Die Merwigslindensage in Nordhausen

Aus NordhausenWiki
Textdaten
Autor: R. H. Walther Müller
Titel: Die Merwigslindensage in Nordhausen
Untertitel: ein Denkmal der Thüringer Frühgeschichte
aus: Schriftenreihe heimatgeschichtlicher Forschungen des Stadtarchivs Nordhausen, Harz / Nr. 1
Herausgeber: Rat der Stadt
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1953
Verlag:
Drucker:
Erscheinungsort: Nordhausen
Quelle: Scan
Kurzbeschreibung:
Digitalisat: PDF (19 MB)
Eintrag in der GND: 453496083
Bild
[[Bild:|250px]]
Bild


Die Merwigslindensage
in Nordhausen


ein Denkmal der Thüringer Frühgeschichte



von R. H. Walther Müller, Stadtarchivar


Omnia, quae nunc vetustussuma creduntur,
nova fuere...
Tacit., Ann. 11,24
_______


Nordhausen 1953
Herausgegeben vom Rat der Stadt Nordhausen




Meiner lieben Frau Louise,
geb. Dreyer



Gesamtansicht der Stadt Nordhausen aus dem 17. Jahrhundert
(Original im Meyenburg-Museum Nordhausen)
links der noch unbewaldete Geiersberg mit der Merwigslinde


I

Die Erforschung der Geschichte der Stadt Nordhausen erstreckt sich über rund 250 Jahre. Die erste Sichtung historischer Überlieferungen erfolgte zu Anfang des 18. Jahrhunderts, also noch zur Zeit der Reichsfreiheit der Stadt, durch Erich Christoph Bohne und Friedrich Christian Lesser. Nachdem Böhnes Forschungseifer den oligarchischen Rat der Stadt hatte befürchten lassen, es möchte die allzu genaue Darstellung stadtgeschichtlicher Ereignisse dem Prestige des Rates nachteilig sein, wurde der Fortdruck von Böhnes bereits 1701 begonnener „Nordhäusischen Chronica“ unterbunden. Auch Lessers Bemühungen, durch umfassendere Benutzung der im Ratsarchive reichlich vorhandenen Urkunden eine tiefere Kenntnis der Vergangenheit zu gewinnen, scheiterten an der Geheimniskrämerei des um sein Ansehen besorgten Regimes, so daß auch seine „Historischen Nachrichten“ von 1740 nur zu einem geringen Teil auf noch dazu flüchtigem Studium der städtischen Akten beruhen.

Erst als zu Beginn des 19. Jahrhunderts die fundamentale Umwandlung Nordhausens von zweifelhaft gewordener Autonomie zum Bestandteil eines von mächtigen Impulsen bewegten, größeren Staates erfolgt war, in dem die Erforschung der deutschen Vergangenheit und die Sammlung und Veröffentlichung geschichtlicher Quellen als wichtiges Mittel zur Bildung eines vaterländischen Bewußtseins galt, konnte Ernst Günther Förstemann die Geschichtsschreibung seiner Vaterstadt in neuem Geiste in Angriff nehmen. Ihm verdanken wir die Herausgabe eines bedeutenden Teiles der auf die Nordhäuser Geschichte bezüglichen Urkunden und eine große Anzahl wertvoller Einzeldarstellungen. Daß er seine großangelegte „Urkundliche Geschichte der Stadt Nördhausen“ (1825) nur bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts vollendet hat, ist einzig auf mangelnde materielle Hilfe in dem begrenzten Kreise des interessierten Publikums zurückzuführen. Förstemann hat schließlich, um die von ihm gewonnenen neuen Erkenntnisse seinen Mitbürgern doch im Zusammenhang zu bieten und manche überholten Anschauungen Lessers zu berichtigen, dessen Chronik neu bearbeitet; sie erschien nach seinem Tode auf Kosten der Stadt (1860).

Das 19. Jahrhundert hat kein weiteres Werk über die gesamte Geschichte Nordhausens hervorgebracht, wohl aber eine Fülle von Einzelabhandlungen, die zur Vertiefung unserer Einsichten und zur Klärung von Fragen, die sich aus dem gesammelten Stoffe ergaben, bedeutend beigetragen haben. Von den zahlreichen Autoren dieser Zeit sollen hier nur Perschmann, Rackwitz, Oßwald, Heineck und vor allem Karl Meyer genannt werden.

Hatte es sich bei den genannten Ortshistorikern vornehmlich darum gehandelt, die Geschichte der „Freien Reichsstadt“ unter Dach zu bringen, und hatte man die darauf bezüglichen Quellen, d. h. die erhaltenen Urkunden nebst der überkommenen Literatur früherer Chronisten erfaßt und im wesentlichen ausgeschöpft, so ging Meyer erstmalig über die Zeitgrenze des urkundlich Nachweisbaren hinaus. Er hatte sich zunächst mit der Wüstungsforschung innerhalb der Stolbergischen und Honsteinschen Gebiete beschäftigt, sich dann dem historischen Gebilde des Helmegaus zugewandt und war schließlich zur Erforschung der Nordhäuser Stadtgeschichte im Rahmen der Geschichte der Landschaft gelangt. Seine Neigung zur Synthese trug ihm den Erfolg ein, jenseits der Grenze, die durch die Anlage eines castrum, einer curtis dominicalis und einer villa Nort-husen unter Heinrich I. der Ortsgeschichte bis dahin gesetzt war, die Existenz eines fränkischen Königshofes und Dorfes Northusen nachzuweisen. Bereits Förstemann hatte in Ansehung der Namensendung „-hausen“ die Vermutung ausgesprochen, Nordhausen müsse eine fränkische Gründung sein.

War so durch Meyers glückhaften Vorstoß die Sphäre der Nordhäuser Ortsgeschichte bis in die Zeit Karls des Großen, d. h. in den Ausgang des 8. Jahrhunderts erweitert worden, so blieb doch die weitere Arbeit auf diesem frühgeschichtlichen Neuland liegen. Meyer selbst war der Ansicht oder behauptete, daß das von ihm gefundene fränkische Reichsdorf „als die älteste Ansiedlung und als der Anfang der Stadt Nordhausen anzusehen“ sei. Hiergegen äußerten zwar Heineck und Silberborth Bedenken, doch hat letzterer in seiner „Geschichte des Helmegaus“ (1940), in der er der vor- und frühgeschichtlichen Situation der Nordhausen umgebenden Landschaft breiten Raum widmet, der Möglichkeit weiterer Untersuchungen zur Frühgeschichte innerhalb des Nordhäuser Weichbildes keine Erwähnung getan.

Die Ursache zu diesem Verharren im „geschichtlichen“ Zeitraum ist unzweifelhaft in dem Mißtrauen zu suchen, das den reinen Urkundenforscher gegenüber den sog. Hilfswissenschaften erfüllt. Zwar hat sich die grabende Archäologie längst ihren wissenschaftlichen Platz erobert, der kaum stärker durch Irrtümer belastet wird als die Urkundenforschung. Größere Unsicherheit besteht dagegen hinsichtlich der Linguistik, der Ortsnamenforschung und der Folkloristik, deren oft prätentiöse Darstellungen nicht immer zu dem bewährten Kanon der historischen Wissenschaft passen. Wenn wir aber unsere Aufgabe darin sehen, geschichtliche Kenntnis über die Zeit schriftlicher Quellen hinaus zu erweitern, so müssen wir uns nach Möglichkeit sämtlicher Hilfsmittel bedienen, die uns zu Gebote stehen - sine ira et studio. E. G. Förstemanns Ideenreichtum hat Hinweise und Anregungen hinterlassen, die zu einem Eindringen in die Frühgeschichte Nordhausens geradezu herausfordern. Wir müssen es als Glück betrachten, daß die Menschheit auch das Unverstandene bewahrt und überliefert. Zu diesen Überlieferungen gehören Namen, an deren Bedeutung Generationen vergeblich gerätselt haben, es gehören dazu Sagen, die ohne Sinn und ohne Beziehung zur Ortsgeschichte zu sein scheinen. Zweifellos ein gefährliches Gebiet, „denn man kann Sagen wohl durch anderweit gewonnene geschichtliche Kenntnis deuten, aber niemals geschichtliche Kenntnis aus Sagen schöpfen“1). Auch der „selbstverständliche Grundsatz aller Namenforschung, daß sie nur mit den ältesten, historisch überlieferten Formen operieren darf“, muß sich eine Einschränkung gefallen lassen, denn „in nicht seltenen Fällen ist gerade das erste Vorkommen eines Namens unzuverlässig, weil wir die Aufzeichnung einem Schreiber verdanken, dem das Land und seine Sprache fremd waren“ 2). Nachdem sich aber die Geschichtsforschung bereit gefunden hat, Gräber und Gebeine, Küchenabfälle und Schläfenringe „sprechen“ zu lassen, um ihre geschriebenen Quellen zu ergänzen oder zu berichtigen, sollte auch wohl das Vorurteil überwunden werden, einer Sage historische Bedeutung abzusprechen, sofern sie sich mit anderweit gewonnenen geschichtlichen Kenntnissen als historisches Dokument erklären läßt. Im Hinblick auf die bisherige Vernachlässigung sagenhafter Überlieferung mag es nicht ausbleiben, daß ihre nunmehrige Betonung auf eine gewisse Skepsis stößt. Gleichwohl wird man gewahr werden, daß eine Sage das „missing link“ sein kann, das die Verbindung zwischen längst bekannter Geschichte und noch nicht erforschter Frühgeschichte herstellt.

II

Die älteren Nordhäuser Chronikschreiber berichten mehr oder weniger ausführlich von einer sagenhaften Überlieferung, derzufolge ein thüringischer König Merwig (latinisiert: Meroveus) in der Mitte des 5. Jahrhunderts die Stadt Nordhausen erbaut hat 3). Die Nachricht wird von einem Werk ins andere übernommen, wird pedantisch-gelehrt als historischer Nonsens oder mit nachsichtigem Lächeln als seltsame Fabel hingestellt, niemals aber ist sie auf ihren Ursprung und ihre Bedeutung hin untersucht worden. Dabei liegt die bemerkenswerte Tatsache vor, daß auch die Mühlhäuser Chronisten Christian Thomas (1727) und B. C. Graßhof (1749) diesen König Merwig (Mervigh) als Begründer ihrer Stadt erwähnen mit dem skeptischen Zusatz: „davon ein ider halten magk, was ehr will“! Die älteste Erwähnung dieses Städtegründers aber findet sich in einer Erfurter Schenkungsurkunde vom Jahre 706 4), in der Merwig der Großvater des fränkischen Königs Dagobert und Gründer der „Merwigesburc“ zu Erfurt genannt wird.

Nun ist zwar diese Urkunde längst als eine Fälschung des 10. oder 11. Jahrhunderts erkannt5), und ihr Inhalt ist für uns ohne Belang. Wie aber kommt ihr Verfasser dazu, die Glaubwürdigkeit der Schenkung ausgerechnet durch den König Merwig zu erhärten, der der Überlieferung zufolge in der Mitte des 5. Jahrhunderts in Westfranken herrschte und keinerlei Besitzansprüche in Thüringen hatte? Die Antwort erscheint einfach: der Schreiber handelte in gutem Glauben und stützte sich auf die Tradition seiner Zeit. Nun liegt aber die Vermutung sehr nahe, daß das „rex Meroveus“ oder „ab avo Meroveo“ der mittelalterlichen Kommentatoren überhaupt kein nomen proprium, sondern ein Adjektiv gewesen ist und nichts anderes besagen wollte, als „ein merowingischer König“ bzw. „von seinem merowingischen Großvater“. Daß in der Urkunde dennoch der Eigenname in dem Worte „Merwigesburc“ vorkommt, beweist nichts gegen unsere Definition. Es ist daraus nur zu folgern, daß die Urkunde erst entstanden ist, nachdem das falsch gedeutete „Meroveus“ als Personenname längst in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen war.

Es bleibt also von mythologischen Spekulationen über einen Städtegründer Merwig nichts übrig, die magische Verwandlung von „Meroveus“ in „Merwig“ läßt nur — aber doch immerhin — darauf schließen, daß der Gründungssage von Erfurt, Mühlhausen und Nordhausen eine gemeinsame Erinnerung aus dem 6. oder 7. Jahrhundert zu Grunde lag, als die fränkischen Merowinger 'Thüringen unterwarfen und wachsenden Einfluß hier gewannen.

Nun ist die hiervor erwähnte Gründungstradition in Nordhausen mit einer auf der Höhe des Geiersberges stehenden alten Linde verknüoft, sie trägt aber hier so markante Züge, daß man wohl von einer spezifisch Nordhäuser Sage sprechen muß. Der ehrwürdige Baum heißt „Merwigs-linde“, im Volksmunde zuweilen noch „Mirichens Lingen“ (Merichen, Milchen, Merchen sind lautliche Varianten).

Die Nordhäuser Sage erzählt: „Um die Mitte des 5. Jahrhunderts herrschte hier ein König Merwig. Er war eines Schuhmachers Sohn und se^st Schuhmacher, bis ihn seine Landsleute zum Könige wählten. Dieser Volkskönig zeigte auch nach seiner Erhebung eine wahrhaft demokratische Gesinnung, also daß er alljährlich mit seinen ehemaligen Zunftgenossen auf dem Geiersberge ein Maienfest feierte und bei solcher Gelegenheit auf der sonst kahlen Höhe eine schattenspendende Linde pflanzte.“

Die älteste bekannte Fassung dieser Geschichte findet sich in der fragmentarischen „Nordhäuser Chronica“ von 1701 des Nordhäuser Quatuorvir Erich Christoph Bohne. Der Autor bemerkt dazu unter Hinweis auf frühere Versuche, den Namen der „Mirichens Lingen“ bzw. Merwigslinde zu erklären, u. a.: „doch halten Verständige dafür, diese Linde habe den Nahmen von dem König Meroveo, Meerwig, als dem wahrhaften Stifter dieser Stadt . . .“, und weiterhin: „Und sey selbige Meerwigs-Linden bey geschehenem Abgänge der Ersten nach und nach dem Stadt-Stiffter zu Ehren fortgepflantzet worden; inzwischen aber noch immer fort den ersten Nahmen behalten.“

Aus dem letzten Satze geht hervor, daß die Linde die zu Böhnes Lebzeiten gewiß schon ein ehrwürdiges Alter hatte, nach der herrschenden Meinung bereits Vorgängerinnen gehabt hat, daß mithin eine jahrhundertealte Überlieferung vorhanden gewesen sein muß.

Höchst bedeutsam ist aber die Kritik, die Lesser als jüngerer Zeitgenosse Böhnes an dessen Namenserklärung übt. Er schreibt6): „Herr Bohne gibt gar vor, daß die auf dem hiesigen Kirsch-Berge (mundartl. Giersch = Geiers-) gelegene Merichens Linde von dem Stiffter unserer Stadt Meroveo den Nahmen habe und so viel heißen sollte, als die Merwigs-Linde, welches Vorgeben einen starcken Glauben erfordert.“ E. G. Förstemann, der rund hundert Jahre nach Lesser erneut an der Lindensage rätselte und der aus eigener Anschauung wußte, daß „noch im 19. Jahrhundert zuweilen die Schuhknechte nach jenem Orte (d. h. zur Merwigslinde) zur Ergötzlichkeit gezogen“7), lehnt seinerseits etymologische Versuche wie „Merwig“ aus einem Dorfnamen Mörbich (Mörbach) oder „Merchen“ aus dem Worte „Märchen“ ab. Resigniert bekennt er am Ende: „Am richtigsten mag der Name doch wohl von dem König Merwig abgeleitet werden; nur muß man nicht behaupten wollen, daß derselbe die Linde gepflanzt habe.“ Und noch in der nach seinem Tode vom Nordhäuser Magistrat herausgegebenen, von ihm neugefaßten Lesserschen Chronik heißt es: „Wirklich möchte ich selbst die alte Merwigssage nicht ganz verwerfen, nur gereinigt sie wissen von den abgeschmackten Zusätzen der späteren Zeit.“

Dabei nimmt er beide Namen als von jeher nebeneinander bestehend hin, „Merichen“ als den volkstümlichen, „Merwig“ als den eigentlich historischen, und übersieht völlig die Wandlung von Merichen in Merwig, auf die Lessers Bemerkung doch deutlich genug hinweist. Nach Lessers Zeugnis hat 1740 ganz zweifellos noch die Bezeichnung „Merichens“ Linde vorgeherrscht, während die Adoption des Namens Merwig eine nicht ganz glaubhafte Neuerung darstellte. Es darf uns nicht allzusehr verwundern, wenn ein scharfsinniger Kopf des ausgehenden 17. Jahrhunderts auf diese Etymologie verfiel, denn nicht nur die lautliche Ähnlichkeit, sondern die Person des Königs in beiden Sagen mochten zu solcher Kombination verführen.

Als Erfolg unserer bisherigen Betrachtungen ergibt sich also, daß die Nordhäuser Merwigssage um 1700 aus zwei nebeneinander überlieferten Sagen entstanden ist, von denen die eine auf eine gemein-thüringische Erinnerung an die merowingische Zeit zurückzuführen ist, während wir die andere im Hinblick auf den heute noch stehenden Lindenbaum für eine spezifisch ortsgebundene Sage halten müssen.

Nachdem wir nun diese Nordhäuser Lindensage von dem irreführenden Namen Merwig befreit haben, eröffnet sich die Möglichkeit, ihren Ursprung, ihr Alter und ihre Bedeutung für die Geschichte zu untersuchen.

Daß diese Lindensage im Bewußtsein der Bürgerschaft eine Rolle gespielt hat, können wir einem Gedicht entnehmen, das ein Zeitgenosse und Kollege Förstemanns, der Magister Friedrich Wilhelm Ehrhardt, 1805 veröffentlichte. Es lautet:


Merwichs-Linde
(Eine Nordhäusische Vorzeitsage)

Auf unserm Königshofe stand, wie die Sage geht,
Ein Schloß, sonst auf dem Platze, wo Filters Haus jetzt steht.
Darinne wohnt ein König von damals seltner Art,
Der nicht durch Macht und Ahnen, der durch Verdienst es ward.
Gerechtigkeit und Güte umgab des Weisen Thron;
Der Gute wie der Böse bekam verdienten Lohn.
Von Wahrheit und von Frieden war er der wärmste Freund, Von Schmeicheley und Hader ein abgesagter Feind.
Schwer hielt’s ihn zu berücken, selbst Pfaffen war es Kunst; Mit scharfen Adlerblicken durchschaut er Gleiß und Dunst. Wen Tück’ und Bosheit drängte, fand bei ihm Hülf und Schutz; Der kühnste Widersacher both ihm nicht lange Trutz.
Wie groß sein Reich gewesen, und was dazu gehört?
Darüber hat die Sage die Nachwelt nicht belehrt.
Auch wird nach ihrer Weise die Zeit, wo er regiert,
Entweder gar nicht, oder sehr ungleich angeführt.
Selbst über seinen Namen ist sie nicht eins mit sich;
Nennt Mehrich ihn und Merwig, und wohl auch Merowig.
Bei Pädopatern aber, bei Lessern und so fort.
Steht wohl von neuern Dingen geflissentlich kein Wort.
Nur dies erzählt die Sage von Mehrwichs Lobe noch:
Selbst Mißvergnügte nannten sein Regiment kein Joch.
Auch litt in seinem Staate nicht Einer wirklich Noth;
Zu prassen hatte Keiner, jedweder aber Brodt.
Und nicht von Fürsten stammte der, dem sie’s dankten, her: Schuhmacher war sein Vater, Schuhmacher war auch er.
Daß ihn demohngeachtet des Volkes Wahl berief,
Bleibt in der Nachwelt Augen sein schönster Adelsbrief.
Auch schämt er auf dem Throne sich dieser Herkunft nie; Erinnerte die Gegend vielmehr laut selbst an sie.
Denn alle sieben Jahre zog er im May-Monat Auf einen von den Hügeln dicht hinter unsrer Stadt.
Und wer die Ahle führte, zog stolz mit ihm hinaus,
Und allen, die sie führten, gab er hier einen Schmaus;
Saß selbst in ihrer Mitte, und schmaust’ und zechte mit,
Gern sehend, wenn man scherzte, ungern, wenn man sich stritt.
Der Platz war eine Haide, ringsum von Bäumen leer;
An heitern Tagen brannte die Sonn’ auf ihn fast sehr.
Zu künft’gem Schatten pflanzte drum seine Majestät Die Lind auf seinen Rücken, die jetzt darauf noch steht.
Die Ehrfurcht in der Seele des, der sie sieht, erregt,
Und noch von ihm den Namen der Mehrwichs-Linde trägt. Stolz ziehen die Gesellen von den Schuhmachern hier Noch alle sieben Jahre deswegen hin zu ihr.
Und bringen unter Jauchzen und fröhlicher Musik Von ihren Zweigen einen mit sich zur Stadt zurück.
Und rühmen und erzählen des Zunftgenossen Lob,
Den nicht Geburth, den Tugend auf seinen Thron erhob. .
Oft werd’ auf solche Weise noch Mehrwichs Lob erneut,
Oft seinem Angedenken ein gleicher Zug geweiht,
Vergessen nur im Rausche zu großer Freude nie,
Daß Mehrwich alles leichter, als Zank und Streit verzieh.


Dieses Gedicht verdient in mehrfacher Hinsicht unsere Aufmerksamkeit. Die Gründung der Stadt durch den König, der Bereich seiner Herrschaft und die Zeit, in der er regierte, werden ganz nebensächlich behandelt, dagegen ist die Schilderung seiner Charakterzüge, seiner Wahrheits- und Friedensliebe, seiner Gerechtigkeit und Güte von auffallender Prägnanz. Dem Kenner der Nordhäuser Geschichte verraten die Verse sogar eine deutliche politische Tendenz, nämlich die Einstellung des „gemeinen Mannes“, des nicht ratsfähigen Bürgers gegenüber einer Obrigkeit, die es an Güte und Gerechtigkeit mit diesem Idealbild eines Regenten eben nich't aufnehmen konnte. Trotz der Anspielung auf die Unterdrückung gewisser historischer Begebenheiten bei den Chronisten Kindervater (Pädopater) und Lesser ist das Gedicht aber keinesfalls als politisches Pamphlet anzusehen. Es ist eine dichterische Fassung der allen Zeitgenossen wohlbekannten Lindensage, die eine feine, psychologische Wiedergabe ihrer charakteristischen Merkmale bringt. Diese Merkmale sind von der oben erwähnten Adoption des Namens Merwig in keiner Weise verändert oder beeinflußt worden. Entbehrt doch die gemein-thüringische Tradition jeglicher Andeutung von persönlichen Eigenschaften des Königs Merwig.

Unterstellen wir nun Böhnes Bericht, daß die ursprüngliche Linde nach ihrem altersbedingten Eingehen neu gepflanzt worden sei, als wahr, so kann nur das kraftvolle Fortleben der mit ihr verbundenen Sage als Motiv dazu angenommen werden. Denn Linde und Sage stehen in kausaler Verbindung. Nehmen wir dann nur eine Vorgängerin der jetzigen Linde, die schätzungsweise ein Alter von 600 bis 700 Jahren hat, an, so dürfte mit ihrer Pflanzung auch die Entstehung unserer Sage etwa im 7. Jahrhundert zu suchen sein.

Mit diesem Ergebnis unserer Analyse, das uns über die Merwigssage in die merowingische Zeit, über die Nordhäuser Lindensage gleichermaßen ins 7. Jahrhundert weist, wollen wir uns einstweilen begnügen. Doch können wir das Linden-Thema nicht verlassen, ohne einen Blick auf die Arbeit und Methode Karl Meyers zu werfen, die er dem gleichen Problem gewidmet hat. Meyer hat sich über Jahrzehnte hin intensiv mit der Mer-wigslinde beschäftigt, hat dabei aber seltsamerweise den darauf bezüglichen Sagen keine Beachtung geschenkt, sondern in höchst eigenwilliger Weise eine neue Legende geschaffen.

In seiner oft zitierten Arbeit von 1871 über „Die Wüstungen . . ,“s) weist er einem urkundlich mehrfach erwähnten Dorfe „Girbuchsrode“ (Ger-buchsrode) eine Lage auf dem Geiersberge in unmittelbarer Nähe der Merwigslinde an, indem er eine etymologische Reihe: Gerbuch-Gerbieh-Merwig bildet und unter Bezugnahme auf eine Förstemarmsche Notiz9) folgert: „Möglicherweise ist die Merwigslinde als Denkmal auf dem Standort jener Kapelle von Girbuchsrode gesetzt worden und es hängt ihr Name mit dem Ortsnamen zusammen.“ Es gibt mehrere Wüstungskarten von Meyers Hand, in denen tatsächlich Girbuchsrode an dieser Stelle eingezeichnet ist10).

Diese Hypothese von der Merwigslinde als Kirchshofslinde des Dorfes Girbuchsrode glaubt er dann 1877 weiter fundieren zu können n) durch den Hinweis auf Förstemann, der in seinem Nachtrag zur 1. Abt. seiner Urkundlichen Geschichte (S. 5) schreibt: „Eine Urkunde vom Jahre 1574 erwähnt, als ebendaselbst liegend, eine wüste Kirche.“ Hier ist Meyer ein neuer Irrtum unterlaufen, denn die zitierte Stelle bzw. die Urkunde von 1574 bezieht sich überhaupt nicht auf den Geiersberg, sondern auf das eingegangene Dorf Niedersalza. Meyer hatte sich aber dermaßen in den Komplex: Geiersberg—Dorf—Kirche—Linde eingelebt, daß er ihn nie wieder aufgegeben hat.

Als dann nach Bekanntwerden weiterer Urkunden über Girbuchsrode sich herausstellte, daß dieser Ort an dem fischbaren Gewässer der Helme gelegen haben mußte12), gab er dem hypothetischen Orte auf dem Geiersberge den Namen „Hohenrode“. Diese Örtlichkeit wird zu Beginn des 14. Jahrhunderts mehrfach genannt13), ihre Lage ist aber nie genau identifiziert worden, obwohl der Name Hohenrode heute noch an einem nordwestlich vom Geiersberge gelegenen Berge haftet.

Mit dieser Namensänderung entfiel nun natürlich der etymologische Beweis „Gerbueh-Merwig“. Meyer fand einen anderen. Er ging plötzlich zurück auf die „mundartliche“ Bezeichnung „Merchens Lingen“ und behauptete, daß „Märje“ der ortsübliche Ausdruck für „Marie“ sei, daß der Baum mithin eigentlich eine Marienlinde und die hypothetische Kapelle eine Marienkapelle gewesen seien. Als Beleg diente ihm in der Folge nur noch die Förstemann-Lessersche Chronik von 1860, wo es in einer Fußnote zurückhaltend heißt: „Vielleicht stand auf dem Geiersberge, ehe die Merwigslinde gepflanzt wurde, eine Merwigsburg: eine Kapelle soll vor Zeiten daselbst gewesen sein14).“

Schon Paul Lemcke15) hat bezüglich der Ableitung „Gerbueh-Merwig“ gemeint: „Bei Gott ist bekanntlich kein Ding unmöglich, doch wäre es sehr gewagt, sich durch derartige Trugschlüsse über offenkundige Zweifel hinwegtäuschen zu wollen.“ Karl Meyer hat zwar, wie schon gesagt wurde, auf diesen Trugschluß verzichtet, doch nur, um einen andern an seine Stelle zu setzen, worauf später noch einzugehen sein wird. Hier soll nur vermerkt werden, daß Grabungen im Umkreise der Merwigslinde, die der Nordhäuser Magistrat auf Betreiben des Nordhäuser Geschichtsvereins im Jahre 1894 vornehmen ließ, keinerlei Anzeichen für eine ehemalige Besiedlung dieses Platzes ergeben haben16).

III

Eine zweite Sage von der Begründung der Stadt Nordhausen durch den Kaiser Theodosius II. im Jahre 410 geht zurück auf einen Stein, der in die Stadtmauer am Töpfertor eingelassen war und folgende vergoldete Inschrift nebst dem Nordhäuser Stadtwappen enthielt: „Anno Domini CCCCX Theodosius II nobilis Hispanus Born. Imperator anno imperii sui quarto hanc urbem fundavit, libertatibus armisque imperialibus ditavit.

Helf got, Maria berat17).“ (d. h. im Jahre des Herrn 410 gründete Theo-dosius II., ein edler Spanier und römischer Kaiser, im vierten Jahre seiner Regierung diese Stadt und belehnte sie mit Freiheiten und kaiserlichem Wappen).

Das Vorhandensein dieses Steines wird durch etliche Carmina aus dem 16. Jahrhundert belegt, davon eins aus dem Kreise um den Bürgermeister Meyenburg18). Auch Philipp Melanchthon nennt Nordhausen in einem Briefe „vetustam Theodosii coloniam“. Auffallenderweise befassen sich aber bereits im 17. Jahrhundert gelehrte Männer der Stadt kritisch mit dieser Sage. Wir erwähnen nur den Rechtsgelehrten und Stadtsyndicus D. Johann Titius, der „historice, chronologice et geographice“ nachgewiesen hat, daß es sich bei diesem Stein um eine grobe Fälschung handelt. Die Glaubwürdigkeit der Inschrift wurde durch historische Tatsachen widerlegt, und die Theodosiusfabel geriet denn auch bald in Vergessenheit. Ihre Erwähnung an dieser Stelle würde sich mithin erübrigen, wenn nicht noch die Frage offenstände, was eigentlich die Veranlassung-zu ihrer Entstehung gewesen sei.

In Ermangelung urkundlicher Unterlagen läßt sich der Zeitpunkt der Sagenbildung natürlich schwer bestimmen, doch könnte die häufige Erwähnung in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts darauf schließen lassen, daß sie in dieser Zeit ganz besonders aktuell gewesen ist. Es ist auffällig, daß in der gleichen Zeit der Verfasser des sog. „Chronicon Mulhu-sinum antiquissimum“, das zwischen 1550 und 1570 geschrieben wurde, die Erbauung der Stadt Mühlhausen ebenfalls dem Kaiser Theodosius zuschreibt, und zwar um das Jahr 33019).

Diese Parallelität der Erscheinungen legt den Verdacht nahe, daß es sich bei der Theodosiussage um das Produkt einer gemeinsamen Aktion der beiden Städte handelt, die den Zweck verfolgte, die Autorität der durch den Bauernkrieg erschütterten Oligarchie wieder zu festigen. Der Stadtsyndicus Titius hat sich wohlweislich gehütet, die Hintergründe der Theodosiussage aufzudecken. Er wußte zweifelsohne, daß das „gemeine Volk“, die Handwerkerschaft und die besitzlosen Inquilinen, seit Jahrhunderten unter der selbstsüchtigen Herrschaft des patrizischen Rates gelitten hatte, daß sie alle von dem Bewußtsein höherer Gerechtigkeit und Güte, als dieser Rat und die ihm versippten Familien aufwiesen, erfüllt waren.

Jener König, der ein Schuster gewesen war, war zum Sinnbild des idealen Regenten für den gemeinen Mann in Nordhausen geworden, und die gleiche politische und soziale Tendenz, die der Magister Ehrhardt am Ende der Reichsfreiheit in Verse brachte, dürfte Jahrhunderte vor ihm in prosaischer Form dem Rate oft zugesetzt haben. Bis dann einer aus dem Rate — wer es gewesen ist, wissen wir freilich nicht — auf die Idee kam, dem urkundengläubigen Bürger durch einen massiven Stein deutlich zu machen, daß die Schusterkönigs-Fabel nebst allen Schlußfolgerungen null und nichtig wäre, da ein „echter“ Kaiser der wahre Gründer der

Stadt gewesen wäre und sie mit Privilegien begabt hätte, deren Handhabung selbstverständlich allein dem Rate obliege.

Da diese Sage um den Theodosiusstein eine Lüge war, hat sie auch nur kurze Beine gehabt. Eine Bedeutung für unser Thema besitzt sie nur insofern, als sie zur Ausrottung der Merwigslinden-Sage erdacht wurde, daß sie an deren natürlicher Lebenskraft aber selbst zugrunde ging.

IV

Neben den sagenhaften Überlieferungen haben aber auch topographische Betrachtungen und offensichtlich alte Ortsbezeichnungen im Stadtbereiche unsern Historikern Anlaß und Handhaben zu Forschungen gegeben. Vor allem waren es die beiden Ortsteile „Altnordhausen“ und „Altendorf“, die allein durch ihre Namen zur Ergründung des ältesten Ursprungs der Stadt reizten. Beide Siedlungen haben außerhalb des mittelalterlichen Stadtmauerringes gelegen. Altnordhausen befand sich am Südhange des Frauenberges, im Südosten der späteren Heinrichsstadt; das Altendorf hingegen lag und liegt noch heute im Nordwesten der Stadt unterhalb des Geiersberges und grenzt eng an den Berghang, auf dem einst die Burg Heinrichs stand.

Während das Altendorf, das urkundlich erstmalig 1230 genannt wird (an-tiqua villa oder vetus Villa), heute noch als Stadtteil diesen Namen führt, kommt die Bezeichnung „Altnordhausen“ nur in einigen Urkunden vor, zuerst im Jahre 1308. Die Siedlung selbst hat „Northusen“ geheißen, bis dieser Name auf die Neugründung des Sachsenkönigs zu Beginn des 10. Jahrhunderts überging. Der ältere Ort wurde lediglich in einigen Pergamenten zur Unterscheidung „Altnordhusen“ genannt, ohne daß dieser Name je in den Sprachgebrauch überging. Nachdem schon Förstemann darauf hingewiesen hatte, daß der Ortsname „Northusen“ fränkischen Ursprungs sein müsse20), hat Karl Meyer dann in gründlichen Ausführungen den Nachweis erbracht, daß es sich bei dem sog. „Altnorthausen“ um einen fränkischen Reichshof und ein damit verbundenes Dorf handelt, deren Entstehung in den Ausgang des 8. Jahrhunderts fällt21). Meyers Beweisführung stützt sich im wesentlichen auf Karl Rübel22) und Paul Hofer23), sowie auf eine Gründungssage des Nordhäuser Frauenbergklosters, in der es heißt: „daz ehir daz Closter uf unser lieben frouwen berge worde, do was eyn festenunge, do phlag eyn voyt des riches uffe czu wonen2*).“ Möglicherweise hat diese Stelle der Gründungssage ihm überhaupt den Anstoß zu seinen diesbezüglichen Forschungen, sicherlich aber a priori die Überzeugung von der Richtigkeit seiner Zielsetzung gegeben25).

Waren so durch Karl Meyer die Anfänge des Ortes Nordhausen erstmalig bis in die Zeit Karls des Großen zurückverlegt worden, so blieb doch die Frage offen, ob nicht auch das fränkische Reichsdorf schon ältere Siedlungen hier vorfand. Diese Frage hat Meyer keineswegs übersehen, er hat sie aber energisch verneint. Nach allen seinen Darstellungen hat es den Anschein, als sei die Siedlung am Frauenberge die älteste auf Nordhäuser Boden, als sei vorher nichts gewesen.

Diese Ansicht muß um so verwunderlicher erscheinen, als die älteren Ortshistoriker, Lesser und Förstemann, gerade dem Altendorf eine betonte Beachtung zuwenden, wenn sie sich auch selbst einer Prüfung der diesbezüglichen Überlieferungen nicht unterziehen. Lesser meldet, daß ein Magister Johann Christian Hagenauer, ehemaliger Prediger „in der Sachse“ (Sachsa), der Meinung gewesen sei, „daß die hiesige Vorstadt, das Altendorff genannt, vor Christi Geburt ein Dorff gewesen sei, an welches wegen besserer Bequemlichkeit des Orts die Stadt Nordhausen angebauet worden“ wäre26). Förstemann schreibt einmal21): „In der von der Mer-wigssage angedeuteten Zeit, im fünften oder schon am Ende des vierten Jahrhunderts, als das thüringische Reich noch bestand, mag eine Niederlassung, ja es mögen damals schon mehrere Niederlassungen hier entstanden sein, und der Name des Altendorfes scheint die Gegend zu bezeichnen, wo zuerst ein Gehöft den Grund zu einem Dorfe legte.“ Und an anderer Stelle28) heißt es: „Der Name Altnordhausen scheint der Niederlassung unter dem Frauenberge . . . das höchste Altertum beizulegen; vielleicht ist aber das Altendorf nicht jünger.“

Von diesen vagen oder vorsichtigen Äußerungen hebt sich freilich Karl Meyers Behauptung scharf ab. Er sagt: „Das Altendorf ist eine erst lange nach der Gründung der Stadt Nordhausen unter dem Schutze der Stadtmauer im Anfang des 13. Jahrhunderts entstandene dörfliche Ansiedlung, die den Namen „Altendorf“ (er erscheint urkundlich zuerst 1230 in Nr. 174 des Walkenrieder Urkundenbuches, wo als Zeuge Sybodo de an-tiqua villa genannt wird) erst empfing, als in jener Zeit, ebenfalls unter dem Schutze der Stadtmauer, „das Neuendorf“ (die heutige Neustadt) im Entstehen begriffen war (das Neuendorf wird urkundlich zuerst 1256 als „nova villa apud Northusen“ in Nr. 318 des Walkenrieder Urkundenbuches genannt). Das Altendorf kann als Anfang Nordhausens nicht in Betracht kommen, wohl aber „Altnordhausen“, dessen am Mühlgraben be-legene, dem Frauenbergskloster gehörige Mühle 1308 „molendinum ve-teris Northusen“ (in Nr. 33 der Frauenbergskloster-Urkunden) genannt wird.“ Und er fährt fort: „Seit Jahrzehnten habe ich in meinen Schriften und Aufsätzen zur Geschichte der Stadt Nordhausen die Ansicht vertreten, daß Altnordhausen, die jetzige Frauenbergsvorstadt, als die älteste Ansiedlung und als der Anfang der Stadt Nordhausen anzusehen ist.“

Merkwürdigerweise ist Meyers Behauptung und Beweisführung nie an-gefochten worden. Wenn er den Eindruck erwecken wollte, als seien die von ihm zitierten Urkunden zum Beweise hinreichend, so möchte man annehmen, daß schon ein Laie anhand der Datierung (1230 Altendorf, 1256 Neuendorf, 1308 Altnordhausen) mit Meyers Schlüssen nicht übereinstimmte. Natürlich ist es abwegig, aus einer zufällig erhaltenen Urkunde das absolute Alter eines darin erwähnten Ortes bestimmen zu wollen. Es ist aber auch inkonsequent, dem Leser einfach Gläubigkeit zuzumuten, wo es sich um Altendorf und Neuendorf handelt, ihm jedoch reichlich anderes Material zu unterbreiten, wo es um den Favoriten „Altnordhausen“ geht.

Gerade die Art und Weise, in der Karl Meyer das höhere Alter von Altnordhausen gegenüber Alten- und Neuendorf geltend macht, läßt es angebracht erscheinen, diese Altersverhältnisse zu untersuchen, vor allem dasjenige zwischen altem und neuem Dorf.

Eigennamen sind von beiden Niederlassungen nicht überliefert, die bestehende Namengebung dürfte mithin durch die Einwohner der Stadt Nordhausen vorgenommen worden sein. Nun wäre aber bei der von Meyer behaupteten Gleichzeitigkeit ihrer Entstehung die Unterscheidung durch „alt“ und „neu“ sinnwidrig, denn „neu“ setzt etwas voraus, was schon vorher bestanden hat. Viel eher hätten dann die Namen „Ober- und Unterdorf“ gepaßt, wenn man die Lage zur Stadt oder zueinander betrachtet.

Es gibt indes noch gewichtigere Gründe, die für einen Altersunterschied zwischen altem und neuem Dorfe sprechen. Wir entnehmen sie den ältesten noch erhaltenen Quellen zur inneren Geschichte der Stadt Nordhausen, dem „Album civium “von 1312 bis 1345 und von 1345 bis 136729) sowie den darin enthaltenen „libris privilegiorum“ und ferner dem „Liber feo-dalis et censuum perpetuorum ecclesie S. Crucis in Northusen“, der ebenfalls in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts geschrieben wurde.

Während in diesen Büchern das Altendorf durchweg mit „antiqua villa“ oder „vetus villa“ bezeichnet wird, wechselt die Benennung des Neuendorfes zwischen „nova villa“ und „nova civitas“. Wenn im album civium 1334 sowohl ein „Johannes sartor de nova civitate“ als auch ein „Heyso in nova villa“ genannt wird, so könnte man hier allenfalls die nova civitas für den Ort Neustadt unterm Honstein halten, wie auch 1360 ein „Hartmann de nova civitate“ aus diesem Marktflecken zugezogen sein mag. Ganz eindeutig bezieht sich aber 1342 die Bezeichnung „civitas nove ville“ und 1360 (in der Aufstellung der aus den Stadtvierteln gewählten Ratsherren) „in nova civitate“ auf das „Neue Dorf“. Hieraus ergibt sich, daß diese Niederlassung schon vor ihrer de jure Vereinigung mit der Stadt Nordhausen (1365) in einem ganz andersartigen Verhältnis zu ihr stand, als das Altendorf.

Der Ausdruck „villa“ bezeichnet von Anbeginn an eine Siedlung dörflichen Charakters, wenngleich er noch bis Mitte des 12 Jahrhunderts auch solchen Orten beigesetzt wird, die sich zu befestigten Städten entwickelt haben. Der Name „civitas“ hingegen kennzeichnet diejenige „villa“, der Markt- und Zoll-, gegebenenfalls auch das Münzrecht verliehen ist30), ganz gleich, ob der Platz noch feudales Lehn ist oder bereits städtische, bürgerliche Verfassung aufweist31).

Merwigslindeniest der Schuhmacher nach einer farbigen Tuschzeichnung, Mitte des 18. Jahrhunderts, ehemals im Besitz des Meyenburg-Museums Nordhausen

Beweist schon der Ausdruck von 1342 „civitas nove ville“, daß das Neue Dorf längst vor der de jure Eingemeindung in die Stadt Nordhausen de facto als ihrer städtischen Rechte teilhaftig angesehen wurde, so liefert der Vertrag über den Zusammenschluß des neuen Dorfes mit der Altstadt32) genügend Material, um den stadtähnlichen Charakter der „nova villa“ zu verdeutlichen. Es heißt da u. a. „daz nu nach numerme in der egenanten Nuwenstad vorcziten genant das nuwedorff nykein Rathus edir Retha sullin sin edir werden“ und daß künftig weder öffentliche Gebäude, wie Gefängnis, Waage, Kaufhaus, noch Märkte aller Art bestehen dürfen. Zumindest ein Teil dieser Einrichtungen hatte in dem Neuen Dorfe bestanden, nicht zuletzt befand sich daselbst neben der Kirche S. Jacobi die einzige bürgerliche Stadtschule, die der Rat der alten Stadt gegen die Monopolstellung der Domschule in heftigem Kulturkämpfe gegen den Mainzer Erzbischof durchgesetzt hatte32).

Aus alledem ergibt sich mit hinreichender Klarheit, daß die „nova villa“ nichts anderes war als eine Erweiterung der Stadt extra muros, als das Gebiet innerhalb der Mauern den Zuwachs an Bevölkerung nicht mehr fassen konnte. Das aber dürfte im Laufe des 13. Jahrhunderts der Fall gewesen sein. Die vorherige Existenz einer dörflichen Siedlung an dieser Stelle ist deswegen unglaubhaft, weil das Gelände zwischen dem Berghang und den Wasserläufen der Zorge mit ihren Schotterablagerungen keinerlei Bodenbearbeitung zuließ.

Betrachten wir nunmehr das Altendorf genauer. Allein der Umstand, daß es 1365 nicht mit eingemeindet wurde, läßt auf eine völlig andere Entwicklungsgeschichte und Struktur schließen. Ein „Gartenzins“, der zu Beginn des 14. Jahrhunderts laut Zinsregister des Nordhäuser Kreuzstifts lediglich von drei Gärten im Altendorf erhoben wird, weist auf Obst- oder Gemüsebau hin, und in der Tat erstreckt sich am Fuße des Geiersberges vom Altendorfe an bis gegen die Villa Hohenrode ein Streifen fruchtbaren Landes, der in früherer Zeit wohl einer kleinen Ansiedlung zur Nahrung verhelfen konnte. Nun hat zwar auch Karl Meyer den dörflichen Ursprung und Charakter des Altendorfes nicht bestritten, allein die eben erwähnte Anbaufläche erscheint ihm für ein seiner Meinung nach im 13. Jahrhundert gegründetes Dorf doch zu klein. Was kann den Anlaß gegeben haben, daß zu dieser Zeit dicht unter den Mauern der Stadt ein Dorf entstand? Meyer behauptet mit schwer zu widerlegender Logik, daß eben damals das Dorf Hohenrode, das seiner Auffassung nach neben der Mer-wigslinde auf dem Geiersberge gelegen hatte, wüst wurde und daß dessen Bewohner „sich unter dem Schutze der Nordhäuser Stadtmauer angesiedelt und die Vorstadt Altendorf gegründet haben34)“. Und „ihre ehemalige Dorfflur bewirtschafteten sie von ihrem neuen Heim aus“.

Wenn Silberborth hierzu bemerkt35): „Dieser Stadtteil (Altendorf) ist nicht erst damals entstanden und hat nicht allein, wie Meyer meint, vom Dorfe Hohenrode her seine Einwohner empfangen, sondern hier müssen seit alters einzelne Gehöfte verstreut gelegen haben . . und wenn Hermann Heineck schreibt36): „Ich verlege die älteste thüringische Siedlung (auf Nordhäuser Boden), deren Name verschollen ist, an den Fuß des Geiersberges zwischen Hohenrode und Kreuzen“, so sind das recht bemerkenswerte Einwände gegen Meyers Hypothesen; leider entbehren sie aber gleichfalls jeglicher Beweisführung. Immerhin ist diesen beiden Kennern der Nordhäuser Geschichte zum Bewußtsein gekommen, wie sehr Meyer

sich durch die vorgefaßte Meinung, daß das Altendorf nicht älter als das Neue Dorf und unter allen Umständen jünger als Alt-Nordhausen sei, zu willkürlicher Behandlung nistorischer Gegebenheiten hat verleiten lassen. Über Meyers Kombination: Geiersberg-Dorf-Kirche-Linde ist schon berichtet worden. Der Versuch seiner Deutung des Wortes „Märje“ = Marie, erfolgte bewußt hinzielend auf die im Altendorf liegende Kirche S. Mariae in valle, und der unkritische Leser vernimmt mit Rührung, daß die Bewohner von Hohenrode ihr Kirchlein neben der Merwigslinde abbrachen, es über ihrer neuen Niederlassung im Altendorfe wieder aufbauten und erneut der Maria weihen ließen. Die gleiche Willkür bei der Verwertung seiner eigenen Beobachtungen muß man Meyer auch bezüglich der Situation von Hohenrode zum Vorwurf machen. Diese Siedlung soll „am Nord-abhange“ des Geiersberges gelegen haben 37). Dabei wußte Meyer ganz genau, daß der Flurname „das Hohenrode“ mit dem gelegentlichen urkundlichen Zusatze „bey der Steinen Warte“ am Südabhange eines vom Geiersberge durch ein Tal getrennten Berges haftet. Er wußte selbstverständlich, daß der steinerne Wartturm dort noch steht. Und er kann unmöglich übersehen haben, daß noch im 15. Jahrhundert „Wynwachs am Hohenrode“ bestand38). Weinberge legt man aber an Südhängen an, nicht an Nordhängen. Zur Überbrückung dieser Widersprüche genügt ihm der schlichte Hinweis, daß der Name des eingegangenen Dörfleins (Nordabhang des Geiersberges) am Südabhange des nächstfolgenden Berges erhalten geblieben sei. Eine derartige Wanderung von Flurnamen ist aber durchaus unglaubwürdig.

Nehmen wir nunmehr aber mit Sicherheit an, daß das Dorf Hohenrode nicht bei der Merwigslinde stand, so wird einmal die Etymologie Mer-, chen—Märje—Marie hinfällig, zum andern aber auch die Transplantation der Kirche von Hohenrode ins Altendorf, die ja einzig in dem Mariennamen ihre Stütze hatte. Es ist nach diesen Feststellungen ohne Belang, ob das Altendorf tatsächlich Zuzug aus Hohenrode (bei der steinernen Warte) erhalten hat oder nicht. Es würde aber aller Einsicht in die Verhältnisse des frühen 13. Jahrhunderts, in dem sich der Übergang der Macht aus den Händen der feudalen Reichsritter in die der bürgerlichen Geschlechter vollzog, widersprechen, wenn man annehmen wollte, daß jener Sybodo de antiqua villa der Urkunde von 1230 ein Neusiedlerbauer gewesen sei. Ganz gewiß war er, wie Silberborth hervorhebt35), ein „einflußreicher Bürger“, wobei dahingestellt bleiben mag, ob er wirklich Bürger der Stadt Nordhausen oder ein angesehener Einwohner des Altendorfes gewesen ist. In beiden Fällen muß er begütert gewesen sein, und sein Name deutet darauf hin, daß er es im Altendorf war. Das aber setzt eine längere Existenz des Herkunftsortes voraus40). Stellen wir jetzt erneut die Frage, wie das Altendorf zu seinem Namen gekommen ist und welcher „neuen“ Siedlung die Bezeichnung „antiqua illa“ gegenübergestellt wurde, so scheidet das „Neue Dorf“ nach den bisherigen Betrachtungen aus. Das Altendorf bestand längst, ehe sich die Vorstadtsiedlung „nova Villa“ bildete. Es gibt also nur eine mögliche Antwort: Es war die auf der Berghöhe neben dem castrum und der. impera-toria curtis Heinrichs I. entstehende „Villa Northusen“, die die zu ihren Füßen Vorgefundene, ältere Ansiedlung zum Unterschied von sich selbst mit „antiqua villa“ bezeichnete! Mit anderen Worten: das Altendorf existierte bereits, als Heinrichs Burg gebaut wurde. Damit ist das Hindernis, das Meyer mit seinem lapidaren Satze: „Das Altendorf kann als Anfang Nordhausens nicht in Betracht kommen“ der Frühgeschichtsforschung in den Weg legte, beseitigt, und uns steht es frei, diesen Weg weiter zu verfolgen.

V

Von dem Hangabsatz am Fuße des Geiersberges, auf dem das Altendorf steht, senkt sich das Gelände nach Westen zu weiter zum Flußbett der Zorge. Seit der Flußbettregulierung im vorigen Jahrhundert fließt die Zorge in etwa 300 m Entfernung parallel zur westlichen Stadtmauer. Diese Breite war vordem erfüllt von Rinnsalen und pfuhlähnlichen Teichen, zwischen denen kleine, buschbewachsene Inseln lagen. Durch Jahrtausende hindurch waren durch die Schneeschmelzen im Harz hier Schotter, Kies und Sand abgelagert worden41).

Am höchstgelegenen Rande dieses Ödlandes, dicht unter dem Berghang, auf dem sich die Stadtmauer hinzieht, leiteten die karolingischen Franken einen Mühlgraben entlang, der den Mühlen ihrer Niederlassung am Frauenberge das Wasser der Zorge in geregelter Menge zuführte42).

Zwischen dem Mühlgraben und der Zorge, aber dicht an das Altendorf angrenzend, liegt heutigentags ein Gebäudekomplex, der den Namen „Wie-digsburg“ trägt, über die Herkunft und Bedeutung dieser altüberlieferten Benennung (1484 Widdinborgk) läßt sich bei früheren Chronisten nichts finden. Erst Karl Meyer hat sich auch dieser Sache angenommen und zunächst 1887 der Vermutung Ausdruck gegeben43), daß ein Graf Witigo möglicherweise Erbauer und Bewohner dieser im Sumpf gelegenen „Widdigsburg“ (so mundartlich), zugleich aber Burggraf von Nordhausen und Gaugraf in einem Teile des Helmegaus gewesen sei. Im Jahre 1903 modifizierte er seine Ansicht dahin44), daß es sich bei der Wiedigsburg „unzweifelhaft um den Standort einer alten Sumpfburganlage handelt, deren Grundmauern sich z. T. auch in den umliegenden Gärten finden. Zweifelhaft aber ist es, ob der Name „Burg des Witigo“ oder „im Weidicht gelegene Burg“ bedeutet.“

Der Anachronismus einer ritterlichen Burg unterhalb der Mauern der Königsburg des 10. Jahrhunderts bedarf in Anbetracht der bereits erwähnten topographischen Verhältnisse überhaupt keiner Widerlegung. Die Meyersche Vorstellung einer Wasserburg aus Stein, mindestens auf steinernen Grundmauern, wie sie als wehrhafte Wohnsitze von Grundherren frühestens im 11. oder 12. Jahrhundert erbaut wurden45), ist aus historischen und lokalen Gründen hier unmöglich.

Dagegen läßt sich sehr wohl vermuten, daß es sich bei der Wiedigsburg um eine frühgeschichtliche Erdbefestigung gehandelt hat, die des besseren Schutzes wegen auf einer der oben erwähnten Flußinseln gelegen und mittels eines Steges vom Ufer aus erreichbar war. Von dem in solchem Gelände natürlichen Baumbestand, dem Weidicht, läßt sich dann der Name der Befestigung unschwer ableiten.

Wie bereits angedeutet, sind auf dem ursprünglich kiesigen, dann aufgeschütteten und seit langem bebauten Gelände sichtbare Spuren einer ehemaligen „Burg“ nicht mehr zu erwarten, ein materieller Beweis ihrer Existenz wird mithin unter keinen Umständen zu erbringen sein. Gehen wir nun aber von der Fiktion aus, daß der überlieferte Lokalname und der topographische Befund eine derartige Anlage rechtfertigen würden, so bleibt uns der Weg zu weiteren nutzbringenden Beobachtungen offen.

In oder am Wasser gelegene Erdwallburgen sind in unserer Landschaft und wohl auch sonst in Thüringen bisher nicht beobachtet worden. Sie gelten dagegen als typische Zufluchts-, Wohn- oder Vorratsplätze bei den frühgeschichtlichen slawischen Stämmen östlich der Elbe. Aus Berichten spanisch-arabischer Reisender des 8. bis 10. Jahrhunderts über jene Gebiete entnehmen wir, daß Sumpfland (Ried) und Wasser das Element der sich bergenden Wenden oder Sorben war, daß sie ihre „Burgen“ aus Erdwällen bildeten, die Brustwehren mit geflochtenem Reisig und Lehmputz verstärkten. Unsere Fiktion zwingt uns, nach Merkmalen zu suchen, die auf die Anwesenheit von Slawen an diesem Platze hindeuten.

Tatsächlich hat Förstemann schon 1827 den Spuren frühzeitlicher slawischer Bevölkerung im Umkreise der Stadt Nordhausen ein außergewöhnliches Interesse entgegengebracht46) und eine ganze Anzahl slawischer Ortschaften, teils auf Grund ihrer Namen, teils an Hand urkundlicher Hinweise in der Goldenen Aue festgestellt. Auch Karl Meyer und Silbferborth verschließen sich der historischen Tatsache einer Anwesenheit von Wenden im Helmegau keineswegs, doch hat nie jemand die Prüfung ihrer Spuren im Stadtgebiet selbst für wert erachtet, obschon es gerade Meyer war, der auf eine solche Spur traf.

Es handelt sich dabei um eine Straße, die den Namen „Grimmei“ führt und die in etwa 300 m Entfernung südlich der Wiedigsburg in annähernd westöstlicher Richtung verläuft. Sie hat in älterer Zeit, vermutlich als erhöhter Damm, das Schottergelähde und vermittels einiger Stege die Wasserrinnen der Zorge überquert und keine geringe Bedeutung gehabt. Nimmt sie doch ihren Ausgang von der Wassertreppe, die durch eine Pforte in der Stadtmauer direkt in die Burg und den Wirtschaftshof Heinrichs 1. mündete, und lag doch genau unterhalb der Burg an dem schon erwähnten Mühlgraben und knapp 50 m nördlich vom Grimmei die Kaisermühle, die das über den Grimmel herangefahrene Getreide für das castrum, die curtis regia und die Villa Northusen zu vermahlen hatte. Die ältesten Aufzeichnungen des Lehn- und Erbzinsbuches des Kreuzstifts zu Nordhausen aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts sprechen von Häusern „in deme Grimmule“ (andere Quellen schreiben „in me Grimyle“, „in me Grymil“, Grymol, Grymmel usw.), die Kaisermühle wird „molendinum retro curiam Cesaris“ oder „molendinum ante portam aquarum“ genannt, auf deutsch also die „Mühle hinter dem Kaiserhof“ oder „vor der Wasserpforte“.

In Kenntnis aller dieser Einzelheiten schreibt nun Karl Meyer 188 7 47): „Zu der Königsburg gehörte die unter ihr liegende „Kaisermühle“, welche früher den Namen „Grimmühle, Burgmühle“ trug und 1334 „molendina (sic) in Northusen situm retro curiam Caesaris“ genannt wird.“ 1903 sagt er ferner48): „Diese Ansiedlung (d. h. der Grimmel) ist nach der Grim-Mühle oder Kaisermühle genannt, welche früher vorhanden gewesen ist, als die neben ihr entstandene Vorstadt.“ Und weiter: „Der Name Grimmühle ist der ältere Name der Kaisermühle und wird „die auf dem Kiese liegende Mühle“ bezeichnen. Grim ist der wendische Name für Kies; Wenden waren von den sächsischen Kaisern im 10. Jahrhundert in mehreren Ortschaften der Nachbarschaft: Othstedt, Windehausen, Bielen, Libiz, Bechersdorf, Steinbrücken, Nenzelsrode und Ascherswenden — und möglicherweise auch vereinzelt in oder vor Nordhausen — angesiedelt worden.“

Es geht natürlich nicht an, den an sich richtig als ortsfremd erkannten Namen „Grimmel“ im gleichen Atemzuge als altnordische Kenning für „Burg“ und als slawisches Wort für „Kies“ zu deuten. Meyer war aber so befangen von der Ansicht, daß in den alten Formen „Grimmule“, „Grim-myle“ und „Grimmol“ das Wort „Mühle“ enthalten sei, daß ihm die übrig-bleibende Silbe „Grim“ von untergeordneter Bedeutung gewesen sein muß. So kommt es, daß dann Otto Riemenschneider auf der Meyerschen Basis weiter fabuliert49): „Denn „Grim“ bedeutet Helm, in übertragenem Sinne „Burg“. Und der alte Name der heutigen Kaisermühle ist ja Grimm-Mühle, zu der der Grimmel führt. Über der Grimm-Mühle aber lag die „Grim“, d. h. die Burg . . .“

Es bleibt unerfindlich, aus welchem dunklen Triebe heraus die Bewohner dieser Landschaft eine Burg mit einem allenfalls in der nordischen Skaldenpoesie vorkommenden Namen hätten bezeichnen sollen. Noch seltsamer ist es, daß nicht die Burg selbst in den Genuß des Namens gekommen sein soll, sondern nur die zu ihren Füßen liegende Mühle! — Mit seinem zweiten Erklärungsversuch, daß „Crim“ der wendische Name für Kies sei, ist Meyer erheblich glücklicher gewesen. In einer Reihe von slawischen Sprachen finden wir für Kies, Kiesel die Worte „kremenj“, „kremik“ oder „kremjel“, und das letztgenannte, noch heute im Obersorbischen gebräuchliche weist sogar die „el“-Endung auf, derentwegen unser Grimmel bislang nur halb erklärbar erschien. Samt und sonders tragen diese Wörter nur einen Hauptton auf der ersten Silbe, und so müssen wir uns auch die urkundlich geschriebenen Namen „Grimmuie“, „Grimyle“, „Grimmol“ usw. gesprochen denken. Die Endungs-„e“ bezeichnen Dative nach „in deme“ oder „in me“, bzw. slawische Lokative.

Wir haben also in dem Namen „Grimmei“ (die Nordhäuser Mundart kennt kaum einen Unterschied zwischen anlautendem „g“ und „k“, deshalb wird der Ortsfremde anstatt „grimmel“ sicher „krimmel“ wie auch statt „Karl“ „Garrel“ hören) ein einheitliches Wortgebilde slawischen Ursprungs vor uns, das einen „auf dem Kiese“ liegenden Weg oder Wohnplatz bezeichnet. Auf keinen Fall steckt darin das deutsche Wort Mühle, wie Meyer annimmt, und seine darauf bezüglichen Schlußfolgerungen müssen abgelehnt werden.

Halten wir nun noch fest, daß eine etwa 450 m südöstlich parallel zum Grimmel liegende Straße seit alters die Bezeichnung „auf dem Sande“ trägt, so dürfte kein Zweifel mehr bestehen, daß slawisch sprechende Menschen die Namengeber des Grimmeis waren und demzufolge hier ansässig gewesen sein müssen.

Karl Meyer hat diese Möglichkeit flüchtig erschaut und zum Ausdruck gebracht, über einen allgemeinen Hinweis auf die angeblich von sächsischen Kaisern während des 10. Jahrhunderts im Helmegau angesiedelten Wenden ist er aber nicht hinausgegangen. Er befand sich mit dieser Einstellung durchaus in Übereinstimmung mit der damaligen Hypothese von den Slawensiedlungen in Thüringen, wie sie in vielfältiger Ausgestaltung seit dem letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts von Größler, Stechele, Schottin, Schlüter, Waehler u. a. entwickelt worden war. Dieser Hypothese zufolge wurde die Existenz slawischer Siedlungen in Thüringen Zu einem geringen Teil auf „eroberndes Vordringen“ im 7. Jahrhundert, zu einem größeren Teil auf „friedliche, aber unfreiwillige Ansetzung“ im 10. Jahrhundert zurückgeführt. Da nun für eine kriegerische Offensive der Slawen, zumal bis nach Mittelthüringen hinein, keine Belege erbracht werden konnten, gewann die Anschauung von der gewaltsamen Ansiedlung wendischer oder sorbischer Kriegsgefangener als Arbeitssklaven deutscher Grundherren bequeme Anerkennung.

Es erscheint nachgerade unabweislich, das urkundlich erwiesene Vorhandensein wendischer Dörfer im Helmegau und die durch unsere bisherigen Ausführungen wahrscheinlich gemachte Anwesenheit von Slawen auf Nordhäuser Boden in Beziehung zur allgemeinen Landesgeschichte zu setzen und also diese in den Kreis unserer Betrachtungen zu ziehen.

VI

Die Landschaft, in der Nordhausen liegt, gehört zu dem Siedlungsgebiet, das im Norden und Süden von den Gebirgen des Harzes und Thüringer Waldes, im Osten und Westen von den Flüssen Saale und Werra begrenzt wird. Sie ist also Teil des politischen Gebildes, das sich gegen Ende der Völkerwanderungen innerhalb dieser Grenzen unter dem Namen eines thüringischen Königreiches bildete.

Die dominierenden Bestandteile der Bevölkerung dieses Gebiets waren Zu Beginn des 6. Jahrhunderts Sweben, Angeln und Warnen, die auf der Wanderung aus nord- und nordostdeutschen Gegenden in diesem noch dünn besiedelten Raume eine neue Existenz als Ackerbauer, Vieh- und Pferdezüchter fanden. Uns sind die Namen einiger Könige überliefert, von denen der letzte, Herminafried, mit einer Nichte des Ostgoten Theoderich verheiratet war. Durch die Allianz mit den Ostgoten geriet Thüringen in Gegensatz zu den fränkischen Merowingern und wurde bald nach Theode-richs Tode ein Opfer der fränkischen Expansion (531).

Gegen Ende des 6. Jahrhunderts war die Inbesitznahme vollendet, Thüringen war tributäre Provinz des fränkischen Reiches. Mit dem Schlußakt ihrer Eroberung, der Unterwerfung und Vernichtung des letzten selbständigen thüringischen Stammes der Warnen (Wariner) im Jahre 595, der seine Wohnsitze an der östlichsten Landesgrenze, der Saale, hatte, verursachten die Merowinger hier ein Vakuum an bodenständiger Bevölkerung, das denn auch nicht verfehlte, seine saugende Wirkung auf das angrenzende Gebiet östlich der Elbe auszuüben. In diesem Ostland wohnten seit der Abwanderung germanischer Stämme Slawen, die ihrerseits von dem asiatischen Volke der Awaren auf seinem Westzuge überrannt und bis an die Elbeufer gedrückt worden waren. Zwar waren die Awaren schon 566 nach Pannonien abgeschwenkt, doch erschienen Abteilungen von ihnen Jahr für Jahr wieder, um bei den Slawen zu überwintern, Tribute zu erheben und sich ihrer Weiber und Töchter anzunehmen. Ja, sie gliederten die wehrhaften Männer der slawischen Stämme ihrer Streitmacht ein und ließen sie für sich kämpfen.

Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, daß sich die beherztesten unter diesen ausgebeuteten und mißhandelten Menschen ihren Bedrückern entzogen, indem sie zunächst in das Land zwischen Elbe und Saale und noch größerer Sicherheit halber auch über die Saale hinweg in das durch die Franken entvölkerte thüringische Gebiet einzogen. Wir haben es also bei den ersten slawischen Ansiedlern auf thüringischem Boden keinesfalls mit Eroberern zu tun, vielmehr mit Emigranten, die unerträglicher Schande entflohen und sich selbstverständlich ohne Vorbehalt den Gesetzen der neuen Heimat unterwarfen.

Diese Einsicht in die historischen Zustände an der thüringisch-slawischen Grenze um die Wende vom 6. zum 7. Jahrhundert ergibt sich bei unvoreingenommener Betrachtung der einzigen Geschichtsquelle dieser Epoche, des „Chronicon“ des sog- Fredegar, der im 7. Jahrhundert lebte und schrieb. Nur die militante Denkweise einer vergangenen Ära hat hier ein „eroberndes Vordringen bis an die Saale“50) oder ein „siegreiches Vordringen in die Grenzstriche Thüringens“51) behaupten können.

Im Jahre 623 erhoben sich, wie Fredegar berichtet52), die slawischen Stämme gegen ihre Herren und Unterdrücker, und es gelang ihnen, ihre Freiheit vom awarischen Joch zu erringen. Daß es zu diesem Aufstande kam, führt Fredegar auf die jüngere Generation der Slawen zurück, deren awarische Väter ihr einen wilderen, draufgängerischen Charakter vererbt hatten. Ausschlaggebend für das Gelingen des Befreiungskampfes dürfte aber ein Mann gewesen sein, den uns Fredegar unter dem Namen „Samo“ überliefert hat.

Dieser Samo war ein fränkischer Kaufmann aus dem senonischen Gau (südöstlich von Paris) und trieb Handel mit den Slawen, die man „Wini-der“ (Wenden) nannte. Als er mit anderen Kaufleuten 623 — vermutlich nicht zum ersten Male — in das Wendenland kam, geriet er in die Kämpfe gegen die Awaren, schloß sich den wendischen Kämpfern an und zeichnete sich durch Tapferkeit und Klugheit derart aus, daß ihn die Slawen zu ihrem Könige wählten. Er verblieb fortan im Lande, hatte, wie der Chronist sagt, zwölf wendische Weiber, mit denen er 25 Söhne.und 15 Töchter zeugte, und herrschte 35 Jahre lang glücklich.

Uber die Ausdehnung von Samos „Slawenreich“ können wegen des Fehlens aller Überlieferungen nur Vermutungen bestehen. Als westliche Grenze kann mit Bestimmtheit die Saale angenommen werden, im Osten wird es das wendisch-sorbische Siedlungsgebiet an der Spree umfaßt haben. Die polabisch-sorbische Sprachgrenze, die von der Mündung der Saale bis Fürstenberg an der Oder nachgewiesen worden ist53), dürfte die nördliche Begrenzung darstellen, dagegen ist es völlig ungewiß, ob Samos Herrschaftsbereich im Süden über das Erzgebirge hinausging. Der tschechischerseits ausgesprochenen Vermutung, daß Böhmen überhaupt das Kernland von Samos Reich gewesen sei, steht entgegen, daß weder der älteste böhmische Chronist Cosmas (f 1125), noch die tschechische Volkssage die geringste Andeutung über diesen Mann oder die von Fredegar berichteten Zeitereignisse machen54).

Immerhin muß dieses Slawenreich durch die Art seiner Entstehung, durch den Zusammenschluß vieler, bis dahin machtloser Stämme und nicht zuletzt durch die Persönlichkeit seines Organisators und Herrschers einen tiefen Eindruck auf Freund und Feind gemacht haben. Wenn 630 der Herzog der Sorben, die bereits im Untertanenverhältnis zu den Merowingern gestanden hatten, sich freiwillig, wenn auch nach dem Siege Samos über die Franken, dessen Reich anschloß, so ist das nur ein Beweis für die eigentümliche Anziehungskraft, die dieser Franke auf „seine“ Slawen ausübte.

Im übrigen scheint der Slawenkönig Samo als solcher auch von den Merowingern anerkannt worden zu sein, denn 630 kam es zu einem „Zerwürfnis“ zwischen beiden. Einige fränkische Kaufleute waren im Wendenlande erschlagen und beraubt worden, und der Frankenkönig Dagobert forderte von Samo Wiedergutmachung. Dieser lehnte die Forderung in der ihm von einem Gesandten vorgebrachten Form ab und schlug vor, dergleichen Differenzen, die im Handelsverkehr wohl zuweüen vorkamen, durch paritätisches Gerichtsverfahren zu schlichten. Man darf annehmen, daß der ehemalige fränkische Kaufmann, der auf mühsamen und gefahrvollen Fahrten seine Güter von Volk zu Volk gebracht hatte, die Mentalität und das Rechtsempfinden beider Stämme, des fränkischen wie des wendischen, richtiger beurteilte, als der „von Göttern abstammende“ Merowinger. Dagobert antwortete mit einem gewaltigen Heer, das aus ganz Austrasien gegen Samos Reich aufbrach und das noch durch alemannische und lango-bardische Kontingente verstärkt war. Das Ergebnis des Feldzuges war eine vernichtende Niederlage der Franken vor der Wogastisburg durch das dort versammelte Heer Samos.

Die Abneigung der thüringischen und der gesamten austrasischen Bevölkerung einschließlich des Adels gegen die merowingisehe Herrschaft und ihre Unlust, für dieses Reich zu kämpfen, vereitelte eine Revancheaktion Dagoberts. Aber auch Samo dachte nicht daran, nach dem Erfolge von Wogastisburg durch einen Einmarsch nach Thüringen billige Lorbeeren für sich und Land für seine Slawen zu gewinnen. Wohl sind zu wiederholten Malen wendisch-sorbische Scharen hier eingefallen, um sich durch Plünderungen für erlittene Verluste zu entschädigen oder auch, um die Franken von der Wiederholung eines Einfalles in das slawische Gebiet abzuschrecken. Von einer Besetzung oder gar Besiedlung Thüringens aber kann auch für diesen Zeitabschnitt nicht gesprochen werden.

Dagobert übertrug 632 seinem jugendlichen Sohne Sigibert das Königtum von Austrien und damit die Verantwortung für die merowingisehe Politik im östlichen Frankenreiche. Dieser bestellte im folgenden Jahre Radulf zum Herzog von Thüringen mit der besonderen Mission, die Wenden in Schach zu halten. Und nun geschieht das Eigenartige: Radulf kämpft zunächst zu wiederholten Malen gegen die Wenden und drängt ihre Scharen über die Saale zurück. Im siebenten Jahre seines Herzogtums aber, empört er sich gegen Sigibert und schlägt das zu seiner Bestrafung ausgesandte fränkische Heer 640 an der Unstrut. Dem besiegten Könige und seinem Heere gewährt er freien Abzug. Fortan gebärdet er sich, wie Fredegar es ausdrückt, als König in Thüringen, schließt Freundschaft mit den Wenden (amicicias cum Winidis firmans) und knüpft auch mit den übrigen benachbarten Völkern ein Vertragsverhältnis an. Dem Namen nach erkennt er zwar Sigiberts Oberherrlichkeit an, in der Tat widersetzt er sich allem Einfluß der Merowinger55).

Die Ähnlichkeit der beiden Empörungen, nämlich Samos und Radulfs, ist bemerkenswert. Der Herkunft nach war Samo Neustrier, Radulf wahrscheinlich Thüringer, beide waren fränkische Untertanen56). Wesentlich für uns ist die markante Übereinstimmung beider Männer im Hinblick auf diePolitik derBefriedung der von ihnen geleiteten Völker. War inSamo dia Maxime des einstigen Kaufmannes, daß Friede ernährt, Unfriede verzehrt, so fest verankert, daß er sie als herrschender Staatsmann zu einer Höhe politischer Weisheit und sozialer Gerechtigkeit entwickeln konnte, wie sie ein mißhandeltes Volk noch nicht erlebt hatte, so mußte sein Erfolg, ohne Militarisierung einen machtvollen Staat geschaffen zu haben, von faszinierender Wirkung auf den kongenialen Charakter eines Radulf sein.

Das Freundschaftsbündnis, von dem Fredegar berichtet, war demzufolge kein bloß formales, sondern es beruhte unzweifelhaft auf einer echten Freundschaft zwischen Samo und Radulf. Seine erste außenpolitische j Folge war, daß keine fremde Macht jener Zeit Verlangen danach trug, den Staatskomplex beider Länder anzutasten. Das aber war die Voraussetzung zu dem eigentlichen Friedenswerk im Innern, das darin bestand, Thüringen mit wendischen Kolonisten zu besiedeln. Durch diese reale Verbindung beider Völker wurde gegenseitigem Mißtrauen der Boden entzogen, und es \ wurde die Spannung beseitigt, die sich aus einer Übervölkerung des Sla- i wenreiches und der voraufgegangenen Dezimierung der Bewohner Thüringens ergab.

Unter diesem Gesichtspunkt dürfte nun auch die Existenz und der Ursprung j der zahlreichen Slawenplätze, die unsere Siedlungs-, Wüstungs- und Ortsnamenforschung bis weit hinein nach Westthüringen festgestellt hat, verständlich werden. Es gilt nur zu unterscheiden zwischen den Tatsachen, die diese Forschung methodisch aus archivalischen Quellen, aus Überbleibseln slawischen Sprachgutes und aus archäologischen Funden gewonnen hat, und der Deutung aller dieser Beweismittel und ihrer Eingliederung in bestimmte Systeme geschichtlicher Auffassung.

Wenn 630 der erste kriegerische Zusammenstoß zwischen Franken und Wenden auf ostelbischem Boden erfolgt, wenn von 633 bis 640 Radulf Thüringen erfolgreich gegen slawische Einfälle schützt und von dieser Zeit an im Bündnis mit den Slawen steht, so ist es unbegreiflich, wie namhafte Historiker die Anlage slawischer Dörfer in Thüringen als Folge „siegreichen Vordringens“ ansehen können. Nichts weist auf kriegerische Okkupation hin. Weder finden sich hier slawische Burgwälle, wie sie in dieser Zeit östlich der Elbe üblich sind, noch sind irgendwelche Anzeichen dafür vorhanden, daß sich unter den wendisch-sorbischen Bewohnern Thüringens eine führende Herren- oder Adelsschicht befunden hat.

Ebenso unwahrscheinlich ist aber auch die Erklärung, die über das ganze Land sich erstreckenden slawischen Niederlassungen seien von Kriegsgefangenen gegründet oder bewohnt gewesen. Dieser sogenannten „unfreiwilligen“ Besiedlung steht einmal entgegen, daß bei den Grenzkämpfen die Radulf geführt hat, unmöglich eine solche Masse von Gefangenen gemacht werden konnte. Zum andern haben wir urkundliche Beweise, da£ mit freien, wendischen Bauern auf thüringischem Boden in gleicher Weis« Rechtsverträge geschlossen oder Steuern von ihnen erhoben wurden, wi< es bei deutschen geschah. Und daß man in slawischen Gräbern gelegentlich Beigaben orientalischen Schmuckes gefunden hat, läßt wohl den Schluß zu daß diese Menschen ihre Habe in Frieden aus der Heimat mitgebrach oder daß sie dergleichen Kostbarkeiten dank eines freizügig erlangtet Wohlstandes hier von reisenden Händlern erworben haben.

Daß die Urkunden, die über die rechtliche Stellung der thüringischen Sla wen Aufschluß geben57), nicht aus der hier behandelten Zeit, sondern ers aus dem 8. bis 13. Jahrhundert stammen, macht sie für unsere Darstellunnicht wertlos. Im Gegenteil! Wenn noch in und nach der karolingischen Epoche, die ja durch ihre gewaltsame Ostexpansion das durch Samo und Radulf angebahnte Friedensprojekt zunichte machte, den Gerechtsamen der thüringischen Slawen volle Anerkennung zuteil wurde, so geht daraus hervor, daß es sich doch um seit längerer Zeit Eingesessene handelte.

Aber auch die Meinung, daß beispielsweise die im nördlichen und westlichen Thüringen liegenden Slawenplätze von sächsischen „Grundherren“ angelegt worden seien, muß abgelehnt werden. Ihr widerspricht einmal die Tatsache, daß sich unter den an sich spärlichen Bodenfunden doch auch hier (beispielsweise in Hohenrode bei Sangerhausen) slawische Erzeugnisse der Frühzeit befinden, zum anderen, daß Kriegsgefangene oder Knechte kaum die Gelegenheit oder das Recht gehabt haben dürften, den ihnen angewiesenen Wohnplätzen slawische Namen zu geben oder in eigenen Gemeinden unter ihresgleichen zu leben. Auf die zahlreichen Slawendörfer mit deutschen Namen wird noch zurückzukommen sein. Hier mag im Hinblick auf die Entstehungszeit nur der Ort Windehausen in der Goldenen Aue genannt werden. Nach der auch heute noch anerkannten Klassifizierung von Schlüter gehören die Ortsnamen auf -hausen der bi; 800 dauernden fränkischen Siedlungsperiode an. Es dürfte mithin außer Zweifel stehen, daß die Wenden dieses Ortes, der zudem in seinem Vesperbild aus dem 14. Jahrhundert mit dem slawischen Namen „Pomai Bog“ eine auffällige Tradition bewahrt, eben schon vor dem Ende des 8. Jahrhunderts hier ansässig gewesen sind.

Ist also nach den vorstehenden Ausführungen sowohl eine kriegerische Inbesitznahme als auch eine Ansetzung von Gefangenen in der bisher behaupteten Art zu verneinen, so bleibt an Hand aller durch die Forschung ermittelten Tatsachen nur die von Samo und Radulf erdachte und gelenkte Besiedlung Thüringens mit wendisch-sorbischen Familien denkbar. Sie dürfte bald nach 640 begonnen und kaum das Ende des Jahrhunderts überdauert haben.

Im Schutze eines allgemeinen Landfriedens, so müssen wir vermuten, zogen die landsuchenden Wenden und Sorben von der Saale aus gen Westen. Sie benutzten die Verkehrspfade, die sich in den Niederungen der Wasserläufe hinzogen und schlugen ihre Zelte oder Hütten da auf, wo ihnen die Natur eine bescheidene Existenz als Fischer oder Jäger, als Landbauer oder Imker verhieß, und wo sie zugleich des Güteraustausches mit der einheimischen Bevölkerung sicher sein konnten. Wassernähe und Fischereimöglichkeit scheinen die größte Anziehungskraft auf diese Landnehmer ausgeübt zu haben, wie die Lage ihrer Wohnungen beweist. Unter den Bodenfunden slawischer Herkunft finden sich wiederholt Fischereigeräte und Schlittschuhe aus Tierknochen. Aber auch am Roden des Waldes sind sie beteiligt gewesen, wie gelegentlich slawische Flurnamen oder Wohnstätten im Rodungsgelände belegen58) 5S).

Über die soziologische und kulturelle Struktur dieser Einwanderer läßt sich aus der materiellen Hinterlassenschaft und der sprachlichen Uberlieferung nicht allzuviel entnehmen. Daß sich unter ihnen keine herrschende Kaste befand, wurde bereits vermerkt. In ihren zunächst von den Thüringern getrennt angelegten Siedlungen werden sie den Weisungen ihrer Starosten gefolgt sein, die ihrerseits auf Einhaltung der Gesetze der Landesobrigkeit und auf Erfüllung des Landfriedens zu achten hatten. Man kann annehmen, daß gemeinsame Volksversammlungen abgehalten wurden, die der Annäherung beider Volksteile nach dem Willen Samos und Ra-dulfs dienten. Auch die Einführung des Christentums wird eine ausgleichende Wirkung insofern gehabt haben, als neben den gemeinschaftlichen Wirtschaftsinteressen und dem einheitlichen Recht nun auch eine geistig-seelische Übereinstimmung sich anbahnte60).

Daß bei all diesen Vorgängen ein wahrhaft paritätisches Verfahren waltete, ergibt sich sowohl aus dem Fortbestand der wendischen Sprache, als auch aus der Benennung der Plätze, die die slawischen Ankömmlinge bezogen. Wir müssen uns vor Augen halten, daß unter der durchweg bäuerlichen Bevölkerung Thüringens, die noch dazu durch die geschichtlichen Ereignisse oft genug geduckt worden war, absolut keine Ursache für eine Überheblichkeit den Wenden gegenüber vorlag. Eher mögen hier die vielleicht durch die Phantasie ausgeschmückten Berichte über das Leben in der slawischen Heimat, über die grimmigen Awaren und über den Mann, der Wenden wie Thüringern den Frieden brachte, Eindruck gemacht haben. Wurde doch die Glaubhaftigkeit solcher Erzählungen durch die Maßnahmen des eigenen Herzogs bestätigt.

Wenn sich daher slawische Siedlungen mit slawischen Ortsnamen im östlichen Thüringen gehäuft, im Westen progressiv immer seltener nachwei-sen lassen, so erklärt sich dieser Befund dadurch, daß infolge der Dezimierung der Warnen das thüringische Element in den Grenzstrichen sprachlich den Einwanderern kaum die Waage hielt, daß diese sich aber beispielsweise in der Erfurter, Mühlhäuser und Eisenacher Gegend, wo sie sich doch auch in beachtlicher Zahl niederließen, selbstverständlich dem Übergewicht der herrschenden Sprache anpassen mußten. Irgendwelchen nationalistischen Wettstreit um das Vorrecht bei der Ortsnamengebung dürfen wir auf keinen Fall annehmen. Die „feste, deutsch-slawische Symbiose“, die R. Traut-manri hinsichtlich der Bildung von Ortsnamen im Elb- und Ostseeslawischen Gebiet im 10. bis 13. Jahrhundert mit guten Gründen herausstellt61), wirkt sich in Thüringen bereits während der Ära Samos und Radulfs aus.

Aus der geringen Anzahl erhaltener oder überlieferter slawischer Ortsnamen im mittleren und westlichen Thüringen darf also ohne Beiziehung anderer historischer Hilfsmittel nicht auf den Umfang oder die westlichste Ausdehnung einstiger slawischer Besiedlung geschlossen werden. Man braucht sich nur vorzustellen, zu welch anderen Ergebnissen die „reine" Ortsnamenforschung gelangt wäre, wenn sie beispielsweise des Korrelats der Hersfelder Breviarien hätte entbehren müssen02).

Ebensowenig sollte natürlich auch die Bodenforschung aus ihren Funden allein bündige Beweise für einstige „Grenzen“ oder für den sozialen und kulturellen Status erbringen wollen. Wenn A. Götze63) von den Slawen in Thüringen sagt: „Ihre ärmliche Hinterlassenschaft steht in schreiendem Gegensatz zu den prunkvollen Beigaben der merowingischen Gräber. Gelegentlich mögen sie ja in den Besitz gewisser Schmuckstücke ihrer reichen Herren gekommen sein, und dann fragt sich zuweilen der Prähistoriker zweifelnd, ob er ein armes Merowingergrab oder einmal ein reiches Slawengrab vor sich hat“, so ist ganz offensichtlich, daß er sich entweder über die Ursachen der vor ihm liegenden Tatsachen kaum Gedanken gemacht hat oder aber ad maiorem patriae gloriam zum Sprachrohr unwissenschaftlicher Überheblichkeit wurde. Jedenfalls ist ein Vergleich von Grabbeigaben slawischer Kolonisten mit denen merowingischer Adeliger genau so abwegig, wie etwa der zwischen dem Besitzstände deutscher Auswanderer nach Brasilien und dortiger Hacienderos.

Auch wenn Paul Grimm in der slawischen Keramik von Hohenrode, von dessen älterer Siedlung ohnehin nur „ein ganz geringer Teil“ ausgegraben wurde64), den Beweis erblicken will, „daß die Slawen hier nicht allein angesetzt sind (was in Anbetracht der deutschen Funde niemand behaupten wird), sondern lediglich als Hörige zur Unterstützung der persönlich freien Neusiedler“65), so zeugt das von starker, wahrscheinlich zeitbedingter Voreingenommenheit. Die berechtigte Annahme, daß diese Rodesiedlung von persönlich freien Bauern angelegt worden ist, schließt weder die Möglichkeit einer gleichen persönlichen Freiheit der slawischen Mitglieder der Siedlung, noch eine wirtschaftliche Leistungspflicht an einen Grundherrn für Deutsche wie Slawen aus66).

Zuletzt hat (vor.fast 30 Jahren) Christoph Albrecht das Gesamtproblem der „Slawen in Thüringen“ behandelt67) und dabei neben der wesentlich archäologischen Beweisführung auch archivalische und sprachliche Quellen ausgiebig berücksichtigt. Er kommt zu dem Ergebnis, daß die slawischen Siedlungen südlich der Unstrut auf Veranlassung Radulfs im 7. Jahrhundert entstanden sind und räumt auch ein: es sei „kein Grund vorhanden, die Entstehung der Gründungen (im westlichen Thüringen) den Slawen abzusprechen, trotzdem die Orte (nach der bisherigen Ansicht) zu weit westlich liegen66). Das ist ein sehr beachtlicher Fortschritt gegenüber den bis dahin herrschenden Theorien. Dennoch hat sich auch Albrecht von dem alten Dualismus noch nicht freimachen können. So verweist er die ihm von der Tradition überkommenen „Kriegsgefangenen-Siedlun-gen“, für die er südlich der Unstrut keine Beweise finden kann, eben in das Gebiet nördlich der Unstrut, wo er sich in Anbetracht der spärlichen Funde 66a) ohnehin nicht auf festem Boden fühlt, (Paul Grimms Material über Hohenrode wurde ja erst 1939 veröffentlicht!) und, in Widerspruch mit sich selbst, in das westliche Thüringen.

VII

Nach diesem Exkurs in die allgemeinen Vorgänge des 7. Jahrhunderts in Thüringen kehren wir in sein nördliches Randgebiet und die Heimat der Merwigslindensage zurück. Hat sich die Ansiedlung von Wenden in Thürringen unter den im vorigen Abschnitt geschilderten Umständen vollzogen, so ist auch das Flußgebiet der Helme mit seinem Hinterland von den Einwanderern nicht übersehen worden. Der Weg unstrutaufwärts führte bei Ritteburg verheißungsvoll in das riedreiche, Wenden und Sorben also höchst willkommene Gebiet zwischen Südharz einerseits und Kyffhäuser und Windleite andererseits. Auf die bereits von Förstemann, später von Meyer u. a. bis auf Albrecht und Grimm genannten, hier befindlichen Slawenplätze ist schon hingewiesen worden. Neben den vonAlbrecht kartographisch aufgenommenen Wüstungen (W) oder Dörfern: W Alt-Wenden, W Nausitz, Sittendorf, Rosperwenden, W Lindeschu, W Tütche-wenden, W Ascherwenden, Windehausen und Steinbrücken gibt es aber eine weitere Anzahl, deren einstiger Status als Slawensiedlung nicht bezweifelt werden kann. Da ist Nenzelsrode (1133 Nanzenrad)69), das als Slawenort dem Stift Jechaburg geschenkt wird, und Petersdorf (1128 Bethersdorph)70), das den Slawenzehnt entrichtet, da sind Berga, in dessen nächster Umgebung Virchow 1872 die ausgegrabenen Reste einer Fischersiedlung untersuchte, Bielen und Windisehen-Breitungen71), deren Namen eindeutig auf slawischen Ursprung hinweisen. Ethnographisch lassen Görsbach, Leimbach, Buchholz, Sülzhayn und Branderode wendischen Einschlag erkennen72); für letztgenannten Ort weist Waehler eine „win-dische Tür“ an der St. Annenkirche nach73). Wendische Kirchtüren sind in Kleinfurra und Trebra bekannt. Entgegen der Behauptung von Friedrich Schmidt74), daß im oberen Helmegau keine slawischen Ortsnamen auße. Groß- und Klein-Wenden und keinerlei Flur- und Bachnamen sla'wischen Ursprungs Vorkommen75), muß doch beispw. auf die „Windlücke“ zwischen Petersdorf und Steigerthal und die gleiche Flurbezeichnung bei Stempeda76), weiter auf die Orte Kraja, Thalwenden (1055 „in Dalewini-thun decem mansos schlavonicos dimidios)77), Worbis und „Wyndischen Luttera“ (1318)78) hingewiesen werden. Nach dem Zeugnis von Bohne und Lesser79) gab es bei dem Dorfe Krimderode einen Bach mit dem Namen „Grimme“. Er ist längst versiegt, es kann aber als gewiß angenommert werden, daß von ihm der Ortsname, mundartlich: Krimmederode, abgeleitet worden ist und nicht von dem mythischen Personennamen Kriem-hild, wie es -die heldenverehrenden Etymologen früherer Zeiten wollen.

Erhellt aus diesen Beispielen schon zur Genüge, daß die slawische Kolonisation sich in Nordthüringen keineswegs auf das Helmeried beschränkt hat, sondern weit über Nordhausen hinaus nach Westen gegangen ist, erscheint es weiterhin absurd anzunehmen, daß ausgerechnet der gegen Osten und Nordosten durch Höhen geschützte Platz an der Zorge zwischen Grimmei und Wiedigsburg von den Einwandernden übergangen worden wäre, so erweist sich der Flußname „Zorge“ selbst als unwidersprechlicher Beleg für die Anwesenheit von Wenden an dieser Stelle.

Urkundlich erscheint der Name erstmalig im Jahre 927 in der Form „Zurrega“80). Die lokale Aussprache des Wortes lautet „zorje“, die Einwohner des an der Quelle des Baches liegenden Ortes Zorge sprechen den Namen wie „zerje“ aus81). Bereits 1888 hat der in Nordhausen gebürtige Dr. Martin Schultze, der ein vielseitiger Linguist und durch langjährige Tätigkeit im deutschen Osten und auf dem Balkan ein zuverlässiger Kenner slawischer Dialekte war, die Etymologie des Wortes „Zorge“ untersucht82). Er hat dabei den Namen auf altslawisches „zorja“ bzw. wendisches „zerja“ mit der Bedeutung „Glanz, Helligkeit, Schimmer“ zurückgeführt und dargetan, wie die Formen „zorje/zerje“ durch den alltäglichen Gebrauch in Verbindung mit Präpositionen (in, auf, an usw.) sich eingebürgert haben. Wir haben es also bei dem urkundlichen „Zurrega“ (phonetisch: zurreja) mit der Nominativform, bei dem heutigen Zorge (phonetisch: zorje/zerje) mit der Lokativform zu tun.

Nun findet sich in späteren Urkunden, die sich auf den Ort Nordhausen beziehen, auch der Name „Zurgenga“ und „Zcorgenge“83) als Bezeichnung eines Wasserlaufes. Karl Meyer hat diese Formen als Entwicklungsetappen von Zurrega zu Zorge hingenommen, obwohl E. G. Förstemann schon bemerkt hat, „daß der kleine Fluß Zorge, namentlich der von dies-seit Crimderode bis gegen Bielen durch Nordhausen geleitete Kanal (d. h. der Mühlgraben), in alten Urkunden unter dem Namen Zorgenge (Zorg-enga) vorkömmt“84). Intuitiv mag er hier den Ausdruck „der kleine Fluß Zorge“ gebraucht haben, deutlich ist aber, daß er unter „Zorgenge“ den Mühlgraben versteht.

In der Tat handelt es sich hier bei den an das Wort Zorge angehängten Endungen ,,-enga/-enge“ um Diminutiv-Suffixe, wie sie in slawischen Sprachen gebraucht werden, um einem Begriff eine liebevolle, zärtliche Note zu geben. Die phonetisch richtige Bildung „zorjenjka“ bedeutet also „liebe, kleine Zorge“ und wird sich ursprünglich auf das den menschlichen Behausungen am nächsten gelegene Rinnsal des geteilten Flußbettes, nach Fassung dieses Rinnsals in einen Mühlgraben aber auf diesen bezogen haben.

Wenn also die vorstehende Etymologie von „zurreja/zorje/zerje“ noch nicht beweiskräftig für eine Niederlassung von Slawen im Weichbilde der Stadt Nordhausen ist, da diese Erklärung auch für den Oberlauf der Zorge Geltung besitzt, so dürfte die diminutive Form „zorjenjka“, die sich allein auf den Nordhäuser Mühlgraben bezieht, keinem weiteren Zweifel Raum lassen.

Der von der Siedlungsforschung immer wieder beobachtete Umstand, daß die slawischen Niederlassungen sich gern an vorhandene deutsche Plätze anschließen, dergestalt, daß sie in einigen hundert Metern Abstand von ihnen und möglichst in Wassernähe zu liegen kommen, trifft auch in unserem Falle zu. Wieder dürfte uns die Fiktion, daß es so gewesen ist, helfen, Ordnung und Sinn in das vorhandene Anschauungsmaterial zu bringen.

Zweifellos sind die Ankömmlinge in feierlicher Form mit den Alteingesessenen übereingekommen, unter welchen Bedingungen man künftig neben- und miteinander leben könne. Als Grundlage aller Beschlüsse diente der Samo-Radulfsche Landfrieden, als Versammlungsort der an das Altendorf angrenzende Geiersberg, auf dem als Thingbaum eine Linde gestanden haben wird. Daß gerade auf dieser Höhe ein „gehegtes Thing“ abgehalten worden ist, wird dadurch unterstrichen, daß der Wald, den die Nordhäuser Bürger in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf dem Geiersberge pflanzten, von Anbeginn an und noch heute „das Gehege“ genannt wird. : j |

Gemeinhin wird nun mit der Linde der Begriff des „Gerichts“, der Rechtsprechung in alter Zeit verknüpft. Es wäre vielleicht richtiger, die Linde als Symbol des Friedens aufzufassen, in dem freilich das Recht seinen Platz behält. In Grimms Deutschem Wörterbuch85) wird Luther zitiert, der von der Linde gesagt hat: „Wenn wir reuter sehen unter den linden halten, were es ein Zeichen des friedes, denn unter der linden pflegen wir zu trinken, tanzen und frölich sein, nicht streiten und ernsten, denn die Linde ist bei uns ein friede und freude bäum“.

Nun ist aber auch bei den Slawen die Linde ein Stammeswahrzeichen gewesen, und noch heute bildet sie beispielsweise das Abzeichen des Heimatbundes der Lausitzer Sorben, der „Domowina“. Es überrascht also keineswegs, wenn der von beiden Partnern verehrte Baum als Zeuge ihres Vertrages angesehen und mit einem kennzeichnenden Namen belegt wurde. Die authentische Benennung war, wie sich aus Abschnitt II ergeben hat, „Mirichenslinge“. „Linge“ ist die nordthüringische Form für Linde (wie „Kinger“ für Kinder); aus der deutsch assimilierten Form „Miriehen“ ist unschwer die Flexion „mirje“ des slawischen Substantivs „mir“ zu erkennen, und dieses „mir“ heißt Friede. Mithin ist unsere geheimnisvolle „Mer-wigslinde“ nichts anderes als eine Friedenslinde.

Die Verbindung zweier Substantive zu einem neuen ist in der deutschen Sprache alltäglich, kommt dagegen in slawischen Sprachen und besonders bei Ortsnamen selten vor86). Die Kopplung eines slawischen mit einem deutschen Substantiv aber ist bei der bereits betonten Symbiose beider Völker auf deutschem Boden keineswegs selten. Trautmann gibt, wenn auch aus anderer Landschaft, Beispiele slawischer Namen in Verbindung mit deutschem -dorf, -feld, -hagen, -molen87). Zuweilen entstehen Tautologien, wie z. B. „Luggewiese89)“ (slaw. „lug“ = Wiese), in denen der deutsche Wortteil einfach die Übersetzung des slawischen ist. Analoge Vorkommen werden sich auch in Thüringen leicht finden lassen, an dieser Stelle sollen nur einige Belege der Kombination von „mir“ mit einem deutschen Worte vermerkt werden, um damit zugleich darzutun, inwieweit unsere Deutung der „Mirichenslingen“ durch den Befund an anderen Orten gestützt wird.

Eine Urkunde vom Jahre 101489) erwähnt in der stark slawisch besiedelten Mark Lupnitz (nö von Eisenach) einen Ort „Merenlinden“. Zweifellos hat die namengebende Linde dort die gleiche Rolle gespielt, wie ihre Namensschwester in Nordhausen. Eine andere Urkunde von 1157 90) betrifft den Ort „Merchendorf“ (sö von Erfurt) und die daselbst wohnenden Slawen. Schreibung und Aussprache dieses Namens schwankt zwischen (1225) Mirchendorf, (1251) Mirchindorf und geht über (1318) Milchendorf in das heutige Melchendorf über. Wie sehr die richtige Erkenntnis frühgeschichtlicher Zusammenhänge von der oft zufälligen Erhaltung schriftlicher Quellen abhängt, zeigt das Beispiel Merxleben (nö von Langensalza). Dieses Dorf heißt 99791) „Merchesleba“, llll92) „Merehesliebe“. Wenn eine slawische Besiedlung dieses Ortes auch nicht urkundlich nachgewiesen werden kann, so ist sie doch höchst wahrscheinlich nicht nur wegen seiner Lage am Ufer der Unstrut und nahe dem alten „Saltzaha“, sondern auch im Hinblick auf die dicht angrenzende Vogtei Dorla, von, der bekannt ist, daß „mancherlei Sitten und Gebräuche, vor allem die Bauart der Gehöfte“ und nicht zuletzt die noch im 15. Jahrhundert gebräuchliche Benennung „wendische Mark“ sie als stark slawisch durchsetztes Gebiet kennzeichnen63). Bei systematischem Forschen mögen sich in Thüringen weitere Parallelen zu der Nordhäuser Friedenslinde finden lassen, doch werden die meisten dieser Denkmäler längst eingegangen und die Erinnerung an sie verblaßt oder verschwunden sein.

Hat uns die Fiktion von dem Friedensabkommen auf dem Geiersberge zur Erklärung des Namens unserer Linde geführt, so bleibt die Deutung der mit ihr verbundenen Sage noch übrig.

Ganz natürlich haben die wendischen Ankömmlinge von ihrer Reise, von ihrer Heimat und den daselbst herrschenden Zuständen berichtet. Insbesondere wird man des Königs Samo gedacht haben, dieses merkwürdigen Mannes, der ein landfremder Händler war, den das Volk zum Herrscher wählte und der dieses Amt dazu benutzte, aus Unterdrückung Freiheit, aus Kriegen Friede und aus vergeblich landsuchenden Bauern hoffnungsfrohe Kolonisten werden zu lassen. Schon mag sich in Erzählung und Lied die Legende dieses Mannes bemächtigt haben, um mit der Zeit jenen Typ des, weisen, gerechten und sozialen Volkskönigs zu schaffen, der uns — in der Nordhäuser Lindensage entgegentritt. Es ist also die Gestalt Samos, die unserer Merwigslindentradition zugrunde liegt! Daß der zunächst „geringe Stand“ des Königs dort ein Kaufmann, hier ein Schuhmacher ist, könnte mit dem Hinweis auf die vielen Wülkürlich-keiten der Sagenbildung stillschweigend übergangen werden, ohne daß ihre Gesamtbedeutung Einbuße erlitte. Dennoch soll der Versuch einer Erklärung gemacht werden.

Der Name Samo ist uns einzig durch Fredegar überliefert. Als Eigenname findet er sich in keiner andern Quelle, kommt auch im Sprachgebrauch nirgendwo im Frankenlande nochmals vor. Es ist also offenbar kein fränkischer Name. Aber auch im slawischen Sprachgebiet, etwa im Sorbenlande oder in Böhmen, ist er weder urkundlich belegt noch traditionsmäßig gebräuchlich94). Lassen wir den Gedanken fallen, daß „Samo“ überhaupt ein Personenname ist, dann bemerken wir sogleich die Übereinstimmung mit dem slawischen prädikativen Adjektiv „samo“ („s“ stimmlos), das „selbst“ bedeutet. Als Vorsilbe dient dieses „samo“ zur Bildung vieler zusammengesetzter Wörter, von denen uns wohl „Samowar“ das bekannteste ist.

Es ist durchaus glaubhaft, daß die Wenden dem fränkischen Mitstreiter im Kampfe gegen die Awaren, dessen Eigenname ihnen vielleicht unaussprechlich war, einen „nom de guerre“, einen ehrenvollen Spitznamen beilegten. Bleibt die volle Form dieses Ehrentitels auch ungewiß, so läßt sich doch aus der Kurzform „samo“ erkennen, was gemeint war. Der „selbst, aus eigener Kraft, ohne fremde Hilfe“ bedeutend Gewordene sollte gekennzeichnet werden.

Nun werden im Slawischen häufig Substantive, die eine Eigenschaft betonen sollen, durch das entsprechende Adjektiv mit dem Suffix ,,-ik“ unter Verwendung verschiedener Formantien gebildet. Eine derartige Konstruktion — von der zugegeben wird, daß sie literarisch nicht belegt ist — ergäbe beispielsweise das Wort „samoshnik“ im Sinne von „Selfmademan95)“. Sind wir nun noch bereit, den Menschen des 7. Jahrhunderts neben anderen allgemein-menschlichen Affekten die Freude am Scherz, am Foppen und Lachen zuzubilligen, dann erscheint es nicht unmöglich, daß ein heiterer Vorsänger oder der antwortende Chor der sangesfreudigen Slawen anstelle von „samoshnik“ einmal „saposhnik“ gesagt hat. Den über das dann ausbrechende Gelächter erstaunten Thüringern mag man auf ihre Frage bedeutet haben, daß „saposhnik“ Schuhmacher heißt.

Ungeachtet dieser nicht aus Urkunden, sondern aus dem Leben gegriffenen Deutung ergibt sich aus der markanten Übereinstimmung der Wesenszüge des historischen Slawenkönigs Samo mit dem Könige der Nordhäuser Lindensage hinreichend deutlich der Ursprung der letzteren.

Fassen wir die Resultate der vorliegenden Arbeit zusammen, so zeigt sich, daß die Nordhäuser Lindensage dem 7. Jahrhundert entstammt. Ihre historische Grundlage bildet die friedliche Begegnung und das Zusammenleben von Thüringern, die vermutlich schon seit dem Bestehen des Thüringer Königsreiches im Aitendorf wohnten, mit wendischen Kolonisten, die sich längs der Zorge zwischen Wiedigsburg und Grimmei ansiedelten. Die Idealgestalt des gerechten und volksnahen Königs der Sage hat ihr Urbild in dem Slawenherrscher Samo, die Adoption des Namens Merwig um 1700 beruht auf dem Irrtum eines Pseudo-Gelehrten jener Zeit. Aus der Analyse unserer Lindensage ergaben sich weiterhin einmal verschiedene Berichtigungen von Anschauungen früherer Orts-historiker, zum andern aber ein grundsätzlich neuer Standpunkt gegenüber den Ursachen, der Art und Ausdehnung der Slawensiedlungen in Thüringen. Die Theorie von der Begründung slawischer Wohnplätze in Thüringen durchHörige,Kriegsgefangene oder Sklaven, die in der einschlägigen Literatur immer wieder kritiklos nachgeschrieben wird, kann und muß, wenn man den Tatsachen nicht Gewalt antun wül, überwunden werden. Eine solche Revision wird viel Neuarbeit erfordern, aber auch eine Fülle neuer Erkenntnisse zeitigen.

Quellen und Erläuterungen

1) Paul Höfer, Die sächsische Legende zum thür. fränk. Kriege 531, Zs. d. Vereins f. thür. Gesch. 1907, S. 57

2) Edward Schröder, Über Ortsnamenforschung, Zs. d. Harzvereins 1908, S. 79

3) Cyriacus Spangenberg, Mansf. Chronica, 1572

4) Dobenecker 1/6

5) Casp. Sagittarius, Ant. Ducatus Thuringici, 1688

6) F. C. Lesser. Historische Nachrichten . . ., 1740, S. 9

7) Heinrich Pröhle, Gebräuche aus den Harzgegenden, Zs. f. deutsche Mythologie u.

Sittenkunde, 1. Bd., Göttingen 1853, S. 85 /

8) Karl Meyer, Die Wüstungen der Grfsch. Stolberg-Stolberg, Stolberg-Roßla und der Stammgrafschaft Hohnstein, in Zs. d. Harzvereins, 1871, S. 289

9) E. G. Förstemann, Urkdl. Gesch. d. Stadt Nordhausen, 1825, S. 4

10) Zeitschr. d. Harzvereins 1871 und 1877, sowie Regesta Stolbergica, ed. v. Mülverstedt

11) Karl Meyer, Zur Wüstungskarte d. Grfsch. Honstein-Lohra-Clettenberg, in Zs. des Harzvereins, Bd. X, S. 111 ff.

12) Köhler, Ufelder Regesten Nr. 64, anno 1263

13) Liber feodalis et censuum perpetuorum des Nordh. Kreuzstiftes (Nordh. Stadtarchiv), abgedr. v. Oßwald in Zs. d. Harzvereins, Bd. 22, S. 85—160

14) F. C. Lessers Hist. Nachr. v. Nordhausen, herausg. v. E. G. Förstemann, 1860, S. 11

15) Paul Lemcke, Das Gehege, 1889, S. 32

16) Vereinsbericht von Karl Meyer in Zs. d. Harzvereins, 1894, S. 652

17) E. G. Förstemann, Kleine Schriften z. Gesch. d. Stadt Nordhausen, 1855, S. 143 — Dieser Stein befindet sich noch heute eingemauert in der Ostwand des Rathauses über dem neuen Haupteingang

18) F. C. Lesser, Hist. Nachrichten . . ., 1740, S. 11

19) R. Jordan, Chronik d. Stadt Mühlhausen i. Th., 1900, S. IV u. 7

20) wie 9) S. 6

21) Karl Meyer, Das fränkische Reichsdorf Nordhausen mit seinem Reichshofe und Heerlagerplatze, 1910

22) Karl Rübel, Die Franken, ihr Eroberungs- und Siedlungssystem im deutschen Vaterland, 1904

23) Paul Höfer, Die Frankenherrschaft in den Harzlandschaften, in Zs. des Harz Vereins, 1907, S. 115—179

24) Nordhäuser Stadtarchiv II Oa 4

25) Es entbehrt nicht eines gewissen Reizes, daß Meyer in diesem Falle einer Sage als geschichtlicher Quelle Glauben schenkt — und sein Ziel gewinnt, während er an der Merwigslinden-Sage achtlos vorbeigeht

26) wie 18) S. 7—8

27) wie 9) S. 6

28) wie 14) S. 7

29) Nordhäuser Stadtarchiv II Xe 1 a und 1 b

30) Die Terminologie Silberborths in: „Geschichte der Freien Reichsstadt Nordhausen“ S. 33/34 und „Ministerialität und Bürgertum“, Harz-Zs. 1950, S. 2/3, läßt diese Eigenschaft der „civitas“ als der aus dem Markt hervorgegangenen Stadt nicht deutlich erkennen. Vgl. hierzu K. v. Amira, Grundriß des germ. Rechts, 1897, S. 75/76, sowie Brunner-Heymann, Grundzüge der deutschen Rechtsgeschichte, 1919, S. 164 ff.

31) Dobenecker 1/558: anno 993 „incivitate Northusen, als Markt, Zoll und Münze im Besitze des Kreuzstifts waren.

32) Nordhäuser Stadtarchiv I J 27

33) Hans Silberborth, Geschichte der Freien Reichsstadt Nordhausen, 1927 S. 112—117.

34) Karl Meyer, Die Nordhäuser Stadtflur, 1920, S. 8

35) wie 33) S. 43

36) Nordhäuser Zeitung vom 30. 4. 1927

37) Karl Meyer,Die alten Straßennamen in Nordhausen, 19Ö3, S. 68

38) Copialbuch des Kreuzstifts, Nordh. Stadtarchiv II Oa 6, pag. 104

39) Hans Silberborth, Ministerialität u. Bürgertum, in: Harz Zs. 1950, S. 58

40) Das häufige urkundliche Auftreten des Herkunftnamens „de Aldendorf“ seit Beginn aes 14. Jahrh. weist ebenfalls auf ein wesentlich höheres Alter des Ortes selbst hin. Von einem entsprechenden Namen „Neuendorf“ findet sich keine Spur.

41) Franz Meinecke, Gestaltung und Entwicklungsgeschichte der Landschaft um Nordhausen, 1935, S. 144

42) Karl Meyer, Aus Nordhausens Vorzeit, S. 18

43) Karl Meyer, Entwicklungsgeschichte v. Nordhausen, Zs. d. Harzvereins, Bd. 20, S. 534

44) wie 37) S. 69

45) vgl. Otto Piper, Abriß der Burgenkunde, 1914

46) vgl. Urkundl. Geschichte, S. 1—3, sowie seinen von Perschmann 1865 veröffentlichten Aufsatz „Slawen und Fläminge bei Nordhausen i. d. Goldenen Aue“.

47) wie 43) S. 532

48) wie 37) S. 70

49) Otto Riemenschneider „Die ehern. Heinrichsburg in Nordhausen“, in: Das tausendjährige Nordhausen, 1927, Bd. I, S. 608

50) H. Größter, Besiedlung der Gaue Friesenfeld und Hassegau, in: Zs. d. Harzvereins, 1875

51) Otto Schlüter, Die Siedlungen im nordöstlichen Thüringen, 1903. Schlüters Slawenhypothese wird in der Folgezeit als Axiom gewertet, so L. Gerbing, J. Wütschke, K. Schirwitz u. v. a.

52) Fredegar, Chronicon IV/43

53) Reinhold Trautmann, Die Elb- und Ostseeslawischen Ortsnamen, 1949

54) Bertold Bretholz, Geschichte Böhmens u. Mährens 1912, S. 37

55) wie 52) IV/87

56) Nach einer neueren Hypothese (Werner Carmesin, Thüringen in der Slawenpolitik der Merowinger, Diss. Jena 1925) ist Samo nicht als schlichter Kaufmann, sondern lediglich in dieser Tarnung als militär-politischer Beauftragter des merowingischen Königs ins Slawenland gekommen, um den Aufstand gegen die Awaren zu organisieren und einen germano-slawischen Pufferstaat ins Leben zu rufen. — Die Ursachen und Hintergründe zu den Ereignissen von 630 und 640 sind nach Carmesin die gleichen, nämlich die jeweils zwiefachen Tendenzen des politischen Wollens im Slawenlande (awarophil:frankophil), in Thüringen (slawo-phil:frankophil) und bei den Franken (Merowinger:Arnulfinger).

57) Reinhold Schottin, Die SlawTen in Thüringen, Gymn. Progr. Bautzen 1884

58) W. Uhlemann, Flurnamen und Flurgeschichte, in: Jahrb. d. Hist. Komm_ Sachsen u. Anhalt, Bd. 4, 1928

59) Paul Grimm, Hohenrode, eine mittelalterliche Siedlung im Südharz 1939

60) Es gilt hier wüeder, die Geschehnisse des 7. Jahrh. und die Entwicklung der Folgezeit auseinanderzuhalten. Wenn Martin Waehler („Die einstigen slawischen Nebensiedlungen in Thüringen“, 1929, S. 29—31) darauf hinweist, daß körperliche Unterschiede zwischen deutschen und wendischen Bauern kaum merklich, ein Rasseproblem überhaupt nicht akut und auch eine gewisse Abneigung gegen die Fremden mindestens auf dem platten Lande nicht vorhanden waren, so gilt das gewiß nicht nur für die von ihm behandelte spätere Zeit. — Erst als die Wenden von dem ihnen zustehenden Rechte Gebrauch machten, als Handwerker sich auch in den Städten niederzulassen, setzt eine Reaktion der Eingesessenen ein und es entstehen die „wendischen Gassen“ oder gar die „wendischen Kirchtüren“. Diese Absperrung aus Konkurrenzneid, die kaum vor Anfang des 13. Jahrh. erfolgte, verzögerte das endgültige Ineinanderwachsen und diente geradezu der Erhaltung der wendischen Sprache, deren offizieller Gebrauch dann von den Landesherren des 14. bis 15. Jahrh. verboten wurde. (Vgl. auch P. Kupka, Die Altslawen, in: Jahrb. d. landesgesch. Forsch.Stelle, Magdeb. 1936, S. 49)

Bis in den Anfang des 18. Jahrh. finden wir noch in Geburtsbriefen, die zum Eintritt „in ehrliche Ämter, Gilden, Zünfte und Innungen“ berechtigten, die formelhafte Versicherung, daß der Inhaber „keines leichtfertigen noch tadelmäßigen Geschlechts, vielweniger wendischer Art, noch der Leibeigenschaft unterworfen“ sei!

61) wie 53) Bd. I, S. 181

62) vgl. auch Hans Witte, Wendische Bevölkerungsreste im westl. Mecklenburg, in: Dt. Gesch.Blätter, Bd. V, 1904, S. 219—235, der nachweist, daß das Ratzeburger Zehntenregister von- 1230 wendische Bevölkerung nur insoweit registriert, als diese von der Zehntpflicht exemt ist. Die nach deutschem Recht zinsenden Wenden werden nicht erwähnt. Die Register dienten eben nur der Finanzkontrolle, nicht einer Nationalitätenstatistik!

63) in einer Rede am 28. 9. 1903 in Erfurt, vgl. Protokoll d. Gen.Vers. des Gesamtvereins d. deutschen Gesch. u. Altert.Vereine, Berlin 1904

64) wie 59) S. 8

65) wie 59) S. 12

66) vgl. Friedrich Lütge, Agrarverfassung des früh. Mittelalters . . . 1937, S. 219, der nachweist, „daß die Unfreiheit, sowohl was deutsche, wie was slawische Unfreie betrifft, in unserm Gebiet mit dem 12./13. Jahrh. völlig geschwunden ist und daß hier auch keine Umbildung zu Leibeigenschaftsverhältnissen stattgefunden hat, wie im Westen, Südwesten und Norden (Schleswig-Holstein) und ebenso keine Umbildung zu gutsherrlichen Formen, wie sie im preußischen Osten, Böhmen-Mähren usw. zu verzeichnen sind“.

67) Christoph Albrecht, Die Slawen in Thüringen, in: Jahresschrift f. d. Vorgesch. d. sächs. thür. Länder, 1925

68) wie 67) S. 15

63a) vgl. Paul Grimm, Die vor- und frühgesch. Besiedlung des Unterharzes u. s. Vorlandes auf Grund d. Bodenforschung, 1930, S. 116/9

69) Dobenecker 1/1276

70) Dobenecker 1/1218

71) Regesta Stolbergica, ed. v. Mülverstedt, Nr. 433

72) Meyer-Rackwitz, Der Helmegau, 1888, S. 43

73) Martin Wähler, Die einstigen slawischen Nebensiedlungen in Thüringen, in: Festschrift f. Otto Dobenecker, 1929, S. 29

74) Friedrich Schmidt, Flurnamen in Thüringen, in: Mitt. d. Ver. f. Gesch. u. Naturw. Sangerhausen, 1932, S. 24

75) vgl. auch Herb. Buschendorf in: Die Kulturgeographie des Eichsfeldes, 1932, S. 34 —36, der meint, die anscheinend slawischen Namen auf dem Eichsfeld ließen sich auch anders erklären, z. B. keltisch. Den Ortsnamen Kraja leitet er — vom Krajaerbach ab!

vgl. auch Konrad Hentrich, Die Besiedlung des thür. Eichsfeldes auf Grund der Mundart u. d. Ortsnamen, in: Thür, sächs. Zs. f. Gesch. u. Kunst, 1919, S. 120, 127/8

76) „windische Lucke“ ist Flurbezeichnung für wendisches Wiesenland („luka“ und „lug“ — Wiese), vgl. 53) und R. Fischer, Slaw. Sprachgut westlich der Saale, 1953. Die Angabe bezüglich Stempeda verdanke ich Herrn Erich Rose, Nordhausen.

77) Dobenecker 1/806

73) wie 73) S. 36

79) Erich Christoph Bohne, Nordhäusische Chronica, 1701, ed. Heineck, 1901, S. 32 — Ferner: F. C. Lesser, Chronik, S. 7

80) Dobenecker 1/335

81) Zufolge frdl. Mitteilung des Lehrers W. Allewelt, Zorge/Südharz

82) Sonntagsblätter des Nordh. Courier „Aus der Heimath“, 1888, Nr. 12, 14 und 17

83) Nordh. Stadtarchiv, Urk. v. 12. 11. 1389, I Ni 7

84) E. G. Förstemann, Nachtrag z. Urkdl. Gesch., 1840, S. 6

85) Band VI unter „Linde“

8G) wie 53) Band II, S. 108 ff

87) wie 53) Band I, S. 181 ff

83) wie 53) Band I, S. 22

89) Dobenecker 1/638

93) Dobenecker 11/155 und Urk.Buch d. Stadt Erfurt 1/42

91) Dobenecker 1/582

92) Dobenecker 1/1070

93) Otto Busch, Die Vogtei Dorla in Thüringen, 1928, S. 13—14

94) Der sorbische Philologe Mucke versucht, den Familiennamen Sahm aus ahd 4- Samo herzuleiten, wobei er dieses als Kurzform von Sandebert annimmt! in: Bausteine z. Heimatkunde d. Kreises Luckau, 1918, S. 336 95; Eine Form „samotnik“ = Einsiedler führt Zwahr in seinem niderlausitz-wen-disch-deutschen Handwörterbuch an, 1847, S. 329.

(Die Hinweise 94) und 95) verdanke ich der Liebenswürdigkeit des Stadtarchivars H. Walther in Cottbus)

Für wertvolle Auskünfte bin ich ferner den Herren Regierungsrat Bozidar Dobrucky (Sorb. Volksbildungsamt, Bautzen) und + Bibi. Dir. Dr. Jatzwauk in Bautzen sehr zu Dank verpflichtet.

Die mehrmalige Anwendung von „Fiktionen“ in dieser Arbeit geht auf Hans Vaihin-gers „Philosophie des Als-Ob“ zurück.