegnet und hinterher aus der Stadt gejagt. Doch ist die Strafe sonst nicht wieder belegt.

Dagegen ließ man noch im 18. Jahrhundert unredliche, ungehorsame und zanksüchtige Dienstmädchen die „Schandsteine“ tragen. Die Sünderin mußte dabei mit einem Stein um den Hals eine Zeit lang vor dem Rathause auf- und abgehen und dem Gelächter der Menge dienen. Die schwerste Strafe war die im 16. und 17. Jahrhundert unzählige Male verhängte Todesstrafe. Damals war es auch, wo man ganz besonders erfinderisch war, diese Strafe innerlich und äußerlich zu qualifizieren, um die letzten Augenblicke des Verurteilten so schrecklich wie möglich zu gestalten. Enthauptungen, Hängen, Rädern und Verbrennen sind die häufigsten Hinrichtungsarten. Den armen Sünder begleitete die ganze Bevölkerung zur Richtstätte, die Stadtknechte traten dazu in Wehr und Waffen an, und von den Geistlichen wollte jeder dabei sein, um den Delinquenten zu trösten. Es scheint, als ob es für das entartete Geschlecht im Ausgang des 16. Jahrhunderts kein köstlicheres Schauspiel gegeben habe als das Rädern eines Mannes oder das Verbrennen einer Frau.

Die Haupthinrichtungsstätte befand sich am Siechentore auf dem Sande. Doch auch vor dem Töpfertore stand ein Galgen. Während des Dreißigjährigen Krieges, wo man draußen Gesindel und Soldaten zu fürchten hatte, wurden zwei Verbrecher sogar einmal auf dem Kommarkte erhängt. Unwahrscheinlich dagegen erscheint die Nachricht, daß Hans Kehner, einer der Anstifter des Bauemaufruhrs in Nordhausen, 1526 vor dem Rautentore enthauptet worden sei.

Wir haben nicht im Sinne, hier auf die Hinrichtungen näher einzugehen. Um zu zeigen, wie roh und rachsüchtig jene Zeit war, mag nur angedeutet werden, daß 7 Männer und Frauen, die Nordhausen im Jahre 1540 in Brand gesteckt haben sollten, nach furchtbarer Tortur um die Brandstätte am Königshofe auf Schleifen geschleift, mehrfach mit glühenden Zangen gezwickt und schließlich dem qualvollen Tode durch Verbrennen unterworfen wurden. Man setzte sie auf hohe Säulen, fachte unter ihnen ein Feuer an und ließ ihre Glieder langsam verbrennen. Damit war allerdings der Höhepunkt aller Scheußlichkeit für Nordhausen erreicht. Andere Landschaften waren noch erfinderischer im Quälen ihrer Opfer.

Denn es ist ein Ruhmesblatt in der Nordhäuser Geschichte, und wir wollen es nicht als das geringste ansehen, daß im Verhältnis zu anderen Gegenden die Nordhäuser Bevölkerung und die Nordhäuser Richter immer zu Mitleid und Milde geneigt haben. Es ist uns kein Fall bekannt geworden, wo Nordhausen im Strafmaß über die Anordnungen des von einer Juristenfakultät eingeholten Gutachtens hinausgegangen wäre; häufig milderten die Nordhäuser Richter den Spruch der Universität und sprachen nur Enthauptung oder ewige Verweisung aus, wo die Juristen gräßliche Hinrichtungsarten vorgeschlagen hatten. Oft kommt es auch vor, daß, wenn den Nordhäusern das Urteil einer Fakultät zu streng erschien, die Akten einer anderen Universität zugeschickt wurden, um einen milderen Spruch zu erhalten. Die geradezu lächerlichen Urteile, die Marburg noch im 18. Jahrhundert im Gegensatz zu den anderen Universitäten fällte, sind nie zur Ausführung gekommen. - Auch in Nordhausen haben zu allen Zeiten die Menschen Untugenden genug gehabt, sie sind aber beim Quälen von Menschen dem Geist der Zeit nur widerwillig gefolgt und haben so die schönsten menschlichen Tugenden von Mitgefühl und Erbarmen jederzeit gezeigt.

Die Verbrechen oder vermeintlichen Verbrechen, die früher bestraft wurden, sind dieselben, wie sie auch heute noch vorkommen; für das 16. und 17. Jahrhundert kam nur noch das Verbrechen der Buhlschaft mit dem Teufel dazu. Um des kulturhistorischen Interesses willen mögen deshalb auch hier die Hexenprozesse kurz gestreift werden.

Es ist nicht erwiesen, daß die römische Inquisition für Folter und Hinrichtungsart verantwortlich zu machen sei; die Grausamkeit lag dem ausgehenden Mittelalter und der beginnenden Neuzeit nun einmal im Blute. Fest steht aber leider, daß die Kirche, die katholische wie die protestantische, dem Aberglauben des Volkes nicht entgegengetreten ist, sondern ihn geradezu in ein System gebracht hat, welches dann unter ihrer Anführung die schrecklichsten Blutopfer gekostet hat.

Leider hat die Luthersche Reformation die Hexenprozesse nicht ausgerottet. Luther selbst, auch darin ganz Mensch voller Widersprüche und Zweifel, war zu verschiedenen Zeiten der verschiedensten Ansicht über den Hexenwahn. Einmal schreibt er: „Man soll ja einen jeden glauben lassen, was er wolle. Glaubt er unrecht, so hat er genug Strafe am ewigen Feuer in der Hölle. Warum will man sie denn zeitlich martern, sofern sie im Glauben irren.“ Das ist der echte Renaissancemensch Luther, der Protestant, der Liberale, der Duldsame, und wenn er immer dieser Ansicht gewesen wäre, dann hätte sein gewaltiger Einfluß im protestantischen Deutschland dem blutigen Unfug wohl Einhalt gebieten können. Doch daneben steht der Theologe Luther, der, gestützt auf Moses II, 22, 18 „die Zauberinnen sollst du nicht leben lassen“, ausruft: „Man töte sie! Es ist ein sehr gerechtes Gesetz, daß die Hexen getötet werden; sie richten vielerlei Schaden an.“

So dämpfte denn die Reformation die Hexenprozesse nicht, sondern trug in den Jahren religiöser Leidenschaftlichkeit eher noch zu ihrer Vermehrung bei. Den Hexen - Zauberer kommen selten vor, meist sind es dann Schäfer und Quacksalber - warf man also ihre Buhlschaft mit dem Teufel vor, die sie dazu benutzten, um von ihrem Galan allerhand Mittel zu erhalten, sich selber Reichtum und Wohlleben, ihren Mitmenschen aber Unheil und Schaden zu verschaffen. So gesteht z.B. eine Frau namens Else Schweinenfleisch am 27. Juni 1586 auf der Folter, sie habe mit dem Teufel zu tun gehabt. Dieser sei in Gestalt einer feinen Mannesperson zu ihr gekommen, habe schwarze Kleider an- und einen weißen Hut mit roter Feder aufgehabt. Das eine Bein sei wie ein Kuhfuß gestaltet gewesen. Für ihre Gefälligkeit habe der knausrige Liebhaber ihr einen Groschen gegeben. So geht der durch die Folter erpreßte Unsinn weiter, und der Protokollführer zeichnet gewissenhaft jede Frage des Richters und jede Antwort der in der Marter Schwebenden auf. In demselben Jahre 1586 bekannte eine andere Frau, der Teufel habe ihr beigebracht, wie man Wunden, die Franzosen und alle Schäden heilen könne. Mit dergleichen Quacksalberei mag sich wohl die Frau abgegeben haben, vielleicht ist sie auch sonst nicht von einwandfreiem Lebenswandel gewesen, - alle ihre zur Not noch verständlichen Aussagen genügten aber dem Untersuchungsrichter nicht. Die Ärmste wurde weiter gefoltert, und nun kommt es an den Tag: Ihr Liebster, der Teufel, habe wie ein anderer Mensch ausgesehen, alles an ihm sei kalt gewesen, er habe einen Menschenfuß und einen Kuhfuß gehabt u.s.f. Ähnliche Aussagen machten die vier Frauen, die im Jahre 1616 in Nordhausen furchtbar inquiriert wurden. Man sieht also, wie fest der Aberglaube der Zeit das Bild vom Teufel und dem Umgänge mit ihm den armen Gehirnen eingeprägt hatte. Von den vier Frauen wurden übrigens zwei derart gefoltert, daß sie bald darauf in ihrem Gewahrsam gestorben sind.

So geht es weiter, und wir brauchen gar nicht auf das schon von Förstemann abgedruckte Protokoll des Prozesses der armen Katharina Wille, genannt Klötzgen, aus dem Jahre 1573 zurückzugreifen, um noch mancherlei von Aberglauben und Bosheit, wirklich bedenklichen Frauenzimmern und unschuldig Verfolgten mitteilen zu können.[19]

Jahrelang hört man auch in jenen vom Aberglauben verseuchten Zeiten nichts von Hexen und Hexenprozessen. Dann, mit einem Male fängt das Geschwätz und Getuschle an. Eine Frau wird beschuldigt, eingezogen, inquiriert und verbrannt, und sogleich weiß eine geschäftige und aberwitzige Phantasie dieser oder jener Person gleiche Verbrechen anzuhängen, bis die Sache langweilig wird, und Nordhausen nun wieder ein Jahrzehnt und länger vor Hexen Ruhe hat. So wurden 1586 gleich drei Frauen wegen Hexerei gerichtet, 1616 sind es sogar vier, zwischen diesen Jahren oder vorher und nachher weiß man nichts von derlei Teufelsspuk. - Übrigens überwand der gesunde Sinn der Nordhäuser Bevölkerung auch diese Geisteskrankheit schneller als der verdorbene anderer Gegenden. Außerordentlich früh, schon in der Mitte des 17. Jahrhunderts, wagte man die Anklage wegen Buhlschaft mit dem Teufel nicht mehr zu erheben, sondern glaubte nur noch an gewisse teuflische Künste, die dem Menschen Schaden zufügen konnten. Dementsprechend führte man die armen Weiber auch nicht mehr auf den Scheiterhaufen, sondern bestrafte sie wie andere Frauen anrüchigen Rufes, wie Buhldimen und weise Frauen. Am 8. März 1644 wurden daher zwei „Hexen“ nur noch ewig verwiesen.[20]

Verwilderung und Grausamkeit, Dummheit und Aberglauben aber hatten jenes Geschlecht des beginnenden 17. Jahrhunderts würdig vorbereitet auf den Dreißigjährigen Krieg.




  1. Vergl. oben S. 203 ff.
  2. 28 Vergl. oben S. 218.
  3. Vergl. oben Kapitel 10, S. 356.
  4. Akten im Archiv unter II Za 1 ff. Dazu die Handschriften Frommans.
  5. Vergl. oben S. 301.
  6. Vergl. K. Meyer, Urkundliche Geschichte des Kloster Himmelgarten, 1892.
  7. 1 Marktscheffel = 12 einfache Scheffel.
  8. Der Übergang Stempedas an Nordhausen ist den Frommannschen und Filterschen Aufzeichnungen entnommen.
  9. J. Schmidt, a. a. O., 173 ff.
  10. Vergl. J. Schmidt, a. a. O., 204. Förstemann, Chronik, 133. K. Meyer, Die Wasserversorgung der Stadt Nordhausen seit alter Zeit. Zeitschrift des Harzvereins, 1901, 519 ff.
  11. Nordhäuser Archiv unter Pa 1 und S 1. Die wirtschaftliche Lage Nordhausens im 16. Jahrhundert ist bisher noch nicht behandelt worden.
  12. Die Nachricht verdanke ich Herrn Archivar Heineck, der mir einen Artikel über die Geschichte des Nordhäuser Branntweins im Manuskript liebenswürdig zur Benutzung überlassen hat.
  13. In der Verfügung heißt es: „... Wer mit dieser Ware handeln will, dieselbe ausschenken oder im ganzen verkaufen will, der soll sich erstlich mit uns, dem Rate, wegen eines “Ungelts" nach Erkenntnis des Rats vertragen, und es soll dann keiner ... mit dem gebrannten Wein handeln, wie das benannt, er habe denn dem Rate ein Umgeld,
  14. Vergl. Karl Meyer, Geschichte des Nordhäuser Branntweins, Nordhausen, 1907. K. Meyer, Neue Nachrichten über die älteste Zeit des Nordhäuser Branntweins; Nordh. Zeitung, September 1925. - Vergl. unten Kapitel 15.
  15. Die Geschichte des Bergbaues zu Nordhausen ist noch nicht geschrieben worden.
  16. Carlyle, Über Helden. Heldenverehrung ... Der Held als Priester.
  17. Abgedruckt: Neue Mitteilungen des Th.-Sächs. Geschichtsvereins, V. 4. 94 ff.
  18. Daß man in Nordhausen immer recht stattlich zu leben wußte, geht daraus hervor, daß die fast gleichzeitige Magdeburger Hochzeitsordnung (1544) nur bei Patrizierhochzeiten 72 Personen gestattete, der gemeine Bürger und Handwerker durfte nur bis zu 40 einladen.
  19. Vergl. Förstemann, Kleine Schriften, 102 ff.
  20. Über den Strafprozeß in Nordhausen ist bisher noch nicht geschrieben worden. Wertvollste Quellen sind einige Originalprozeßakten im Nordh. Archiv, z.B. Prozeß Gründler vom Jahre 1737. Gute Zusammenstellungen finden sich in den Handschriften von Frommann und - seit 1698 - von Filter. Hieraus hat auch P. Oßwald einen Abdruck geliefert: Oßwald, Nordhäuser Kriminalakten von 1498-1657. Zeitschr. des Harzv. 1891, Jahrg. 24. Über die Mordbrenner von 1540 vergl. Förstemann, a. a. O., 108 ff.