Die Knappschafts-Heilstätte Sülzhayn
Die Geschichte der Heilstätte
Die Norddeutsche Knappschaftspensionskasse
Die Knappschaftsheilstätte Sülzhayn ist von der Norddeutschen Knappschaftspensionskasse zu Halle a. S. erbaut worden, einer zugelassenen besonderen Kasseneinrichtung im Sinne der §§ 8 ff. des Invalidenversicherungsgesetzes vom 13. Juli 1899, welche die reichsgesetzliche Invalidenversicherung für die Mitglieder folgender 18 Knappschaftsvereine besorgt, des
- Halleschen Knappschaftsvereins zu Halle a. S.,
- Halberstadter Knappschaftsvereins zu Halberstadt,
- Brandenburger Knappschaftsvereins zu Guben,
- Mansfelder Knappschaftsvereins zu Eisleben,
- Rüdersdorfer Knappschaftsvereins zu Rüdersdorf,
- Knappschaftsvereins der Saline Halle zu Halle a. S.,
- Thüringischen Knappschaftsvereins zu Gr. Kamsdorf,
- Haupt-Knappschaftsvereins zu Clausthal,
- Unterharzer Knappschaftsvereins zu Goslar,
- Helmstedter Knappschaftsvereins zu Helmstedt,
- Rübeländer Knappschaftsvereins zu Blankenburg a. H.,
- Anhaltischen Knappschaftsvereins zu Cöthen,
- Altenburger Knappschaftsvereins zu Altenburg,
- Könitzer Knappschaftsvereins zu Könitz,
- Salzunger Knappschaftsvereins zu Salzungen,
- Thieder Knappschaftsvereins zu Wolfenbüttel,
- Knappschaftsvereins zu Lauchhammer,
- Tangerhütter Knappschaftsvereins zu Tangerhütte.
Der Bezirk der Pensionskasse umfaßt also die Bezirke der Sektion III (Kgl. Oberbergamt Clausthal) und Sektion IV (Kgl. Oberbergamt Halle a. S.) der Knappschaftsberufsgenossenschaft und erstreckt sich über 7 preußische Provinzen und 15 außerpreußische Staaten, sowie über den Bezirk von etwa 10 Landesversicherungsanstalten.
Diese Kasse besorgt nur die Geschäfte der reichsgesetzlichen Invalidenversicherung und hat mit der knappschaftlichen Berufsversicherung und der Unfallversicherung nichts zu tun. Da es den einzelnen Knappschaftsvereinen nicht möglich war, selbst die Zulassung als besondere Kasseneinrichtung neben den Landesversicherungsanstalten zu erwirken, so riefen sie zusammen für ihre Mitglieder eine eigene Versicherungsanstalt, die Norddeutsche Knappschaftspensionskasse, ins Leben, die dann vom Bundesrate als besondere Kasseneinrichtung im Sinne des Invalidenversicherungsgesetzes zugelassen wurde und ihre Tätigkeit mit dem Inkrafttreten dieser Versicherung am 1. Januar 1891 begann. Sie ist also ein etwas eigenartiges Gebilde: eine zugelassene Kasse, die aber vollständig den Charakter einer Versicherungsanstalt hat. Ihr Statut ist überdies genau und wörtlich dem Invalidenversicherungsgesetze nachgebildet und kennt nur die Leistungen dieses Gesetzes. Infolgedessen gelten die §§ 18ff. des Gesetzes, die den Versicherungsanstalten unter gewissen Voraussetzungen die Befugnis erteilen, für einen Versicherten ein Heilverfahren zur Ausführung zu bringen, auch für die Pensionskasse (§§ 9ff. des Statuts).
Die Norddeutsche Knappschaftspensionskasse ist allerdings etwas anders organisiert als die Versicherungsanstalten. Sie wird durch einen aus zwei Berufsbeamten bestehenden Vorstand verwaltet, dessen Geschäftsführung ein Aufsichtsrat überwacht. Die Rechte der Mitglieder, d. h. der 18 Knappschaftsvereine, wahrt die Generalversammlung, in welche jeder Verein zwei Mitglieder entsendet mit einer der Vereinsgröße entsprechenden Stimmenzahl.
Ein weiteres Eingehen auf die Organisation und Einrichtung der Kasse erübrigt sich hier.
Als die Kasse am 1. Januar 1891 ins Leben trat, zählte sie 67058 Mitglieder. Mit geringen Schwankungen ist die Mitgliederzahl im Laufe der Jahre ununterbrochen gestiegen, bis sie am 1. Januar 1909 auf fast 119000 Versicherte angewachsen war.
Der Gedanke, der zur Gründung der Kasse führte und noch heute von maßgebender Bedeutung ist, war der Wunsch, die Berg- und Hüttenleute, die einen in sich geschlossenen Stand bilden, nicht in der allgemeinen Versicherung aufgehen zu lassen, sondern ihnen auch in dieser allgemeinen Versicherung die ihnen vermöge der Eigenart ihres Berufes und der Geschlossenheit ihres Standes zukommende Sonderstellung zu gewähren und dabei nach Möglichkeit dafür Sorge zu tragen, daß die von der Montanindustrie und ihren Arbeitern aufgebrachten Beiträge auch für diese Arbeiter wieder zur Verwendung gelangen.
Aus diesen Gesichtspunkten heraus ist dann auch der Gedanke entstanden, für die Mitglieder der Pensionskasse eine besondere Lungenheilstätte zu erbauen.
Die Knappschaftsheilstätte Sülzhayn
Als Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts 1 sich in ganz Deutschland die Bestrebungen bemerkbar machten, für unbemittelte Lungenkranke Volksheilstätten zu errichten, drängte sich dem Vorstand der Norddeutschen Knappschaftspensionskasse sofort die Überzeugung auf, daß die Schaffung einer solchen Heilstätte für die Versicherten der Kasse eine unabweisliche Notwendigkeit sei. Angeregt durch das Vorgehen des Direktors der Hanseatischen Landesversicherungsanstalt Gebhardt, erließ er bereits am 25. März 1894 ein Rundschreiben an die Knappschaftsvereine, in welchem er ausführlich die Grundzüge für die Errichtung einer „Heilstätte für chronisch kranke und rekonvaleszente Versicherte“ darlegte. Die Neuheit und Schwierigkeit des Gegenstandes lassen es begreiflich erscheinen, daß dieser Plan damals nicht sofort überall die erhoffte Zustimmung fand. Je mehr sich aber die beteiligten Kreise und Personen mit dem Gegenstände vertraut machten, um so mehr schwand auch der Widerspruch. Eine vom Aufsichtsrate der Kasse eingesetzte Spezialkommission sprach sich nach eingehender Erwägung aller Umstände am 7. September 1894 einstimmig für die Errichtung der geplanten Heilstätte aus, so daß der Aufsichtsrat sich am gleichen Tage dazu entschließen konnte, die Kosten für die Vorarbeiten zu bewilligen.
Inzwischen war der Vorstand bemüht gewesen, einen geeigneten Bauplatz ausfindig zu machen. Ein Platz bei Hasselfelde erwies sich als nicht geeignet, ein anderer Platz im Ilfelder Tale war nicht zu erwerben. Endlich gelang es im Südharze, unweit des Dorfes Sülzhayn, einen Platz ausfindig zu machen, der allen Anforderungen zu genügen schien. Aber erst als eine größere Anzahl von Sachverständigen, die der Vorstand um ihren Rat gebeten hatte, sich einstimmig dahin äußerten, daß ein besserer Platz überhaupt wohl kaum gefunden werden könnte, entschied sich der Vorstand endgültig für diesen Platz.
Am 19. Oktober 1895 erteilte die Generalversammlung der Pensionskasse grundsätzlich ihre Zustimmung, daß auf diesem Platze nach den Plänen des Regierungsbaumeisters Haße zu Halle a. S. eine Lungenheilstätte für die Versicherten erbaut werde. Am 1. Mai 1896 stimmte sie den Spezialplänen zu und stellte eine Summe von 550000 Mk. für den Bau zur Verfügung.
Am 11. August 1896 wurde in Anwesenheit des Aufsichtsrates der Grundstein zu der Anstalt gelegt und der Bau so gefördert, daß zu Beginn des Jahres 1898 das Arztwohnhaus' bezogen werden konnte. Am 17. Januar 1898 zogen die ersten Pfleglinge in zunächst nur provisorisch eingerichtete Räume ein, während für eine Anzahl von Kranken Unterkunft im Dorfe Sülzhayn geschaffen wurde.
So konnte der Betrieb allmählich organisiert werden, was sich als sehr vorteilhaft erwies. Am 15. Oktober 1898 wurde die Heilstätte eingeweiht und ihrer Bestimmung übergeben.
Im Juni 1898 wurde im Dorfe ein Bauernhof erworben, der für die Zwecke der Heilstätte umgebaut und eingerichtetwurde insbesondere wurde ein großer Kuhstall erbaut, um die Möglichkeit zu schaffen, den Milchbedarf der Heilstätte einheitlich zu decken. Dieser Bauernhof wurde dann verpachtet, undnachdem sich der Pächter bewährt hatte, an ihn unter Bedingungen verkauft, die der Heilstätte die Lieferung guter Milch und guter Fleischwaren sicherstellten.
Die Kläranlage und die Wasserleitungsanlage machten im Laufe der zehn Jahre besondere Einrichtungen notwendig, über die weiter unten berichtet werden wird. Leider konnte ein groß angelegtes Talsperreprojekt des Vorstandes infolge Widerstandes des Grundeigentümers wie auch noch vieler anderer Schwierigkeiten nicht zur Ausführung gelangen.
Im Jahre 1903 wurde das Wirtschaftsgebäude vergrößert, im Jahre 1907 eine Kirche an die Heilstättengebäude angebaut. Mit diesem letzteren Bau dürften nunmehr die baulichen Anlagen der Heilstätte zu einem gewissen Abschlüsse gelangt sein.
Die Beschreibung der Heilstätte
Die Lage
Die Örtlichkeit
Die Kreischaussee Ellrich—Benneckenstein führt hinter dem Dorfe Sülzhayn in mäßiger Steigung ziemlich genau nach Norden. Etwa zwei Kilometer oberhalb des Dorfes, da wo rechts der Fußweg nach Rothesütte abzweigt, drängt sich ihr der kleine Steigerberg (auch Steierberg genannt) entgegen und zwingt sie in starker Steigung nach Nordwesten auszuweichen. Dieser etwa 500 m hohe Berg wird östlich vom Tale des Klinzwassers, eines von Rothesütte herabfließenden Baches, westlich vom Tale des Tosborn, eines anderen Baches, begrenzt. Durch letzteres führt die genannte Chaussee. Beide Täler sind nur kurz und steigen erheblich an.
Der Steigerberg selbst hängt im Norden mit den ihn umgebenden Bergen zusammen, während er nach Süden steil abfällt bis zu einer großen dreieckig geformten Waldwiese, an deren südlichen Spitze sich die beiden Bäche vereinigen, um nun in dem breiter werdenden Tale nach Sülzhayn abzufließen. Rings um den kleinen Steigerberg erheben sich Berge, die ihn beträchtlich überragen und nach drei Seiten einen völligen Windschutz bieten: Nur nach Südsüdosten öffnen sie sich und gestatten einen weiten Blick über bewaldete Anhöhen nach Ellrich hin und weiter hinaus bis zu den Vorbergen Thüringens (s. Abbildungen). Der dicht bewaldete Südabhang des kleinen Steigerberges und der größte Teil der unter ihm liegenden Waldwiese bilden nun das Heilstättengrundstück.
Ungefähr in der Mitte des Abhanges und 56 m über der Wiese (ca. 400 m über dem Meeresspiegel) erheben sich die Gebäude der Heilstätte. Mitten im Walde und doch freiliegend, nach drei Seiten völlig geschützt und doch der frischen Luft zugänglich, ragen sie infolge der gewaltigen Pfeilerfundamente, auf welchen sie erbaut sind, gleichsam frei in die Luit hinaus, ihre genau nach Süden gerichtete Hauptfront der Sonnenbestrahlung unbehindert darbietend (siehe Titelbild).
Der ganze Abhang des Steigerberges ist in einen Park (siehe Abbildungen) verwandelt, der von ebenen und langsam ansteigenden Promenadenwegen durchzogen ist, die die Möglichkeit zu Terrainkuren geben. Das Gestein, aus dem der Berg besteht, ist Porphyrit Der Park enthält vorwiegend Buchen, während die Wälder in der Umgegend Eichen und Nadelhölzer aufweisen.
Ist so die Lage der Heilstätte landschaftlich von außerordentlicher Schönheit, so läßt sie auch in allen übrigen Beziehungen wohl kaum noch einen Wunsch offen. Mit der dicht an der Heilstätte vorüberführenden Kreischaussee Ellrich— Benneckenstein ist sie durch eine 500 m lange Anfahrtstraße verbunden (siehe Abbildung 3). Ellrich und Benneckenstein sind beide Bahnstation und zu Wagen in einer kleinen Stunde zu erreichen. Trinkwasser ist in genügender Menge vorhanden und fließt mit eigenem Gefälle zur Heilstätte. Eine zweite Wasserleitung führt Betriebswasser bis auf die Wiese unterhalb der Heilstätte, wo es mit 79 m Fall ankommt und zwei Turbinen treibt, auch die Kläranlage der Heilstätte bedient, der die Abwässer mit eigenem Gefälle zufließen. Die reichliche Menge des Wassers gestattete außerdem die Anlage von Spülklosetts. Das geklärte Wasser wird den Bächen zugeführt, die selbst stets reichliche Wassermengen enthalten. So entspricht die Lage der Heilstätte in vorzüglicher Weise allen Anforderungen, die man an eine solche Heilstätte stellen muß.
Die klimatischen Verhältnisse
Auch die klimatischen Verhältnisse der Örtlichkeit sind überaus günstige. Seit dem Frühjahr 1904 sind die Witterungsverhältnisse fortlaufend beobachtet worden; dabei hat sich nun folgendes ergeben.
Es sind gezählt Tage:
im Jahre | Klar | Bewölkt ohne Regen u. Schnee | zusammen | Nebel | Regen oder Schnee | zusammen |
---|---|---|---|---|---|---|
1904 | 98 | 41 | 139 | 13 | 71 | 223 |
1905 | 197 | 9 | 206 | 37 | 122 | 365 |
1906 | 131 | 78 | 209 | 6 | 150 | 365 |
1907 | 157 | 68 | 225 | 18 | 122 | 365 |
1908 | 189 | 63 | 252 | 27 | 87 | 366 |
Durchschnitt 05/08 168,5 223
Es betrugen die Wärmegrade Celsius:
im Jahre | höchste | niedrigste | durchschnittlich |
---|---|---|---|
1903 | +36° | - 20° | + 5,8° |
1904 | +37° | - 10" | + 7,2° |
1905 | +35° | - 15° | + 6,0° |
1906 | +43° | - 15° | + 6,4° |
1907 | +38° | - 20° | + 5,4° |
1908 | +35° | - 21° | + 5,7° |
Die Durchschnittstemperaturen betrugen in den Monaten
des Jahres | im Winter (Oktober—März) | im Sommer (April—September) |
---|---|---|
1903 | +0,7° | + 11,0° |
1904 | +1,5° | + 12,7° |
1905 | +0,1° | + 12,0° |
1906 | +i,o° | + 11,8° |
1907 | +0,7° | + 10,1° |
1908 | +0,6° | + 10,9° |
Die Gebäude
Allgemeines
Die Heilstätte besteht aus folgenden räumlich getrennten Anlagen:
- a) das eigentliche Heilstättengebäude mit dem Wirtschaftsgebäude und der Kirche;
- b) das Arztwohnhaus mit der Privatanstalt;
- c) das Stallgebäude;
- d) das Maschinenhaus mit der Kläranlage;
- e) sonstige Anlagen (Isolierbaracke, Eismaschine, Wasseranlagen).
Ein besonderes, größeres Kesselhaus war nicht erforderlich, da nur für die Heizung Kessel (drei von je 30 qm Heizfläche) nötig waren, als Betriebskraft aber Wasserkraft zur Verfügung stand. Allerdings reicht das Wasser {nicht immer zum Betriebe der Maschine aus, so daß zur Aushilfe zwei Benzinmotoren aufgestellt werden mußten.
Die Gebäude sind sämtlich massiv erbaut unter Vermeidung aller Holzkonstruktionen, mit Ausnahme natürlich der Dächer (Holzzementdächer).
Die Decken sind durch sogenannte Heistersche Platten zwischen eisernen Trägern gebildet. Die Treppen bestehen aus Granitstufen. Als Fußbodenbelag ist überall hartes Material — Torgamant, Terrazzo und Linoleum auf Gipsestrich — gewählt, nur die Dachböden haben Dielung. Die Gebäude werden durch Niederdruckdampfheizung beheizt; zur Beleuchtung dient elektrisches Licht. Elektrische Kraft wird zur Bedienung der Waschmaschine, der Aufzüge, der Wäscherolle und der Stopfmaschine verwendet.
Das eigentliche Heilstättengebäude bildet mit dem Wirtschaftsgebäude und der Kirche einen zusammenhängenden, aber in sich doch völlig getrennten Gebäudekomplex. Da an dem Bergabhange nur eine kleine natürliche Terrasse vorhanden war, war es nötig hinten einen Teil des Abhanges abzutragen und vorn einen Teil der Gebäude auf Pfeiler zu stellen. Diese Pfeiler mußten an den vorspringenden
Ecken ganz besonders große Dimensionen annehmen (bis 18m Tiefe), da die 106 m lange, genau nach Süden gerichtete Hauptfront des Gebäudes zur Erlangung eines besonderen Windschutzes eine konkave Form erhalten hat (siehe die Grundrisse). Infolge dieser Pfeilerbauten befinden sich unter dem Gebäude große Hohlräume, zu der die Sonne und die frische Luft freien Zutritt haben — ein Umstand, der für die gesundheitlichen Verhältnisse der Heilstätte von ganz besonderer Bedeutung ist (siehe Titelblatt).
Die Flügelgebäude
as eigentliche Heilstättengebäude besteht aus dem Mittelbau und den beiden Flügelgebäuden. In den beiden Flügelbauten von je zwölf Fenstern Front befinden sich die sämtlich nach Süden be-legenen Schlafräume der Kranken. Der westliche Flügel enthält außerdem im untersten Geschosse die ärztlichen Arbcits- u. Untersuchungszimmer, sowie in einem Raume daneben die Duschen. Diese sind so eingerichtet, daß der Arzt das Duschen der Patienten von seinem Zimmer aus vornehmen und durch ein in der Zwischenwand angebrachtes Fenster beobachten kann. In diesem Geschosse befinden sich dann noch das Laboratorium und ein Raum zum Verkochen der Sputa. Das Dachgeschoß des Westflügels ist den Wohn- und Schlafzimmern der Schwestern eingeräumt, während im Dachgeschosse des Ostflügels die Wohnung des Assistenzarztes und ein Schlafzimmer für den Vorstand der Kasse eingerichtet ist.
Jeder Flügel enthält einige Zimmer mit 1 Bett; sonst stehen in den Schlafräumen 3-5 Betten. In den Schlafzimmern hat jeder Pflegling eine eiserne Bettstelle (195 x 85 cm groß) mit Patent-Stahlsprungfeder-Matratze und verstellbarem Kopfteil, eine dreiteilige mit Sisal gefüllte Matratze, Roßhaarkopfkissen und 2 wollene Decken, einen kleinen offenen Nachttisch mit Kasten, 1 Stuhl, 1 Trinkglas, 1 Nachtgeschirr, 1 Handtuch, 1 Paar Pantoffeln und einen verschließbaren Kleiderschrank (s. Abb. 14).
Wascheinrichtungen sind in den Zimmern nicht vorhanden. In jedem Stockwerk ist vielmehr ein besonderes Waschzimmer vorgesehen, in welchem sich 12 Patienten gleichzeitig waschen können. Außerdem stehen in jedem Waschzimmer noch 2 Badewannen von Fayence (s. Abb. 15).
Die Oberteile sämtlicher Fenster sind zum Aufklappen eingerichtet. Doppelfenster sind nur an der Nordseite der Gebäude angebracht. Dagegen sind die Südfenster überall mit Rolljalousien versehen. Ferner befinden sich in jedem Stockwerk noch ein Wärterzimmer, ein Raum für reine Wäsche usw. und ein Abort mit zwei Klosetts, Ausguß, sowie dem Raume zur Reinigung der Spuckgefäße und Aufbewahrung der Nachtgeschirre während des Tages. In jedem Korridor ist schließlich noch ein besonderer Zapfhahn zur Entnahme von Trinkwasser angebracht.
Die Kirche
An den östlichen Flügel ist von Norden her die Kirche angebaut (s. Abb. 16) und so in das Gebäude eingefügt, daß man von den Korridoren der einzelnen Stockwerke aus die einzelnen Geschosse der Kirche betreten kann. Vom untersten Stockwerk (Kellergeschoß) kommt man zu den Räumen, die unter der Kirche liegen (Badezimmer, Inhalatorium und Leichenraum), vom Erdgeschoß tritt man in das Schiff der Kirche, vom Obergeschoß auf die Empore (zur Orgel) und vom Dachgeschoß in das Dachgeschoß der Kirche (zur Glocke). Die Kirche ist im Jahre 1907 nach den Plänen des Baumeisters Fahro in Halle a. S. mit einem Kostenaufwande von 33 000 Mk. erbaut worden. Sie bildet einen besonderen Schmuck der Heilstätte. Sie ist 12,54 m lang, 7,85 m breit und 8,50 m hoch. Die Empore nimmt etwa den dritten Teil der Kirche ein. In der Kirche sind 142 Sitz platze vorhanden. Es können aber bequem 200 Personen in ihr Platz finden.
Den schönen Altar schmückt ein Geschenk I. M. der Kaiserin:
in Kruzifix in Goldbronze mit silbernem Korpus. Die drei Altarfenster, der segnende Christus und die Apostel Petrus und Johannes darstellend, sind von der Pensionskasse, 2 schöne Glasfenster von Direktor Tribius und Dr. Kremser gestiftet (s. Abb. 17). Auf der Empore steht ein großes Harmonium mit zwei Manualen und einem Pedal aus der Fabrik Ernst Hinkel in Ulm, dessen herrliche Tonfülle fast zu groß für die Kapelle ist. Die nicht unerheblichen Kosten des Instrumentes sind durch Sammlungen und freundliche Spenden aufgebracht worden.
Einen besonderen Schmuck der Kirche bildet der schöne schmiedeeiserne Kronleuchter, den die Kunst des Maschinenmeisters der Heilstätte Teichfischer geschaffen hat. n der Kirche findet regelmäßig alle 2 Wochen ein Gottesdienst statt.
Der Mittelbau
Die beiden Flügelbauten werden durch einen Mittelbau verbunden, welcher in 3 Geschossen die sehr geräumigen (40 m langen und fast 5 m tiefen) Liegehallen (siehe Abb. 2) enthält. Es kann also von fast jedem Krankenzimmer aus eine Liegehalle erreicht werden, ohne daß Treppen zu steigen sind. Hinter den Liegehallen befinden sich die 40 m langen und 4 m tiefen Wandelhallen, die zugleich als Tageräume benutzt werden (s. Abb. 18).
In der Mitte des Liegeballenbaues, also in der Mitte der gesamten Anlage, sind nach Norden zu Räume angebaut, die im Obergeschoß den geräumigen Speisesaal (s. Abb. 19), im Erdgeschoß die Eintrittszimmer (Pförtnerstube, Stiefelstube, Garderobe u. Konferenzzimmer) enthalten, während im Keller Akkumulatorenbatterie, Heizkessel u. Kohlenvorräte untergebracht sind. Der Speisesaal bietet 120 Platz für Patienten. Zu ihm führt aus dem Heilstättengebäude von der oberen Wandelhalle eine Tür, während er nach der anderen Seite durch einen Gang mit dem hinter dem Heilstättengebäude stehenden Wirtschaftsgebäude verbunden ist. Zwischen Speisesaalbau und Wirtschaftsgebäude führt die Anfahrtstraße hindurch, die durch den obenerwähnten Gang (Anrichteraum) überbaut ist.
Das Wirtschaftsgebäude
Das vierstöckige Wirtschaftsgebäude (s. Abb. 11) steht hinter dem Heilstättengebäude, mit dem es in der oben beschriebenen Weise verbunden ist, in der Ausbuchtung des Berges, welche durch Abtragen des Erdreiches entstanden ist. Es steht so nahe am Bergabhange, daß von der im ersten Stockwerk befindlichen Küche eine kurze Brücke nach einem am Abhang entlang geführten Fahrwege hinübergelegt werden konnte. Auf diese Weise ist die Küche von hinten unmittelbar zugänglich, so daß alle Lieferungen — Milch, Fleisch, Backwaren usw. — bis vor die Küchentür gefahren werden können. Nach der anderen Seite hin steht die Küche durch den Anrichteraum wiederum in direkter Verbindung mit dem Speisesaal, während rechts von der Küche die Aufwaschküche, links die Speisekammern sich befinden. Diese Lage der Küche erleichtert den Betrieb außerordentlich. In dem Wirtschaftsgebäude befinden sich im Keller die Vorratsräume, im Erdgeschoß das Bureau (s. Abb. 21), die Waschküche und der Desinfektionsapparat (Kümmel); im ersten Obergeschoß die Küche (s. Abbild. 20) mit ihren Nebenräumen und überdem Bureau das freundliche Schwesternheim (s. Abb. 22); im zweiten Obergeschoß wohnt der Maschinenmeister u. schläft dasweiblichePersonal. Im Dachgeschoß schließlich befindet sich die geräumige Plätt- und Rollstube und der Trockenboden. Die Wäscherolle und der Stopfapparat werden elektrisch betrieben. Ein elektrischer Aufzug befördert die gereinigte Wäsche von der Waschküche auf den Trockenboden.
Das Arztwohnhaus und die Privatanstalt
Das Arztwohnhaus liegt westlich neben dem Heilstättengebäude (s. Titelbild). Mit ihm ist eine Privatanstalt verbunden: Beide Gebäude sind in ähnlicher Weise wie das Hauptgebäude gebaut und stehen zum Teil auch auf Pfeilern frei in der Luft.
Die Räume der Privatanstalt sind dem Chefarzte der Heilstätte auf seinen Wunsch überwiesen worden, um ihm Gelegenheit zu geben, auch anderes Krankenmaterial, als nur Bergleute, zu behandeln. Aus dem Vorhandensein dieser kleinen Privatanstalt haben sich für die große Anstalt bisher irgend welche Unzuträglichkeiten nicht ergeben.
Das Stallgebäude
Das Stallgebäude liegt an der Anfahrtstraße am Eingang zum Heilstättengrundstück (s. Abb. 23j. Es enthält Stallungen für 4 Pferde, geräumige Wagenremisen, Kutscherwohnung und die Waschküche für das Arzthaus. Die Heilstätte selbst hält kein Fuhrwerk. Der leitende Arzt stellt das erforderliche Fuhrwerk gegen eine Entschädigung. Ihm ist daher auch das Stallgebäude überwiesen.
Die Kraftwasserleitung und das Maschinenhaus
Etwas oberhalb der Heilstätte sind dicht an der Chaussee große Bassins angelegt, die das aus den verschiedenen Tälern zusammenfließende Wasser sammeln und dann in einer 1 km langen Leitung mit 79 m Fall den Turbinen der Heilstätte zuführen, durch die es dann in die Bäche zurückströmt. Ein Festhalten dieser Wassermassen findet also nur periodisch statt.
In etwa 3 Stunden sind die Bassins leergelaufen. Unter normalen Verhältnissen genügt diese Betriebszeit der Turbinen für den Bedarf der Heilstätte. Neuerlich wird aber beabsichtigt noch weiter oberhalb eine kleine Talsperre anzulegen und hierdurch eine gewisse Reserve von Betriebswasser zu schaffen. In dem Maschinenhause, das auf der Wiese unterhalb der Heilstätte erbaut ist, befinden sich 2 Turbinen von 6 und 15 HP. Da die Betriebswasserverhältnisse wie gesagt nicht gleichmäßige sind, so sind im Maschinenhause außerdem 2 Benzinmotore von gleichfalls 6 und 15 HP. aufgestellt, die in wasserarmen Zeiten je nach Bedarf in Tätigkeit treten. Durch diese Kraftmaschinen werden 2 Dynamomaschinen angetrieben, die die Heilstätte mit Elek- trizitä versorgen. Eine Kabelleitung führt die Elektrizität von hier zu lern im Keller des Mittelbaues liegenden Akkumulatorenraume.
Die Kläranlage
Außerdem treiben die Kraftmaschinen auch die neben dem Maschinenhause befindliche Kläranlage, die nach dem Rothe-Degenerschen Kohlebreiverfahren angelegt ist und sich bisher tadellos bewährt hat. Nur ist ihr Betrieb etwas kostspielig; auch sind bei eintretenden Defekten Reparaturen schwierig. Die Einrichtung einer biologischen Klärstation wird sich daher auf die Dauer wohl kaum vermeiden lassen.
Die Kläranlage wird durch den leitenden Arzt bakteriologisch ständig kontrolliert. Die geklärten Abwässer werden durch das Turbinenwasser noch verdünnt und laufen dann in die vorüberfließenden wasserreichen Bäche ab.
Die Trinkwasserleitung
Etwas oberhalb der genannten Bassins sind 2 Quellen erschlossen worden, welche in eine Brunnenstube geleitet werden, von wo sie mit eigenem Gefälle zur Heilstätte fließen. Der Überlauf wird hier in ein an dem Berge oberhalb des wirtschaftsgebäudes gelegenes Reservoir geleitet, das als Reserve, insbesondere für eine etwaige Feuersgefahr zu dienen hat. Versuche haben ergeben, daß der vorhandene Druck so stark ist, daß man von der Anfahrtstraße aus noch über das Dach des Hauptgebäudes hinwegspritzen kann.
Obwohl der Wasserverbrauch in der Heilanstalt ein sehr großer ist, hat sich doch bisher niemals Wassermangel eingestellt. Die enorme Trockenheit in der zweiten Hälfte des Jahres 1908 zwang zum erstenmal seit Bestehen der Heilstätte zur Sparsamkeit. Um völlig gesichert zu sein, entschloß sich der Vorstand schnell zur Erwerbung einer dritten, noch weiter oberhalb der Brunnenstube zutage tretenden Quelle, die trotz der abnormen Trockenheit stets in gleicher Stärke (über 30 cbm täglich) lief. Diese Quelle ist an die Brunnenstube angeschlossen worden, so daß ein Mangel an Trinkwasser für immer ausgeschlossen erscheint.
Die Eismaschine
versorgt die Heilstätte reichlich mit Eis aus reinem Trinkwasser. Sie besteht aus einem großen Holzgerüste, das bei stärkerem Froste durch eine unter Druck stehende Trinkwasserleitung mit Wasser überbraust wird. Das Wasser gefriert und bildet im Laufe weniger Tage mannsdicke Eisklumpen, die dann abgeschlagen und in Eismieten untergebracht werden.
Der beim Bau der Heilstätte angelegte Eiskeller hat sich nicht bewährt; er wird jetzt als Kartoffelkeller benutzt.
Sonstige Einrichtungen
Die Heilstätte ist telephonisch an das Telephonamt Ellrich unter Nr. 35 angeschlossen. Auch sind die einzelnen Stockwerke und Abteilungen der Heilstätte durch ein Haustelephon miteinander verbunden.
Die Baukosten
Das Terrain der Heilstätte hat eine Größe von 9 ha 51 a 82 qm, d. h. etwa 37½ Morgen Wiese und Wald: Dafür sind 30579,80 Mk. gezahlt worden, für den Morgen (mit Waldbestand) ca. 800 Mk.
Die Baukosten waren nicht gering: immerhin erscheinen sie für das, was geschaffen worden ist, nicht unangemessen. Von Luxus kann nur die Rede sein, soweit Sonnenlicht und Luft in Frage kommen. Im übrigen sind alle Einrichtungen der Heilstätte einfach und sachgemäß. Im ganzen sind für den Bau 861533,46 Mk., für das Inventar nahezu 70000 Mk. ausgegeben worden. Da die Heilstätte einschließlich der Privatanstalt des Chefarztes 150 Betten enthält, so kostet ein Krankenbett 6414 Mark (reine Baukosten ohne Inventar 5743 Mark). Die Knappschaftsheilstätte verfügt über 130 Betten für Kranke, 25 Betten für Personal und eine Familienwohnung (Maschinenmeister).
Die Organisation der Heilstätte
Angestellte und Personal
Die Knappschaftsheilstätte Sülzhayn wird von dem Vorstande der Norddeutschen Knappschaftspensionskasse zu Halle a. S. verwaltet. Örtlicher Vertreter des Vorstandes ist der leitende Arzt, der an der Spitze der gesamten Heilstättenanlage steht. Ihm liegt ferner die Oberleitung der Krankenpflege ob. Die Wirtschaftsführung und die Ausführung der Krankenpflege liegt in den Händen von Schwestern der Halleschen Diakonissenanstalt. Sie führen die Hausaufsicht und leiten den Betrieb. Dem Chefarzte ist mindestens ein Assistenzarzt, den Oberschwestern die erforderliche Anzahl von Schwestern, Wärtern und anderem Personal beigegeben.
Der gesamte maschinelle Betrieb der Heilstätte untersteht dem Maschinenmeister.
Die Gottesdienste werden durch den Ortsgeistlichen von Sülzhayn abgehalten. Zurzeit (Anfang 1909) sind in der Heilstätte tätig und angestellt:
- Der leitende Arzt,
- 1 Assistenzarzt, 1 Volontärarzt,
- 2 Oberschwestern, 3 Schwestern,
- 7 Wärter,
- 1 Maschinenmeister, 1 Zimmermann, 1 Schlosser, 1 Heizer,
- 1 Schneider (Pförtner), 1 Schuster, 1 Hausbursche,
- 1 Kochfräulein, 7 Küchen- und Hausmädchen,
- 2 Waschfrauen, 3 Tagelöhner.
Belegung der Heilstätte
Die Anträge auf Überweisung in die Heilstätte werden durch die Knappschaftsvereine unter Beifügung eines ärztlichen Attestes, wie die Invalidenrentenanträge, bei dem Vorstande der Pensionskasse gestellt. Stimmt der Heilstättenarzt dem Anträge zu, so ruft die Pensionskasse den Kranken ein und gibt der Heilstätte Nachricht von der erfolgten Einberufung, während die Heilstätte das Eintreffen des Patienten zurückmeldet. Von der bevorstehenden Entlassung benachrichtigt die Heilstätte sowohl die Pensionskasse, wie auch den Knappschaftsverein; nach der Entlassung erstattet sie einen ausführlichen Bericht über den Verlauf und den Erfolg der Kur an den Vorstand der Pensionskasse, der dann auch dem Vereine und dem Knappschaftsarzte mitgeteilt wird.
Näheres hierüber befindet sich in dem Geschäftsberichte der Pensionskasse für 1898, wo auch die Formulare abgedruckt sind.
Den Sülzhayner Pfleglingen wird als Familienunterstützung für jede Frau 1 Mark und für jedes Kind unter 14 Jahren 25 Pf. bis zum Gesamtbeträge von 2 Mark werktäglich, in besonderen Notfällen auch noch mehr gewährt. Außerdem werden sie in der Heilstätte vollständig eingekleidet; auch erhalten sie die Kosten der Hin- und Rückreise erstattet.
Betriebsergebnisse und Betriebskosten
Tabelle fehlt
Ärztlicher Bericht
Die „Aufnahme der Kranken“ in die Heilstätte wurde entgegen dem Brauche der ersten beiden Jahre, wo jeder Kranke ganz nach seinem Belieben hier eintreffen konnte, nunmehr in der Weise gleichmäßig geregelt, daß der Zu- wie Abgang der Patienten hier zweimal wöchentlich und zwar Dienstag und Freitag von statten geht. Gleich nach der Ankunft in der Heilstätte erfolgt durch die Oberschwester im Bureau die Aufnahme der Personalien der Kranken und im Anschluß daran die Überweisung derselben an die hier vorhandene „Vorstation“. Jeder Angekommene erhält dann am selbigen Tage noch ein gründliches Reinigungsbad und darauf die von der Anstalt gelieferte Leibwäsche und unsere äußerst gefällige und praktische Anstaltskleidung, dunkelgraue Lodenanzüge, während die Patienten ihre eigenen Kleider und ihre eigene Wäsche für die Zeit ihres Kuraufenthaltes in den ihnen zugewiesenen Schränken unterbringen. — Innerhalb der ersten zwölf Stunden wird der Auswurf der Patienten nach dem Nebelschen Verfahren mit gesättigter Kalkwasserlösung zersetzt, sedimentiert, zentrifugiert, schließlich auf Tuberkelbazillen nach Ziehl gefärbt, und so von vornherein die „geschlossene“ von der „offenen“ Tuberkulose möglichst bald eruiert; spätestens zwei Tage darauf werden dann die Patienten von dieser Vorstation aus auf die betreffenden Abteilungen mit latenter oder manifester Tuberkulose verlegt. So kommt es hier niemals vor, daß Kranke mit offener Tuberkulose mit Kranken ohne Bazillen irgendwie länger ein gemeinsames Krankenzimmer teilen.
Am Tage nach der Aufnahme erhält der Patient neben der gründlichsten Untersuchung der Lungen, des Kehlkopfs und der Nase, sowie der sonst in Frage kommenden Organe eine ganz eingehende Belehrung über den Zweck seines Hierseins und über alle wichtigsten Pflichten, die er nun hier in der Anstalt und auch später zu Hause in Rücksicht auf sich selbst, sowie seine nähere und weitere Umgebung unter ganz besonders eindringlicher Betonung der richtigen Behandlung seines Auswurfs usw. streng zu beachten habe. Ich brauche hier nicht eingehender auf diese vielseitigen Belehrungen, die ebensogut bei dem Eintritte des Kranken in die Fleilstätte, sowie auch bei seinem Austritte aus derselben ihm noch mit auf den Heimweg vom Arzte gegeben werden, einzugehen, da ich dieselben s. Zt. bereits im Jahresberichte für 1899 S. 44 —50 gleichzeitig mit der ganzen Tages einteilung für die Kranken in extenso niedergelegt habe. Bei diesen Belehrungen wird den Patienten das Dr. Rumpfsche „Merkbüchlein für Lungenkranke in der Heilstätte“, sowie das Merkblatt gegen den Mißbrauch alkoholischer Getränke mit der eindringlichen Ermahnung in die Hand gegeben, sich über den Inhalt der beiden Schriften schon hier genügend weiter zu orientieren.
Daß diese Lehren und Ermahnungen in diesen zehn Jahren nicht vergebliche geblieben sind, das beweisen die überaus seltenen disziplinarischen Strafen in unserer Anstalt. Wegen Vergehens gegen das Spuckverbot wurde hier in der ganzen Zeit nicht ein einziger Patient, infolge von Trunkenheit im Verhältnis zur Gesamtzahl der Kranken nur ein ganz verschwindend kleiner Prozentsatz strafweise vorzeitig entlassen. Daß der größte Teil der hier untergebrachten Patienten aus diesen vielseitigen Vorträgen und Anregungen für sich, die Seinigen und für seine nähere und weitere Umgebung doch vielen Nutzen zieht und viele ihm hier zuteil gewordene hygienische Verbesserungen auch in seinen bescheidenen häuslichen Verhältnissen einzuführen sich bemüht, dafür sprechen die häufigen späteren brieflichen Nachfragen, welche die Patienten noch Jahre lang nach ihrer Entlassung aus der Heilstätte an mich richten. Auf diese Weise bringen die Patienten, die eine längere Kur in der Heilstätte durchgemacht haben, diese hier erlernten Belehrungen und hygienischen, an ihrem eigenen Leibe als wohltuend erkannten Erfahrungen und Kenntnisse zum guten Teil in ihre eigenen Familien hinein und tragen damit ohne Zweifel jetzt schon seit Jahren ganz wesentlich dazu bei, daß die Gefahren der Weiterinfektion in der Familie erheblich eingeschränkt, daß „die Familie nicht mehr so häufig zum Infektionszentrum“ zu werden braucht, als bisher.
Allein auch noch für weitere geistige und psychische Anregungen der Patienten wurde, wie in den ersten Jahren, so auch späterhin noch viel umfangreicher sowohl von Seiten der Ärzte, wie vor allen Dingen durch unsere unermüdlichen, guten Schwestern in weitgehendster Weise stets Sorge getragen. Neben einer großen Zahl von guten Büchern und Zeitschriften unserer im Laufe der Jahre recht erfreulich erweiterten Hausbibliothek, die den Patienten zur Verfügung steht, wurden denselben zumal während der kürzeren Wintertage häufig Lichtbildervorträge, sowie abwechselnd damit Vorträge über gesundheitsmäßige Lebensweise, über die schweren körperlichen Schädigungen durch Alkoholmißbrauch, über die wichtigsten sozialen Fragen unserer Zeit, sowie auch in populär verständlicher Form über die großartigen Fortschritte der wissenschaftlichen Medizin auf den Gebieten der Volksgesundheit mit passenden Demonstrationen von mir und meinen Assistenten gehalten. Ebenso unterzogen sich auch unsere Schwestern, besonders unsere Oberschwester Eva Freyer der Mühe, durch gelegentliche Vorlesungen verschiedensten Inhalts die Patienten geistig anzuregen und bei besonders festlichen Veranlassungen, wie Weihnachten, Kaisers Geburtstag usw. dieselben zum Mitspielen heranzuziehen. Wer jemals solche wundervollen Feste unserer Heilstätte mit dem reichen Inhalte der gebotenen schönen Aufführungen und den herrlichen, durch den Kunstsinn der Schwestern erreichten Ausschmückungen unseres Festraumes hier mitzumachen Gelegenheit gehabt hat, der hat wohl an sich selbst den tiefen Zauber all dieser vielen zu Herz und Gemüt gehenden Eindrücke am besten wohl erfahren.
Auf der anderen Seite bot zu den besseren Jahreszeiten die herrliche und landschaftlich überaus abwechslungsreiche nähere und weitereUmgebung unserer Anstalt den Kranken durch schöne Spaziergänge reichliche Gelegenheit, nach der einige Stunden am Tage vorgeschriebenen Liegekur sich in Gottes herrlicher Natur zu ergehen.
Neben diesen wohltuenden Einflüssen bot sich aber gleichzeitig einer großen Zahl von unseren Patienten besonders in der günstigeren Jahreszeit genügende Gelegenheit, sich in Garten- und Feldarbeiten zu betätigen und so eine vorteilhafte Einwirkung auf das ganze Muskel- und Nervensystem durch solche körperliche, selbstverständlich unter steter Kontrolle des Arztes genau bemessene Arbeiten zu erzielen. Jedenfalls zeigt die dabei gemachte Erfahrung, daß es ein völlig berechtigter Gedanke war, die hier gebesserten Kranken vom ersten Jahre ab zu diesen Arbeiten heranzuziehen, einmal, wie eben gesagt, um auf die Festigung und Hebung der gesamten Körperkonstitution durch vorsichtig steigernde Muskelarbeit einzuwirken, dann aber auch aus der Erwägung heraus, den an körperliche Arbeit gewöhnten Menschen durch ein oft Monate langes „dolce far niente“ während seines Heilstättenaufenthaltes die sonst gewohnte Freude und Lust an seiner Arbeit nach und nach etwa ganz vergessen zu lassen. Im großen und ganzen hat sich diese Maßnahme hier bisher gut bewährt und auch leicht durchführen lassen, zumal den Kranken für diese geleisteten kleineren Hilfeleistungen ein kleines Entgelt von 10 bis 15 Pf. pro Stunde gewährt wird.
Aber auch in der Anstalt selbst brachten wieder unsere lieben Schwestern den Patienten die verschieuensten Handfertigkeiten, wie Schnitz- und Flechtarbeiten usw. bei, deren fertiggestellten Produkte bei der Entlassung aus der Heilstätte dann stets recht nette und doppelt wertvolle Geschenke für Frau, Kinder und Geschwister abzugeben pflegen. So gestaltete sich der zehnjährige Verlauf des inneren Heilstättenbetriebes für die Pfleger und vor allen Dingen die Verpflegten zu einem gleichmäßig ruhigen, zufriedenen und segensreichen nach jeder Richtung hin.
Besonderer Teil
Auswahl des Krankenmaterials
Was das Krankenmaterial dieser zehn Jahre anbelangt, so hat sich dasselbe gegen die ersten Jahre unverkennbar später gebessert. Immerhin könnte dasselbe sich noch wesentlich besser gestalten, wenn die Kranken „frühzeitiger“ der Heilstätte zugeführt werden würden.
Ein wie noch erheblich großer Prozentsatz bei der Aufnahme prognostisch als „zweifelhaft“ resp. „ungeeignet“ von uns im Laufe vieler Jahre bezeichnet werden mußte, ergibt sich aus nachfolgender Zusammenstellung:
- 1899: 43,0 %
- 1900: 41,0
- 1901: 40,0
- 1902: 32,7
- 1903: 31,6
- 1904: 26,8
- 1905: 29,5
- 1906: 20,0
- 1907: 17,4
Diagnose
Die Diagnose der tuberkulösen Lungenerkrankungen ergab sich hier durch die genaueste Feststellung des klinischen Befundes in Verbindung mit einer stets ausführlich festgelegten Anamnese, sowie durch die eingehendsten und wiederholten Untersuchungen des Auswurfs der Patienten nach dem Nebelschen Verfahren, wie bereits oben eingehend geschildert. Wo nach der Zichlschen Färbemethode säurefeste Bazillen nicht, oder auch nicht mehr festgestellt werden konnten, wurde zeitweise auch dieser Auswurf auf die „Muchschen Granula“ mit der von ihm modifizierten Grammschen Färbemethode kontrolliert und dann doch noch färbbare Granula gefunden. Reichten auch diese Faktoren zur Sicherung der Diagnose nicht aus, so wurde, allerdings stets nur mit der Einwilligung des Patienten, die Diagnose „Tuberkulose“ durch probatorische Impfungen mit Alttuberkulin Koch zu erreichen gesucht. Selbstverständlich haben auch wir uns mit den in allerletzter Zeit empfohlenen neueren diagnostischen Hilfsmitteln wie „ Pirquet “ und „ Ophthalmoreaktion “ usw. an einem reichen Krankenmaterial beschäftigt.
Behandlung
Allgemeine Behandlung
Im Vordergründe aller therapeutischen Maßnahmen stand in diesen ganzen Jahren das altbewährte Prinzip der Brehmer-Dett- weilerschen „hygienisch-diätetischen“ Behandlungsmethode, die in der bekannten Weise einer kräftigen Ernährung, zweckentsprechend durchgeführter hydrotherapeutischer Maßnahmen und in der ausgiebigsten Ausnutzung der reinen, guten Luft unter genau dem Einzelfalle angepaßter Abwechslung von Liegekur und Bewegung ihre praktische Anwendung findet.
Ohne irgendwie unsinnige „Mastkuren“ forcieren zu wollen, wurde selbstverständlich bei allen zumeist körperlich erheblich heruntergekommenen Kranken auf eine reichliche, kräftige und vorwiegend kohlehydrat- und fettreiche Kost ganz besondere Sorgfalt stets gelegt. Dabei wurde die meist nicht geringe Zahl von Magenkranken an einem besonderen Magentisch zweckentsprechend verpflegt und bei denselben eine wasserarme, mehr dickbreiige Kost bevorzugt. Ebenso wurden bei diesen Kranken die Magenfunktionen nach der motorischen, wie sekretorischen Seite hin mit den üblichen Methoden genau kontrolliert und zweckentsprechend behandelt (Untersuchungen des Magensaftes, mikroskopische Kontrolle des Mageninhaltes, Magenspülungen, Massage, Elektrisieren usw.). Besonders schwächliche Patienten erhielten nebenbei als Kräftigungsmittel Sanatogen oder Hy- giama, Plasmon usw. und Extraspeisen. Gleichzeitig wurde bei allen Kranken auf die Erhaltung eines guten Gebisses und einer gewissenhaften Mundpflege geachtet und im Notfälle durch den an der Heilstätte seit Jahren tätigen und tüchtigen Zahntechniker auch ganze Gebisse geliefert. In diese letzteren Kosten teilten sich die Knappschaftspensionskasse, die Knappschaftskrankenkasse und der Patient zu je einem Drittel. Auf diese Weise kamen die Patienten im Bedarfsfälle verhältnismäßig billig zu einem guten Gebiß und verloren zumeist mit der hier erreichten Verbesserung ihrer Kauwerkzeuge Jahre lange ernste Magenbeschwerden, die durch den ewigen Reiz der schlecht gekauten Speisen bisher keine nachhaltige Beseitigung ermöglichten. — Wenn ich auch auf die Gewichtszunahme allein bei den Lungenkranken keine zu wesentliche Bedeutung für die Beurteilung des Verlaufs der Krankheit an und für sich lege, so hat doch die langjährige Beobachtung gezeigt, daß durch die Hebung der Körperkräfte im allgemeinen die „vitale Energie“ der einzelnen Zellen ohne jeden Zweifel erheblich wieder erhöht wird und damit die Widerstandsfähigkeit des ganzen Körpers im Kampfe gegen den schädigenden Feind eine sehr schätzenswerte Vermehrung erhält. Im übrigen zeigte die weitere Beobachtung nach dieser Richtung hin, daß keineswegs immer, wie viele anzunehmen belieben, das in der Heilstätte erworbene Gewicht mit der Aufnahme der Arbeit zu Hause bald wieder verloren gehe; ein recht erfreulicher Prozentsatz von entlassenen Kranken hat, wenn auch erklärlicherweise nicht immer das hier während der Kur auch erreichte Gewicht voll und ganz, so zum guten Teile bei der wiederaufgenommenen Arbeit doch sich später erhalten können.
Die Speisen wurden vor Abgabe an die Kranken von den Ärzten erst probiert und gaben bei der anerkannt vorzüglich geleiteten hiesigen Küche niemals Veranlassung zur Klage unsererseits. Selbstverständlich blieb es uns trotzdem nicht erspart, ganz vereinzelte Klagen gelegentlich meist von solchen Patienten hören zu müssen, die zu Hause gewöhnlich unter den dürftigsten Ernährungsverhältnissen standen, hier aber zu ganz besonderen Ansprüchen berechtigt zu sein glaubten. Da diese Klagen immer jeder Begründung entbehrten, wurde mit solchen niemals zu befriedigenden Elementen kurzer Prozeß gemacht und dieselben zur „besseren Verpflegung“ sofort nach Hause entlassen.
Über den großen Wert der zu gewissen Stunden am Tage durchgeführten Liegekuren brauche ich hier wohl kaum noch ein weiteres Wort zuzusetzen. Sie ermöglichen bei jeder Jahreszeit (auch im Winter) selbst bei zeitweise regnerischem Wetter den ausgiebigsten Gebrauch der frischen Luft bis zur späten Abendstunde und damit eine systematisch durchgeführte Abhärtung des ganzen Körpers. Ebenso unterstützten diesen Zweck die Spaziergänge zu allen Jahreszeiten in unsere herrliche und so abwechslungsreiche Umgebung. Dabei ermöglichte gerade im Winter unsere erhöhte Lage unter dem Schutze der uns von Westen über Norden gegen Osten bis zur Höhe von 645 m halbkreisförmig cinschlicßenden und schützenden Berge eine den ranzen Tag aber anhaltende Bestrahlung unseres Bodens und der Anstalt'durch die Sonne; so kann es nicht wundernehmen, daß hier selbst im Januar und im Februar Temperaturen im Freien in der Sonne bis zu 44* C. Wärme (!) gar nicht so selten beobachtet werden konnten. Aus diesen Erfahrungen heraus kann nicht eindringlich genug immer und immer wieder dem leider noch so häufig im Publikum und selbst bei den Herren Kollegen herrschenden Vorurteile entgegengetreten werden, daß es im Winter unmöglich sei, Kranke unserem Harze zu überweisen. In dieser Hinsicht steht gerade der Südharz im schroffen Gegensätze zu dem Nordharz und der Ebene mit ihren scharfen Ost- und Nordwinden und ihren hohen Kältegraden der Winterszeit (confer, „meteorologische Beobachtungen“). Erhöht dieser ununterbrochene Aufenthalt des hier zur Kur weilenden Patienten in der guten, staubreinen Luft schon an und für sich die Widerstandsfähigkeit gegen Erkältungen ganz wesentlich, so werden die Kranken, selbstverständlich wieder mit besonderer Auswahl der passenden, aber im allgemeinen überwiegenden Fälle zur weiteren Abhärtung des Körpers hier auch mit vorsichtigen, allmählich stärkeren hydrotherapeutischen Maßnahmen (kalte Abreibungen, später Duschen in der verschiedensten Form) während der ganzen Kurzeit behandelt. Daß selbstverständlich jeder Patient wöchentlich sein Reinigungsbad erhält, bedarf wohl kaum besonderer Erwähnung.
Besondere Behandlung
Von den sogenannten „spezifischen“ medikamentösen Mitteln haben wir im allgemeinen wenig zu verordnen nötig gehabt, wir haben ihren, auch von uns im Laufe der Jahre bei einzelnen Fällen erprobten und auch anderweitig anerkannten Wert nur dann in Anspruch genommen, wenn die Patienten in ihrem Allgemeinbefinden hier ausnahmsweise nicht die sonst gewohnten Fortschritte zeigten, und sich auch Husten und Auswurf zumal bei den älteren Erkrankungsfällen nicht bessern wollten.
Von den zahlreichen auch hier in diesen zehn Jahren mit der Lungenerkrankung einhergehenden Komplikationen wurde eine besondere Aufmerksamkeit auch den Erkrankungen der Ohren, der Nase, des hinteren Nasenrachenraumes, des Rachens und des Kehlkopfes gewidmet und dieselben nach den verschiedensten, bewährtesten Behandlungsmethoden beeinflußt. Soweit kleinere oder größere Operationen hierbei sowie bei anderen Komplikationen nötig wurden, kamen dieselben hier oder in einer Privatklinik zu Nordhausen zur Erledigung.
Kehlkopfkomplikationen bildeten, sofern dieselben nicht zu ausgedehnten destruktiven Prozessen erweitert waren, in der Form stärkerer Katarrhe, Infiltrationen, Wucherungen und selbst kleiner Geschwüre keinen Grund, diese Patienten, zumal wenn noch der Lungenbefund ein guter war, von der Aufnahme in die Heilstätte auszuschließen. Wir sahen alle diese Affektionen unter der hier geübten und sonst gebräuchlichen lokalen Behandlung mit Einspritzungen von Menthol, Milchsäure, Jodolcocain, Zinksozjodol, ja auch unter der vorsichtig durchgeführten Tubcrkulinbehandlung heilen. — Der Wasmuthsche größere Inhalationsapparat, der auf elektrischem Wege betrieben wird, gab neben den kleineren einfachen Inhalationsapparaten, mit denen wir besonders gern Perubalsamlösungen einatmen lassen, uns weitere Mittel, auf Reizzustände der oberen oder tieferen Luftwege zweckentsprechend und heilend einzuwirken.
Neben der hygienisch-diätetischen und zum Teil medikamentösen Behandlung haben wir hier auch die ganzen Jahre hindurch den „spezifischen“ Mitteln gegen die Tuberkulose unsere besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Von den Tuberkulinpräparaten gaben wir, gestützt auf meine nun reichlich zwanzigjährigen Erfahrungen, den Kochschen Präparaten, dem „Alttuberkulin“ in allererster Linie, doch auch der „Bazillenemulsion“ Kochs vor allen anderen in Frage kommenden Präparaten, wie dem Landmannschen Tuberkulol, die Clinschen Tuberkulinpräparatc (Paris), dem Tuberkulocidin Klebs, Marmorekschen Serum, dem v. Behringschen Tulaselytin, sowie dem Landererschen Hetol den Vorzug und wendeten gerade diese Präparate auch in den letzten Jahren an einem großen Krankenmaterial mit vielem Nutzen an, sowohl für „diagnostische“ wie insbesondere „therapeutische“ Zwecke, ohne irgend jemals einen Nachteil bei der von uns stets geübten Anwendung kleinster, nach und nach erst später gesteigerten Dosen hierbei beobachtet zu haben. Leider genügte für diese „kombinierte Behandlungsmethode“ der durchschnittliche Zeitraum von nur meist zwölf Wochen natürlich auch nicht, um schon stets Heilungen im anatomischen Sinne zu erzielen; allein die Zeit reichte doch oft genug aus, um den Patienten hier so weit zu bringen, daß nach der Entlassung die Nachbehandlung mit Alttuberkulin durch den Hausarzt auch ambulant genügend lange zu Hause fortgesetzt werden konnte. Andererseits hat aber der acht- bis zehnwöchige Zeitraum, in welchem nur hier in der Anstalt geimpft werden konnte, unzweifelhaft die kranken und geschwächten Zellen des Körpers im Kampfe gegen die Schädigungen der Tuberkelbazillen wieder gekräftigt und den natürlichen Heilungsvorgang ganz wesentlich in dieser Kurzeit unterstützt. Ich möchte nur kurz erwähnen, daß sich die auch in diesen letzten Jahren an einem reichhaltigen Material hier gesammelten diesbezüglichen Erfahrungen mit denen völlig decken und dieselben wesentlich wieder nach allen Richtungen hin erweitern, die ich seinerzeit in meinem Berichte bei der zweiten Versammlung der Tuberkuloseärzte in Berlin im Jahre 1904 über 600 so behandelte Fälle zu berichten Gelegenheit genommen habe. Es ist ein außerordentlich erfreuliches Zeichen, daß sich in den letzten Jahren in den Kreisen der praktischen Ärzte das Interesse für diese „spezifische“ Behandlungsweisc ganz erheblich gemehrt hat, und daß auch ein recht erfreulicher Teil der Herren Knappschaftskollegen die hier eingeleiteten Tuberkulinkuren zum Wohle der hier zur Entlassung gelangten Patienten nun auch zu Hause mit Erfolg weiter- und zu Ende geführt hat. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß auf diese Weise auch nach der Entlassung des Patienten aus der Heilstätte, wo bei der relativ kurzen Behandlungszeit von einigen Monaten wohl eine gewisse, oft recht erfreuliche „wirtschaftliche , niemals aber eine Heilung im „anatomischen“ Sinne erzielt werden kann, für denselben zu Hause unter den nun wieder erheblich ungünstigeren Lebensbedingungen weiter etwas Zweckmäßiges geschieht und auch unter diesen Verhältnissen doch noch schließlich eine definitive Ausheilung des Leidens im Laufe der Zeit dort erfolgen kann.
Erfolge
Bei der Entlassung
Wie schon vorher erwähnt, kann es sich bei der im allgemeinen viel zu kurzen Kurzeit um keine wirkliche Heilung des tuberkulösen Leidens als solchem hier handeln, sondern nur um eine Heilung im „wirtschaftlichen“ Sinne. Fassen wir dabei den Erfolg bei der Entlassung ganz im allgemeinen für die Jahre von 1899 bis 1907 näher ins Auge, so sind in diesen Jahren in der hiesigen Heilstätte folgende Zahlen von Fällen aufgenommen und als arbeitsfähig (voll, wie worden:
- 1899: 75 %
- 1900: 79
- 1902: 87,2
- 1902: 90,9
- 1903: 93,2
- 1904: 82,9
- 1905: 86,7
- 1906: 92,1
- 1907: 89,3
Von den Patienten hatten bei der Aufnahme Bazillen und nach der Entlassung keine Bazillen mehr:
- 1899: 12,8 %
- 1900: 41,4
- 1901: 38,7
- 1902: 38,1
- 1903: 25,2
- 1904: 34,2
- 1905: 23,06
- 1906: 38,8
- 1907: 38,5
Unterziehen wir nun die ganzen Erkrankungsfälle vom 1. Januar 1900 bis 31. Dezember 1908 einer spezielleren Betrachtung nach den nachfolgenden Gesichtspunkten hin, die mein Assistent Herr Dr. Lützow in meinem Auftrage zusammengestellt hat, so ergibt sich, daß während dieses ganzen Zeitraums 4301 Patienten in der hiesigen Heilstätte aufgenommen waren. Von diesen litten an Lungentuberkulose 2710 Kranke = 63,24 %.
Davon wurden aufgenommen: a) im I. Stadium 1592 = 58,73%; 1. davon mit Bazillen 382 _ 24,04 % vom Stadium I und 14,12 % der Gesamtsumme, 2. davon ohne Bazillen 1210 = 75,96 % vom Stadium I und 44,61 % der Gesamtsumme.
b) im II. Stadium 878 = 32,37 %; 1. davon mit Bazillen 475 = 54,10% vom Stadium II und 17,51 % der Gesamtsumme, 2. davon ohne Bazillen 403 = 45,90% vom Stadium II und 14,85 % der Gesamtsumme.
c) im III. Stadium 240 = 8,90%; 1. davon mit Bazillen 194 = 80,49% vom Stadium III und 7,15% der Gesamtsumme, 2. davon ohne Bazillen 46=19,51% vom Stadium III und 1,76% der Gesamtsumme.
fehlt noch
Gibt diese statistische Zusammenstellung im allgemeinen, wie besonders auch unter der Berücksichtigung der Erfolge an den notorisch Tuberkulösen bei der Entlassung aus der Heilstätte (wobei gerade diese letzteren Kranken auch zwischen 38 — 40% die Tuberkelbazillen hier verloren) ein recht erfreuliches Bild, indem durchschnittlich fast die Hälfte der Entlassenen im „wirtschaftlichen“ Sinne geheilt ihren Berufspflichten wieder zugeführt werden konnten, so erhöht sich der Wert der Beurteilung des durch die hiesige Heilstätte erzielten Kureffektes noch ganz wesentlich, wenn wir die über eine größere Reihe von Jahren erzielten und nachkontrollierten „Dauererfolge“ einer näheren Kritik unterziehen. Dabei ergibt nachstehende Tabelle folgende höchst beachtenswerte Erfolge.
Tabelle
Bei dem nicht ganz geringen Prozentsätze „unermittelter“ Fälle wird man wohl das Fortbestehen des Erfolges annehmen können, da sonst eine Rente oder Beitragserstattung beantragt worden wäre, so daß diese Zahlen den durchschnittlichen Prozentsatz des erreichten Dauererfolges noch erhöhen würden. — Aus diesen statistischen Erhebungen ergibt sich auch für unsere Heilstätte die überaus erfreuliche Tatsache, daß ein ungemein hoher Prozentsatz der hier behandelten Kranken trotz der relativ kurzen Kurzeit von meist höchstens 3 Monaten als arbeitsfähig aus derselben jahrein jahraus zur Entlassung kommt, daß aber die hier erzielte wirtschaftliche Besserung, d. h. die volle Arbeitsfähigkeit durchschnittlich in 40—50 % über 4 und 5 Jahre hinaus angehalten hat. Damit ist ein reiches Maß von Kummer und Sorge dem Kranken wieder genommen, der ganzen Familie aber eine erfreuliche Menge Glück und Zufriedenheit durch den wieder für viele Jahre leistungsfähig gewordenen Ernährer geschaffen worden.
Selbstverständlich wird der für den Kranken in der Heilstätte erreichte Kurerfolg in den weitaus meisten Fällen von der späteren Lebensweise des Patienten in allererster Linie abhängig bleiben, dann aber auch natürlich von der ihm sich bietenden passenden Arbeit. Sollen also diese Dauererfolge noch weiter sich erfreulich bessern, so wird einmal der entlassene Kranke der weiteren Obhut und eventuell noch nötigen ambulanten Nachbehandlung (gelegentliche Nachuntersuchungen, Tuberkulinbehandlung usw.) durch seinen Arzt, wie ich schon oben andeutete, unterstellt bleiben müssen; dann aber bedarf es auch fraglos der regen Mitwirkung der Arbeitgeber, in gegebenen Fällen und Veranlassungen den Arbeiter selbst zu einem gesundheitsmäßigen Lebenswandel weiter anzuhalten.
Wir ersehen aber schließlich aus unserem statistischen Materiale, wie es auch die Mitteilungen aller anderen größeren Heilstätten mit vieljährigen Erfahrungen immer und immer wieder mit vollstem Rechte betonen, daß die Dauererfolge zum guten Teile von der Qualität des überwiesenen Krankenmaterials abhängig bleiben; je eher der Kranke der Anstalt mit ihren vielen Vorteilen überwiesen wird, um so eher wird bei ihm in absehbarer Zeit meist auch eine Heilung im anatomischen Sinne mit den uns Ärzten zu Gebote stehenden Mitteln zu erzielen sein. Damit liegt uns aber alles andere ferner, als irgendwie behaupten zu wollen, daß die Heilstätten allein den Kampf gegen die Tuberkulose erfolgreich auf zunehmen imstande wären. Wir Heilstättenärzte stehen alle nach wie vor aus vollster Überzeugung auf der breiten Basis aller der vielen Wege, die als unbedingte Korrelate der ganzen Heilstättenbewegung sich ganz historisch und naturgemäß weiter entwickeln und anreihen mußten (Säuglingsfürsorge, Kindererziehung, Schularzt, Waldschulen, Fürsorgestellen, Walderholungsstätten, Verbesserung der Arbeiterwohnungen usw.). Immerhin werden und können letztere stets nur in beschränkter Weise sich an der Bekämpfung der Tuberkulose beteiligen, ohne jemals die vielen Vorgänge „gleichzeitig“ zu bieten, über welche gerade die neu geschaffenen Spezialanstalten für Lungenkranke, die Volksheilstätten und Lungensanatorien ausschließlich verfügen. „Man würde also,“ um mit einigen Worten Köhlers-Holsterhausen zu sprechen, „einen nicht geringen Faktor, welcher zur Erstarkung unseres Volkes und zur Überwindung der Tuberkulose beigetragen hat, übersehen, wollte man nicht mit Stolz dem großen sozialen Werke unserer Lungenheilstätten die gebührende Würdigung zuteil werden lassen, welche Tausenden von Lungentuberkulosen Erholung und Genesung gewähren und mit der fortschreitenden Zeit die Kreise ihrer segensreichen Wirksamkeit immer mehr erweitern werden. Gewiß sind sie allein nicht imstande, allen zu helfen, denen Hilfe not tut. Zum gewaltigen Werke der Ausrottung der Tuberkulose bedarf es der verschiedensten Kampfmittel, unter denen aber die Volksheilstätten auf Grund ihrer bereits im ersten Decennium ihrer Tätigkeit erreichten Erfolge den „bedeutsamsten“ Platz einnehmen und auch in Zukunft behaupten werden!“
- In diesem Sinne „Glück auf“!
- Dr. Kremser.