Als der Zigarren-Verkäufer die Straßen kehren musste

Aus NordhausenWiki
Version vom 4. März 2021, 20:51 Uhr von Vincent Eisfeld (Diskussion | Beiträge) (Textersetzung - „strasse“ durch „straße“)
– Erinnerungen an die Kindheit in Nordhausen während des Krieges –
von Manfred Neuber

Eine Kindheit in Nordhausen - in den Jahren von 1934 bis 1950 - wird mit fortschreitendem Alter in der Erinnerung immer lebendiger. Vor allem wenn es sich um herausragende Ereignisse und prägende Erlebnisse handelt. Als die ehemals Freie Reichsstadt zu Ostern 1945 in den Trümmern des wahnwitzigen „Tausendjährigen Reiches“ versank, ging in Northusia auch der Bürgerstolz früherer Generationen verloren. Zumindest schwingt dieser Eindruck in der Rückschau mit. Die folgenden Schilderungen stellen keine Chronik dar, sondern sind nur wach gerufene Begebenheiten aus schicksalsschwerer Vergangenheit.

Seitlings auf dem Mifa-Fahrrad meines Vaters ging die Fahrt sonntagmorgens im Sommer oft zum Schießstand am Schurzfell. Als Angehöriger der Marine-Kameradschaft – im Ersten Weltkrieg hatte er als 20-jähriger auf einem Torpedoboot die Skagerrak-Schlacht überlebt – nahm er am Übungsschießen teil. Leere Hülsen von Kleinkaliber-Patronen wurden meine Beute. Stolz trug der damals Sechsjährige einen Matrosen-Anzug, schwäbische Strickware von Bleyle. Wenn meine Spielzeug-Eisenbahn nach Geburts- und Festtagen in der Guten Stube in der Wohnung Reichsstraße 26 a, I. Etage links, noch aufgebaut war, schepperten die Messinghülsen auf kleinen Waggons im Kreis. Der Wellensittich durfte aus dem Vogelbauer raus und mitfahren. Draußen am Bahnhof standen schon die Parolen: „Räder müssen rollen für den Sieg! Unnötige Reisen verlängern den Krieg!“ Irgendwie faszinierte uns Jungen zu Anfang der vierziger Jahre die Eisenbahn.

Damals gab es noch Bahnsteig-Karten wohl für einen Groschen, wenn verwandtschaftlicher Besuch abgeholt oder wieder zum Zuge gebracht wurde. Ohne einen Pfennig zu berappen standen wir auf der Zeppelin-Brücke, die in Richtung Flugplatz führte, mitten drin in Dampf- und Rauchschwaden der unter uns dahin rollenden Lokomotiven. Übrigens, ich war erblich „vorbelastet“: ein Großvater (im Eiswinter 1927 im Dienst tödlich verunglückt) war Ober-Lokomotivführer auf der Eilzug-Strecke Halle – Nordhausen – Kassel. An die Harzquerbahn kamen wir näher heran. Die Familie eines Mitschülers wohnte in der Mansarde im Gebäude des Harzquerbahnhofs; sein Vater fuhr als Heizer mit dem „Quirl“ auf der Schmalspur nach Wernigerode. Wenn wir spielend um den Häuserblock rannten, wollte jeder die 21 sein. Denn das war die modernste Lokomotive. Weniger beliebt alte Modelle mit den Nummern 11, 12, 13. Auf unsere Frage, weshalb eine Lücke in der Nummerierung bis zur bestaunten 21 bestand, bekamen wir allen Ernstes zur Antwort: Die haben die Juden gestohlen! Die Nähe zum Bahnhof der Reichsbahn brachte es mit sich, dass meine Mutter in den Kriegsjahren zeitweise kaum Schlaf fand. Bis spät in die Nacht wurde auf dem Herd und in der Grude unserer Küche heißes Wasser für Früchtetee gekocht, der in großen Kannen und Einweck-Kübeln zu den Zügen mit Evakuierten aus bombardierten Städten oder mit Verwundeten von der Ostfront geschleppt wurde. Das Deutsche Rote Kreuz und die NS-Frauenschaft arbeiteten bei diesen Einsätzen Hand in Hand. Weil meine Mutter keinen Sohn im „wehrfähigen Alter“ und somit an der Front hatte, half sie an vielen Tagen auch stundenlang beim Kartoffelschälen im Lazarett am Weinberg. Währenddessen konnte ich in der Backstube meines Patenonkels Hans – die moderne Bäckerei und Konditorei Schröter an der Ecke Jahn-/ Hohekreuzstraße wurde 1945 durch Bomben zerstört – helfen. Mit einer Bürste aus einem Wasserbottich strich ich Glanz auf die Drei- und Vier-Pfund-Brote, wenn sie duftend aus dem Backofen kamen. Manchmal holte ich mir eine Blase an der heißen Kruste. Wann immer Bestellungen (Torten) in die Nachbarschaft zu bringen waren, zog ich meine Pepita-Hose zur weißen Bäcker-Jacke an, trug stolz eine hohe Mütze. Mein Lohn für das Austragen und das Aufkleben von Brotmarken auf alten Zeitungen war eine Tüte voller Kuchenränder.

Von dem Spielzeug, das zu Beginn der Kriegszeit noch in den Handel kam, schenkte mir eine Tante aus dem Spielwaren-Geschäft Sachse in der Rautenstraße das Neueste. So nahm die Zahl meiner Märklin-Baukästen zu, und ich bekam außer Spielzeug-Soldaten den „Führer“ mit zum Deutschen Gruß erhobenem Arm, den italienischen Duce auf einem Schimmel sowie Spaniens kleinen Caudillo Franco. Besonders beliebt waren aber Räuchermännchen, die ein Häuflein hinterließen. So lange die Panzer an der Ostfront vorwärts rollten, steckten wir Schüler bunte Stecknadeln auf den Landkarten bis tief in den Kaukasus. Nach Stalingrad ließ das Interesse jäh nach. Umso mehr Aufmerksamkeit erheischte der Drahtfunk. Mit stereotypen Worten wurde die Bevölkerung vor in den Luftraum über dem Reichsgebiet eingedrungenen feindlichen Bombern gewarnt. Über Briefmarken-Sammeln gingen Fotos mit Autogrammen von Ritterkreuzträgern, U-Boot-Kommandanten und gefeierten Jagdfliegern. „Mein“ Marschall Carl Gustav von Mannerheim – aus Finnland bekam ich sein signiertes Bild im Format DIN A 5 – stand nicht so hoch im Kurs.

Zu den düsteren Empfindungen meiner Kindheit gehört der Anblick eines jungen, schlanken Mannes mit schwarzem Haar und gelbem Davidstern auf seinem Jackett, der in der Unterstadt die Straßen kehrte. War er nicht derselbe Nordhäuser, der noch vor kurzem in einem kleinen Tabakladen meinem Vater jede Woche die Sonntagszigarre verkauft hatte? Warum durfte ich das in Staniol-Folie eingewickelte Stück Schokolade nicht aufheben, das mir eine freundliche Mitbewohnerin im Hause Bahnhofstraße 19a auf den Hof geworfen hatte, wenn ich meiner Mutter beim Wäscheaufhängen die Klammern zureichte? War die Frau am Fenster die Witwe des Geheimrats Speer?

Nachdem wir in die Reichsstraße umgezogen waren, erlebte ich Jahre danach, wie meine Eltern durch einen Spalt zwischen Vorhang und Gardine auf eine Kolonne Nordhäuser Juden herab schauten, die vom Siechenhof zum Bahnhof - Endstation Auschwitz? – getrieben wurden. Meine 13 Jahre ältere Stiefschwester Ursula, zu dieser Zeit als Wehrmachtshelferin aus der Nortag nach Belgien geschickt, soll bereits nach dem Brand der Synagoge am Pferdemarkt nach dem 9. November 1938 sich kritisch zur Juden-Verfolgung unter dem NS-Regime geäußert haben. Mit 21 Jahren volljährig geworden, lehnte sie – daran kann ich mich gut erinnern – bei einem Heimaturlaub die Unterschrift unter den schon ausgefüllten Aufnahmeantrag in die NSDAP ab.

Als Kurt Masur kurz vor Weihnachten 2010 in der Bonner Beethoven-Halle die Neunte dirigierte, wurde mir bei Schillers Schlusschor „Ode an die Freude“ bewußt, dass der Ausruf „Alle Menschen werden Brüder“ wohl zu den schönsten Worten in deutscher Sprache gehört. Doch schlimme Schatten deutscher Vergangenheit überfielen mich. Vor meinem geistigen Auge zogen bittere Momente vorbei: als ich mit Bonner Regierungsvertretern vor den Öfen im Krematorium in Auschwitz stand, als ich mit der Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages zu einem Gedenktag das Ghetto in Wilna (Litauen) besuchte und wie ich im „Tal der Gemeinden“ an der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem den Namen Nordhausen und ein Dutzend andere aus dem Südharz im Gestein eingemeißelt sah. Ende der dreißiger, Anfang der vierziger Jahre unternahm mein Vater mit mir bei gutem Wetter gern Radtouren, bei denen wir Fallobst an der Chaussee nach Leimbach und Petersdorf, Pilze im Forst Alter Stolberg sowie Schafsköttelchen (aufgelöst als Dünger für den Schrebergarten) an der Helme nahe Steinbrücken sammelten. Etwas Besonderes waren Fahrten an schönen Wochenenden mit der Reichsbahn nach Bad Sachsa zum Schmelzteich und Märchengrund sowie mit der Harzquerbahn nach Netzkater oder Benneckenstein. Sehe ich mir heute die Fotos an, so gleichen sie Bildern von Carl Spitzweg und der Werbung für dänisches Carlsberg-Bier – das Familienoberhaupt mit Stock ein paar Schritte der Familie voran. Bis das Ausflugslokal Schnabelsburg auf dem Kohnstein geschlossen wurde, fielen dort für Groschen bunte Blechfiguren mit Schokolade aus einem gusseisernen Automaten. Unterhalb dieses Biergartens mussten bald darauf KZ-Häftlinge des Lagers Dora in den Stollen bei der so genannten V-Waffen-Produktion schuften. Schwer bewachte Kolonnen dieser Gefangenen sahen wir auf unserem Schulweg in der Grimmelallee, die damals einen Nazi-Namen trug. Mit anderen Häftlingen waren „Badoglio-Italiener“ (der greise Marschall Pietro Badoglio putschte 1943 gegen Mussolini, vorher verbündete italienische Truppen wurden von der Wehrmacht entwaffnet und gefangen genommen) in abgewetzten hellgrauen Uniformen im Sägewerk Rathsfeld an der Uferstrafe eingesetzt. Der Lagerplatz mit den hoch aufgeschichteten Brettern und den Loren auf den Gleisen über das ganze Gelände war unser beliebtester Spielplatz. Der älteste Rathsfeld-Sohn ging in meine Klasse,die von der Wiedigsburg in die Petersberg-Schule verlagert worden war. Ein armamputierter Oberst in mausgrauer Breeches-Hose, offenbar als letzte Reserve an die „Erziehungsfront“ beordert, quittierte Fehler im Diktat mit Hieben seines Rohrstocks.

Als besondere Erlebnisse in der Kindheit bleiben noch in Erinnerung der erste Besuch im Stadttheater zum Weihnachtsmärchen „Hänsel und Gretel“, das erste Abendessen (auf Lebensmittel-Marken) mit der großen Schwester im Restaurant des „Römischen Kaisers“ sowie ein Landausflug mit den Eltern auf einen kleinen Bauernhof in Hamma bei Heringen. Der französische Zwangsarbeiter saß gemeinsam mit der Bäuerin und meinen Eltern beim Schweinebraten am Tisch und belehrte den kleinen Manfred, der vorwitzig grünen Salat aus der großen Schüssel geangelt hatte, nur das Vieh fresse aus demselben Trog. Vom Kindergarten in der Spiegelstraße ist nur wenig im Gedächtnis geblieben, obwohl doch „Tante Aurin“ den ersten nach den fortschrittlichen Ideen der italienischen Pädagogin Maria Montessori in Deutschland leitete. Oder war der Kindergarten zu meiner Zeit schon gleichgeschaltet? Davon erfuhr ich freilich erst im späteren Leben, ebenso von dem Nordhäuser Eduard Baltzer, der hierzulande den ersten Vegetarier-Verein gegründet und den Begriff „Jugendweihe“ geprägt hatte.

Nach den Luftangriffen und der Besetzung Nordhausens durch die US-Armee am 11. April 1945 war das Grauen des Krieges noch in den Gesichtern meiner Eltern abzulesen, wenn mein Vater vom Zwangseinsatz an der Boelcke-Kaserne kam. Männliche Einwohner Nordhausens mussten Hunderte Leichen von KZ-Häftlingen, die dort an Krankheit und Unterernährung gestorben oder durch Bomben der Royal Air Force ums Leben gekommen waren, zu einem Massengrab gegenüber dem Neuen Friedhof tragen. Bevor mein sichtlich erschütterter Vater in die Wohnung trat, versuchte meine Mutter, ihn mit Sakrotan-Lösung von oben bis unten zu desinfizieren.

  • Dieser Artikel wurde von Manfred Neuber verfasst und ist urheberrechtlich geschützt.
  • Die Veröffentlichung erfolgt mit Einverständnis des Autoren.