Der Deutsche Gruß

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Der Deutsche Gruß
Untertitel Eine Kindheit und Jugend zwischen Ideologie und Idylle
Autor Ulrich H. K. Hesse
Verlag Norderstedt : Books on Demand
Erscheinungsjahr 2015
Stand: 13. April 2017

Der Deutsche Gruß von Ulrich H. K. Hesse erschien im April 2015 und behandelt die Marine-Hitler-Jugend, Reichsarbeitsdienst, Marine-Schule Mürwik, britische Kriegsgefangenschaft und zurück zum Abitur in dem späteren Humboldt-Gymnasium Nordhausen.

Besprechung

Erinnerungen eines Nordhäuser Gymnasiasten an Uli Hesse, Neumarkt 13.

von Jost-Dieter Rudloff

Der Titel "Der Deutsche Gruß" von Ulrich K. H. Hesse weckt Argwohn. Schreibt da ein ewig-gestriger Nordhäuser Bildungsbürger? Der Lehrersohn Uli Hesse alias Kurt erzählt von einer Kindheit in einer Weinhandlung Ecke Grimmelallee/Am Altentor, an der Rotleim-Mühle und in Krimderode. Seine Mutter Elisabeth geb. Vahlbruch darf ihren Beruf als Lehrerin nicht ausüben, weil sein Vater Max Hesse Lehrer ist und das Doppelverdienen aus beamtenrechtlichen Gründen verboten ist. In den Kindergarten geht Kurt nicht. Er findet es albern, eine vorgezeichnete Tulpe mit roten Fäden für die Blume und grünen Fäden für den Stengel zu besticken. Höhepunkte des Jahres sind für ihn Weihnachten und der Martini-Umzug. Sein Vater Max macht sich Sorgen um den Verbleib der jüdischen Vereinsmitglieder im Nordhäuser Schwimmverein. Bei einem Spaziergang mit einem gleichgesinnten Lehrer- Kollegen lässt Vater am abgetragenen Friedrich-Ebert-Denkmal am Eingang des Stadtparks Kurt den "Deutschen Gruss" ausführen als Protest gegen die jüngst eingeführte Grussordnung mit erhobenem rechten Arm und "Heil Hitler". Sie gehen vorbei an dem Reporter und Leichtathleten Rudolf Hagelstange, der im Stadtpark mit seiner Bambus- Hochsprungstange vom Ufer zu einer kleinen Insel übersetzt, um Fotos von Entchen schiessen zu können. Bei einem Besuch des Onkels Dr. Hermann Hesse in Leipzig fahren sie in Rechtsanwalts Herrmann grossem offenem Auto an auf die Ankunft Hitlers wartenden Zuschauern vorbei. Onkel Herrmann erhebt sich von seinem Sitz. Er schaut nach Art Hitlers mit starrem Blick über die Menschen hinweg und hebt den rechten Arm , abwechselnd gestreckt und gewinkelt. Die Menge hält inne mit Fähnchenschwenken. Der Chauffeur gibt Gas und braust davon. Konsequenzen hat es nicht für Hermanns Clownerie gegeben. Kurt besucht das altsprachliche Gymnasium in der Morgenröte. Musiklehrer Treichel schlägt ihn wegen seines Knabensoprans zur Aufnahme in den Thomaner-Chor vor. Das lehnt Vater Max Hesse ab. Im Schwimmverein wird Kurt einer der erfolgreichsten Thüringer Leistungs- Schwimmer. In der Hitlerjugend rückt er auf zum Jungenschafts-Führer. Sein Vater ist ein Nationalpatriot. Er hasst die Nazis. Im Familienkreis verurteilt er den Überfall Hitlers auf die Sowjetunion. Ein Fähnleinführer schneidet Kurt mit der Nagelschere Haare aus dem Gesicht. Körperliche Berührungen der Hitlerjungen sind streng verboten. Kurts Vater sieht das vom Haus Neumarkt 13 aus, schlägt dem Fähnleinführer eine Backpfeife und holt Kurt aus dem Glied. Auch das blieb im immer noch rechtsbewussten Nordhausen ohne Konsequenzen. Kurt verlässt die stumpfsinnige Allgemeine Hitlerjugend. Er tritt der Marine-HJ bei und rudert in einem Marine-Kutter mit Klassenkamerad Ernst Rudloff auf dem Kiesschacht herum. Beide beschäftigen sich intensiv mit Morsen und See-Funk. Nach Reicharbeitsdienst und Flakhilfe wird Kurt Offiziersanwärter bei der Marine. Nach Kriegsende kann er sich in Niedersachswerfen sowjetischer Bewachung entziehen, als er die Iwans mit einer parodistischen Vorführung des deutschen Gewehr- Exerzierens amüsiert. Das war sein letzter Deutscher Gruß. Kurt war ein sehr empfindsamer Mensch. Er hat es nie übers Herz gebracht, der Mutter seines im April 1945 an der Elbe gefallenen Schulfreundes Ernst Rudloff zu kondolieren. Sein Gewissen hat ihm keine Ruhe gelassen. Fast 60 Jahre später, kurz vor seinem Tod, hat er sich dafür entschuldigt.

Erinnerungen an die Kindheit in Nordhausen während des Krieges

von Manfred Neuber

„Wie konnte das alles bloß geschehen?“, werden heute noch ratlose Großeltern von ihren Enkeln zum Dritten Reich befragt. An tief schürfenden Erklärungen der NS-Diktatur fehlt es nicht; die braune Vergangenheit ist in allen Facetten „aufgearbeitet“. Unbegreiflich bleibt Nachgeborenen aber, wie ein ganzes Volk von einer verbrecherischen Ideologie durchdrungen werden konnte. „Der Deutsche Gruß“ gibt darauf in überschaubarem Rahmen eine Antwort.

Der Autor (Jahrgang 1927) erlebte in seiner Heimatstadt Nordhausen am Harz, wie sich das Nazi-Gift in den dreißiger Jahren in der bürgerlichen Gesellschaft ausbreitete – allmählich in der Familie, zwangsläufig in Schule und Vereinen sowie lähmend im öffentlichen Leben. In seinen Erinnerungen wird der historisch widersprüchliche Eindruck deutlich, wie trotz Bedrohungen und des Krieges die junge Generation ein vermeintlich „normales Leben“ hatte. Zum Buchtitel erläutert Ulrich H. K. Hesse: „Der Deutsche Gruß war die verbindliche `Ehrenbezeigung` im NS-Regime . . . Er stand für die ideologischen Verpflichtungen des Einzelnen gegenüber Staat und Partei. Weil er als allgegenwärtige Geste der Unterordnung das tägliche Leben der Diktatur bestimmte, signalisierte er jedoch auch Zustimmung oder Ablehnung seitens derer, die ihn ausführten. Wer aufmerksam darauf achtete, erkannte auf diese Weise, wie er jemanden politisch einzuordnen hatte.“

Anfangs ist die Familie bei Tisch empört, wie schnell manche „politisch die Seiten wechseln“, auch Sozialdemokraten und Gewerkschaftler. Lehrer werden aus dem Schuldienst gedrängt, antisemitische Schikanen gipfeln im Boykott jüdischer Läden. Als Pädagoge, der als verlässlicher Diener des neuen Staates zu gelten hat, und aus Sorge seiner Frau um die Familie tritt der Vater 1937 der NSDAP bei. Er trägt weiter das Abzeichen des Schwimmvereins am Revers, jenes der Partei liegt „im Nachtschränkchen neben den Kondomen“. Über die Pogrom-Nacht im November 1938 berichtet Hesse, wie der Vater als Angehöriger der Technischen Nothilfe zur brennenden Synagoge gerufen, aber von der SA am Löschen gehindert wird. Unverständlich findet er auch, wie eine grölende Menge den Rabbiner auf einem Klavier zu „Freut Euch des Lebens“ zu tanzen zwingt und der kinderfreundliche Zahnarzt, mit dem seine Familie befreundet ist, eine Meute Randalierer gegen jüdische Bürger anführt. „Im Sog der militärischen Erfolge“ findet das NS-Regime zu Kriegsbeginn zunehmend Rückhalt in der „Volksgemeinschaft“, bis der Vater nach dem Überfall auf die Sowjetunion warnt: „Die sind wohl wahnsinnig! Das ist der Anfang vom Ende. Schon für Napoleon begann der Abstieg in Russland!“ Die Reaktion unter Sportlern: „Alle sind geschockt. Kein prahlerisches `Das schafft unsere Wehrmacht auch noch!` oder Ähnliches ist zu hören.“ Die konservativ geprägten Bürger der ehemals Freien Reichsstadt bleiben jedoch in einem preußisch-heroischen Weltbild befangen.

Am Ende des NS-Regimes wird dem Protagonisten vom „Führer“-Nachfolger im Befehl zur Kapitulation in dem „aussichtslos gewordenen Kampf“ bescheinigt, dass er „getreu seinem Eid, im höchsten Einsatz für sein Volk für immer Unvergessliches geleistet“ habe. Die Sieger verbieten den „Deutschen Gruß“. Als er höheren Dienstgraden reflexartig mit erhobenem Arm begegnet, führt ein Offizier seine Hand an die Mütze und erklärt, jetzt werde wieder „anständig“ gegrüßt, der „Zirkus mit der Partei“ sei vorbei. Anschaulich und differenziert schildert Hesse seinen Werdegang als Pimpf, Hitler-Junge, Flak-Helfer, Arbeitsdienst-Leistender sowie Marinekadett, der wie andere um ihre Jugend betrogene Deutsche als Überlebende des Zweiten Weltkriegs nach 1945 noch mal auf der Schulbank landet, um das Abitur nachzuholen. Obwohl es sich um ein Einzelschicksal handelt, kommt der Chronik exemplarische Bedeutung zu. Sie ist flüssig und packend verfasst und enthält auch heitere Anekdoten aus bedrückender Zeit.