Aus Werna an die Spitze der Grenztruppen

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von Manfred Neuber

Es war einmal ein Hitler-Junge, der im April 1945 an einem Waldesrand bei Ellrich mit einer Panzerfaust den Vormarsch der US-Armee aufhalten wollte. Da kam ein alter Mann vorbei und sagte: „Junge, geh’ nach Hause!“ Diese Szene ist von einem Zeitzeugen überliefert. Über die Identität des Burschen lässt sich nichts mehr in Erfahrung bringen.

Allerdings kursierten Spekulationen im Südharz, es habe sich bei ihm um einen Zögling der Napola (NS-Erziehungsanstalt) im Kloster Ilfeld gehandelt. Dessen Name war Baumgarten. Ein Namensvetter stammte aus Werna, heute ein Ortsteil Ellrichs, und ging dort in die Tischlerlehre. Ein paar Jahre später trat er in die NVA ein. Seine Karriere krönte er als General und Befehlshaber der Grenztruppen.

Ob der Hitler-Junge mit dem DDR-General vielleicht identisch sein könnte, bleibt ein Rätsel. Eine Personalakte der NVA liegt beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik nicht vor. Sie kann beim Umsturz 1989 verloren gegangen oder absichtlich beseitigt worden sein, was in vielen Fällen geschah.

Jedenfalls stammt Klaus-Dieter Baumgarten aus Werna im Kreis Nordhausen, dort geboren am 1. März 1931. Seit 1952 war er in Berlin-Niederschönhausen gemeldet. Am 15. August 1953 heiratete er eine Sekretärin. Wie aus einer Überprüfung seiner Person von 1956 hervorgeht, waren die Eltern seiner Frau und sein Vater verstorben, die Mutter lebte noch in Werna.

„B., der den befragten Personen zufolge hoher Offizier der Grenzpolizei ist, tritt auch als solcher im Wohngebiet in Erscheinung. Sein Auftreten ist sicher und bestimmt, er wird als korrekter und zuverlässiger Mensch eingeschätzt“, heißt es in einem Bericht an die Hauptabteilung I/6 des MfS. „Auf Grund der konspirativen Durchführung der Ermittlung“ hätten die Nachbarn der Baumgartens nicht näher befragt werden können.

Beide waren Mitglied der SED „und traten auch als solche in Erscheinung“. Sie nahmen an Hausversammlungen teil. Befragte gaben an, sie seien „anständig, höflich und ordentlich. Nachteiliges ist nicht bekannt“. Unsicher erschien nur, ob Frau B. in Verbindung zu einer Schwestern stand, die in Westberlin lebte. Aus nicht bekannten Gründen habe sie zwei Jahre vorher ihre Stelle bei der Volkspolizei aufgegeben.

Im Befehl Nr.131/55 vom 3. Mai 1955 des Ministerium des Innern, Staatssekretariat für Staatssicherheit, wird Major Baumgarten vom Staatssekretär „seiner Funktion als Leiter der Abteilung Ausbildung der Kasernierten Wacheinheit entbunden und zum Älteren Offizier für Ausbildung und Schulung der Truppen beim Stellvertreter für militärische Fragen des Staatssekretärs ernannt“.

Damit nicht genug der „Durchleuchtung“. Oberstleutnant Bitter, Leiter der Hauptabteilung I/6 bittet am 15. Januar 1958 die Hauptabteilung I/B um „Ermittlungen“ über Baumgarten. Eine Frage lautet: „Unterhalten sie (beide) Verbindungen zu Personen, die mit Westberlin in Verbindung stehen, und wurden Fahrten der Frau B. nach Westberlin bekannt.“ Nochmals überprüft wurde Baumgarten 1970, weil er für den Besuch der Generalstabsakademie in der Sowjetunion vorgesehen war.

Eine weitere Sprosse auf der Karriereleiter erklomm Baumgarten 1978, als er vom Kommandeur des Grenzkommandos Süd zum Stellvertreter des Chefs der Grenztruppen der DDR und Chef des Stabes berufen wurde. Dieser Beschluss ist von Armeegeneral Hoffmann, Minister für Nationale Verteidigung, und dem Leiter der Abteilung für Sicherheitsfragen des Zentralkomitees der SED, Generaloberst Scheibe, unterzeichnet.

Im Anhang zu dieser Beförderung heißt es: „Generalmajor Baumgarten soll in dieser Funktion als Kaderreserve für den Chef der Grenztruppen der DDR vorbereitet werden. Er ist ein erfolgreicher, klassenbewusster und erfahrener Kommandeur eines Verbandes der Grenztruppen der DDR. Er verfügt über gründliche marxistisch-leninistische und militärische Kenntnisse sowie umfangreiche Erfahrungen in der Truppenführung. Die Probleme und Aufgaben der Vorbereitung, Organisation und Führung zur zuverlässigen Sicherung der Staatsgrenze beherrscht er sicher.

In seiner Führungstätigkeit werden der sachliche, ruhige Arbeitsstil, die parteiliche Konsequenz und eine gründliche Arbeit mit den Menschen deutlich sichtbar. Er wird geachtet, bewahrt stets eine optimistische Grundhaltung und tritt überzeugend auf. Die Einheit von politischer und militärischer Führung verwirklicht er“, so der Chef der Verwaltung Kader am 3. März 1978. „Wenn notwendig, dann treffen mit dem ersten Schuss“, schärfte Baumgarten in einem Appell am 9. Juli 1982 den Grenztruppen ein. Es sei für jeden Soldaten „revolutionäre Klassenpflicht, … konsequent die Schusswaffe anzuwenden“. Gleichzeitig kritisierte er, dass „zu oft und zu ‚wild’ geschossen wird, weil „uns daraus politischer Schaden erwächst“. Es handelte sich um eine Dienstbesprechung mit den Kommandeuren der Grenzkommandos und Lehreinrichtungen.

Nach dem Sturz der DDR-Diktatur wurde Baumgarten, der für Schießbefehl, Selbstschussanlagen und Minen an der innerdeutschen Grenze mitverantwortlich war, in Berlin am 10. September 1996 wegen Totschlags in elf und versuchten Totschlags in fünf Fällen, begangen an Flüchtlingen, zu sechseinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Der Bundesgerichtshof verwarf die Revision. Nach Verbüßung der Hälfte der Haftzeit wurde er gegen den Widerstand der Staatsanwaltschaft und des Gnadenausschusses der Berliner Abgeordnetenkammer vom Regierenden Bürgermeister Diepgen freigelassen. Er starb an Krebs 2008 in Zeuthen – „völlig uneinsichtig“, wie Richter und Presse urteilten. Wie dem auch sei mit dem Hitler-Jungen bei Ellrich, aus dem Ortteil Werna ging jedenfalls eine starke Figur der Nomenklatur in der DDR hervor.

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